Die Geschichte der Elster - Anna Schilasky - E-Book

Die Geschichte der Elster E-Book

Anna Schilasky

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Beschreibung

Frühjahr 2014: Als sie zum ersten Mal in ihrem Leben stiehlt, hat sie ihre Arbeit verloren und versucht mühsam ihre bisherige Alltagsstruktur aufrechtzuerhalten. Sie begegnet einer Frau, die ihr sehr gefällt. Seit sie verliebt ist, geschehen zuweilen unglaubliche Dinge: eine Brotkette baumelt am Heißluftballon, Häuser werden plötzlich baufällig und Buchstaben fallen aus dem Buch ihrer Freundin. Schließlich mündet nicht nur ihr Leben in eine Katastrophe. Die Menschen um sie herum werden evakuiert oder in Arbeitslagern untergebracht. Dabei gibt es eine stetige Entwicklung hin zu einer totalitären Struktur, die kaum noch Spielraum für freie Entscheidungen zulässt. Doch nichts ist wirklich so, wie sie glaubt …

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Anna Schilasky

DIE GESCHICHTE DER ELSTER

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Covergestaltung Milan Ziebula

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Geschichte der Elster

Als es für sie noch einen Beruf gab, der für andere nützlich war, hatte die Leserin Dinge getan, an die sie sich kaum noch erinnern konnte. Sie wusste nur, dass es langweilig und ermüdend gewesen war und sie von der Lautstärke und Größe anderer Menschen umringt. Es war um Bücher gegangen, die verkauft werden sollten, leider war es ihr nur selten gelungen. Dies hatte dann dazu geführt, dass sie gekündigt worden war.

Der Verkäuferinnenjob war ihr letzter gewesen. Von nun an wurde sie regelmäßig von einer Frau ins Arbeitsamt eingeladen, die nett zu ihr war, weil sie ihr immer aufmerksam zuhörte. Dies brachte sie auf den Gedanken, von jetzt an nur noch Dinge zu tun, die ihre volle Aufmerksamkeit erforderten. Sie überlegte, was sie aus ihrem früheren Leben übernehmen könnte. Es war nicht viel, lediglich die Struktur. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und schrieb ihren letzten Traum auf. An gewöhnlichen Tagen enthielten ihre Träume Splitter und Fetzen aus ihrem früheren Leben. Es kamen darin Männer und Kinder vor, die sie längst verlassen hatten oder die sie verlassen hatte. In diesen Träumen wusste sie, dass sie träumte, da es in ihnen nicht so hell und alles ein wenig verschwommen war. Außerdem gelang es ihr nie, in diesen Träumen das Licht anzumachen.

An besonderen Tagen jedoch träumte sie immer vom Fliegen. Dann stand sie auf der Dachterrasse ihrer Wohnung, machte ein paar Schritte und befand sich schon schwebend über dem Innenhof. Sie wusste, dass die anderen Menschen sie so nicht sehen konnten und dass ihr Zustand völlig ungefährlich war. So nutzte sie es aus und wurde neugierig. Zunächst zoomte sie sich an die Fenster ihrer Nachbarn heran und blickte in deren Fenster hinein. Erstaunlicherweise konnte sie durch Gardinen, Jalousien und Rollos hindurchblicken.

Heute erblickte sie ihren Nachbarn, der jeden Abend laut in sein Handy schrie, still, nackt und betrübt in seinem Bad. Er stand dort leicht gebeugt vor einem großen Spiegel und hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, kratzte sich dort, wandte den Kopf zum Fenster hin, schaute ihr geradewegs in die Augen, aber durch sie hindurch. Das erschien ihr gruselig, ihr war nun klar, dass sie träumte und er sie nicht sehen konnte. Sie war erstaunt, dass er so korpulent und behaart an Brust und Beinen war und so ein kleines Geschlechtsteil hatte. Dann sah sie, wie Tränen über sein Gesicht liefen. Sie fühlte sich hilflos und beschloss, woanders hineinzuschauen.

Am neugierigsten war sie auf die Leute, die über ihr wohnten. Dort waren laute Rufe und Geräusche zu hören. Sie sah einen kleinen Jungen, der sich, in eine Decke gewickelt, über den Boden rollte. Nun wusste sie endlich, was dieses häufige Knarzen auf den Dielen über ihrer Wohnung zu bedeuten hatte. Als er zum Fenster schaute, hatte sie für einen Moment den Eindruck, dass er sie sah. Aber das konnte gar nicht sein. Sie beschloss, aufzuwachen und den Traum aufzuschreiben.

Als sie aufwachte, war es genau fünf Uhr wie zu der Zeit, als sie noch Bücher zu verkaufen versuchte. Damit war sie sehr zufrieden. Während sie den Traum aufschrieb, stellte sie fest, dass es im Haus noch still war. Anschließend braute sie sich einen Mocca in einem kleinen türkischen Kupferkännchen. Sie wusste, dass sie sich diesen Mocca nicht mehr lange würde leisten können, da sie kaum Geld hatte. Deshalb genoss sie dieses Ritual ausführlich und rührte sehr lange, ließ den Mocca mehrfach aufschäumen, ehe sie ihn in den Becher goss.

Dann drehte sie sich eine Zigarette, rauchte sie aber nicht, da sie damit aufgehört hatte, seit sie nicht mehr auf Arbeit ging. Sie legte die Selbstgedrehte zu den anderen auf den Tisch und stellte fest, dass es schon ganz schön viele waren. Für alle Fälle, dachte sie, falls ich mal wieder arbeiten muss.

Nun wäre es an der Reihe gewesen, ihre E-Mails zu checken, doch ihr Telefon- und Internetanschluss war bereits seit Wochen abgeklemmt. Sie klappte nur den Deckel ihres Laptops hoch und gleich wieder runter. In den ersten Tagen hatte sie den Computer noch hochfahren lassen.

Dann ging sie in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Das Brot war alle, die Bananen waren alle, im Kühlschrank lag noch eine angefangene Tube Ketchup. Seit sie nicht mehr rauchte, hatte sie morgens Hunger. Da sie die Wohnung noch etwas länger halten wollte, ging sie einmal in der Woche zur Tafel. Das nächste Mal würde erst morgen sein. Sie beschloss, zum ersten Mal in ihrem Leben zu stehlen. Brot. Eigentlich würde das ganz einfach sein. Oft war sie in den Bäckerladen gegangen, um mit der Bäckersfrau zu schwatzen, ohne etwas zu kaufen. Wenn sie kurz nach halb sieben ginge, wäre der Laden leer. Die Bäckersfrau wäre zu dieser Zeit meistens hinten, um Ware auszuräumen. Sie hängte sich die Satteltasche vom Fahrrad über die Schulter, es würde überhaupt nicht auffallen.

Der Laden war leer, sie schnappte sich ein kleines rundes Brot und warf es in die Satteltasche. Vor lauter Anspannung musste sie lachen. Die Bäckersfrau kam vor und fing auch an zu lachen. Da sah sie an sich herunter und stellte fest, dass sie noch ihren Schlafanzug anhatte. Irgendwie kommt grade alles richtig durcheinander, dachte sie. Zum Glück war es ein dunkelblauer Männerschlafanzug. Immerhin hatte sie Straßenschuhe an. „Es tut mir leid“, sagte sie. Und dachte: Das ist der erste Mensch, mit dem ich seit Tagen gesprochen habe.

„Was?“, fragte die Frau.

„Ich habe kein Geld mit“, antwortete sie und erwartete, mit dem gestohlenen Brot erwischt zu werden.

„Ein kleines Rundes?“, fragte die Frau und griff nach dem Brot ins Regal. „Geben Sie mir das Geld ein andermal. Wir kennen uns doch.“ Sie steckte das zweite Brot ein. „Es tut mir leid, dass ich gelacht habe“, sagte die Frau. „Aber der Schlafanzug. Ist etwas passiert?“

„Ja, danke für das Brot“, sagte sie und ging.

Zurück in der Wohnung legte sie beide Brote nebeneinander auf den Tisch. Sie schnitt sich von jedem einen Kanten ab, aß und trank dazu ein Glas Wasser. Als sie sich die Zähne geputzt und geduscht hatte, fühlte sich alles an wie immer.

Auf dem Esstisch neben den Broten lagen verschiedene Bücher, die sie sich gestern Abend ausgesucht hatte. Sie nahm drei davon und steckte sie in die Fahrradtasche. Für den Rest des Jahres hatte sie noch die Jahreskarte für den Zug, der sie immer in die Stadt gebracht hatte, in der sie Verkäuferin gewesen war. Also konnte sie noch bis zum Ende des Jahres weiter Zug fahren. Sie stieg in dieser Stadt aus und auf der anderen Seite in den nächsten Regionalzug wieder ein, der nach Hause fuhr, und so fort bis zum Abend, an dem sie in den Zug um 18:36 Uhr stieg, mit dem sie auch früher von der Arbeit nach Hause gefahren war.

Peinlich war das nur, wenn sie im Zug ehemalige Kolleginnen traf. Weil sie doch in ihrem Job nicht gerade gut gewesen war. Sie fragten dann auch: „Was machst du in diesem Zug?“ Oder: „Hast du einen neuen Job?“ Manchmal behaupteten sie auch, sie sähe gut oder schlecht aus, so, wie sie sich selbst gerade fühlten, schien ihr. Wenn sie ihre früheren Kolleginnen im Zug traf, stellte sie sich die auf ihrem Stubentisch aufgereihten selbst gedrehten Zigaretten vor und, dass sie sich jetzt gleich eine im Zug anzünden würde, und fühlte sich dann besser.

Am liebsten hatte sie es, wenn sie keine und keiner erkannte. Dann fühlte sie sich wie eine wahrhaftige Verweigerung und hatte das Gefühl, endlich einmal machen zu können, was sie wollte. Weshalb sie dafür noch eine Struktur brauchte, war ihr nicht so ganz klar. Aber vielleicht würde sich ja auch das noch geben. Sie wollte endlich frei sein von irgendwelchen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen und nicht immer Erfolg haben müssen.

Auch ihre Freundinnen, mit denen sie sich lieber seit Längerem schon nicht mehr traf, hatten immer von nützlichen Dingen erzählt. Sie wusste nicht so genau, ob sie überhaupt noch Freundinnen hatte. Sie waren ihr so fremd mit ihrem jämmerlichen Mitleid und guten Ratschlägen vorgekommen. Nachdem sie: „Keinen Mann, keinen Job und das Kind kommt auch auf keinen grünen Zweig, das ist kein Leben, du Ärmste!“, gehört hatte, stellte sie fest, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Sie winkte einfach nur und ging. Sie war nicht einmal wütend, eher erleichtert. Als dann auch das Telefon abgestellt worden war, blieben auch die Einladungen zu üppigen Abendessen aus. Das war ihr egal, sie wollte sowieso kein Fleisch mehr essen.

Sie fuhr mit dem Rad zu ihrem Zug um 7:41 Uhr und wartete geduldig mit den anderen Reisenden auf den regelmäßig verspäteten Regionalzug. Sie liebte die alten Regionalzüge, sie waren so unvollkommen, außen rot und innen verdreckt. Sie liebte es schon, wenn die Bremsen beim Einfahren entsetzlich quietschten. Sie setzte sich immer ins Fahrradabteil und blockierte so manchmal den Platz für weitere Fahrräder. Das war ihr egal, Hauptsache, sie musste nicht in den Abteilen sitzen, wo die Menschen schon morgens viel redeten.

Das mit dem Reden war überhaupt so eine Sache. Ihr war aufgefallen, dass sie inzwischen nur noch mit der Bäckersfrau sprechen konnte, deren Namen sie nicht einmal kannte. Ihren Sohn hatte sie schon seit Längerem nicht mehr angerufen.

Sie hatte sich im Fahrradabteil gleich auf mehreren Sitzen breitgemacht und die Beine hochgelegt. Damit der Schaffner sie deshalb nicht maßregeln würde, hatte sie sich große Kopfhörer aufgesetzt. Natürlich hörte sie keine Musik, aber es war besser so, so musste sie nicht einmal ihre Jahreskarte herauskramen, der Schaffner winkte nur und ging weiter. Ihr fiel ein, dass sie das im nächsten Jahr auch so machen könnte, und sie war erleichtert. Man vertraute ihr, sie war fünfzehn Jahre auf dieser Strecke gefahren. Es würde keine zeitliche Begrenzung für solch ein Leben geben.

In den ersten Wochen ihrer Berufslosigkeit hatte sie nur aus dem Zugfenster geschaut, den ganzen Tag, weil sie sich für keines der drei ausgewählten Bücher hatte entscheiden können. Da nicht immer die gleichen Schaffner im Zug waren, war es auch nicht aufgefallen, dass sie den ganzen Tag unterwegs war. Alles, was sie jetzt noch hatte, waren Bücher, Zeit und diese Jahreskarte.

Jetzt war sie so weit, dass sie mit geschlossenen Augen in die Fahrradtasche greifen und ein Buch herausziehen konnte. Manchmal las sie aber auch nicht, dachte nach und träumte. Sie war vollkommen glücklich. Sie wusste, die Frau auf dem Arbeitsamt würde noch eine Weile Geduld mit ihr haben. Sie wusste auch, dass sie eines Tages wieder ihre Freundinnen anrufen und mit ihnen sprechen würde, ja, sie stellte sich vor, wie sie ihnen die Meinung sagen würde über ihr blödes Mitleid. Sie würde ihnen erzählen, dass sie davor und danach nie glücklicher gewesen war als gerade jetzt. In einer Zeit, in der es nicht darauf ankam.

Sie dachte an die Geheimnisse, die sie hatte. Daran, dass ihr Männer immer ein wenig fremd geblieben waren und es ihr nicht leidtat, sich getrennt zu haben. Dass sie stolz auf ihren Sohn war, weil er machte, was er wollte, und nicht immer nach dem Ziel fragte. Dass sie Frauen viel schöner fand als Männer, vor allem eine. Dass sie eigentlich keine Verkäuferin sein wollte, sondern Leserin. Dass sie, wenn alles so weiterging, nächstes Jahr mit der Jahreskarte Beschiss machen würde. Sie dachte, dass sie alles der Bäckersfrau erzählen würde, wenn sie zu Hause war, auch das mit dem gestohlenen Brot.

Eines Tages hatte sie die Frau auf dem anderen Bahnsteig bemerkt, die genauso wie sie fast um die gleiche Zeit, jedoch nur in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Es war, als schaute sie in einen Spiegel, obwohl ihr schon klar war, dass sie ihr überhaupt nicht ähnlich sah. Sie konnte nicht sagen, weshalb dieser Eindruck entstanden war. Vielleicht waren es nur ihre Bewegungen. Manchmal bildete sie sich ein, dass die andere auch zu ihr sehen würde, war sich an anderen Tagen jedoch völlig sicher, dass diese sie nicht wahrnahm. Sie bekam immer mehr Lust, dieser Frau einfach nur zuzusehen, wie diese langsam auf und ab ging. Sie stellte sich ihre Stimme vor: Bestimmt war sie höher als ihre eigene und sehr klar. Sie beobachtete, wie die Frau auf dem anderen Bahnsteig manchmal zu Leuten ging, mit diesen sprach und dann weiterschlenderte. Es waren meistens Leute mit Fahrrädern, einmal borgte sie sich eine Luftpumpe. Sie stellte sich vor, dass die andere ebenso wie sie den ganzen Tag hin und her fuhr.

Diese Frau gefiel ihr ungemein. Sie war sehr schmal und trug recht unspektakuläre Kleidung, die manchmal viel zu groß zu sein schien. Manchmal, so fand sie, passten nicht einmal die Farben zueinander. Es kam ihr so vor, als seien dieser Frau die Anziehsachen völlig egal, und sie begann sich über sich selbst zu wundern. Wieso war es ihr immer so wichtig gewesen, dass die Stoffteile, die sie auf dem Körper trug, perfekt zueinander passten? Diese Frau da drüben schien Röcke nicht zu mögen. Sie hatte sehr lange Haare.

Heute Morgen – und dies hatte sie völlig durcheinandergebracht – hatte sie ihr wie zum Abschied zugewunken, bevor ihre jeweiligen Züge kurz nacheinander eingefahren waren. Sie fühlte eine Mischung aus Erschrockensein und Freude. Sie hatte sich immer eingebildet, die andere würde sie nicht bemerken, und jetzt das.

Jetzt saß sie im Zug und stellte sich vor, wie die andere mit in diesem Abteil säße und sie ihr vorläse. Sie begann laut zu lesen. Da bemerkte sie, dass ein paar Sitze entfernt von ihr jemand saß, der Schaffner. Er grinste. Offenbar hatte er die ganze Zeit zugehört.

„Ich übe für eine Lesung“, sagte sie.

„Es gefällt mir, Sie schreiben schöne Geschichten“, erwiderte er. „Sonst hören Sie ja immer Musik.“

Sie nickte. „Aber es sind nicht meine Geschichten.“

„Na egal, mir gefallen sie trotzdem.“

Als sie ihre Jahreskarte herausholen wollte, winkte er nur ab.