Die Erlöser - Nick Cutter - E-Book

Die Erlöser E-Book

Nick Cutter

4,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unsere Welt in naher Zukunft: Die westliche Hemisphäre wird von religiösem Fundamentalismus regiert. Das Mantra der Neuen Republik lautet: Die Kirche ist der Staat. Jonah Murtag ist ein treuer Staatsdiener. Er arbeitet für die Religionspolizei, die brutal gegen Andersgläubige vorgeht. Alle sogenannten Sünder werden »umerzogen « oder hingerichtet. Als die Republik von einer Serie grausamer Attentate heimgesucht wird, gerät Jonahs Weltbild ins Wanken. Er stellt sich gegen die Republik – und wird zum Gehetzten …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 391

Bewertungen
4,0 (16 Bewertungen)
2
12
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Das Buch

Die Neue Republik, Department of New Bethlehem: Das Mantra des diktatorischen Gottesregimes lautet: Die Kirche ist der Staat. Unter den Staatsdienern ist der Glaubenspolizist Jonah Murtag. Seine Einheit ist für alles verantwortlich, was der allmächtigen Obrigkeit als häretisches Verbrechen gilt: Homosexualität, Andersgläubigkeit, Sektierertum. Murtag und die anderen Beamten gehen mit äußerster Brutalität vor. Als die Republik von einer ganzen Serie von Bombenanschlägen heimgesucht wird, soll Murtag auf höchste Anweisung die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Doch es sind keine Häretiker, die hinter den Verbrechen stehen. New Bethlehem droht das totale Chaos …

Der Autor

Nick Cutter ist das Pseudonym eines preisgekrönten Autors, der bereits mehrere Kurzgeschichten und Romane schrieb. Er lebt in Toronto, Kanada.

Lieferbare Titel

Das Camp

Die Tiefe

NICK CUTTER

DIEERLÖSER

THRILLER

Aus dem Englischenvon Frank Dabrock

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THE ACOLYTEerschien 2015 bei Chizine Publications, Toronto

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2016

Copyright © 2015 by Nick Cutter

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlagillustration: Nele Schütz Design unter Verwendung des Original Cover-Artworks von © 2015 by Erik Mohr/Samantha Beiko

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-17442-2V001

www.heyne.de

Für einen Penny pro Wort zu schreiben ist lächerlich. Wenn man ein echtes Vermögen machen will, gründet man am besten seine eigene Religion.

– L. RON HUBBARD, Gründer von Scientology

Haben Sie die Nase voll vom lauwarmen Christentum?

– VERTREIBER EVANGELIKALER TRAKTATE

Dies ist die Geschichte von Jonah Murtag.

Jonah war ein rechtschaffener Mann,

der einzige aufrechte Mann seiner Zeit.

Er wandelte mit Gott.

Ich träumte davon, wie ich als Kind zusah, als ein Moslem in Brand gesteckt wurde.

Das war zurzeit der Großen Säuberung. Juden, Sikhs, Hindus und all die anderen wurden aus ihren Häusern gezerrt und hinter hohen Stacheldrahtzäunen zusammengepfercht. Christliche Bürgermilizen, Trupps von Männern mit Bibeln und Baseballschlägern, rotteten sich zusammen.

Einer dieser Trupps fiel über den Moslem her, der außerhalb der kürzlich eingerichteten Zone namens »Little Baghdad« mit dem Fahrrad herumfuhr. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und machte mit meiner Grundschulklasse gerade einen Ausflug. Unser Busfahrer trat auf die Bremse, um die Mitglieder der Miliz anzufeuern.

Der Moslem war geistig behindert. Das konnte man zunächst gar nicht erkennen – eigentlich nur daran, dass er immer noch über das ganze Gesicht strahlte, als die weißen Männer ihn anbrüllten und ein Stein gegen das Schutzblech seines Fahrrads flog.

Die Meute bildete einen Kreis um ihn. Aber der Moslem hörte nicht auf zu lächeln, was die Männer nur noch wütender machte. Einer von ihnen stieß ihn von seinem Fahrrad.

Mit etwas, das aussah wie eine alte Wäscheleine, fesselten die Männer ihn an den Fahrradrahmen. Der Moslem stöhnte auf und sagte irgendetwas, das die anderen für Arabisch hielten, obwohl es vielleicht nur irgendwelches zusammenhangloses Gebrabbel war. Die Männer leerten einen Behälter mit Flüssigkeit über dem Moslem aus. Es konnte sich eigentlich nur um Benzin handeln, aber ich kann mich noch an den harzigen Geruch erinnern und daran, wie die Flüssigkeit in der Sonne violett schimmerte. Später wurde mir klar, dass es wahrscheinlich Terpentin war.

»Nicht vor den Kindern«, sagte einer der Männer.

»Lasst sie ruhig zuschauen«, sagte ein anderer. »Die anderen machen mit uns genau dasselbe. Die Kinder sollen ruhig wissen, was hier los ist.«

Einer der Männer holte ein Streichholzbriefchen hervor, zündete es an und warf es dem Moslem ins Gesicht. Flammen loderten empor und schlugen gegen seinen Körper. Die Luft über seinen Schultern fing an zu flirren, und durch die Terpentindämpfe konnte man ihn nur noch verschwommen erkennen.

»So ist es Tradition bei denen«, sagte einer der Männer an niemand Bestimmtes gerichtet. Ich kann mich noch an die Hände des Opfers erinnern, die aussahen wie in Schweinsleder eingewickelte Knochen. »Sie stecken sich selbst in Brand. Das ist Teil ihrer Religion.«

Als Erwachsener wurde mir klar, dass er das Ritual der Sati meinte, bei dem sich indische Witwen zusammen mit dem Leichnam ihres Mannes auf einem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Allerdings handelt es sich um eine hinduistische Tradition, und das Opfer war Moslem. Ich hatte damals keine Möglichkeit zu protestieren, außerdem hätte es keinen Unterschied gemacht.

Das letzte Streichholz des Briefchens entzündete die Terpentindämpfe, und mit einem dumpfen Whup umzüngelte ein purpurner Mantel aus Feuer den Körper des Moslems; sein Gesichtsausdruck war die reinste Glückseligkeit.

Arme und Beine wurden in Flammen gehüllt, doch er spürte noch keinen Schmerz – er schien benommen, während dieses merkwürdige Licht um ihn herum aufleuchtete. Dann fingen seine Haare Feuer, und einige der Männer wandten wie von einem schwerkranken Menschen den Blick ab. Es war nicht das geringste Geräusch zu hören, kein einziger Schrei, nicht mal das Knistern der Flammen. Ich weiß noch, wie ich dachte: Bin ich etwa taub geworden?

Der Moslem versuchte aufzustehen, wurde jedoch vom Gewicht des unförmigen Fahrradrahmens, der an seinem Rücken festgebunden war, daran gehindert. Seine Füße hämmerten gegen den Asphalt, während von seinen Zehen winzige Flammen emporloderten. Schließlich bäumte er sich wie die Marionette eines parkinsonkranken Puppenspielers schmerzerfüllt auf – zappelnd und verwirrt wirbelte er um die eigene Achse, und das Feuer drang in seinen Rachen, um die letzten Reste Sauerstoff in seiner Lunge zu entzünden. Von den geschmolzenen Fahrradreifen, die sich wie zwei Feuerräder langsam im Kreis drehten, schossen gezackte Flammen empor. Wankend überquerte der Moslem die Straße und lief blindlings gegen den Zaun, der das Ghetto umgab, worauf sich die Pedale in den Maschen verhakten und er dort aufrecht stehend verbrannte.

ARTIKEL I

ER TRÄGT SEIN KREUZ

»Kirche und Staat.

Von nun an soll jeder Gläubige zwischen beiden keinen Unterschied mehr machen.

Fortan und in alle Ewigkeit gilt:

Die Kirche IST der Staat.«

Das Neue Republikanische Testament,5. Ausgabe, Einleitung

Hochgeschätzte Gläubige,

in Euren Händen haltet Ihr die Glaubenssätze der Republik, in der Ihr lebt und der Ihr dient. Ihre Güter sind unantastbar und unabänderlich.

Und dies sind Eure Gesetze. Die Gesetze, die Gott durch die Heiligen Väter festgeschrieben hat und die durch den Propheten Eures Stadtstaates vollstreckt werden.

Niemand darf gegen diese Gesetze verstoßen. Wer dies dennoch tut, muss von allen aufrichtigen und folgsamen Gläubigen verurteilt und geächtet werden.

Ungläubige werden ermutigt, ihren rückschrittlichen Religionen abzuschwören und sich zu bekennen zur erlösenden Kraft und göttlichen Seligkeit des reinen und alleinigen – des einzig wahren Glaubens.

GEÄNDERTE STATUTEN

Abschnitt 86

Police Department of New Bethlehem

Sektion 86.420

Einheit für Religionsverbrechen –Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche

1. Auf Anordnung des Göttlichen Rates in New Kingdom soll jeder Stadtstaat [New Jericho, New Halah, New Bethlehem, New Nazareth, New Beersheba] eine Spezialeinheit für Religionsverbrechen bilden, die sich aus den qualifiziertesten Mitarbeitern oder anderweitig geeigneten Angehörigen der unteren Dienstränge zusammensetzt. Die Beamten dieser Einheit [nachstehend Gefolgsleute genannt] sind mit folgenden Aufgaben betraut:

(1) Die Durchsetzung der moralischen Grundsätze gemäß der biblischen Lehre des jüdisch-christlichen Glaubens, wie sie im Neuen Republikanischen Testament festgelegt sind;

(2) Das Aufspüren sowie die Vernichtung von Symbolen, Gebetsräumen und Gläubigen sämtlicher abweichender Glaubensrichtungen.

2. Sollten die Arbeitsabläufe der Bereitschaftspolizei denen der Einheit für Religionsverbrechen zuwiderlaufen oder sich die beiden Zuständigkeitsbereiche überschneiden, haben die Ziele der Einheit für Religionsverbrechen stets Vorrang.

1 INITIATION

»Sagen Sie’s uns, Kadett Murtag.«

Ich lag nackt und ausgestreckt auf einer Marmorplatte. Befand ich mich in einem Schlachthof? In einem abbruchreifen Fabrikgebäude? Der Marmor an meiner Wirbelsäule fühlte sich eiskalt an.

Meine Initiation fand vor einigen Jahren statt. Ich gebe hier meine Erinnerung daran wieder.

Ich wurde von mehreren Männern in purpurroten Gewändern umringt, deren Gesichter mich aus ihren tiefroten Kapuzen anstarrten – bei den Männern handelte es sich um meine Ausbilder und Vorgesetzten. Obwohl der Gedanke reinste Blasphemie war, fand ich, dass es aussah, als würden ihre Gesichter aus den Falten einer unglaublich großen, furchtbar weiten Vagina hervorragen … Allerdings hatte ich noch nie eine Vagina gesehen. Zumindest nicht aus Fleisch und Blut, nur ein anatomisches Schaubild in einem Buch aus der Bibliothek, das die Große Säuberung überlebt hatte.

»Was ist Ihr Geheimnis, Kadett Murtag? Wir müssen Ihnen vertrauen können.«

Hollis, mein zukünftiger Chef, hatte diese Frage gestellt. Hinter dem Kreis aus Kapuzen standen die anderen Elitekadetten: Garvey, Cruikshank und Applewhite. Alle drei waren splitternackt und hüpften auf dem Steinboden von einem Fuß auf den anderen.

»Sie werden die verbotenen Schriften zu sehen bekommen«, fuhr Hollis fort. »Sie werden die Evangelien der Ungläubigen kennenlernen, die Traktate und Abhandlungen ihrer rückständigen Religionen. Wir müssen sichergehen, dass Sie keinen moralischen Schaden nehmen. Darum müssen wir Ihnen vertrauen können.«

Sie wussten bereits alles über mich. Welche Schulen ich besucht hatte und wie viel Geld auf meinem Konto bei der First Divinity war, wie viel Steuern ich letztes Jahr gezahlt hatte und dass ich als Teenager an Scharlach erkrankt war, und sie kannten auch meinen Highschool-Aufsatz mit dem Titel: »Ein feste Burg ist unser Gott.«

Sie wollten, dass ich es selbst sagte. Weil die Beichte der Seele guttut. Ja, die Beichte ist gut für die Seele. Gott ist gut. Der Prophet ist gut. Die Republik ist gut.

Unsere Lebensweise – gut.

»Man hat meine Mutter der Therapie unterzogen«, sagte ich.

»War sie eine von den Aufständischen?«, fragte Hollis. »Wollte sie die Republik zu Fall bringen?«

»Sie hat Sachen gesagt, die sie nicht hätte sagen dürfen«, antwortete ich. »Das war kurz nach Gründung der Republik. Und ich habe in der Schule davon erzählt …«

»Sie haben Ihre eigene Mutter verpfiffen?« Hollis grinste.

»Nein«, sagte ich. »Das war mir damals nur so rausgerutscht. Mein Lehrer hat es dann gemeldet. Sie … hat ein paar dumme Sachen gesagt. Und sie hatte sündige Gedanken. Eines Tages wurde sie dann abgeholt.«

»Besuchen Sie sie immer noch?«

»Hin und wieder. An ihrem Geburtstag, am Muttertag. Aber die Hälfte der Zeit weiß sie nicht mal, wer ich überhaupt bin.«

»Hegen Sie irgendeinen Groll gegen die Republik wegen dem, was geschehen ist?«

»Nein.« Das war die Wahrheit. »Sie hat es verdient.«

Man legte mir ein goldenes Leintuch um den Körper, und all die Gesichter unter den scharlachroten Kapuzen schauten mich plötzlich voller Verbundenheit an. All diese grinsenden, in eine Vagina gehüllten Gesichter.

Ich hatte es geschafft. Ich war jetzt einer von ihnen.

Ein Gefolgsmann.

2 RAZZIAROUTINE

Es handelte sich um ein zweistöckiges Gebäude mit Giebeldach, das auf einer Seite mit Efeu bewachsen war. Es befand sich unweit der MegaKirche, allerdings nicht in der exklusiven Gegend, die den Ministern und Würdenträgern vorbehalten war. Es war ein Haus, wie ein stellvertretender Minister es bewohnen würde, ein ehrgeiziger Karrierist mit seinen fotogenen dreieinhalb Kindern.

Aber dieser zweistöckige Giebelbau beherbergte lauter Homosexuelle. Wir wussten bereits seit Längerem von der Existenz dieser Gruppe. Es handelte sich um eine Schar harmloser Schwuchteln. Aber heute Abend waren nicht viele von ihnen da.

Angela Doe, Garvey und ich hockten in einem Lieferwagen am Straßenrand, auf dessen Außenseite ein knallbuntes Bild von Buckles, dem Geburtstagsclown prangte. BUCKLES IST EIN AMTLICH ZUGELASSENES UND STAATLICH GEPRÜFTES ENTERTAINMENT-UNTERNEHMEN stand in kleinen Buchstaben halbkreisförmig über den Kotflügeln.

Das Haus war verwanzt, und jeder von uns trug einen Kopfhörer, aus dem mehrere verrauschte Stimmen drangen:

Stimme 1: »Schau schon hin – los. Es geht darum, deine Triebe zu kontrollieren, okay? Schau es dir an, ohne es anzufassen. Und lass dir nicht anmerken, dass du es anfassen willst.«

Stimme 2: »Aber dann kontrolliert man seine Triebe gar nicht, oder? Man setzt nur eine Maske auf.«

[UNVERSTÄNDLICHER WORTWECHSEL]

Stimme 1: »… und schließlich läuft man ständig mit dieser Maske herum. Man verbirgt alle seine Triebe hinter dieser Maske, und irgendwann wird sie einem zur zweiten Natur.«

Garveys Gesicht lief rot an. Gegenüber Schwulen war er besonders intolerant.

»Gehen wir rein«, sagte er finster.

»Wärst du auch so aufgebracht«, fragte Doe, »wenn es sich um eine Gruppe Lesben handeln würde?«

Garvey starrte sie an. »Was glaubst du wohl? Erzähl mir bloß nichts davon – ich will es mir erst gar nicht vorstellen.«

Bewaffnet mit Schutzschilden und Gewehren stiegen wir aus dem Lieferwagen und schlichen hinauf zur Veranda. Die Tür war nicht abgeschlossen. Trotzdem trat Garvey sie ein. Wie ein waschechter Cowboy.

»Religionspolizei! Auf die Knie!«

Die Homosexuellen – ich zählte insgesamt acht – saßen alle im Wohnzimmer. Sie waren konservativ gekleidet, mit Button-down-Hemden und hellbraunen Hosen, im langweiligen Stil von Ehemännern und Vätern, was einige von ihnen wahrscheinlich auch waren. Aus irgendeinem Grund hatte ich mit einer dekadenten, ausschweifenden Szenerie gerechnet: Typen, die in Federboas herumstolzierten, während ein nackter Zwerg auf einem Konzertflügel herumklimperte.

»Gesicht nach unten«, sagte ich. »Ihr verstoßt gegen die Gesetze der Republik.«

Der Anführer der Gruppe hielt ein paar mottenzerfressene Broschüren von Exodus International in die Höhe.

»Wir versuchen, uns zu ändern«, erklärte er. »Wir wollen uns selber heilen.«

Doe und Garvey warfen die Männer zu Boden und legten ihnen Plastikfesseln an, während ich aus der Verfügung der Republik zitierte: »Jeder Gläubige, der gottlose Gedanken hegt, muss der nächstgelegenen Konditionierungseinrichtung gemeldet werden, damit er sich dort einer Glaubenstherapie unterzieht …«

»Und was dann?«, kreischte der Leiter der Gruppe. »Da bohren sie dir den Schädel auf, um deine sündigen Gedanken zu entfernen! Die verwandeln dich in Gemüse!«

Ich ging ins Esszimmer, dessen Parkettboden vollständig mit Matratzen ausgelegt war. Drauf lagen mehrere Kissen. Und Pornohefte … Bei genauerem Hinschauen stellte sich jedoch heraus, dass es sich lediglich um die vergilbten Reklamebeilagen einer Kaufhauskette handelte. Die Sommer-Ausgabe, voller muskelbepackter Männer in Badeklamotten und Unterhosen. Ein Bild zeigte einen Typen mit nacktem Oberkörper, der in Unterwäsche angelte. Garvey trat zu mir. Er nahm einen der Prospekte, betrachtete eingehend den halb nackten Angler und warf den Prospekt wieder auf den Boden.

»Pervers, diese Typen.«

Während ich ihn die Prospekte einsammeln ließ, ging ich hinaus zum Lieferwagen und forderte über Funk einen Krankenwagen an. Als er schließlich eintraf, verfrachteten wir die Straftäter in sein Inneres. Sie würden die nächste Woche untätig im nächstgelegenen Konditionierungszentrum herumlungern. Oder zu Gott finden.

Nacht.

Wir befanden uns jetzt im Westen der Stadt, am Fluss, zwischen Lagerhallen und billigen Absteigen, deren Umrisse sich deutlich abzeichneten. Die Gebäude sahen aus, als wären sie aus schwarzer Pappe ausgeschnitten worden. Der Wind fegte durch die rostigen Hafenanlagen und erfüllte meine Nase mit dem Geruch von Stahl.

»Ich wette zehn zu eins, dass wir sie nicht brauchen werden«, sagte Garvey, während er sich seine kugelsicheren Beinschützer umschnallte.

Doe legte sich eine kugelsichere Weste an. »Was, wenn du während der Razzia bei den Mormonen keine Schutzkleidung getragen hättest?«

Vor einem Monat hatten wir eine Gruppe Mormonen hochgenommen, die in einer verlassenen Lagerhalle ihre Gottesdienste abhielten. Ihr Wachposten hatte aus kürzester Entfernung eine Ladung Schrot Kaliber 20 auf Garvey abgefeuert.

»Mormonen sind Spinner.« Garvey drückte mehrere Patronen in das Magazin eines Mossberg-Gewehrs. »Diese Religion wurde von einem Typen gegründet, der einen leuchtenden Kieselstein in seinen Hut gestopft hat und sich von ihm zu mehreren unter einem Baum vergrabenen goldenen Platten führen ließ. Das sind polygame Psychos.«

Ich ließ meinen Blick über ein erleuchtetes Fenster in nordöstlicher Richtung wandern. »Die Typen da sind ebenfalls Spinner.«

»Sie werden keinen Widerstand leisten«, sagte Garvey und klappte den Gesichtsschutz seines Helms herunter. »Das sind harmlose Spinner.«

Sobald wir unsere Montur umgeschnallt hatten, ging ich in der Gasse in die Knie und sprach ein Gebet.

»Herr, wir bitten dich um deinen Segen für diesen Einsatz, den wir in deinem Namen durchführen. Für die Sicherheit deiner Vertreter und dafür, dass wir den Mut aufbringen, dein gutes Werk zu vollenden. Darum bitten wir dich, o Herr.«

»Herr, erhöre unser Gebet.«

»Für die göttlichen Väter in Kingdom City und ihre ergebenen Abgesandten hier in New Bethlehem und für die Kraft, der Herrlichkeit und Reinheit des einzig wahren Glaubens Geltung zu verschaffen. Darum bitten wir dich, o Herr.«

»Herr, erhöre unser Gebet.«

»Amen.«

Doe klappte meinen Gesichtsschutz herunter und klopfte gegen den durchsichtigen Kunststoff. »Möge der Herr mit dir sein, Gefolgsmann Murtag.«

»Und mit dir, Gefolgsfrau Doe.«

»Und ich, bin ich etwa ungläubiger Abschaum?«

Doe seufzte. »Und auch mit dir, Gefolgsmann Garvey.«

Wir standen jetzt im Flur vor der Wohnung im zweiten Stock. Durch die Tür aus billigem Pressspan drangen mehrere Stimmen:

»Nehmen wir ein anderes Erlebnis, dem Sie sich ohne Angst stellen können … Okay, das Gerät zeigt einen Ausschlag. Versetzen wir uns in jenen Moment zurück.«

Garvey formte mit den Lippen das Wort Auditing-Sitzung. Durch meine Adern pulsierte das Adrenalin, und an der Unterseite meines Halses spürte ich ein nervöses Pochen.

Ich formte mit den Lippen das Wort Los.

Garvey richtete sein Gewehr auf den Türknauf. Das Metall warf Blasen, und das Holz splitterte. Ich trat gegen die Tür, sodass die Sicherheitskette riss, und wir stürmten ins Innere.

»Religionspolizei! Auf die Knie!«

Das Zimmer war hell erleuchtet. Darin standen vier Klapptische und acht Klappstühle. Im Zimmer befanden sich insgesamt acht gesuchte Personen: sechs Männer und zwei Frauen. An der Wand hing ein Schwarz-Weiß-Porträt ihres Messias.

Bleich und krötengesichtig, mit wässrigen Augen. Um den Hals eine Seidenkrawatte.

L. Ron Hubbard.

Garvey trat einen der Tische um, und das Elektrometer darauf sauste durch die Luft. Ein gertenschlanker Scientologe erhob sich von seinem Platz, worauf Garvey ihm mit seinem Gewehrkolben einen Stoß versetzte. Die Brille des Mannes rutschte von seinem Nasenrücken, und er fiel hin.

»Alle auf den Boden!«, blaffte Garvey. »Mit dem Gesicht nach unten!«

Die Scientologen waren vom Knall des Schusses halb taub und von ihrer Auditing-Sitzung noch leicht benommen. Doe trat auf eines der Elektrometer, das unter ihrem Fuß wie ein billiger Taschenrechner zersplitterte.

»Wisst ihr, was das ist?«, sagte sie zu den winselnden Fanatikern. »Ein Apparat, der auf den Schweiß in euren Handflächen reagiert. Das ist nichts weiter als ein Haufen Plastik und ein paar Kabel; das Ding kostet in der Herstellung elf Schekel. Ihr werdet alle ins Konditionierungszentrum wandern – und wofür? Weil ihr mit einem Spielzeug rumgemacht habt.«

»Hört nicht auf sie.«

Der gertenschlanke Scientologe hatte sich erhoben – seine Beine zitterten, aber er stand aufrecht. An den Seiten seiner Nase lief Blut herunter, und die zerbrochene Brille baumelte an seinem Ohr herunter.

»Was wir hier tun, dient dem Wohl der Menschheit.«

Garvey packte den Gesuchten am Revers und drückte ihm den Unterarm unters Kinn.

»Ich sag’s ja nur ungern, aber eure ganze Religion ist reine Geldmacherei. Dieser Typ da« – er deutete mit dem Kopf angewidert auf L. Ron – »lebte auf einer Jacht auf dem Meer, deren Besatzung aus lauter Jungs bestand. Der Typ war ein pädophiler Perverser, dessen Verbrechen von Schwachköpfen wie euch finanziert wurden.«

Der Scientologe musste würgen. Aber seine Augen waren hell und klar und erfüllt von jenem Ausdruck inbrünstigen Wahnsinns, den man in meinem Beruf häufig zu sehen bekommt.

»Glaubt ihr wirklich«, fuhr Garvey fort, »dass in euren Körpern Aliens leben?«

Garvey und Doe vollzogen Anordnung 46.23 der Satzung für Religionsverbrechen: Legen Sie die gravierenden Unzulänglichkeiten und Widersprüche aller falschen Propheten und/oder Religionen dar.

»Ist euch eigentlich klar, wie bescheuert eure Religion ist?«

»Auch nicht bescheuerter als ein Erlöser, der an einem Kreuz stirbt und drei Tage später wiederaufersteht«, sagte der Scientologe.

Garvey rammte dem Typen den Schaft seines Gewehrs in den Mund, und mehrere seiner Zähne prasselten gegen die Wand. Zuckend ging der Scientologe zu Boden.

Bis zu diesem Moment hatte keiner von uns die Scientologin, die neben der Tür stand, bemerkt. Eine rundliche, pickelige Frau in einem lilafarbenen Angorapullover, die ungefähr so lebendig wirkte wie eine Zimmerpflanze. Sie griff nach einer Pistole unter einem der Tische, die dort mit Klebeband befestigt war.

Die erste Kugel schlug in der Wand hinter Does Kopf ein. Die Frau mit dem Angorapullover drückte erneut ab, und die Kugel zertrümmerte eine der Deckenfliesen. Dann stürzte sie zur Tür hinaus. Mein Kopf fuhr zu Doe herum – sie hatte die Augen weit aufgerissen, war jedoch unverletzt –, also drehte ich mich um und nahm die Verfolgung auf.

Während die Frau den Flur hinunterrannte, wirbelte sie herum und feuerte einen weiteren Schuss ab. Putz und Holzsplitter spritzten durch die Luft. Ich hob meine Schrotflinte und drückte ab. Kawumm. Die Mitte ihres Körpers verwandelte sich in roten Kartoffelbrei, und lilafarbene Stofffetzen stoben sternförmig auseinander.

Als ich ins Zimmer zurückkehrte, hatte Doe sich nicht von der Stelle bewegt. Die Kugel hatte ihren Kopf lediglich um zwei Zentimeter verfehlt.

Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung? Hey. Hey.«

Does kurz geschnittene Haare rochen nach Kordit, und die Enden waren gekräuselt, als wären sie damit zu dicht ans Feuer gekommen. Ich beugte mich zu ihr vor, obwohl ich wusste, dass ich das nicht tun sollte – nicht jetzt, nicht vor den gesuchten Personen, unter keinen Umständen, niemals. Meine Lippen strichen über ihre Stirn.

»Tut mir leid, Angela. Sie stand in meiner Ecke.«

Die Berührung mit Doe ließ meinen Unterarm erschauern. Ich taumelte zurück, und sie rammte einem der Scientologen ihr Knie in den Rücken und legte ihm Handfesseln an.

Im Flur forderte ich per Funk einen Löschtrupp an. In den anderen Türen erschienen mehrere verschlafene Mieter, und einer von ihnen erkundigte sich nach dem Lärm.

»Packen Sie alles zusammen, was Ihnen wichtig ist, und machen Sie, dass Sie hier rauskommen«, sagte ich zu ihnen.

In diesem Moment detonierte Does Schrotflinte. Ich warf erneut einen Blick in die Wohnung. Sie hatte ein Loch in L. Rons Gesicht geschossen.

Der Hausbesitzer trug eine Kette mit einem riesigen Kruzifix um den Hals.

»Das ist ziemlich unchristlich«, sagte er. »Das hier ist meine Existenzgrundlage. Das ist alles, was ich habe.«

»Es ist wie bei den Kakerlaken«, erklärte ich ihm. »Wer ihnen Unterschlupf gewährt, muss auch für die Kosten der Beseitigung aufkommen.«

»Woher sollte ich denn wissen, dass das Ungläubige sind?« Der Jesus an seinem Hals baumelte hin und her. Der Typ schwitzte wie ein Schwein; das billige Metallkruzifix würde bald anfangen zu rosten, und dann würde sich unser Erlöser grün verfärben.

Ich zuckte mit den Achseln. »Diese Gegend ist der ideale Nährboden für solche Leute. Sie sollten Ihre Mieter genauer unter die Lupe nehmen.«

In diesem Moment traf der Löschtrupp ein. Die Männer zogen feuerfeste Kleidung an, schulterten ihre Flammenwerfer und rannten die Treppe hinauf.

»Ich besuche dreimal pro Woche das Hochamt!«, kreischte der Hausbesitzer. »Wenn der Klingelbeutel rumgeht, gebe ich mehr als nötig – ich unterstütze den Propheten aus tiefstem Herzen!«

Ein Feuerstrahl zerschnitt die Wohnung. Das Fenster darin vibrierte, wölbte sich und splitterte. Mit einem Geräusch, als würde man ein Stück Leinen zerreißen, wurde die Luft durch die Öffnung gesaugt. Die Tanks des Löschtrupps waren mit einem Gemisch aus geliertem Benzin und Weihwasser gefüllt, ein zerstörerisches, heiliges Gemisch. Es war faszinierend, dem Feuer zuzuschauen. Flackernd und gefräßig war es unaufhörlich in Bewegung und bildete Muster, wie nur Flammen sie bilden konnten. Öliger, schwarzer Rauch quoll aus dem Fenster. Der Hausbesitzer kniete brüllend auf dem Gehweg und schlug sich gegen die Brust, als wir schließlich den Einsatzort verließen.

3 DER VERTRAUTE UNHEILVOLLE ZAUBER

Zurück auf dem Polizeirevier.

Zeit für den Einsatzbericht. Ich bin der Teamleiter und damit für den ganzen Papierkram verantwortlich. Doe würde es nie zur Teamleiterin bringen; als Frau hatte sie bereits das gesetzlich festgelegte Ende der Karriereleiter erreicht. Unser Gehaltstarif richtete sich nach dem dritten Buch Mose 27: So sollst du sie also schätzen: Einen Mann vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Lebensjahr sollst du schätzen auf fünfzig Schekel Silber, nach dem Schekel des Heiligtums. Ist es aber ein Weib, so sollst du sie auf dreißig Schekel schätzen.

Nachdem ich den Einsatzbericht getippt hatte, warf ich die Durchschläge in Deacon Hollis’ Fach. Dann durchquerte ich das Großraumbüro und ließ meinen Blick über die Pinnwand mit den Informationen zu den laufenden Ermittlungen wandern.

Illegale Anbetung/Tieropfer. Wicca, die im East Seraphim Park und Umgebung ihre Religion ausüben. 20 bis 25 Personen, weiß M/F 16–50 Jahre alt. Bedrohungspotenzial: niedrig. Priorität: niedrig. Ermittelnde Gefolgsleute: Henchel/Brewster.

Illegale Anbetung/Verschwörung/Höchste Gefahr für den öffentlichen Frieden. Islamische Zelle irgendwo im Umkreis von Hollis Heights/Kiketown. 6 aktenkundige Personen, arabisch M 15–35 Jahre alt. Möglicherweise chassidische Sympathisanten in Demsky’s Kosher Meat Mart. Bedrohungspotenzial: hoch. Priorität: hoch. Ermittelnde Gefolgsleute: Applewhite/Mathers/Palmer.

Ich schaltete den lokalen Sender des Republic Public Radio an. Es lief gerade die Nachricht von unserem Einsatz:

»… Heute Abend ist es der Polizei gelungen, bei einem gefährlichen Einsatz sieben Religionsstraftäter dingfest zu machen. Die flüchtigen Scientologen übten ihre Religion in einem Wohnblock in den Underdocks aus. Obwohl sie schwer bewaffnet waren, leisteten sie kaum Widerstand und konnten ohne Zwischenfall verhaftet werden. Gesegnet seien die, die mit Gott gehen. Gesegnet seien die, die seinem Propheten folgen. Beim Piepton ist es elf Uhr RPR-Zeit.«

Die Ladenfront war hoch und schmal und zwischen eine Suppenküche und eine Blutbank gequetscht. Über der Tür, an zwei Ketten, hing der große, hölzerne Kopf eines Schafbocks. In den Fenstern brannte zwar kein Licht, doch auf einem Neonschild blinkte der Schriftzug 24 Std. geöffnet.

Zu beiden Seiten des Ganges in der Mitte des Ladens standen Maschendrahtgehege mit verschiedenen Tieren: Lämmer, Ziegen und Hasen. An den Wänden hingen mehrere Vogelkäfige.

»Officer Murtag. Schön, Sie wiederzusehen.«

Der Ladenbesitzer war groß und schmal, wie sein Laden, und er roch nach Luzernenduft.

»Ich möchte ein Opfer darbieten«, sagte ich.

»Ein Tieropfer oder ein Blutopfer?« Dann beantwortete er seine Frage selbst: »Es kommt wohl auf die Art des Vergehens an, nicht wahr?«

Ich dachte an die Frau in dem lilafarbenen Angorapulli. An das Loch in ihrem Bauch und an die Wollfetzen. Ich deutete auf die Ziege, die mir am nächsten stand. »Wie wär’s mit der da?«

»Ein schönes Tier«, sagte der Inhaber nur wenig überzeugend. »Es würde ein stattliches Opfer abgeben. Aber …«

Er nahm eine Holzstange und schob ihre Spitze durch die Öse eines der Vogelkäfige aus Weidenholz.

»Das sind Dolchstichtauben«, sagte er und ließ den Käfig auf Augenhöhe herunter. »Wunderschöne Tiere. Danach ist Ihre Seele vollkommen rein.«

»Eine Taube reicht nicht für das Vergehen.«

»Verstehe.« Der Inhaber rieb sich das Kinn und dachte nach. »Schön, wenn Sie unbedingt eine Ziege wollen, wie wär’s dann mit diesem jüngeren Exemplar hier?«

»Wie viel kostet es?«

»Sieben Schekel und sieben Gera.«

Der Inhaber legte der Ziege ein Halsband an. Ihre Hörner waren zu kleinen Knubbeln angeschliffen worden.

»Da entlang.« Er deutete auf einen abgehängten Durchgang im hinteren Bereich des Ladens. »Dort wartet der Priester auf Sie.«

Der Altar hatte die Größe eines Vorratsschranks, und in dem Raum hingen ein Porträt von Jesus sowie des Propheten. Der Priester hockte schnarchend hinter seinem Pult, während die Ziege an meinem Hosenaufschlag knabberte.

»Tut mir leid, mein Sohn«, sagte der Priester, als er zu sich kam. »Es war eine ruhige Nacht.«

Der Priester wirkte ausgemergelt, wie viele Hüter der heiligen Stätten. Vor einigen Jahren hatte er vielleicht seine eigene Kirche gehabt, seine eigenen Diözese, mit einer Gemeinde, die ihn bewunderte. Der Priester legte eine Gummischürze und einen Ledergürtel mit mehreren funkelnden Messern an. Dann spülte er die Auffangschüssel aus und stellte sie neben das Ablaufgitter.

Die Ziege zuckte mit den Ohren und knabberte am Gewand des Priesters.

»Wie heißt du, mein Sohn?«

»Murtag.«

»Um was für ein Vergehen handelt es sich, mein Sohn?«

»Vorsätzliche Körperverletzung.« Eine kurze Pause. »Mit Todesfolge.«

Der Priester nickte. »Hast du die Tat im Affekt begangen?«

»Ja.«

»In Ausübung deiner Dienstpflicht?«

»Ja.«

»Im Dienst unseres Herrn und unseres Propheten?«

»Ja.«

Der Priester legte eine Schlinge um die Hinterbeine der Ziege und drückte auf den Knopf eines Schaltkastens, worauf das Tier in die Höhe gezogen wurde. Die Ziege strampelte und blökte.

»Herr, schau auf dieses Opfer deines ergebenen Dieners.«

Der Priester zog ein Messer mit langer Klinge aus seinem Lederfutteral.

»Empfange diese Gabe, o Herr, die dir so großzügig und von ganzem Herzen dargebracht wird, möge sie seine mit Sünde befleckte Seele reinigen. Darum bitten wir dich in deinem Namen, Amen.«

Mit einer Hand packte der Priester die Ziege unter dem struppigen Kinnbart, worauf ihre Augen wie schwarze Kugeln aus den Höhlen traten. Dann ließ er mit einer routinierten Bewegung das Messer über ihren Hals gleiten.

Die Ziege stieß einen röchelnden Schrei aus. Der Priester packte sie am Maul und fing mit der Schüssel das Blut auf. Etwas davon spritzte er an die Wand, während er seine Worte sprach.

Der Priester wiederholte den Vorgang. Dann entrollte er einen Schlauch und spritzte die Wand ab.

»Du kannst jetzt gehen, mein Sohn. Deine Sünden sind gesühnt.«

Auf dem Weg nach draußen fragte mich der Ladeninhaber, was mit dem Tier geschehen solle.

»Der Priester ist staatlich zugelassener Metzger«, erklärte er. »Für fünf Schekel wird das Tier ausgeweidet, zerteilt und Ihnen in Wachspapier nach Hause geliefert.«

Ich lehnte sein Angebot ab. Mein Gefrierfach war bereits voller Ziegenfleisch.

Der Blick aus meiner Wohnung war himmlisch.

Auf sämtlichen Gebäuden standen erleuchtete Kreuze, auf jedem Wohnkomplex und jedem Fabrikgebäude, auf jedem Haus, dessen Besitzer es sich leisten konnten. Neonkreuze, Plexiglaskreuze und riesige Holzkreuze, die mit blinkender Weihnachtsbaumbeleuchtung geschmückt waren.

Im östlichen Teil der Stadt gab es einen Stromausfall, und die Lichter der Kreuze erloschen. Wie eine Woge wälzte sich die Dunkelheit über die Stadt.

Der Motor meines Kühlschranks verstummte, und die rote Leuchtanzeige am Wecker neben meinem Bett ging aus. Ich hockte in der brütenden Dunkelheit. Infolge der Energiesparmaßnahmen fiel jede Nacht der Strom aus. Aber die Flutlichter, die das MegaKirche-Stadion umgaben, brannten immer noch.

Ich legte mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Doch ich konnte nicht. Wie viele Ziegen waren es im Laufe der Jahre gewesen? Wie viele Tauben, wie viele Kaninchen und Schafe? Ich kam mir vor wie ein Alkoholiker, dessen Zellen so sehr nach dem Stoff verlangten, dass er den Alkohol nicht mehr genießen konnte, wie jemand, der soff, um seinen Pegel zu halten.

Biete ein Opfer dar. Wasch dich rein. Iss von meinem Leib, und trink von meinem Blut.

Sprecht mir nach: Jesus Christus, der Sohn Gottes, ist am Kreuz für uns gestorben zur Vergebung unserer Sünden.

Als ich noch ein Kind war und eines Morgens nach unten in die Küche lief, unterhielt sich dort ein Mann in einem weißen Anzug mit meiner Mutter. Er teilte ihr mit, dass man unsere Kirche geschlossen habe und es eine neue Kirche gebe, eine bessere Kirche. Der Mann im weißen Anzug sagte, dass er sich sehr freuen würde, wenn wir beide uns dazu entschließen könnten, an den Gottesdiensten teilzunehmen.

Ich kann mich zwar auch noch an andere Ereignisse aus meiner Kindheit erinnern, an Kleinigkeiten, aber im Grunde genommen ist der Mann in dem blütenweißen Anzug meine erste Erinnerung.

Ich bin nur ein unbedeutender Mann. Ich bin nur eine unbedeutende Frau.

Das sagten die Leute ständig. Ein einzelner Mann kann die Zukunft nicht aufhalten. Und die Zukunft kam. Wurde Gegenwart. Irgendwie war sie … plötzlich da.

Der Mann in dem weißen Anzug. Die Republik. Der Prophet. Die Unbefleckte Mutter. Die Fünflinge. Die Kreuze, die in den Nachthimmel ragten. Die Gefolgsleute.

Es war der vertraute unheilvolle Zauber.

4 EINSATZBESPRECHUNG

Das Erste, was ich am nächsten Morgen beim Betreten des Mannschaftsraums sah, war Garvey, der im Kreis der Kollegen von der Razzia erzählte.

»Diese Alien-Jünger hielten sich in der Nähe des Hafens versteckt. Ich habe das Schloss aufgeschossen, Murtag hat die Tür eingetreten, und dann haben wir die Wohnung gestürmt. Einer dieser Freaks ging mir total auf den Keks« – er sprach jetzt in einem hohen, affektierten Tonfall –: »›Unsere Religion dient dem Wohl der Menschheit!‹ Also habe ich ihm ordentlich eine verpasst. Da, wo man ihn hinbringt, sollte man ihm besser Bananenbrei zu essen geben, denn er wird für eine Weile keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen können.«

Die anderen lachten beifällig. Die meisten von ihnen waren früher Anhänger der Brüderbewegung oder Lutheraner oder Baptisten gewesen. Alles strenggläubige Religionsgemeinschaften. Garvey war Anhänger der Pfingstbewegung gewesen, die Rituale mit Schlangen durchführte.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch. An der nördlichen Wand hing ein Porträt von Jesus, der das Lamm Gottes im Arm hielt, und die südliche Wand zierte ein Bild des Propheten, ebenfalls mit dem Lamm Gottes im Arm. Unser Mannschaftsraum befand sich in einem anderen Bereich des Gebäudes als die Hauptwache. Insgesamt waren wir neun Gefolgsleute, die jeweils zu dritt ein Team bildeten und der Leitung von Deacon Hollis unterstanden. In einigen Details unterschieden wir uns deutlich von den gewöhnlichen Beamten: Ihre Marken waren silbern, unsere golden. Sie trugen die traditionelle blaue Uniform, wir hingegen waren im Stil christlicher Missionare gekleidet, mit knöchellangen Staubmänteln und schwarzen Westen mit Knöpfen aus Walknochen.

Acht Gefolgsleute hatten sich zum Dienst gemeldet. Nur Doe fehlte.

Aus der Gegensprechanlage tönte die Stimme von Chief Exeter: »Meine Herren, alle ins Besprechungszimmer. Und zwar sofort.«

Deacon Hollis kam aus seinem Büro. Er war Anfang fünfzig und hatte ein kantiges, flaches Gesicht. Seine Gesichtszüge passten nicht ganz zusammen, als hätte man einen Apfel in der Mitte durchgeschnitten und leicht verschoben wieder zusammengesetzt.

»Ihr habt unseren furchtlosen Anführer gehört«, sagte er und befingerte die Holzkugeln seines Rosenkranzes. »Alle in einer Reihe aufstellen!«

Ich schnappte mir mein Notizbuch, und Chief Exeter trat durch die Tür mit der genoppten Glasscheibe und durchquerte das Großraumbüro. Er war schlank und muskulös, hatte hohe Wangenknochen, und seine Zähne sahen aus wie die Zehen eines Elefanten.

Die Gefolgsleute nahmen im Besprechungszimmer Platz und schlugen den Saum ihrer Öljacken übereinander. Exeter trat hinter das Pult, und Hollis setzte sich links neben ihn.

»Heute geht es in der Einsatzbesprechung um die laufenden Ermittlungen der Abteilung in der Reihenfolge des Bedrohungspotenzials«, begann Exeter. »Ganz oben auf der Liste steht der 254 – ein Mord/Selbstmordattentat – letzte Woche am Matthew’s Square, während der Minstrel-Show ›Gelobt sei der Herr‹. Dabei gab es siebzehn Todesopfer. Aufgrund der Beschreibungen eines Überlebenden, der vor Kurzem das Bewusstsein wiedererlangt hat, hat unser Zeichner ein aktualisiertes Bild des Dschihadisten angefertigt.«

Bei dem Bombenattentäter handelte es sich um den typischen islamischen Fanatiker, mit Wangenknochen scharf wie zersplitterte Untertassen, einer listigen Nase und dunklen Augen, ausdruckslos wie Steine. Er war ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß und wog gut siebzig Kilo. Es wunderte mich, dass er bei seinem Körperbau eine Ladung Sprengstoff tragen konnte, die über fünfzig Kilo schwer gewesen sein muss.

Die Anwesenden im Besprechungszimmer wurden von einer Woge der Wut erfasst, während das Phantombild verteilt wurde. Garvey spuckte auf seine Kopie und trat mit seinem Absatz darauf.

»Die Kollegen vom CSI haben inzwischen herausgefunden, was für eine Art von Bombe dabei verwendet wurde. Ausgehend von der Sprengkraft deuten die vorläufigen Daten darauf hin, dass es sich um einen mit Düngemittel bestückten Sprengsatz mit manuellem Brandzünder handelte, möglicherweise eine Leuchtfackel. Diese Informationen stützen sich auf die Daten, die die Kollegen vom CSI durch Inaugenscheinnahme des Tatorts gesammelt haben.«

Vor Gründung der Republik stand das Kürzel CSI für Crime Scene Investigation, inzwischen jedoch für Christian Science Investigation. Die Forensik wurde als ketzerisches Fachgebiet verfemt, weil sie die Existenz von Dinosauriern und Ähnlichem beweisen konnte. Die Ermittler der Christian Science Investigation hingegen durften nur eine Lupe benutzen und ihre Schlussfolgerungen ziehen.

ENDE DER LESEPROBE