Das Bücherarchiv - Anna Schilasky - E-Book

Das Bücherarchiv E-Book

Anna Schilasky

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Beschreibung

Hat es die Flucht und das Arbeitslager, ein totalitäres Regime und die große Katastrophe je gegeben? Nichts weist darauf hin. Niemand außer Miriam kann sich daran erinnern. Sie ist immer noch auf der Suche nach einer Arbeit und vor allem nach sich selbst. Da entdeckt sie das Bücherarchiv, das sie in seinen Bann zieht, doch unvermutet wird dieser Zufluchtsort zu einer Bedrohung ...

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Anna Schilasky

DAS BÜCHERARCHIV

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Covergestaltung Milan Ziebula

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Das Bücherarchiv

Dann schiebt sie das kleine runde Brot über die Verkaufstheke. „Es ist das andere Brot“, sagt sie noch einmal. „Ich habe es nicht bezahlt.“

„Ich weiß“, erwidert Isa, „da ich es doch verschenkt habe.“

Es ist zwecklos, denkt Miriam. Sie will mich nicht verstehen.

Isa lässt das Brot unbeachtet auf der Theke liegen. „Ich mach mir einen Kaffee. Willst du auch einen?“ Isa weist einladend auf einen kleinen Tisch und zwei Stühle, die neben der Eingangstür stehen.

Miriam nimmt stumm auf dem Stuhl Platz, der neben dem Eingang steht. So behält sie das Gefühl, dass sie ganz schnell verschwinden kann. Isas Stimme ist ein angenehmes Hintergrundgeräusch, das sie sanft umhüllt. Miriam hört eine ganze Weile darauf und lehnt sich schließlich an. Sie fühlt sich schläfrig. Als auch Isa endlich sitzt, fragt Miriam: „Was hast du da gerade eben erzählt?“

Isa sieht sie erstaunt an, fängt dann an zu kichern. „Was? Du hast mir gar nicht zugehört?“

Miriam nickt. Sie hört das Klingeln der Straßenbahn, registriert, wie die Bahn dicht an ihr vorbeifährt. Sie wundert sich, dass alles so weitergeht. Aufmerksam mustert sie die Fassade des gegenüberstehenden Hauses. Es fällt ihr nichts Besonderes auf. Vielleicht hat sie sich alles nur eingebildet und nichts hat sich verändert. Vielleicht, denkt sie, sind alle Veränderungen nur eingebildet und alles bleibt eigentlich immer gleich. Sie stellt sich vor, dass die Zeit stillsteht, und weiß schon, dass dies nicht möglich sein wird. Aber nur wenig Bewegung, kaum Veränderung, ein langes Warten.

Sie sieht wieder aus dem Fenster. Die blaue Straßenbahn bewegt sich in unglaublicher Langsamkeit vorbei. Sie kann einigen Fahrgästen sehr lange in die Augen blicken; gleitet dann endlich ein Gesicht vorbei, bleibt sie ewig lange beim nächsten hängen. Sie will ihnen gern Zeichen geben, ihnen zuzwinkern, winken oder wenigstens mit den Händen kleine Gesten vollführen, jedoch fühlt sie sich wie gelähmt. Sie kann nichts tun, als immer hinüberzusehen, und wird jetzt von einer Frau angeschaut. Sie sehen einander an und wissen beide, dass jede die andere gründlich beobachtet. Die Fragen: Was tust du? Warum bewegst du dich nicht? Jetzt beschreibe ich, wie du aussiehst. Die halbe Frau, die sie sieht, trägt eine grüne Strickjacke. Sie hat ein sehr kleines, schmales Gesicht. Miriam hat den Eindruck, die Bahn bewege sich minimal vor und zurück, da sich der Frauenkopf auch unmerklich vor- und zurückbewegt.

Sie hört Isas Stimme: „Du hast mir gar nicht zugehört?“

Sie wundert sich, weshalb Isa ihre Frage noch einmal stellt. Sie nickt. Sie hört das Klingeln der Straßenbahn, sieht, wie die blaue Bahn dicht neben ihr vorbeifährt. Sie wendet ihren Kopf Isa zu und nickt noch einmal.

Es entsteht immer eine Lücke zwischen diesen Bildern. Miriam weiß nicht, wie sie in den Laden gekommen ist. Es ist, als müsse sie sich entscheiden, ob in kurzer Zeit sehr viele Dinge passieren werden oder nur wenige Momentaufnahmen angesehen werden können. Sie wünscht sich, in der Lage zu sein, es selbst zu bestimmen. Wie bei einem Musikstück. Und dabei notfalls die vorgegebenen Tempobezeichnungen ignorieren und ein Largo in flottem Tempo spielen zu können. Aber es scheint nicht so. Die Temposchwankungen geraten außer Kontrolle, manchmal fast bis zum Stillstand. Was, denkt sie, ist das übliche Lebenstempo? Wer schreibt mir vor, in welcher Geschwindigkeit ich gelebt haben soll?

Sie erinnert sich an einen langen Tag voller Katastrophen. Das ist heute gewesen. Eigentlich erscheint es unmöglich, dass alle diese Dinge in einen Tag gepasst haben könnten, aber es ist so. Denn der Abend dieses Tages ist heute.

Sie hat das Brot zurückgegeben. Es liegt immer noch unbeachtet auf der Glastheke. Isa ist vertraut mit ihr.

„Manchmal“, antwortet sie endlich, „kann ich gar nicht richtig hinhören. Dann lausche ich nur auf den Klang von Stimmen, so auch jetzt auf den Klang deiner Stimme. Dann ist Sprechen für mich einfach nur ein schönes Geräusch. Bitte erzähle es mir noch einmal, ich werde mir Mühe geben. Und ich habe auch eine Frage an dich: Wie war dein Tag?“

„Gerade das“, erwidert Isa, „habe ich dir eben erzählt.“

Dann schweigen sie beide. Die Bahn ruckt an und fährt weiter.

Auf der Bank im Hof sitzt ein kleiner Mann. Er weint. Sie erinnert sich, dass es der Mann sein muss, der unter ihr wohnt. Sie setzt sich zu ihm. Sie sagen beide nichts. Miriam schaut auf und sieht eine große Elster auf dem Geländer ihres Balkons sitzen. Sie scheint zu warten.

Miriam steht auf und geht nach oben. Ihre Wohnungstür klemmt immer noch ein wenig. Jetzt wird sie endlich einmal Zeit finden, ihre Wohnung aufzuräumen. Da gibt es nicht viel. Nur ein paar Kisten mit Papierkram drin. Sie blättert den letzten Stapel durch, zieht ein Bild heraus. Hält es neben das große Bild, das sie über den langen Riss geklebt hat. Darauf ist ein riesiger Elsterflügel zu sehen. Sie fährt mit den Fingern über das schillernde Blau, sie mag dieses Bild sehr. Valentin hat es ihr vor Kurzem geschenkt. Daneben hängt sie das etwas vergilbte und viel kleinere Blatt. Darauf ist eine Frau mit wirren, grünen Haaren zu sehen und riesigen Mutteraugen, auch dieses Bild mag sie sehr. Lina hat es gemalt, als sie noch sehr klein war.

Ihr scheint es, als sei ihr Leben aufgehängt zwischen diesen beiden Bildern, zumindest ihr Leben als erwachsene Frau bis heute.

Das große Bild mit dem Elsterflügel klebt auf dem schmalen Riss, der sich die Wand von oben herabschlängelt. Sie fährt mit den Händen über das Blatt, als wolle sie es streicheln. Spürt unter dem Papier den Riss. Neben dem großen Bild nimmt sich die grüne Frau winzig aus. Ihre Augen wirken nicht mehr so riesig und ihre Brüste scheinen auf eine normale Größe geschrumpft. Sie erinnert sich: Hier hat sie mit dem Schnabel draufgepickt und Lina hat ihr empört das Blatt unter dem Schnabel fortgezogen. Sie sieht immer noch den kleinen Punkt, den Einstich. Es muss also wahr sein.

Wie komme ich hierher?, denkt sie. Noch eben war ich ein Vogel. Sie läuft zum Fenster und blickt auf die Straße hinunter. Gerade schiebt sich wieder eine blaue Bahn über die Fahrbahnmitte. Sie zerschneidet die Straße in zwei gleiche Teile. Dann bleibt sie einfach stehen. Hier ist aber keine Haltestelle.

Anna ist nicht zurückgekommen und Valentin bleibt verschwunden. Sie überlegt, wohin sie Annas Brief gesteckt hat, es fällt ihr nicht ein. Nur ich bin wieder hier, denkt sie. Ich bin immer hier. Sie blickt zur Balkontür, die Elster ist fort.

Immer noch sucht sie Annas Brief und kann ihn nicht finden. Wozu soll man Abschiedsbriefe finden?, denkt sie. Aber sie hat ihn ja nicht einmal richtig gelesen.

Miriam beschließt, Anna selbst einen Brief zu schreiben. Sie weiß zwar nicht, wohin sie ihn schicken soll, aber das ist jetzt ihre geringste Sorge. Sie muss sowieso viel zu oft an Anna denken.

Anna, ich sehe dich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, du schaust auf meine Seite herüber, als würdest du jemanden suchen – ich hoffe, dass ich es bin. Du kannst mich nicht sehen, weil du mich in diesem Moment noch nicht kennst. Mein Gefühl für das Vergehen von Zeit ist restlos aus den Fugen geraten. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin und was zwischendurch geschah. Wir gehen immer von einem chronologischen Verlauf der Dinge aus, dabei sind bestimmte Ereignisse in einer Art Spirale gefangen, kreisen in und um sich selbst. So wie der Morgen, an dem ich dich zum ersten Mal auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig sah und dachte, dass ich eigentlich gern in den falschen Zug steigen würde, um dir zu begegnen. Jetzt denke ich gerade, dass du genauso gut bei mir hättest mitfahren können.

Ich weiß gar nicht mehr so genau, welche Verpflichtungen ich noch habe. Die ganze Sache mit der Arbeitserprobung und den Lagern erscheint mir wie ein Spuk, dem ich entronnen zu sein glaube. Als ich das alles erlebte, war immer eines die logische Folge des Vorangegangenen gewesen.

Ich vermute, dass du lange sehr weit weg sein wirst. Es ist schwer auszuhalten, während einer großen Katastrophe einen Menschen zu verlieren. Ich werde zu dem Moment zurückkehren, als du noch hier gewesen bist.