5,99 €
Ein Mann strandet auf einer einsamen Insel vor der kanadischen Küste. Er ist ausgemergelt, dünn, wirkt mehr tot als lebendig. Und er hat Hunger – einen unstillbaren, schmerzhaften Hunger. Auf der Insel findet er eine Scouttruppe vor. Die Scouts merken schnell: Der Fremde ist krank, todkrank. Egal, wie viel er isst: sein Körper fällt mehr und mehr in sich zusammen. Und dann sehen sie, dass sich etwas unter seiner Bauchdecke bewegt. Während die Scouts überlegen, was zu tun ist, bemerkt ihr Leiter, dass ihn plötzlich ein nie gekannter Hunger quält …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 548
Veröffentlichungsjahr: 2014
Zum Buch
Ein Mann strandet mit seinem Schnellboot an einer einsamen Insel. Er ist ausgemergelt, dünn, wirkt mehr tot als lebendig. Und er hat Hunger – einen gierigen, unstillbaren, schmerzhaften Hunger. Verzweifelt stolpert er durch die dichte Vegetation, bis er an eine Holzhütte gelangt. Dort findet er eine Scouttruppe vor, fünf Jungen mit ihrem erwachsenen Scoutleiter. Die Scouts merken schnell: Der unheimliche Fremde ist krank, todkrank – infiziert mit einer unbekannten Seuche. Egal, wie viel er isst: Sein Körper fällt mehr und mehr in sich zusammen. Und dann sehen sie, dass sich etwas unter seiner Bauchdecke bewegt. Etwas ist in dem Mann, das ihn von innen heraus auffrisst, etwas, das jetzt herauswill. Während die Scouts überlegen, was zu tun ist, bemerkt ihr Leiter, dass ihn plötzlich ein nie gekannter Hunger quält …
Der Kampf ums Überleben beginnt, der Kampf gegen einen Feind, dem man nicht entkommen kann …
Zum Autor
Nick Cutter ist das Pseudonym eines preisgekrönten Autors, der bereits mehrere Kurzgeschichten und Romane schrieb. Cutter lebt nicht auf einer Insel, sondern in Toronto, Kanada. Er hat einen gesunden Appetit.
NICK CUTTER
THRILLER
Aus dem Englischenvon Frank Dabrock
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe THE TROOPerschien 2014 bei Gallery Books, New York
Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2014
Copyright © 2014 by Craig Davidson
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Umschlaggestaltung: Büro Überland
Umschlagmotive: © shutterstock / Denis Pepin,© shutterstock / Vlad G, © shutterstock / mike_expert,© shutterstock / jcsmilly, © shutterstock / Anze Mulec
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-13918-6V002
www.heyne.de
Meinem Bruder Graham
Erwachsene sind doch bloß überalterte Kinder.
DR. SEUSS
Dieser Kopf ist für das Monster.
Er ist ein Geschenk.
WILLIAM GOLDING, Herr der Fliegen
TEIL EINS
DER HUNGRIGE MANN
Schlagzeile aus The Weird News Network, Online-Ausgabe, 19. Oktober:
DER HUNGRIGE MANN VON PRINCE COUNTY!
von Huntington Mulvaney
Furchterregende Neuigkeiten, geschätzte Leserinnen und Leser, von einem unserer abgelegensten Außenposten – aus der winzigen Fischergemeinde von Lower Montague, Prince Edward Island. Einem trostlosen, unheilvollen Felsen, der spitz in den Atlantik ragt.
Ein idealer Schauplatz für eine ausgemachte Teufelei, wie mir scheint. Zu eurem Glück haben wir überall unsere Augen und Ohren. Wir sehen und hören alles.
Letzte Nacht wurde Sadie Adkins, Kellnerin im Diplomat Diner in Lower Monatgue, von einem bemerkenswert abgemagerten Dieb ihr neuer Chevrolet-Transporter vom Parkplatz des Restaurants gestohlen. Adkins wählte daraufhin unsere gebührenfreie Hinweisnummer, nachdem sie mit ihrem dringlichen Anliegen von den Jungs der örtlichen Polizei auf üble und bösartige Weise abgewiesen worden war und diese es – wir zitieren – als »lächerlich« und »verrückt« abgetan hatten.
»Ich weiß, wer meinen verdammten Transporter gestohlen hat«, erzählte uns Adkins. »Starvin’ Marvin.«
Um neun Uhr abends betrat ein unbekannter Mann, achtunddreißig bis vierundvierzig Jahre alt, mit kurz geschorenem Haar und ausgebeulten Klamotten, das Diplomat Diner. Laut Adkins war der Mann stark unterernährt.
»Er war so dünn! Unglaublich«, berichtete Adkins unseren unerschrockenen Wahrheitssammlern. »In meinem ganzen Leben hab ich noch keinen so ausgemergelten Mann gesehen. Aber einen Hunger hatte der.«
Adkins gab zu Protokoll, dass der Unbekannte fünf Hungry-Man-Frühstücke verdrückte – jeweils bestehend aus vier Eiern, drei Buttermilch-Pfannkuchen, fünf Streifen Speck, mehreren Würstchen und Toast.
»Er hat unseren ganzen Eiervorrat verputzt«, sagte Adkins. »Er hat das Zeug unaufhörlich in sich hineingeschaufelt und wollte immer mehr. Er muss einen völlig aufgeblähten Bauch gehabt haben, straff wie das Fell einer Trommel. Er … also, er … als ich mit dem dritten Frühstück zurückkam, vielleicht war es auch das vierte, hab ich ihn dabei erwischt, wie er die Servietten gegessen hat. Er rupfte sie aus dem Spender, kaute darauf herum und schluckte sie runter.«
Schließlich zahlte der Unbekannte und verschwand. Als Adkins kurz darauf vor die Tür trat, bemerkte sie, dass ihr Transporter gestohlen worden war.
»Ich kann nicht sagen, dass ich besonders überrascht gewesen wäre«, sagte sie. »Der Mann wirkte extrem verzweifelt.«
Nach einer kurzen Pause erwähnte sie eine letzte grausige Einzelheit:
»Aus seinem Innern konnte ich Geräusche hören – also, unter der Haut. Ich weiß, das klingt bescheuert.«
Der Unbekannte ist weiterhin auf der Flucht. Wer ist der Mann? Und wo kam er her? Die Leute, die im Bilde sind – langjährige Leserinnen und Leser wissen, wer gemeint ist: die Regierung, der Geheimdienst, die Templer, die Illuminati, die üblichen zwielichtigen Verdächtigen – rücken keine Infos raus … wir jedoch werden jeden Stein umdrehen, Geheimakten durchforsten und jedem seriösen Hinweis nachgehen, der uns über unsere Hotline erreicht.
Im verschlafenen Prince County ist etwas Schlimmes im Gange. Niemand kann dermaßen hungrig sein.
WENN IHNEN DIESER ARTIKEL GEFALLEN HAT, KÖNNTE SIE AUCH FOLGENDES INTERESSIEREN:
–CHEESEBURGER TÖTET ALIEN!
–TEUFEL VON GIS IN IRAK VERHAFTET!
–BABY AUS DER HÖLLE LÄUFT IN TUPELO AMOK!
–CHUPACABRA SAUGT IN PARKANLAGE KLEINKIND AUS!
1
ESSEN ESSEN ESSEN ESSEN
Das Boot hüpfte über die Wellen, und das Brummen seines Motors hallte über den Sankt-Lorenz-Golf hinter ihm. Der Mond hing wie ein knöcherner Angelhaken am wolkenlosen Oktoberhimmel.
Der Mann war nass von der Gischt, die über das Seitendeck spritzte. Unter seiner durchweichten Kleidung zeichneten sich die Umrisse seines Körpers ab. Man hätte ihn leicht mit einer Vogelscheuche verwechseln können, die man auf einem Acker sich selbst überlassen hatte und deren Füllung von Tieren herausgerissen worden war.
Er hatte das Boot von einem Kai in North Point, an der äußersten Spitze von Prince Edward Island, gestohlen, nachdem er mit einem Pick-up, den er auf einem Restaurantparkplatz kurzgeschlossen hatte, dorthin gefahren war.
Mann, hatte er einen Hunger gehabt. In dem Diner hatte er so viel gegessen, dass seine Magenschleimhaut gerissen war – gerade sickerte der Inhalt seiner Innereien durch das aufgeplatzte Gewebe in die Ritzen zwischen seinen Organen. Allerdings bekam er davon nichts mit, und in seinem momentanen Zustand hätte ihn das auch nicht besonders interessiert. Es hatte sich so gut angefühlt, den Hohlraum in seinem Innern zu füllen … aber es war, als würde man ein Loch ohne Boden mit Erde füllen: Man konnte eine Schaufel nach der anderen hineinschütten, und es machte nicht den geringsten Unterschied.
Achtzig Kilometer zuvor hatte er am Straßenrand angehalten, als er im Graben einen zerfetzten Waschbärkadaver entdeckt hatte, zwischen dessen Pelz die Wirbelsäule aufblitzte. Es hatte ihn große Mühe gekostet, nicht anzuhalten, in den Straßengraben zu krabbeln und …
Aber er hatte es nicht getan. Schließlich war er immer noch ein Mensch.
Die Hungerattacken würden schon aufhören, hatte er sich eingeredet. Sein Magen konnte nur eine bestimmte Menge Nahrung aufnehmen – war dies nicht eine wissenschaftliche Tatsache? Aber das hier war anders als alles, was er kannte.
Wie bei einer Diashow jagten ihm Bilder durch den Kopf, Bilder seiner Leibgerichte, liebevoll angerichtet, glitzernd und üppig und zu perfekt,herausgerissen aus den Hochglanzseiten von Bon Appétit – wie eine anzügliche Parodie auf Nahrungsmittel, unfassbar sinnlich, superstilisiert und obszön.
Er sah Kirschen, die aus einem Blätterteigkuchen quollen, jede einzelne zu atemberaubend prallem Glanz gepäppelt, wie ein Haufen blutunterlaufener Augäpfel, mit einer gewaltigen Haube Schlagsahne …
Schnitt.
Ein Porterhousesteak, dick wie ein Wörterbuch, dessen Knochen zwischen dem durchwachsenen, knusprig gegrillten Fleisch hell schimmerten, angerichtet mit zerlaufener Kräuterbutter; das Fleisch stöhnte förmlich auf, als es sich, vom Messer zerteilt, geschmeidig wie eine gut geölte Tür auftat …
Schnitt.
Schnitt.
Schnitt.
Was würde er jetzt nicht essen? Er verzehrte sich nach dem Waschbär. Wäre der jetzt hier, würde er ihm die vertrockneten Reste seiner Sehnen aus dem zerfetzten Pelz reißen; ihm den Schädel zertrümmern und die Splitter nach seinem Gehirn absuchen, das so köstlich wie eine Walnuss schmecken würde.
Warum hatte er das Scheißvieh nicht gegessen?
Würden sie nach ihm suchen? Wahrscheinlich schon. Er war ihr Fehlschlag – ein grober Schnitzer in Menschengestalt – und der Hüter ihres Geheimnisses. Und er war sehr, sehr toxisch. Zumindest hatte er gehört, wie sie das sagten.
Er wollte niemandem etwas zuleide tun. Und die Möglichkeit, dass er das bereits getan hatte, betrübte ihn zutiefst. Was hatte Edgerton gesagt?
Sollte das nach draußen gelangen, wäre eine Typhusepidemie ein Kindergeburtstag dagegen.
Er war kein böser Mann. Er war bloß eingesperrt worden und hatte getan, was jeder an seiner Stelle getan hätte: Er war abgehauen. Und jetzt suchten sie nach ihm. Würden sie versuchen, ihn zu schnappen und zu Edgerton zurückzubringen? Er fragte sich, ob sie das Risiko nun noch eingehen würden.
Er krümmte sich und hätte sich beinahe ins Wasser übergeben. Das stechende Hungergefühl fraß sich durch seine Eingeweide. Als er die brennenden Tränen aus seinen Augen blinzelte, sah er am Horizont einen tanzenden Lichtpunkt.
Eine Insel? Ein Feuer?
NATÜRLICHE RESSOURCEN IN KANADAGEOGRAFISCHES GUTACHTEN
Falstaff Island, Prince Edward Island
Fünfzehn Kilometer vor der Nordspitze des Festlands gelegen. Höchster Punkt: 452 Meter über dem Meeresspiegel. 10, 4 Kilometer Umfang.
Zwei Landeköpfe: einer auf der westlich verlaufenden Landzunge, einer an der nordöstlich gelegenen Steilküste. Im Norden erhebt sich ein Granitkliff, das über eine Länge von etwa 200 Metern zu einem Felsbecken hin abfällt.
Das Gelände ist von winterharten Schilfpflanzen, Sträuchern, dem gemeinen Stechapfel, Essigbäumen und Heidelbeeren bewachsen. Aufgrund des hohen Salzgehalts im Grundwasser der Insel sind die Pflanzen in ihrem Wachstum gehemmt. Der Oberboden ist durch starke Winde und Niederschläge erodiert.
Die Insel bietet verschiedenen Vogelarten, Meereslebewesen, Säugetieren, Reptilien und Insekten einen fruchtbaren Lebensraum. An der nördlich gelegenen Steilküste versammeln sich Pelikane, Möwen und andere Seevögel. Größte Fischbestände: Lachse, Dorsche, Brassen und Barsche. Im Sommer wärmen sich Seelöwen vor der Insel in der Sonne und locken Gruppen von Schwertwalen an. Außerdem gibt es kleine, aber widerstandsfähige indigene Populationen von Waschbären, Stinktieren, Stachelschweinen und Kojoten. Die Exemplare auf der Insel sind kleiner und schlanker als ihre Verwandten vom Festland.
Ein einzelnes winterfestes Wohnhaus, das in öffentlichem Besitz ist und von der Regierung instand gehalten wird, dient als Notunterkunft oder Quartier für gelegentliche Exkursionen.
Keine dauerhaften Bewohner.
2
Tim Riggs – Gruppenleiter Tim, wie seine Schützlinge ihn nannten – ging durch den Hauptraum der Hütte in die Küche und holte sich aus dem Geschirrschrank einen Becher. Dann öffnete er den Reißverschluss seines Rucksacks und nahm eine Flasche Whisky heraus.
Die Jungen lagen bereits im Bett, schliefen allerdings noch nicht; seine Erlaubnis vorausgesetzt, würden sie die halbe Nacht aufbleiben und sich Gespenstergeschichten erzählen. Und nicht selten erlaubte er es. Niemand würde ihn je als Spielverderber bezeichnen, außerdem war diese Exkursion für einige der Jungs der einzige Urlaub, den sie hatten. Für Tim war das hier ebenfalls Urlaub. Er schüttete sich einen ordentlichen Schluck Scotch ein und trat hinaus auf die Veranda. Ruhig und still lag Falstaff Island unter der Decke der Nacht da. Die Wellen krachten gegen den Landekopf am Fuß eines zweihundert Meter langen flachen Abhangs, mit einem Geräusch, als käme das Dröhnen direkt aus der Erde.
Mücken flogen summend gegen das Fliegengitter der Veranda. Motten stießen mit ihren pelzigen Körpern immer wieder gegen die einsame Glühbirne. Die Nacht war kühl, und durch das Gewirr kahler Äste fiel das Mondlicht. Keiner der Bäume war besonders groß – der Sockel der Insel bestand aus nacktem Felsgestein, das aus dem Meer emporgedrückt worden war, mit einer dünnen Schicht Erdreich auf der Oberfläche. Die Bäume waren alle gleichermaßen deformiert, wie Kinder, die mit vergifteter Milch gesäugt worden waren.
Tim spülte den Scotch in seinem Mund umher. Da er an der Nordküste von Prince Edward Island der einzige Arzt war, wäre es unangebracht, wenn man ihn mit Alkohol in der Öffentlichkeit erwischen würde. Aber hier, meilenweit von seinem Job und den damit verbundenen Pflichten entfernt, schien es nur normal, sich einen Drink zu genehmigen. Geradezu unerlässlich.
Er genoss diesen alljährlichen Trip. Manch einer fand seine Gründe dafür vielleicht merkwürdig – lebte er nicht abgeschieden genug, allein in diesem zugigen Haus am Cape? Aber die Abgeschiedenheit hier war eine andere. Für drei Tage wären er und die Jungen jetzt auf sich gestellt. Eine Hütte und ein paar Trampelpfade. Ein Boot hatte sie kurz zuvor mit ihrem Proviant hier abgesetzt, Samstagabend würde es wiederkommen.
Beinahe hätte es nicht geklappt. Der Wetterbericht hatte für das Wochenende einen Sturm vorhergesagt; laut den Berichten sollte er vom Meer aus nördlicher Richtung herübergerollt kommen, eines dieser mit Gewitterwolken gespickten Monster, die gelegentlich über die Inselprovinz hinwegfegten – halb Sturm, halb Tornado, rissen sie die Dachziegeln von den Häusern und knickten junge Bäume um. Aber die aktuellen Satellitenbilder zeigten, dass er nach Osten Richtung Atlantik abdrehen würde, wo sich seine Wucht über der riesigen freien Wasserfläche erschöpfen würde.
Sicherheitshalber hatte Tim dafür gesorgt, dass das Funkgerät vollständig aufgeladen war; sollte der Himmel sich bedrohlich verfinstern, würde er das Festland per Funk verständigen, damit man sie vorzeitig abholte. In Wirklichkeit missfiel es ihm, dass sie ein Funkgerät mitnehmen mussten. Tim hatte strenge Regeln für diesen Ausflug aufgestellt. Keine Handys. Keine Videospiele. Am Kai von North Point hatte er die Jungs ihre Taschen leeren lassen, um sicherzugehen, dass sie keine Gegenstände auf die Insel schmuggelten, mit denen sie Kontakt zum Festland aufnehmen konnten.
Aber angesichts der Wetterlage war das Funkgerät ein notwendiges Übel. Wie im Handbuch für Pfadfinder stand: Allzeit bereit.
Aus dem Schlafraum drang bellendes Gelächter. Kent? Ephraim? Tim ließ es auf sich bewenden. In diesem Alter hatten Jungen Energie ohne Ende, waren Maschinen, die mit Testosteron und purem Adrenalin angetrieben wurden. Er könnte in den Raum stürzen, sie zur Ruhe mahnen und daran erinnern, dass sie morgen einen langen Tag vor sich hätten – aber wozu? Sie hatten ihren Spaß, und an Energie mangelte es der Gruppe nie.
Ja, Tim brauchte diesen Trip genauso wie seine Schützlinge. Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder – und er rechnete nicht damit, dass sich mit seinen zweiundvierzig Jahren, in einer kleinen Stadt, in der sich nur äußerst selten die Gelegenheit zu einem Date ergab, an dieser Situation etwas ändern würde. Er war in Ontario aufgewachsen und ein paar Jahre nach seiner Assistenzzeit nach Prince Edward Island gezogen, wo er sich ein Haus am Cape gekauft und gelernt hatte, wie man Hummerfallen knüpft – Seht ihr? Ich gebe mir wirklich Mühe! –, und hatte sich dem Lebensrhythmus auf der Insel angepasst. Er hatte sogar ein wenig die näselnde Sprechweise der Einheimischen angenommen. Trotzdem würde man ihn immer als Zugezogenen betrachten. Die Menschen waren allesamt freundlich und respektierten seine Fähigkeiten, aber durch seine Adern strömte das Blut eines Festlandbewohners. Er trug den Makel, aus Toronto zu kommen, aus The Big Smoke, dessen Einwohner in den Augen der bedürftigen Habenichtse auf Prince Edward Island reiche Snobs waren, dort, wo die Frage, von wem du abstammst, genauso wichtig ist wie die, wo du herkommst. Viele hier waren miteinander verwandt, und die Inselbewohner ließen nur ungern jemanden von außen herein.
Glücklicherweise war es den Pfadfindern egal, dass Tim ein Zugezogener war. Er hatte alles, was sie sich von einem Anführer wünschen konnten: Er war klug und besonnen und strahlte Selbstvertrauen aus, während er ihr eigenes stärkte; er kannte die einheimische Pflanzen- und Tierwelt, wusste, wie man eine Fußschlinge knüpfte und mit nur einem Streichholz ein Feuer anzündete; aber das Wichtigste war, dass er sie mit Respekt behandelte – obwohl sich die Jungen nicht ganz auf seiner Augenhöhe bewegten, gab Tim ihnen trotzdem genau dieses Gefühl, sobald sie eine gewisse männliche Reife entwickelt hatten. Ihre Eltern vertrauten Tim; denn die Familien waren allesamt Patienten in seiner Praxis in North Point.
Die Jungen bildeten eine verschworene Gemeinschaft. Fünf von ihnen hatten zusammen die Prüfungen zum Neuling, Wölfling, Jungpfadfinder und schließlich zum Pfadfinder absolviert. Tim kannte sie seit ihrem ersten Pfadfindertreffen: ein Quintett Fünfjähriger, die stockend das Versprechen der Neulinge aufsagten: Ich verspreche, meine Pflicht gegenüber Gott und der Kirche zu erfüllen und meinen Mitmenschen jederzeit zu helfen.
Aber das hier würde ihre Abschiedstour werden. Tim verstand, warum. Ein Pfadfinder zu sein war … na ja, bescheuert. Die Jugendlichen von heute hatten keine Lust, beigefarbene Uniformen zu tragen, sich ein Halstuch umzubinden und Abzeichen zu erwerben. Momentan wurde die Bewegung von zu vielen schwer erziehbaren kleinen Scheißern oder krakeelenden Speichelleckern bevölkert, deren Schärpen mit Abzeichen behängt waren.
Aber diese fünf Burschen unter Tims Führung waren bei den Pfadfindern geblieben, weil sie es wollten. Kent war in der Schule einer der beliebtesten Jungs. Ephraim und Max waren ebenfalls beliebt. Shelley hingegen war ein schräger Vogel, aber wurde deswegen nicht angemacht.
Und Newton … tja, Newton war ein Nerd. Ein feiner Kerl und unglaublich intelligenter Bursche, aber, keine Frage, ein totaler Nerd.
Nicht nur, weil er übergewichtig war; das war ein überwindbares soziales Hindernis, nicht schlimmer als eine Hasenscharte oder Pickel oder abgewetzte Klamotten. Nein, der arme Newt war schlichtweg als Nerd geboren, wie das bei manchen Unglücksraben der Fall ist. Wäre Tim im Kreißsaal dabei gewesen, hätte er ihn sofort bemerkt, diesen kaum zu fassenden Charakterzug, den man nicht sehen, sondern nur spüren konnte, und den der Körper des Babys wie Pheromone verströmte. Tim stellte sich vor, wie die Geburtshelferin Newton mit einem traurigen Kopfschütteln seiner erschöpften Mutter überreichte.
Herzlichen Glückwunsch, Mrs. Thornton, es ist ein gesundes Nerdbaby. Es wächst bestimmt zu einem wundervollen Mann heran, aber in absehbarer Zukunft wird er ein waschechter Klugscheißer sein – ein hoffnungsloser Nerd.
Jeder Junge verbreitete einen bestimmten Geruch, fand Tim. Allerdings handelte es sich dabei nicht bloß um eine Duftmarke, sondern in Tims Vorstellung um intensive Ausdünstungen, die jeden seiner Sinne einhüllten. Der Duft eines Raufbolds zum Beispiel: säuerlich und adrenalinhaltig, wie die stechende Dunstwolke, die von einem Haufen alter, grün angelaufener Batterien aufstieg. Oder Sportlerduft: nach gepflegtem Rasen, zerstoßener Kreide und dem Gestank von Turnmatten in der Umkleidekabine. Kent Jenks verströmte Unmengen von Sportlerduft. Andere Jungen wie Max und Ephraim waren schwerer zu bestimmen. Ephraim dünstete häufig den Geruch eines Energiebündels aus, wie ein Stromtransformator, der in einem Regenschauer explodierte.
Shelley … Tim überlegte, während er mehrmals an seinem Scotch nippte, und ihm wurde klar, dass der Junge so gut wie keinerlei Duft absonderte – wenn überhaupt, dann den dunstigen, flüchtigen Geruch eines keimfreien Zimmers in einem Haus, das schon lange nicht mehr bewohnt war.
Newton hingegen stank zehn Meilen gegen den Wind nach Nerd – ein beißendes, unverkennbares Aroma, eine Mischung aus stickigem Kellerraum, feuchtkalten Büchereiecken und Baumhäusern, die für einen einzelnen Bewohner gebaut worden waren, und aus Staub, der im Innern eines Computer schmorte, sowie der lakritzartigen Note von Asthmaspray und dem leicht narkotischen Gestank von Modellbaukleber, alles in allem: der einzigartige Geruch von Isolation und einsamer Duldsamkeit. Im Laufe der Zeit veränderte sich dann auch der Körper des entsprechenden Jungen. Seine Schultern waren vornüber gebeugt, damit er weniger auffiel, so wie schutzlose Tiere ihr Auftreten verändern, um Raubtieren aus dem Weg zu gehen, während ihre zuckenden Augen gehetzt umherblicken.
Newton konnte nichts dagegen tun. Dieser Charakterzug war seiner DNS eingeschrieben, untrennbar mit seinen anderen Eigenschaften verbunden, von denen es, wie Tim bedrückt feststellte, zwar viele gab, die ihm in seinem Alter jedoch nichts nutzten. Newton war stets freundlich und höflich und las viel, und es war offensichtlich, dass er versuchte, an sich zu arbeiten – was den gleichen Effekt hatte, als würde in einer ruhigen Wohngegend der Fliegeralarm losheulen. NEeeeerd-AlaaaRM! NEeeeerd-AlaaaRM! Tim empfand gegenüber Newton starke Beschützerinstinkte, und es machte ihn traurig, dass er ihm nicht helfen konnte … denn wenn ein Erwachsener einen Jungen beschützte, war dieser Junge zusätzlichen Demütigungen ausgesetzt.
Tim trat von der Veranda, um den Generator auszuschalten, und wurde von Mücken eingekreist. Er spürte, wie sie sich auf seinem Nacken niederließen, wie nach ihren Drinks dürstende Säufer an einer Bar. Er schlug nach ihnen, während er die Rückseite der Hütte entlanglief und mit den Fingern über die Holzwand glitt, um das Gleichgewicht zu halten – er hatte den Scotch zu hastig getrunken …
Die Mücken landeten überfallartig auf jedem Quadratzentimeter freier Haut, bohrten ihre Rüssel hinein und injizierten ihr juckendes Gift. Er stolperte über den Generator und schürfte sich an dessen Metallgehäuse das Schienbein auf. Blindlings tastete er nach dem Schalter, während er die herumschwirrenden Blutsauger immer hektischer totschlug, bis er innehielt, um wegzuwischen, was sich wie eine ganze Schicht Insekten anfühlte, und den Generator schließlich ausschaltete.
Das Licht auf der Veranda erlosch langsam. In der einsetzenden Dunkelheit schienen die Mücken sich exponentiell zu vermehren. Tim spürte sie überall, wie sie mit ihren blutleeren Beinen über seine Haut tänzelten, während das Summen ihrer papierartigen Flügel in seinen Ohren tönte. Er schlug wild um sich und unterdrückte kaum den Aufschrei, der jäh in seinem Rachen aufstieg. Ein lebendes Laken pulsierte summend, stechend und giftig um ihn herum. Sie waren in seinen Ohren, kitzelten in der Nase, wuselten um seine Augen herum.
»Blutrünstige Scheißviecher …«
Ohne hinzuschauen, griff er nach der Verandatür, stieß sie auf und wankte ins Innere. Er klopfte sich von oben bis unten ab, wie ein Farmarbeiter den Staub abklopfte, nachdem er vom Pferd gefallen war, und freute sich über die weichen Krümel der Mückenkadaver.
Tim stieß ein heiseres Stöhnen aus, das in ein freudloses Lachen überging. Seine Hände waren klebrig von den zermatschten Insekten. Er musste an den von Tausenden Liliputanern am Boden gefesselten Gulliver denken – eine Szene, die zuvor keine Angstgefühle bei ihm ausgelöst hatte. Aber die Aussicht, von Tausenden, Millionen winziger Angreifer bedrängt zu werden, war wirklich ziemlich furchteinflößend.
In der einsetzenden Stille hörte er ein gleichmäßiges Brummen, das über das Wasser hallte – das Geräusch eines Außenbordmotors. Ein Notfall auf dem Festland? Nein. Dann hätte man ihn per Funk vorab verständigt.
Er trat ins Innere und überprüfte das Funkgerät. Es gab ein leises Rauschen von sich, das verriet, dass es ein Signal empfing. Draußen wurde das Surren des Motors lauter.
Tim zündete eine Campinglampe an und setzte sich auf die Veranda. Dann kratzte er die weißen Beulen an seinem Hals und den Händen. Ihm lief ein Schauer die Beinen hinauf und durch seine Eingeweide, die sich schmerzhaft zusammenkrampften, während seine Arme von einer Gänsehaut überzogen wurden. Mit leicht irrem Lachen ließ er seine Hände über seine Haut gleiten, die uneben wie eine Orangenschale war. Seine Blase füllte sich mit Urin, und der angenehme Scotchgeschmack in seinem Mund wurde bitter.
Eins lässt sich nicht leugnen: Die Bösartigkeit der anderen wird zu unserer eigenen Bösartigkeit, denn sie entfacht etwas Böses in unseren Herzen.
Carl Gustav Jung. Grundstudium Psychologie. Jung, zu dem Schluss sollte Tim später kommen, war ein Angeber und Spinner. Außerdem waren seine Theorien für einen Hausarzt in einer Kleinstadt, dessen Alltag daraus bestand, Grippeimpfungen zu verabreichen und wettergegerbten Fischern eingewachsene Zehennägel herauszuschneiden, nur von begrenztem Nutzen. Darum hatte Tim den Titel von Jungs Buch und den Namen des Professors, der es in seinen Vorlesungen behandelt hatte, auch wieder vergessen – doch jetzt fiel ihm urplötzlich das Zitat wieder ein, dessen Wörter aus einem dunklen Winkel seiner Erinnerung hervorgeschossen kamen.
Die Bösartigkeit der anderen wird zu unserer eigenen …
Tim Riggs stand auf der mit Fliegengittern abgeschirmten Veranda und hatte ein leicht flaues Gefühl in der Magengegend, wusste allerdings nicht genau, warum. Der Wind pfiff traurig durch die dürren Bäume, während andere, weniger deutliche Geräusche vom Landekopf zu ihm heraufwehten, und er darauf wartete, dass das namenlose Böse eintraf.
3
ESSEN ESSEN …
Dunkel. So dunkel.
Leer.
Eben war da noch ein Licht gewesen. Er war diesem Licht gefolgt. Wie eine Motte. Jetzt war es verschwunden. Es blieb nichts als diese wahnwitzige, an den Augen zerrende Dunkelheit … und der Hunger.
Der Mann krabbelte das steinige Ufer hinauf, wobei er auf den glatten Kieselsteinen ausrutschte. Die Felsen waren glitschig von den kalten, schleimigen Algen. Er schaufelte sie in seine Hände und stopfte sie sich in den Mund, saugte die dunkelgrünen Streifen durch seine Lippen wie ein Kind, das Spaghetti schlürfte.
Da! Im Vorbeihuschen glänzte ihr Panzer im Mondlicht. Eine Krabbe. Seine Hand schloss sich über ihr – das kalte Meereswasser tropfte auf seine Haut – und stopfte sie ihm in den Mund. Er spürte, wie sie mit ihren haarigen kleinen Beinen über seine Zunge tänzelte. Und biss zu. Ein Schwall salzigen Glibbers spritzte in seinen Mund. In ihrem Todeskrampf zwickten ihre Scheren ihn in die Zungenspitze, und da war der kupferartige Geschmack von Blut. Er würgte die zuckenden Teile hinunter, dabei ritzte der stachelige Panzer das weiche Gewebe seines Rachens auf – welcher sich unglaublich schmal anfühlte, wie ein fleischiges Abflussrohr; seine Haut war straff über die Speiseröhre gespannt wie Krepppapier.
Vor ihm im hüfthohen Gras tauchte ein Trampelpfad auf. Auf einem Grashalm hockte eine schwarze Spinne. Er nahm sie zwischen die Finger, bevor sie das Weite suchen konnte, und schluckte sie herunter. Das tat gut. Schön saftig.
Er kniff die Augen zusammen. Schräg am Hang erhob sich ein kastenförmiges Gebilde, dessen Schatten schief in die konturlose Nacht ragte. Seine Form war so perfekt, dass es nur von Menschenhand gemacht sein konnte.
Aus seinem Innern drang ein schwacher Lichtschein.
4
»Habt ihr je von den Gurkhas gehört?«
Wie der körperlose Kopf eines Jahrmarktorakels schwebte Ephraim Elliots Gesicht im Schein der Taschenlampe in der Luft. Die anderen Jungen hörten ihm, auf die Ellbogen gestützt, aufmerksam zu.
»Das sind diese Elitesoldaten, wisst ihr, aus Nepal? Kleinwüchsige Burschen. Knapp eins sechzig groß. Eigentlich Zwerge. Verrückte Kerle. Schon als Jungs lernen sie eine einzige Sache, und zwar gründlich – zu töten. Gurkhas sind Meisterschützen mit dem Gewehr. Sie können auf hundert Meter Entfernung einer Hummel die Pollen vom Arsch dübeln. Und sie sind Meister im Umgang mit dem Khukuri – einem langen, gebogenen Messer, das superscharf ist. Sie können menschliche Haare damit spalten … in Drittel.«
»Ehrlich, Eef?«, sagte Newton Thornton; sein vom Kissen zerzaustes Haar stand in Büscheln zu Berge.
»Aber sicher«, sagte Ephraim nüchtern. »Kaum einer weiß, dass hier vor der Küste mal ein Flugzeug mit Gurkha-Kriegern abgestürzt ist. Sie waren nach einer ziemlich gefährlichen Mission auf dem Heimweg – Grabenkämpfe, aufgespießte Köpfe, so was. Das ganze Blut hatte die Burschen halb verrückt gemacht, wisst ihr? Die nepalesische Regierung hätte sie wahrscheinlich in die Klapse gesperrt, damit sie niemanden umbringen oder verstümmeln … aber sie sind nie zu Hause angekommen. Ihre Maschine ist hier in der Nähe über dem Meer abgestürzt.«
Shelley Longpre hörte aufmerksam zu. Seine Augen, die sonst grau waren und an schmutzige Eisklötze erinnerten, blickten jetzt ernst und funkelten interessiert.
Ephraim sagte: »Vielleicht sind sie sogar … hier. Diese Insel. Sie ist abgeschieden und ruhig. Kaum jemand kommt nach Falstaff Island, außer den alten Fischern oder, na ja … uns. Den Pfadfindern von Truppe Zweiundfünfzig.«
Max Kirkwood hob drei Finger seiner rechten Hand und rezitierte feierlich: »Ich verspreche, mein Bestes zu tun, meine Pflicht gegenüber Gott und der Königin zu erfüllen und dem Pfadfindergesetz zu gehorchen.«
»Ihre Leichen wurden nie gefunden«, sagte Ephraim und lächelte Max an. »Sollten sie immer noch am Leben sein, wären sie inzwischen völlig plemplem. Aber selbst wenn sie tatsächlich noch hier auf der Insel herumgeistern würden, gäbe es eine Möglichkeit, wie man sich schützen kann. Die Gurkhas greifen nachts an, okay? Immer. Sie schleichen sich absolut lautlos in dein Haus. Und tasten die Schnürsenkel deiner Schuhe neben deinem Bett ab. Wenn sie abwechselnd oben und unten herum geschnürt sind …« Ephraim machte mit dem Daumen eine Aufschlitzgeste quer über die Kehle. »Sind sie allerdings nur oben herum geschnürt, wie bei den Gurkhas, dann lassen sie dich leben.« Er gähnte. »Also, gute Nacht, Jungs.«
Seine Taschenlampe erlosch. Kurz darauf krachte ein Körper dumpf zu Boden. Und Ephraims Taschenlampe tauchte Newton, der neben seinen Schuhen kauerte, in einen grellen Lichtschein.
Ephraim sagte: »Ich wusste, dass du’s nicht aushältst, Newt!«
Newton richtete sich unbeholfen auf und massierte sich die Knie. Im Schein der Taschenlampe wirkte seine Haut noch rosiger als sonst. Schweinchenrosa.
»Oh Mann, also …« Newton senkte den Kopf und rieb sich die Augen. »Du solltest dich schämen, Eef, solche gruseligen Geschichten zu erzählen …«
»Newt, du Bettnässer!«, brüllte Kent Jenks.
Shelley verfolgte das Ganze mit eulenartiger Miene. Seine gelblichen Augen starrten aus dem milchigen Oval seines Gesichts. Er lächelte und lachte nicht wie die anderen. Sein Gesicht war ausdruckslos wie ein Testbild.
»Jungs … hey! Na, kommt schon«, sagte Gruppenführer Tim, während er das Zimmer betrat. »Wenn jemand aus dem Bett fällt, hört der Spaß auf. Ich würde sagen, für heute Abend ist Schluss, okay?«
Newton stand auf, rieb sich immer noch die Augen und wuchtete seinen massigen Körper in das obere Bett – allerdings nicht, ohne sich zu vergewissern, dass seine Schnürsenkel nur oben herum geschnürt waren.
»Schlaft jetzt, Jungs«, sagte Gruppenleiter Tim. Für einen flüchtigen Moment meinte Newton im Gesicht seines Pfadfinderführers einen Anflug von Anspannung zu erkennen, einen leicht panischen Ausdruck in den Augen. »Morgen wird ein anstrengender Tag.«
Die Tür schloss sich wieder. Der Wind fegte über das Meer und heulte um die Hütte herum. Die Holzblöcke ächzten, ein melancholisches Geräusch wie im Rumpf einer alten spanischen, von Wellen gepeitschten Galeone. Die Jungen lagen schwer atmend in ihren Betten. Und Ephraim flüsterte:
»Die Gurkhas werden dich holen, Newt.«
5
Tim hörte den Mann bereits, bevor er ihn sah. Hörte seine angestrengten, schlurfenden Schritte, wie von einem orientierungslosen Bären, der aus dem Winterschlaf aufgeschreckt war.
Tim war von Natur aus die Ruhe selbst und durch nichts zu erschüttern – eine nützliche Charaktereigenschaft für einen Arzt, der an ein und demselben Tag erst einen Jungen mit gewöhnlichen Masern behandeln musste, um dann plötzlich bei einem Mädchen, das nach einem Bienenstich einen anaphylaktischen Schock erlitten hatte, einen Luftröhrenschnitt vorzunehmen. Er war für Ärzte ohne Grenzen fast ein ganzes Jahr in Afghanistan gewesen – wäre er ein ängstlicher Mensch, hätte er es dort unter keinen Umständen so lange ausgehalten. Normalerweise ging er immer vom wahrscheinlichsten Szenario aus und listete dann nüchtern die möglichen Auswirkungen auf.
Fakt Nummer eins: Ein Boot hatte angelegt. Vielleicht waren es die Eltern eines der Jungen. Hatte Newton seinen Asthmaspray vergessen? Wahrscheinlich nicht, denn Newt vergaß nur selten etwas. Vielleicht war ein Schiff gesunken – war ein Fischkutter beim Fang von Dorschen in den westlichen Gewässern gekentert? –, und auf dem Boot befanden sich die durchnässten Überlebenden.
Tims Gehirn sprang in den Notfallmodus. Falls seine Vermutung zutraf, bräuchten sie ärztliche Hilfe; er würde die Leute hier auf dem Landekopf stabilisieren und per Funk einen Rettungshubschrauber anfordern.
Es könnte sich aber auch um einen Betrunkenen vom Festland handeln, der auf einem nächtlichen Angelausflug vom Kurs abgekommen war. Im Gegensatz zu den Betrunkenen in Tims Heimatstadt, die nach der Sperrstunde die Strippschuppen aufsuchten, gingen die Typen hier aufs Wasser. Zogen mit Motorbooten auf dem Meer ihre Runden und blökten wie die Stiere, während sie über die Wellen jagten. Oder sie warfen eine Angelschnur aus, drosselten den Motor und schipperten gemächlich übers Wasser. Vor ein paar Jahren war ein Suffkopf namens Lester Hamms in seinem Boot erfroren; Jeff Jenks, der Polizeichef von North Point, entdeckte ihn elf Kilometer vom Cape entfernt, wie ein Steak im Gefrierfach mit Frostkristallen überzogen, der Hintern am Sitz festgefroren, während aus seinen Nasenlöchern zwei Eiszapfen aus Rotze ragten. Lesters Boot tuckerte immer noch vor sich hin; es hatte nicht viel gefehlt, dann wäre er aufs offene Meer hinausgetrieben. Tim hatte sich vorgestellt, wie Lesters gefrorene Leiche als grausiges Stück Treibgut an der Küste Grönlands vorbeidümpelte, wo ein Eisbär ihn neugierig beschnupperte.
Wer auch immer das hier war, Tim war sich sicher, dass er oder sie keine ernsthafte Gefahr darstellte … zu neunundneunzig Prozent.
Fakt Nummer zwei: Er und die Jungen befanden sich auf einer abgelegenen Insel über eine Stunde von zu Hause entfernt. Mit nichts bewaffnet außer ihren Messern – deren Klingen nicht länger als neun Zentimeter waren, wie es laut Handbuch für Pfadfinder vorgeschrieben war – und mit einer Leuchtpistole. Es war Nacht. Und sie waren allein.
Tim schob mit einem seiner Stiefel die Verandatür auf. Sie gab ein leises Quietschen von sich, wie ein rostiger Nagel, der aus einem feuchten Brett gezogen wurde.
Langsam ging er um die Hütte. Die Venen an seinem Hals pochten im Rhythmus seines Herzschlags. Die Mücken wurden von seinen Schweißperlen durchnässt. Er hätte die Lampe mitnehmen sollen, aber ein Signal, tief aus der Reptiliensphäre seines Hirns, sagte: Kein Licht. Man darf dich nicht sehen.
Er zückte sein Buck-Messer und drückte es flach gegen seinen Oberschenkel, und sein vernünftiges Ich dachte: Das hier ist lächerlich, du benimmst dich idiotisch, völlig paranoid. Aber der urzeitliche, instinktive Teil von ihm, der Teil, der von dem Echsenhirn kontrolliert wurde, gab lediglich ein dumpfes Brummen wie ein Bienenstock voller Killerbienen von sich.
Der Wind fegte heulend über die Landschaft und schlug eine ganz eigene Melodie an, während er durch die Felsen und die dürren Bäume wehte, ein tiefes murmelndes Geräusch wie von Kindern, die am Grund eines Brunnens flüsterten. Er peitschte die Rückseite von Tims Beinen hinauf und ließ ihn mit seinen eisigen Zungen bis ins Mark erschauern. Tim spähte Richtung Baumgrenze, wo er etwas bemerkt hatte. Die Schatten dort verschmolzen miteinander, dicht und undurchlässig.
Vor dem wirren Blätterwerk zeichnete sich eine Gestalt ab. Tim holte tief Luft. Im Schein des ungewöhnlich hellen Mondlichts erblickte er eine Kreatur, die bis aufs Haar aus den finstersten Albträumen seiner Kindheit stammte: ein verwestes Monster, das dem Meer entstiegen war.
Es war kaum mehr als ein Skelett, zusammengezurrt von Strängen durchnässter Muskeln, und sein Fleisch hing ihm in grauen fransigen Fetzen von den Knochen. Es stapfte vorwärts und murmelte stumpfsinnig vor sich hin. Tim blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen.
Das Ding schlurfte durch einen Streifen Mondlicht, der über das hohe Gras tänzelte. Das Licht verwandelte den Albtraum in das, was er wirklich war: einen Mann, der so entsetzlich dünn war, dass es ein Wunder war, dass er noch lebte.
Ohne nachzudenken, trat Tim aus seiner Deckung, getrieben von dem instinktiven Bedürfnis, ihm zu helfen. »Hallo? Alles in Ordnung?«
Der Mann schaute ihn mit grell flackerndem Blick an, einem Blick dumpfen Schreckens und unbändigen Verlangens. Was Tim jedoch wirklich Angst einjagte, war die gebündelte Entschlossenheit darin. Keine Frage, dieser Mann wollte etwas. Brauchte es.
Der Fremde schlurfte näher, nestelte von oben nach unten an den Knöpfen seines Hemds herum und fuhr sich mit der Hand durch seinen fettigen Haarschopf. Plötzlich verstand Tim. Der Mann unternahm einen symbolischen Versuch, sich in einen vorzeigbaren Zustand zu bringen.
»Haben Sie etwas … zu essen?«
»Ah … Ich denke schon«, sagte Tim. »Sind Sie alleine?«
Der Mann nickte. Ein vibrierender Faden Sabber senkte sich auf seine Lippe herab, blieb dort hängen und riss dann auseinander. Die Haut über seinem Schädel war straff und dünn wie Krepppapier. Über seine Nase, die Wangen und den Hals hinunter schlängelten sich kleine Äderchen wie Flüsse auf einer Landkarte. Seine Arme ragten aus seinem Hemd wie Zahnstocher. Seine zusammengeschrumpfte Haut hatte sich um Speiche und Elle gewickelt, sodass seine Ellbogen wie Knoten in einem Seil wirkten.
Der Mann sagte: »Sind Sie alleine?«
Es war sicherer, den Fremden in dem Glauben zu lassen. »Ja, ich führe ein paar geologische Vermessungen durch.«
Der Mann nahm eine Handvoll grober Erde und stopfte sie sich in den Mund. Auf Tim wirkte es wie ein unwillkürlicher Reflex, ähnlich dem Lidschlag.
»Langsam! Hey, Sie müssen das nicht … essen«, sagte Tim, und es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. »Ich habe was zu essen.«
Der Mann lächelte. Eine Totenschädelgrimasse. Seine Lippen waren schmale, blutleere Streifen. Sein Zahnfleisch war stark verkümmert, sodass seine Zähne wie gelbliche Hauer wirkten, die in seinem Mund aneinanderstießen und in deren Zwischenräumen schwarzer Dreck klebte.
»Essen … ja. Das ist nett. Danke.«
Als Arzt hatte Tim mit dem menschlichen Körper in all seinen abstoßenden Varianten zu tun gehabt. Er hatte Kolostomiebeutel geleert und gesehen, wie pulsierende Tumore aus Mägen entfernt wurden. Aber dieser Mann … er war auf eine unnatürliche Weise krank, wie sie Tim bisher nicht untergekommen war. Ein Schauer nackten Grauens jagte ihm über den Rücken.
Unrein, schrie sein Verstand. Dieser Mann ist unrein …
Der Gestank des Mannes stieg Tim direkt in die Nase. Ein intensiver, fruchtiger Gestank mit einer leichten Ammoniaknote. Ketose. Der Körper des Mannes spaltete die Fettsäuren auf, in einem letzten Versuch, die lebenswichtigen Organe am Laufen zu halten. Beim Verbrennen gaben die Ketone einen widerlich-süßlichen Geruch ab – die heftigen Ausdünstungen eines Körpers, der sich selbst aufzehrt. Der Gestank, der aus dem Mund des Mannes drang, roch nach einem in der Sonne verfaulenden Haufen Pfirsiche.
Tim versuchte, nicht einzuatmen, denn er war sich sicher, dass das bei ihm einen Würgereiz auslösen würde; der Mann schwankte, verlor das Gleichgewicht, und um ihm Halt zu geben, legte Tim ihm instinktiv eine Hand um die Taille.
Der Mann richtete sich wieder auf. Als Tims Hand unter sein Hemd und über seinen Bauch glitt, spürte er, wie sich dort etwas bewegte. Unter der Haut rührte sich etwas.
Das ist absurd, sagte er sich. Er hat Blähungen. Oder vielleicht hat er einen Bruch. Weiß der Geier, was mit ihm los ist …
Trotz dieser vernünftigen Einwände konnte er das Gefühl nicht abschütteln. Er spürte es unter seinen Fingerkuppen – eine verborgene Spannung unter der Haut, als hätte etwas auf seine Berührung reagiert und sich dann wieder beruhigt.
Mit der Entschlossenheit einer Motte schlurfte der Mann auf die Hütte mit der brennenden Lampe zu. Seine im Mondlicht funkelnden Augen schienen wie ein Paar durchgebrannter Sicherungen, die in die fleischlose Maske seines Gesichts geschraubt worden waren. Um ihn aufzuhalten, streckte Tim, die Handfläche nach oben gerichtet, seinen Arm aus – ebenfalls eine rein instinktive Geste.
Er wollte diesen Mann nicht bei den Jungen in der Hütte haben. Noch nicht, vielleicht auch gar nicht.
»Moment, immer mit der Ruhe«, sagte er und sprach mit dem Mann wie mit einem hyperaktiven Kind. »Haben Sie sich verirrt? Wissen Sie überhaupt, wo Sie sind? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
Der Mann stemmte sich mit seinem Körper gegen Tims Handfläche und schaukelte leicht vor und zurück, sodass der Druck stärker wurde, nachließ und wieder stärker wurde. Wahrscheinlich wusste der Mann, wie sehr Tim die Berührung abstieß, und der klebrige Schweiß, den die Haut des Mannes absonderte und der an die Rückstände eines alten Motorblocks erinnerte. Tim lachte, als wäre das alles nur ein Witz, irgendein seltsames Missverständnis; aber in seinem Lachen lag eine brüchige, klirrende Schärfe, die es in ein irres Krächzen verwandelte.
»Ich habe mich verirrt«, sagte der Mann. »Ich habe mich verirrt, und ich fühle mich nicht wohl. Nur eine Nacht. Morgen früh bin ich wieder weg. Bitte … geben Sie mir was zu fressen.«
»Haben Sie Familie?« Tim wusste selbst nicht, warum das wichtig sein sollte. Wurde dieser Mann überhaupt von jemandem vermisst? »Sucht man nach Ihnen?«
Der Mann wiederholte lediglich: »Nur eine Nacht. Essen. Bitte.«
Tim dachte daran, ihn zurückzulassen. Er könnte etwas zu essen nach draußen bringen und ihn im Wald fressen lassen (seine Wortwahl irritierte ihn zwar, dennoch fand er sie treffend: das hier war kein Mann, der etwas zu essen wollte – dies war ein Mann, der fressen musste). Tim könnte den Jungs Hausarrest erteilen oder jedweden Kontakt unterbinden. Doch den Mann hier draußen zurückzulassen, verstieß gegen so ziemlich jeden Grundsatz des hippokratischen Eids. Andererseits, wollte man als Arzt einen guten Job machen, war es wichtig, in einem Notfall die richtigen Prioritäten zu setzen. Man konnte nicht jeden retten. Das war eine der traurigen Tatsachen des Lebens. Darum rettete man immer die jüngsten Opfer oder die mit den besten Überlebenschancen.
»Bitte.«
Der Mann lächelte das mitleiderregendste Lächeln, das man sich vorstellen konnte. Durfte Tim ihn hier alleine zurücklassen, während er ein paar Meter von der Hütte entfernt verhungerte? Konnte er mit diesem Fleck auf seiner Seele leben?
Nein. Ihm würde schon eine Lösung einfallen. Er musste alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen treffen, aber es war möglich. Das unheimliche leere Lächeln war immer noch da. Handelte es sich um irgendeine Art von Leiden, das Tim nicht kannte – eine Erkrankung, bei der man langsam dahinsiechte? Oder nur um eine ganz gewöhnliche Krankheit, die in ihm gewütet hatte?
»Sie werden jetzt genau tun, was ich sage«, erklärte er dem Mann in seinem Das-ist-jetzt-kein-Scheiß-Hausarzttonfall.
»Agl«, sagte der Mann.
»Sonst dürfen Sie nicht in die Hütte.«
Der Körper des Mannes stieß gegen Tims Handfläche; harte Knochen, sie sich durch die hauchdünne Muskelschicht drückten. Für Tim fühlte es sich an wie eine Plastikplane, die über einem Haufen zertrümmerter Ziegelsteine lag.
»Kommen Sie.«
6
Tim wies den Mann an, sich auf das mottenzerfressene Sofa zu legen, und holte die Lampe von der Veranda.
Im Lichtschein sah der Mann noch schlimmer aus. Seine Haut hatte ihre Pigmentierung verloren. Vor Tims geistigem Auge stieg ein seltsames Bild auf: die letzte Pfütze auf dem Boden eines Softdrink-Bechers, aus der man jegliche Farbe gesaugt hatte, sodass nur noch die geschmacklosen Eiswürfel übrig waren.
Aus unerfindlichen Gründen wurde die Hose des Typen von einem orangefarbenen Verlängerungskabel gehalten. Wie viel hatte er wohl mal gewogen? Tim drehte den Hemdkragen des Mannes nach außen. XL, die Farbe war völlig verblichen. Mein Gott. Es schien, als würden seine Klamotten einen Haufen Mikadostäbchen bedecken, die ungefähr die Gestalt eines Menschen bildeten.
Die Unterseite des Hemds war hochgerutscht. Die Haut an seinem Bauch lag in Falten und erinnerte Tim an einen Shar-Pei-Hund. Leute, die sich ein Magenband einpflanzen ließen und anschließend extrem abnahmen, sahen ähnlich aus. Oft entschieden sie sich dann für eine Hautstraffung. Dabei schnippelte ein plastischer Chirurg eine Hautfläche von der Größe eines Geschirrtuchs aus der Bauchgegend und nähte die losen Enden wieder zusammen.
Aus dem Schlafraum drang leises Gemurmel. Offensichtlich waren die Jungen aufgewacht. Tim musste die Situation in den Griff bekommen; ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass fünf müde Jungen sich den Schlaf aus den Augen rieben und dabei einen menschlichen Knochenhaufen auf dem Sofa anstarrten.
»Jungs, hört mal zu«, sagte er, öffnete behutsam die Tür und zog sie rasch wieder zu. »Es ist was passiert. Nichts Schlimmes« – oder? –, »aber ihr bleibt besser in euren Betten.«
»Was ist los, Tim?«
Das kam von Kent, der jüngst begonnen hatte, ihn »Tim« zu nennen und die Gruppenleiter-Anrede wegzulassen. Kent hockte auf der Bettkante, die Hände gefaltet, die Schultern hochgezogen wie ein Ringer, der darauf wartete, dass er die Matte betreten durfte. Kent – selbst sein Name klang aufdringlich und aggressiv. Ein Alphamännchen-Name, wie Tanner, Chet und Brodie, Namen, die Eltern einem Jungen gaben, den sie sich künftig als Anwalt oder Eishockey-Trainer vorstellten. Eltern, die sich ein sensibles, musisch begabtes Kind erhoffen, nennen es keinesfalls Kent.
»Da ist ein Mann«, sagte der Gruppenleiter. »Niemand von hier – ich habe ihn noch nie gesehen. Er ist eben hier aufgetaucht.«
»Hat er ein Zelt dabei?«, fragte Newt, sein dickes Kinn platt auf die Matratze gedrückt. »Also, ist es ein Wanderer oder so – ein Abenteurer?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Tim kniete sich zwischen die Runde. »Er … er scheint krank zu sein.«
»Krank, inwiefern?«, flüsterte Kent.
Tim biss sich auf die Lippen und dachte nach. »Als hätte er Fieber, so was in der Art. Er ist sehr dünn. Er hat mich um was zu essen gebeten.«
»Vielleicht ein Gurkha«, sagte Shelley und stieß das Wort zischend zwischen den Zähnen hervor.
»Er ist kein Gurkha«, sagte Tim und presste die Kiefer aufeinander, kämpfte gegen seine wachsende Übelkeit an – der stechende Geruch des Mannes kroch unter der Tür hindurch und erfüllte den Raum mit dem Gestank verfaulter Pfirsiche. »Er … es kann alles Mögliche sein, okay? Vielleicht war er in einem anderen Land, in einem anderen Teil der Welt, hat sich ein Virus eingefangen und es eingeschleppt.«
Kent sagte: »Wir sollten das Festland benachrichtigen, Tim.«
Tim biss so fest die Zähne zusammen, dass seine Backenzähne knirschten.
»Ja, Kent. Daran hab ich auch schon gedacht, und das werde ich tun. Und in der Zwischenzeit möchte ich, dass ihr hier bleibt. Verstanden?«
»Brauchen Sie keine Hilfe?«
»Nein, Kent, brauch ich nicht.« Tim ignorierte Kents aufreizend skeptischen Gesichtsausdruck und fuhr fort. »Ich bin Arzt, ja? Momentan bin ich die beste Chance, die der Typ hat. Allerdings wissen wir noch nicht, was los ist, darum seid ihr hier am sichersten.«
Tim öffnete die Tür. Das schwache Licht der Lampe fiel auf vier angespannte, ängstliche Gesichter. Nur Shelley starrte teilnahmslos zu dem Baldachin aus Spinnweben unter der Decke. Tim schloss die Tür, überlegte einen Moment, dann klemmte er einen Stuhl unter den Türknauf.
Er ging durch den Hauptraum zum Funkgerät und suchte die Notruffrequenz für das Festland. Er hatte lediglich einen aufgemotzten Verbandskasten dabei, mit etwas mehr Zubehör als die übliche Überlebensausrüstung für die Wildnis – Sachen aus seinem Privatvorrat. Wenn er allerdings per Funk das Festland verständigen würde, könnten sie den Rettungshubschrauber aus Charlottetown herschicken und …
»Uaaaargh!«
Torkelnd richtete sich der Mann auf und wankte wie ein Matrose auf einem sturmgepeitschten Schiff auf Tim zu. Mit einer einzigen raschen Bewegung zerrte er das Funkgerät vom Tisch, hob es über den Kopf und warf es zu Boden. Begleitet von einer kreischenden Rückkopplung brach es auseinander. Das kaputte Gehäuse sprühte Funken, und Rauchwölkchen, die nach verschmortem Kabel stanken, stiegen empor.
Wie ein Wahnsinniger zertrampelte der Mann die Überreste des Funkgeräts. Tim streckte den Arm aus, um ihn davon abzuhalten; dabei stieß er die Laterne um und löschte die Flamme.
In der Dunkelheit kämpfte er mit dem Mann. Es war, als würde er mit einem Sack voller Schlangen oder Stahlseile ringen, die mit Schmierfett überzogen waren: kalt, ölig und ekelhaft.
»Verdammt noch mal! Aufhören!«
Der Mann fauchte, ein entsetzlich grelles Geräusch, das die Dunkelheit durchschnitt wie das Blatt einer Bandsäge. Er würgte etwas hervor, und etwas Feuchtes und Warmes klatschte in Tims Gesicht. Er kreischte leise auf – er konnte nicht anders – und rieb sich wie blöde die Wange.
Plötzlich wurde der Körper des Mannes schlaff. Tim kämpfte gegen das Verlangen an, ihn fallen zu lassen, wie man einen mit Fett eingeriebenen Sandsack fallen lassen würde.
Unrein! UNREIN!
Der Knauf der Tür zum Schlafraum knarrte, gefolgt von mehreren dumpfen Schlägen, als die Tür vibrierend gegen den Stuhl krachte. Tim stellte sich vor, wie Kent sich mit der Schulter dagegen warf, um sie aufzubrechen.
»Tim! Tim, machen Sie die Tür auf!«
Unbeholfen bahnte sich Tim seinen Weg durch die Dunkelheit und führte den Mann zurück zum Sofa. Er tastete nach der Lampe, und als er sie gefunden hatte, zündete er sie wieder an. Dann holte er den Verbandskasten. Er riss mehrere Packungen mit Desinfektionstüchern auf und wischte hastig jede Stelle seines Körpers ab, die der Mann berührt hatte, vor allem sein Gesicht. Was auch immer der Mann ausgespuckt hatte, befand sich auf Tims Haut – er konnte das ätzende Brennen spüren, und seine Haut lief rot an, als hätte man ihn geschlagen.
»Tim!«, brüllte Kent. »Öffnen Sie sofort die Tür!«
»Bleibt drin!«, schrie Tim. Es war eher ein Kreischen, wie von einem Teekessel. »Solltest du noch mal versuchen, die Tür zu öffnen, Kent Jenks, dann kannst du Gift darauf nehmen, dass dein Vater davon erfährt.«
Mit missmutigen Schritten entfernte Kent sich von der Tür, und die Bettfedern quietschten, als er zurück unter seine Decke schlüpfte.
Tim füllte eine Spritze mit hundert Milligramm Doxylamin. Die Venen des Mannes waren leicht zu finden. Ein ganzes Geflecht blauer Schläuche schlängelte sich wie die Schienenstränge eines Zugdepots in seiner Armbeuge. Nachdem er ihm die Spritze injiziert hatte, normalisierte sich die Atmung des Mannes.
Eine grünliche Substanz lief aus seinen Mundwinkeln. War es das, was er ausgespuckt hatte? Hatte er tatsächlich die Schleimschicht auf den Felsen gegessen?
Algen. Okay, es sind bloß Algen. Algen sind nicht infektiös. Algen sind bloß … eklig.
Tim ließ seine Hand zum Bauch des Mannes hinunterwandern – und fühlte es erneut. Eine kaum merkliche Bewegung, wie eine Schlange, die unter einer warmen Decke die Position wechselte.
Das ist nur die Peristaltik. Der Mann hat eine schlimme Blockade in den Eingeweiden; alles, was du da spürst, ist eine verzögerte Muskelkontraktion, während er versucht, irgendwas weiterzutransportieren.
Tims Hoden zogen sich zurück. Plötzlich wurde er von einer unerklärlichen Furcht erfasst, sein Magen fühlte sich an wie kaltes Blei. Wer war dieser Mann? Was in Gottes Namen war los mit ihm? Warum zum Henker hatte Tim geglaubt, dass es richtig oder angemessen sei, ihn in die Hütte zu lassen? Privatkliniken können die Behandlung verweigern, wenn der Zustand einer Person in ihren Augen eine Gefahr für andere darstellt – was in Gottes Namen hatte er getan, eine Hütte auf einer abgelegenen Insel in eine Unfallstation zu verwandeln?
Er griff nach dem Hemd des Mannes, einem schrecklichen Impuls folgend: Zieh es hoch. Doch selbst seine morbide Neugier konnte dem Impuls widerstehen. Er wollte es nicht sehen. Nicht jetzt, in der Nacht, alleine im Dunkeln.
Aber er war nicht alleine, oder? Er schwenkte die Lampe zur Tür des Schlafraums.
»Alles okay«, sagte Tim und trat leise zu den Jungen ins Zimmer. »Bitte, geht wieder schlafen.«
»Wer ist das?« Kent brüllte nicht mehr, sondern stellte die Frage wie ein Junge, der Angst hatte und zu weit von zu Hause entfernt war.
»Wie gesagt – ein Fremder. Jemand, der Hilfe brauchte, also habe ich sie ihm gegeben. Ich habe keine Ahnung, wo er herkommt. Er konnte mir nicht mal seinen Namen sagen. Er kann kaum sprechen. Jetzt schläft er.«
Tim merkte, dass seine Antwort sie noch mehr beunruhigte, aber es war ihm unmöglich, konkreter zu werden. Es war wie in einer Arztserie, wenn ein Patient mit rätselhaften Beschwerden in die Notaufnahme geschoben wird – ein flachsblonder Junge, der Tränen aus Blut weint; eine Highschool-Ballkönigin, deren Kopf wie ein Wasserball angeschwollen ist, wozu nur der brillante pillenschluckende Superdoktor die richtige Diagnose (Haarriss im Kammerwasser) stellen kann; die Überreste eines parasitären Zwillings, der sich tief im Thalamus befindet. Aber Tim war lediglich ein Kleinstadt-Quacksalber, unscheinbar und ohne besonderen Ehrgeiz. Was bisher auch kein Problem gewesen war.
»Also, wie krank ist er?«, fragte Max.
Tim hatte Mühe, in die fragenden Augen der Jungen zu blicken, denn er hatte nicht die leiseste Ahnung. Aber er war hier der Erwachsene, die Autorität – moralisch gesehen und auch sonst –, und es war seine Aufgabe, ihnen irgendetwas zu sagen, und sei es auch nur, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen, obwohl seine eigenen immer stärker wurden.
»Ich denke, ich kann ihn versorgen, Jungs. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.« Diese Lüge kam ihm so mühelos über die Lippen, dass er selbst erschrak. »Wir werden ihn ins Krankenhaus bringen, sollen die sich darum kümmern.«
»Was ist mit dem Funkgerät?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Tim zu Ephraim. »Vielleicht ist es kaputt.«
Kent sagte: »Wie ist das …? Das ist unsere einzige …«
»Er ist mit einem Boot hergekommen, okay? Sollten wir zurück zum Festland müssen, werden wir damit fahren. Und jetzt … geht … ins … Bett.«
Tim drehte sich um und schloss die Tür. Der Mann atmete angestrengt nach rechts aus. Sein Gesicht verströmte ein unwirkliches Licht, als würde Phosphor durch seine Adern fließen. Seine Gesichtszüge verbreiteten die kranke Aura giftiger Pilze, wie sie in nasskalten Inselhöhlen wuchsen.
Vor Tim stieg ein Bild auf, aus den tiefsten Tiefen seiner Erinnerung. Das Gesicht eines Mannes in einem Parkhaus. Tim war mit seiner Mutter Einkaufen gewesen. Er war fünf. Die Parkebene im Untergeschoss war fast leer. Sie waren an einem riesigen Zementpfeiler vorbeigegangen, einem der tragenden Pfeiler, die verhinderten, dass der Supermarkt einstürzte und sie unter Regalen von Suppendosen und Cornflakes begraben wurden. Davor zeichnete sich ein Umriss ab. Ein Haufen mit Wasser vollgelaufener Müllbeutel? Doch der Haufen rührte sich, bewegte sich, und ein Gesicht tauchte auf. Tim sagte sich – sagte sich heute –, dass der Mann den üblichen Verfallsgründen zum Opfer gefallen war, Alkoholismus, Drogensucht und Krankheit … aber Tims jüngere Augen, seine Jungenaugen hatten etwas völlig anderes gesehen.
Das Gesicht des Mannes war schwarz, aber das war nicht seine natürliche Hautfarbe: Es war das fleckige, welke, verfaulte Schwarz einer Banane, die man unten in einer Obstschüssel vergessen hatte. Hätte Tim das Gesicht berührt, dann wären, davon war er überzeugt, seine Finger darin versunken. Die Nase des Mannes sah aus, als wäre sie gewaltigem Druck ausgesetzt gewesen oder als hätte etwas sie zerfressen: eine eingefallene Vertiefung über den rissigen, aufgedunsenen Lippen, die mit einer unidentifizierbaren Kruste überzogen waren. Es hatte Tim den Atem verschlagen. Seine Augen huschten hinauf zu denen seiner Mutter, die offenbar ebenfalls Angst hatte, was seine eigene noch verstärkte.
Der Mann war auf eine unvorstellbare Weise krank gewesen. Nichts auf dieser Welt, keine Krankheit, weder das Wetter noch menschliche Gräueltaten konnten das verursacht haben. Er wirkte wie jemand, der von bösartigen Außerirdischen entführt worden war, die ihm schreckliche Dinge angetan, ihn auf unaussprechliche Art seiner Lebenskräfte beraubt und ihn wieder auf der Erde abgesetzt hatten, um zu beobachten, wie der Rest seiner Spezies darauf reagieren würde.
Er hat die Hölle gesehen, war Tims kindlicher Gedanke.
Das Schlimmste waren die Augen des Mannes – es sind immer die Augen, oder? Ihr gedämpfter, durchgängiger Braunton, in dem schrecklicherweise noch etwas lebte, dort, wo eigentlich nichts mehr hätte sein dürfen. Eigentlich hätten sie resigniert, glasig und abwesend wirken müssen, passend zum Rest des Körpers. Aber diese Augen beherbergten einen entrückten Intellekt, einen wachen Geist. Tim erschauerte: Dieser Mann musste sehenden Auges die Zerstörung seines Körpers erleben. Ihm war sein eigener Zerfall bewusst. Wie konnte er das nur aushalten?
Der Mann bat sie um nichts. Er beobachtete sie nur, mit seinen nüchtern abschätzenden Augen in seinem tragischen Gesicht, bis sie beide aus seinem Blickfeld verschwunden waren.
Während Tim sich daran erinnerte, schob sich der Schleier aus Unbehagen, der sich auf ihn herabgesenkt hatte, zur Seite, und dahinter lugte etwas Schreckliches hervor – das irre, kreischende Antlitz des Grauens. Das albtraumhafte Gesicht jenes Mannes. Und dann war es verschwunden.
Tim fiel in unruhigen Schlaf. Irgendwann vor Tagesanbruch und ohne dass es ihm ganz bewusst war, erhob er sich aus dem Stuhl und wankte zum Geschirrschrank.
Pressenotiz aus dem Island Courier in Montague (Prince Edward Island) vom 21. Oktober:
MILITÄR RIEGELT KAI VON NORTH POINTAB UND ERRICHTET VERBOTSZONEFÜR FLUGZEUGE UND SCHIFFE
Heute, in den frühen Morgenstunden, hat in der winzigen Gemeinde North Point (5766 Einwohner) das Militär Einzug gehalten. Die Bewohner wurden von mehreren gepanzerten Truppentransportern, die über die verschlafenen Straßen ihres Ortes donnerten, aus dem Schlaf gerissen.
»Sie haben sich durch den Asphalt gefräst«, so Peggy Stills, Besitzerin des Island Cafe an der Main Street. »Die Straße ist jetzt voller Löcher.«
Der Convoy bahnte sich seinen Weg zum Hafen von North Point. Rasch wurde um die Küste und die Außenbezirke eine Absperrung errichtet. Außerdem wurden zwei Apache-Helikopter gesichtet, die über den Gewässern vor der Küste von North Point kreisten.
Kurz nach zehn Uhr morgens wurde eine offizielle Mitteilung herausgegeben, die den Schiffsverkehr in den Gewässern nördlich der Insel streng untersagt. Über den Seefunkdienst wurden die Schiffe davon in Kenntnis gesetzt; die Gewässer vor North Point werden von kommerziellen Fischfangschiffen und gelegentlich von Ozeandampfern befahren.
Anfragen um Informationen von Armeeangehörigen vor Ort wurden abgewiesen. Der Courier hat sich um einen Termin mit einem Militärsprecher bemüht, doch bislang war niemand zu erreichen.
7
Im schläfrigen Halbdunkel der Morgendämmerung wurden die Jungen langsam wach. Der Mond hing am westlichen Firmament wie der letzte melancholische Gast einer Dinnerparty, der zu einsam war, um aufzubrechen.
Keiner von ihnen hatte gut geschlafen. Sie hatten gehört, wie Gruppenleiter Tim mit dem Mann die Hütte betreten hatte. Der Mann hatte zwar nichts gesagt, aber sie konnten ihn riechen – eine süßliche Fäulnis wie vom Matsch am Boden eines Mülleimers in einem Vergnügungspark. Während der Gruppenleiter hinter der Tür des Schlafraums beschäftigt war, stützte sich Kent auf seine Ellbogen.
»Ich schau besser mal nach.«
Kent Jenks musste immer nachschauen, egal, worum es ging; er war erfüllt von der unerschütterlichen Überzeugung, dass sich die Dinge zum Besseren wenden würden, wenn er sich einmischte – als ob durch seine bloße Anwesenheit die Situation bereits unter Kontrolle wäre. Seit seinen Anfangstagen bei den Pfadfindern war er so, und weil Kent außerdem größer war und dermaßen verbohrt, dass es bedrohliche Züge annehmen konnte, beugten sich die anderen Jungen meist seinem Willen.
In der Schule war es dasselbe. Kent stellte sich Kopf an Kopf vor dich an den Trinkbrunnen – buchstäblich Kopf an Kopf –, während er dich mit der Hüfte kräftig zur Seite stieß, dir kumpelhaft auf die Schulter klopfte und Platz da rief, mit einer Stimme, die eine ganze Oktave tiefer war als die der anderen. Er riss dein Sandwich aus dem Wachspapier, in das deine Mutter es eingewickelt hatte, und biss – so nach dem Motto Du hast doch nichts dagegen? – ein riesiges Stück davon ab, während Eiersalat-Brocken aus seinem Mund spritzten. Eigentlich war er kein übler Kerl. Für Max war er wie Bernhardiner: groß und dreckig, ein bisschen dumm und sich seiner eigenen Stärke nicht bewusst, aber meist mit dem Herz am rechten Fleck. Allerdings legte Kent sich ständig mit irgendjemandem an, und in der Regel war es einfacher, ihm den eigenen Platz in der Schlange oder einen Happen vom Sandwich abzutreten.
In jüngster Zeit probierte Kent aus, wie weit er bei Erwachsenen gehen konnte. So hob er im Unterricht die Hand und fragte den Lehrer fröhlich grinsend: Sind Sie sicherrr? Er hatte angefangen, die Lehrer mit Vornamen anzureden. Der Klassenlehrer hieß nicht mehr Mr. Reilly, sondern Earl. Die Jungen warteten auf den Tag, an dem Kent ins Lehrerzimmer schlenderte und mit den Worten Du hast doch nichts dagegen, George? einen Happen vom Mittagessen des Sportlehrers nahm.
Als Kent aus dem Bett gestiegen und durch den Schlafraum zur Tür gegangen war, hatte Newton als Einziger das Wort ergriffen.
»Besser nicht, Kent. Der Gruppenleiter …«
»Halt die Klappe, Pfannkuchen«, hatte Kent zurückgeblafft, in einem beiläufigen, nicht mal abweisenden Tonfall, mit dem man einen kläffenden Hund zur Ruhe bringt. »Wenn mich deine Meinung interessieren würde, hätte ich …«
»Echt jetzt, Alter«, hatte Ephraim gesagt. »Geh nicht da raus.«
Kent blinzelte, den Kopf neugierig zur Seite geneigt. Ephraim war der einzige Junge, vor dem er Angst hatte. Eef wirkte leicht verrückt, stets hibbelig, wie ein brodelnder Vulkan, und das beunruhigte Kent.
»Nenn mir einen einzigen Grund.«
Ephraim sagte bloß: »Darum.«
»Das ist alles? Das ist der Grund – darum?«
»Yep«, hatte Ephraim gesagt.
»Danke, Eef«, sagte Newt.
»Halt die Klappe, Schweinshaxe«, sagte Ephraim.
Dann hatte Gruppenleiter Tim den Schlafraum betreten und sie aufgefordert, ihre Betten nicht zu verlassen. Kurz darauf wurde es laut – erst der Aufschrei des Fremden, gefolgt von einem Handgemenge, einem Knall und dem stechenden Geruch von Rauch, der in ihr Zimmer wehte und sich mit dem süßlichen Fäulnisgestank vermischte.
Kent war aus seinem Bett gehüpft und mit der Schulter wie ein Blöder gegen die Tür gerannt, die jedoch nicht nachgab. Trotzdem warf Kent seinen Körper dagegen, wie er es immer tat – er wuchtete seine hirnlose Körpermasse gegen jedes Hindernis in der felsenfesten Überzeugung, dass es schließlich nachgeben würde. Er hörte erst auf, als der Gruppenleiter drohte, seinem Vater davon zu erzählen. Keuchend wie ein Bulle trat Kent von der Tür weg, während sich in seinen weit auseinanderstehenden, dümmlichen Augen dumpfer kalter Hass spiegelte.
Gegen vier Uhr morgens saß Newton kerzengerade in seinem Bett, geweckt vom Geräusch der Geschirrschranktüren, die geöffnet und wieder zugeschlagen wurden. Und dann ertönten … Kaugeräusche? Monoton, träge und leise knirschend.
»Max«, hatte er geflüstert. »Max, bist du wach?«
»Geh ins Bett, Newt«, sagte Max aus der Koje unter ihm so schlaftrunken, dass die Wörter zu einem verschmolzen: GehinsBettNewt.
Newton konnte nicht fassen, dass Max und die anderen bei diesem Gestank und den schrecklichen Geräuschen hinter der Tür schlafen konnten … vielleicht tat Max nur so, als würde er schlafen, damit er nicht darüber sprechen musste. Vielleicht dachte er, dass bei Sonnenaufgang alles vorbei wäre.
Stunden später schien die Sonne durch das gelb verschmierte Fenster, die Staubpartikel funkelten in der reglosen Luft. Schweigend stiegen die Jungen aus ihren Betten und zogen sich an, streiften ihre dicken Pullover über und schnürten ihre Stiefel. Ephraim schaute Max in die Augen, hob fragend eine Augenbraue und formte mit den Lippen stumm die Worte:
Alles okay?