Das Carrington-Ereignis - Cassandra Schahrasad - E-Book

Das Carrington-Ereignis E-Book

Cassandra Schahrasad

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Beschreibung

Ein einsamer 46-jähriger portugiesischer Biologe auf einer Azoreninsel, eine 22-jährige italienische Austauschstudentin in Plymouth und ein 66-jähriger deutscher Prepper werden wie alle anderen acht Milliarden Erdenbewohner von einem Sonnensturm überrascht, der alle elektrischen Geräte zerstört. Einzeln nehmen sie den Kampf ums Überleben auf, bis sich über die Meere treibend ihre Wege kreuzen. Nach dem Sonnensturm herrschen wieder die archaischen Gesetze der Sozialbiologie, die den Menschen seit 300 000 Jahren lenken. Gewalt und Liebe sind die starken Treiber im Überlebenskampf. Trigger-Warnung: Dieser furiose Abenteuerroman ist als Persiflage auf Dystopien ungeeignet für empfindsame Leser, denn die Erotik unter den Überlebenden wird in allen Facetten explizit geschildert, genauso die Gewalt. Diejenigen, die sich in diesem Inferno durchsetzen, sind alles andere als "woke" und agieren weder gendergerecht noch politisch korrekt.

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Seitenzahl: 606

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Die Autorin mit dem geheimnisvollen Namenspseudonym Cassandra Schahrasad legt als Debüt einen Vexierroman vor (auf der Bühne im Rampenlicht die Abenteuer, dahinter verborgen die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz), in dem sie mit furioser Fabulierkunst ein Sittengemälde westeuropäischer Gesellschaften zeichnet, die Knall auf Fall durch das dünne Eis ihrer Zivilisation einbrechen. Schahrasad ist vom Fach (Kriminalpsychologie/forensische Psychiatrie), seziert die Abgründe der menschlichen Seele klinisch minutiös, während sich der abenteuerliche Handlungsstrang entfaltet. Ganz nebenbei vermittelt Schahrasad als Allround-Naturwissenschaftlerin dem Leser die gruseligen Details des Szenarios eines Sonnensturms, den NASA und Militärs als Bedrohung ernst nehmen, gegen den leider keine Abwehr existiert. Der letzte für voll elektrifiziert-digitalisierte Zivilisationen potentiell tödliche Sonnensturm ereignete sich 1859 (Carrington-Ereignis).

Die Autorin lädt zur Selbstillustration des Textes ein: Einfach die Trailer der Hollywood-Filmzitate bei Youtube aufrufen. Auch die Musikzitate kann der Leser über Youtube akustisch zur Einstimmung nutzen.

Inhaltsverzeichnis

Ein Eremit auf seiner kleinen Insel

Eine Neapolitanerin im grauen Norden

Ein Pensionär und Großvater pflegt nicht nur einen Spleen

Der Sonnensturm trifft die Azoren

Der Sonnensturm trifft Devon

Der Sonnensturm trifft die norddeutsche Tiefebene

Jorges Zukunft

Ricarda denkt an Flucht vor dem drohenden Chaos

Die dystopische Welt der „Prepper“

Jorges ganz persönliche Katastrophen vor dem Weltuntergang

Als der Horror in Ricardas Körper dringt

Wenn der Schrecken in die bürgerlichen Wohnviertel kommt

Jorge fürchtet seinen Nächsten

Ricarda ist kein Kaninchen, das auf die Schlange wartet

Eine Arche will verteidigt werden

Ist Schreiben Jorges Therapie?

Nur ein toter Mann ist für Ricarda ein guter Mann

Leinen los und auf ins erste Seegefecht

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber schwindende Vorräte drücken Jorges Stimmung

Der Mensch ist schlecht

Der Mensch ist gut

Jorge überschätzt sich

Ulrich, der Eroberer

Eine Kommune richtet sich ein

Nicht nur Ulrich ist und war polyamorös

Der ewige Kampf gegen Langeweile, Teil 1 und ein erfrischendes Gefecht

Der ewige Kampf gegen die Langeweile, Teil 2

Die Gesetze der Anthropologie

Täglich Selbsterfahrungsgruppe, Jorge

Tägliche Selbsterfahrungsgruppe, Ulrich

Tägliche Psychoanalyse, Jasper

Für die Gespielinnen polyamoröser Männer kommt es oft knüppeldick

Moderne Medizin ist nicht alles – aber ohne moderne Medizin ist vieles nichts

Wie der Vater, so der Sohn

Tödliche Fremdenfreundlichkeit

Schon auf den Steinzeitmenschen gekommen?

Ein Junge wollte nach oben – Ulrich ruminiert, Teil I

Ein Mann ist oben und liebt unten – Ulrich ruminiert, Teil II

Vier Jahreszeiten, vier Akte – die Drehbühne des Lebens

Ich trinke – also bin ich

Rettende Fremdenfeindlichkeit

Der Sohn stirbt und Papa kann nicht helfen – Ulrich ruminiert, Teil III

Erste Liebe und einsame Fehlentscheidungen – Ulrich ruminiert, Teil IV

Todesurteil, verhängt aber nicht vollstreckt

Ein Schiff wird kommen

Der Sonnensturm am anderen Ende der Welt

Dem Ruf Jesu folgen?

Auf zu neuen Ufern mit Schrammen und Blessuren

Kapitän Ulrich segelt die „Paulus“ um das Kap der Guten Hoffnung

Afrika gestern und heute – Ulrich ruminiert, Teil V

Rule Britannia und die Roaring Forties

Willkommen im Land der Gläubigen

Brian

Kampf ist ihre Sendung – das erste Kommandounternehmen

Posttraumatische Belastungsstörung I

Ricarda oder das ewig sündige Weib

Kommandounternehmen II und ein erster Mord

Posttraumatische Belastungsstörung II und eine tragische Schwangerschaft

Kommandounternehmen III – Wellington ist ausgestorben

Heimkehr mit reicher Beute – Ulrich ruminiert über einen süßen To

Jede Menge Kohle muss her – Ulrich übertritt das 6. Gebot

Kommandounternehmen IV und der Heldentod

Die Fliehkräfte werden stärker

Die Gemeinde steht unter Strom

Unerbittliche Eiferer zerstören die Gemeinde – Mord Nummer 2

Exodus? Townsville meldet sich auf Kurzwelle

Exodus! Townsville verstummt

Findet das gelobte Land

Ein Salon und der Kavalier alter Schule

Ein Jesuit hadert mit den Geboten und wird Opfer der Inquisition

Vertreibung und Flucht

Landnahme wie zu biblischen Zeiten?

Sie paddeln um ihr Leben

Herr Wang und seine Geschäfte

Kommandounternehmen V

Neuseeländisch-chinesische Freundschaft

Jagd- und Liebesglück

David Ulrich erblickt als Kuckuckskind das Licht der Welt

Ulrichs Schatzkiste weckt Herrn Wangs Begehren

Die Steinzeit war keine gute Zeit für Kranke

Wang will in See stechen

In Shanghai pulsiert das Leben

Endlich angekommen

Wiedersehen in der neuen Heimat

Eine prosperierende weiße Kolonie und ihre braunen, wilden Nachbarn

Theologie trifft auf Sozialbiologie

Gelbe Gefahr?

Auf der Flucht

Ricarda im Schoß der Familie

Die Penetranz der Chinesen

Der Tag des Jüngsten Gerichts für die Apostel des Hohen Rates

Exodus IV

Si vis pacem para bellum

Seattle calling

Neigen Chinesinnen weniger zur Eifersucht als Europäerinnen?

Über Schönheit – Ulrich ruminiert

Cum ira et studio (lat. mit heiligem Zorn)

Auf der Reise in die USA – die Katze lässt das Mausen nicht

Seattle nach dem Sonnensturm

Shanghai nach dem Sonnensturm

Shenmi kommt an Bord

Arbeit macht glücklich

Steckt die Wahrheit in den (großen) Zahlen?

Chinatown

Better a big fish in small pot than a small fish in big pot

Ricarda

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Wenn der exotische Zauber verfliegt

Eine Pflanzstadt für toughe Chinesen

Wem die Stunde schlägt

Was bleibt

Die letzten Minuten

Ein Eremit auf seiner kleinen Insel

Am 26. Januar hält sich Jorge diszipliniert an seinen Tagesablauf. Um kurz nach sieben steht er in der Dämmerung auf, steigt nach oben ins Observatorium des Leuchtturms, um beim Löffeln einer frugalen Morgenmahlzeit den Sonnenaufgang über dem Meer nicht zu verpassen. Seit sechs Jahren ersetzt diese grandiose Naturkulisse ihm eine menschliche Bühne. An seinem 40. Geburtstag hatte er sich für ein Leben als Vogelwart und Leuchtturmwärter entschieden. Da der Chef der Naturschutzbehörde ein alter Studienkollege war, erhielt er den Zuschlag für diesen einsamsten Posten Portugals. Alle drei Monate kommt das kleine Versorgungsschiff von der Hauptinsel vorbei, bringt die Dinge, die man zum Leben auf dem westlichsten Vorposten des Archipels benötigt. Offiziell hat er einmal im Jahr Anrecht auf eine dreimonatige Vertretung für Festlandsurlaub. In der Verwaltung fragte niemand, warum er diesen Anspruch regelmäßig verfallen ließ. Vielleicht weil sein Vorgänger die Insel über zwanzig Jahre nicht verlassen hatte, bis er eines Tages die tägliche Wettermeldung nicht mehr absetzte? Die Küstenwache schickte ein Boot. Sie fanden ihn friedlich entschlafen in seinem Bett. Der oft spektakuläre Sonnenaufgang hinter einem zerrissenen Himmel fällt heute aus, weil tiefhängende Regenwolken alles in ein graues Dämmerlicht tauchen. Das Wetter ist auf der ganzen Welt nur an wenigen Plätzen derart wechselhaft wie auf den Azoren. Temperaturextreme fehlen. Selten wird es im Winter kälter als 12° C, selten im Sommer heißer als 25°. Dafür sorgt der Golfstrom. Es braucht kaum Heizung und keine Klimaanlage. Aus der feuchten Atmosphäre fällt jede Woche reichlich Regen. Jorge hatte während des Biologiestudiums seine Liebe zur Botanik entdeckt. Auf diesen Inseln wächst das ganze Jahr über einfach alles. Um den Leuchtturm herum hat er einen großen Garten angelegt, der ihn mit Gemüse, Salaten, Ananas und Kartoffeln versorgt. In seinem kleinen Gewächshaus gedeihen Früchte und Tomaten, die dem ständigen Regen nicht ausgesetzt sein dürfen. Auch heute schält er sich eine frische Mango und Orange zum warmen Birchermüsli. Um die ozeanischen Naturspektakel synergistisch akustisch aufzuladen, hat er sich eine CD mit den zweiten Sätzen aus Mozarts Klavierkonzerten zusammengestellt. Gerade spielt Alfred Brendel das Andante, den 2. Satz des 21. Konzerts in C-Dur KV 467. Jorge blickt durch die dicken Glasscheiben des Observatoriums, über die der Regen rinnt. Die Wirkung der sanften Orchestermusik des großen Genies entfaltet sich auch nach über zweihundert Jahren mit der Reproduzierbarkeit eines starken Psychopharmakons: Die Melancholie in seinem Kopf entlädt sich mit einem Tränenstrom. Das sind stärkste Gefühle auf Knopfdruck. Er drückt die Taste täglich zwei- bis dreimal, gerät so in den erwünschten Weltschmerz. Warum ist ihm der Spagat zwischen Anspruch, Sehnsucht und Wirklichkeit gründlich misslungen? Was für ein Kontrast zwischen dem Donnern der Brecher des Atlantiks an der Steilküste und der stummen Einsamkeit seiner Existenz. Auf dem Esstisch aus grobem Holz liegt der Notizblock, in dem er Einfälle für sein Buch sammelt. Warum war er in diese Welt hineingeboren worden und hatte sich und seinen Mitmenschen nur Unglück gebracht? Darüber sinniert er an diesem Ort seit sechs Jahren. Zu den Wurzeln seiner epischen Misere dringt er nur langsam vor. Er spült den Teller in der klitzekleinen Junggesellenküche ab, brüht sich einen sehr starken Kaffee und studiert seine abendlichen Notizen. Er hatte sie tatsächlich erlebt, die große frivole Liebe in früher Jugend. Wenn seine Generation damals die katholischen Heiratsregeln nicht außer Kraft gesetzt hätte, wäre er wie sein Vater mit Anfang Zwanzig in den heiligen Stand der Ehe getreten. So gab es für ihn als Teenager den Himmel der Sexualität auf Erden auch ohne Trauschein. Als sie beide in Lissabon studierten, hatte Isabel begonnen, die für ihr Geschlecht ganz neuen Freiheiten in vollen Zügen auszukosten. Jorge hatte kein schönes Gesicht, keinen athletischen Körper und schon gar keinen Charme – sein bester Freund Tiago aus dem Semester über ihnen dafür umso mehr davon. Sie verbrachten zu dritt viel Zeit und eines Abends offenbarte Tiago, dass zwischen ihm und Isabel etwas liefe. „Hast du denn die ganze Zeit gar nichts gemerkt?“ Nein, hatte er nicht. Das war eine seiner vielen Schwächen. Eifersucht war ihm völlig fremd. Er stellte Isabel nicht zur Rede, sondern wohnte weiter mit ihr in einer kleinen Studentenwohnung, die sie mit zwei Nebenjobs finanzierten. Isabel hatte einen enormen erotischen Appetit. Als sie eines Abends gemeinsam eine Paella verspeisten und bereits eine Flasche Wein geleert hatten, nahm sie neben ihm sitzend seine Hand in ihre, legte sie auf den Tisch, holte mit der anderen Tiagos Hand dazu und säuselte: „Wisst ihr, dass ich schon immer von einer Nacht mit zwei Männern geträumt habe?“ Bei Jorge haben sich jene Nacht und die folgenden mit jedem winzigen Detail ins Gedächtnis gebrannt. Sämtliche delikaten Feinheiten der Anatomie ihrer Geschlechtsorgane sind ihm vollkommen plastisch präsent. Isabels Erlebnisfähigkeit war phänomenal, spornte zwei junge Männer zu Höchstleistungen an. Sie waren alle drei geradezu überwältigt von den kapriziösen Möglichkeiten ihrer Jugend. Vielleicht hätte ihr Dreigestirn noch lange am Liebeshimmel leuchten können, wenn Isabel nicht schwanger geworden wäre. Als sie eines Abends vom Ausbleiben ihrer Regel sprach, blieb Tiago stumm. Nachdem der Test positiv ausgefallen war, ließ er sich nicht mehr bei ihnen sehen. Isabel wollte noch kein Kind. Sie hatten gerade begonnen zu studieren, lebten in Lissabon weit weg von ihren Eltern. Damals waren Schwangerschaftsabbrüche in Portugal noch strafbar. Sie suchte einen Privatarzt auf, der den Eingriff gegen Barzahlung vornahm. Danach kam es zu einer Komplikation. Sie musste mehrere Tage in einem staatlichen Krankenhaus wegen einer schweren Infektion behandelt werden. Fast wäre von den Ärzten die Polizei eingeschaltet worden. Als Jorge am Ende des Studiums während einer botanischen Exkursion eine ältere noch nicht vertrocknete Dozentin kennenlernte und Isabel für ein Austauschjahr an eine amerikanische Universität wechselte, versandete ihre Beziehung. Jahre später ist er ihr noch einmal in der Bibliothek begegnet. Sie war inzwischen verheiratet, aber kinderlos, deutete an, dass es die Folge des Schwangerschaftsabbruchs gewesen sein könnte. Er macht eine kurze Notiz in seinen Block: Was ist der Sinn des Lebens? Das Leben weitergeben? Es ist bereits nach neun. Die Hühner gackern aufgeregt. Sie verlangen nach Futter. Die Hennen legen hier auch im Winter. Er packt die braunen Eier in einen kleinen gepolsterten Korb, schlendert die wenigen Meter zum Gewächshaus, prüft dort die Temperatur, öffnet die Dachluken, wässert trockene Böden. Von den dunkelroten Kirschtomaten greift er die reifsten und steckt sie sich gleich in den Mund. Auf seinem Stundenplan stehen jetzt zwei Stunden Brandungsfischen. Der Erfolg oder Misserfolg beim Angeln entscheidet, was es mittags zu essen geben wird. Jorge steckt sich die Stöpselhörer in die Ohren und lauscht Johann Sebastian Bachs Orchestersuiten, Bachwerkeverzeichnis 1066 und folgende. Der iPod läuft an. Er greift seine Angeltasche, marschiert strammen Schrittes die wenigen hundert Meter zur Felsenformation, die ihm einen sicheren Stand in luftiger Höhe über der Brandung ermöglicht. Bernsteinmakrele, Blaufisch, Zackenbarsch oder Schnapper kann er mit etwas Glück aus dem Wasser ziehen. Über die Jahre hat er Geschick entwickelt. Die Zubereitung des Fangs gelingt ihm mit allerlei kleinen Finessen. Einsame Mahlzeiten bleiben es dennoch. Um Zwölf verlässt er seinen Außenposten an der Steilküste. Heute hat kein Fisch angebissen. Dafür sind die Regenwolken abgezogen. Die Sonne wärmt ihn in seiner dicken Wetterkleidung aus gewachster ägyptischer Baumwolle. Um 13.00 Uhr ist es Zeit, den täglichen Funkspruch aus der Wetterstation abzusetzen. Eigentlich kann die Einrichtung auch völlig automatisiert arbeiten, ebenso wie das Leuchtfeuer. Warum der Staat hier noch einen Menschen für das Ausharren bezahlt, bleibt rätselhaft. Vielleicht sollte es mehr von solchen Außenposten für Käuze wie ihn geben, die ihren Kummer mit Einsamkeit aufwiegen wollen. Da Fischfilet heute ausfällt, werden es Bratkartoffeln mit Spiegeleiern. Die Stromversorgung funktioniert mit einer kleinen Windturbine und mehreren Solarpanelen ohne größere Probleme. Er kann sich an nur wenige Nächte erinnern, in denen er auf Batteriestrom zurückgreifen musste. Nachts liegt er oft stundenlang wach und grübelt, hat dann die besten Einfälle für seine Lebensbeichte „Der Mann mit den schlechten Eigenschaften“.

Eine Neapolitanerin im grauen Norden

Am 26. Januar ist Ricarda im Wohnheim wie immer eine der Ersten, die von ihrem Smartphone pünktlich um 6.30 Uhr geweckt wird. Den Wechsel von der Universitá di Napoli Luigi Vanvitelli nach Plymouth vor zwei Monaten hat sie wie eine Befreiung erlebt. Die Engländer organisieren das Leben ihrer Studenten bis ins Detail, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass die Studenten sehr jung sind und bereits mit fünfzehn eine Vorentscheidung für ein späteres Studium treffen, das sie meistens mit siebzehn antreten. Die Jungen werden nicht durch Wehrdienst oder andere Pflichtjahre aufgehalten. Der Auszug aus dem Elternhaus in ein ehrwürdiges Schulinternat mit zehn, spätestens fünfzehn Jahren ist eine hoch respektable uniformierte Tradition in Großbritannien, die sich allerdings nur die Oberschicht leisten kann. In Neapel wohnten praktisch alle Kommilitonen noch zuhause, waren deutlich älter, oft in einem Zweitstudium und schrecklich unselbständig. In Plymouth funktionieren nicht nur die Müllabfuhr, sondern auch die Geräte im Gym des Wohnheims. Pünktlich um 7.00 Uhr öffnet das Fitness-Center und Ricarda gehört zu den early birds, die sich auf Cross Trainer und Hantelbänke stürzen. So früh morgens ist es eine besondere Klientel, die da aufläuft. Während Ricarda eine Schale ordinäres Müsli mit Magermilch gefrühstückt hat, haben die jungen Männer mit der extremen Muskulatur bereits andächtig ihre Proteinmixturen aus Flaschen geleert. Sie lassen Laufbänder und Spinner links liegen. Ihnen geht es um das Auflegen immer schwererer Gewichte, die gestemmt, gehoben und gedrückt werden, bis die Venen an ihren kahlen Schädeln hervortreten. Unter dem dutzend Bodybuildern ist sie morgens die einzige Frau. Man beobachtet sich, spricht aber kaum. Ricarda ist für eine Süditalienerin mit 175 cm erstaunlich groß. Unter ihrem hautengen schwarzen Sportdress zeichnen sich beeindruckende Rundungen ab. Als Kind war sie in der Ballettschule der Oper durch ihren unermüdlichen Eifer aufgefallen. Dann begann ihr Körper mit vierzehn Jahren derart groß und fraulich zu werden, dass die Ballettmeisterin ihr den Traum von einer Karriere als Ballerina ausredete. Nun ziehen ihre üppigen Ornamente die verstohlenen Blicke der schwitzenden britischen Jungen auf sich. Da sie diese Mannschaft auch regelmäßig beim abendlichen Work out trifft, musste es irgendwann einmal zu einer Kontaktaufnahme kommen. Sie interessiert sich in ihrem Studium für das Phänomen der Sucht nach Muskeln, hat einige Artikel über die Subkultur der Bodybuilder gelesen, die zu den besten Kunden chinesischer Internetanbieter von Anabolika gehören. Ob sich auch diese britischen Jungs heimlich Kälbermastsubstanzen spritzen, um so auszusehen wie Arnold Schwarzenegger? Dazu gehört leider als Nebenwirkung eine für alle sichtbare Stirnglatze und unsichtbare Schrumpfhoden. Sie arbeiten verbissen an der Ausformung männlicher Muskelmassen, von denen speziell der Bizepsumfang messbar Eindruck macht – allerdings besonders auf andere Männer. Sie wirken ständig gereizt, tragen eine Aura vor sich her, die Ricarda gleichzeitig schreckt und fasziniert. Um 7.45 Uhr bricht sie ihr Training ab, duscht und marschiert zur Vorlesung, die sie hellwach erlebt, denn der Professor schafft es, seine Zuhörer mit den experimentellen Details neurophysiologischer Laborforschung regelrecht in den Bann zu schlagen. Britische Dozenten scheinen Angst zu haben, ihre Studenten könnten sich langweilen. Italienische Professoren hatten Sorge, zu simpel zu erscheinen. Um 10.30 Uhr hat sie eine Verabredung mit Carla, ihrer kühlen blonden Kommilitonin aus Mailand. Auf den Plastikstühlen in der Cafeteria sitzend zeigt Carla ihr ihre online-Bewerbung auf eine Praktikantenstelle für ihren Studiengang „Art and Design“. Das Foto ist umwerfend. Damit wird sie einen Platz ergattern. Die Konkurrenz in der Modebranche ist groß, wahrscheinlich noch größer als in der akademischen Psychologie. Sie sind sich beide nicht sicher, ob dieses ständige Sich-Anpreisen-Müssen glücklich macht. Carla hat eine einflussreiche Familie hinter sich, Ricarda nicht. In Italien werden bezahlte Posten an den Universitäten und höheren Schulen nur über private Beziehungen vergeben. Traut sie sich zu, in englischer Sprache um einen Platz im Ausland zu konkurrieren? Manchmal kommen ihr Zweifel. Die genialen Experimente, die die Professoren so elegant mit vielen Folien präsentieren, könnte sie sich nicht ausdenken. Die Klausur am Ende des Statistik-Kurses hat sie nur mit Hilfe des schüchternen Marc bestanden, der sein Lösungsblatt um 45° angewinkelt vor ihren Stielaugen in die Höhe hielt. Selbst wenn sie mit einem britischen Examen zurück nach Neapel käme, sähe die Zukunft nicht rosig aus. Mehr als die Hälfte ihres Jahrgangs würde wie die Generation vor ihr arbeitslos, unterbeschäftigt oder unterbezahlt in einer Wartestellung verharren. Weil die meisten von ihnen Einzelkinder waren, konnten sie bei den Eltern unterschlüpfen und ewig in ihren Kinderzimmern im Internet surfen. Insofern hatten die Italiener dazugelernt: Es gab in ihrer Generation keinen Geburtenüberschuss mehr, für den die Auswanderung zwingend war, um der Enge und dem Hunger der Massen zu entfliehen. Für junge Frauen verpönt, aber doch real war die Hoffnung auf Heirat als Ausweg aus dem akademisch-prekären Warten. Warum nicht einen erfolgreichen Mann ehelichen? Die akademisch stärksten Kommilitonen sind in Plymouth allerdings fast alle Asiaten, die meisten kleiner als Ricarda und überbeschäftigt mit ihren Smartphones. Höflich, ängstlich, ohne Mimik – so würde Ricarda ihren Steckbrief untertiteln. Außerdem sind sie total auf ihre Familien in Singapur, Shanghai oder Taiwan fixiert. Vom Temperament hätte zu ihr am besten ein Südamerikaner mit Pep gepasst, aber die denken mit Mitte Zwanzig überhaupt nicht an Heirat oder gar Familiengründung. Auch die kühlen, reservierten britischen Männer haben in diesem Alter wohl Spaß an Sex, verschwenden aber keinen Gedanken an eine Hochzeit. Dafür müsse man erst auf der „property ladder“ (Aufstieg als Immobilienbesitzer) gelandet sein, hört sie von diesen rothaarigen angehenden Professionals abends beim Bier im Pub. Das ist in den großen Städten ohne Erbe ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Ein Schicksal, das britische junge Männer mit heiratswilligen chinesischen teilen. Selbst winzige Reihenhäuschen sind für Normalverdiener – und Wissenschaftler waren immer Normalverdiener – unerschwinglich. Auch die Mieten sind für Studenten-Wohngemeinschaften in solchen zugigen, schlecht heizbaren, schiefen Backsteinbauten aus der Vorkriegszeit schamlos überhöht. Ricarda ist froh über ihr Zimmer en suite (mit Nasszelle) im Neubau eines auf dem Campus gelegenen Wohnheims. Bei allen Widrigkeiten ist das Studium selbst bis auf die Mathematik wirklich erhellend. Sie kann abends stundenlang über ihr Notebook eingeloggt in der elektronischen Zeitschriftenbibliothek in die Welt der psychologischen Forschung eintauchen und verliert keine Zeit durch lange Mittagspausen. Wie die Italiener machen auch die Engländer um ihren Lunch kein großes Aufheben. Manchmal tut es eine Tüte essigsaure Chips mit einer Dose Cola. Heute Mittag wärmt sich Ricarda ein vegetarisches Tiefkühlgericht für arme Leute aus dem Supermarkt nebenan in der Mikrowelle auf - Kartoffelecken mit gebackenen weißen Bohnen in scharfer Tomatensauce für zwei Pfund.

Ein Pensionär und Großvater pflegt nicht nur einen Spleen

Auch am 26. Januar weckt die zweijährige Enkeltochter Lea ihren Rund-um-die-Uhr-Großvater Ulrich morgens um 5.30 Uhr mit dem magischen Wort „Fläschchen!“ Sie ist ein ängstlicher kleiner Blondschopf, der nachts nicht allein in seinem Bettchen liegen mag. Irgendwann muss ich sie zu mir unter die Steppdecke nehmen. Dann kuschelt sie sich eng an. Aus ihrem kleinen Schlafsack steigt ein süßlich warmer Duft auf. Trocken ist sie noch nicht, weshalb ich alle paar Stunden ihre Windel wechsele und die delikate Haut mit einer dünnen Schicht Penaten-Creme vor Feuchtigkeit schütze. Das Fläschchen mische ich frisch aus Milchpulver, Gries und Haferflocken an. Dazu gebe ich einen Schuss Maracujasaft. Lea greift sich die Flasche mit beiden Händen, setzt den Sauger an den Mund, trinkt 220 ml in zwei Minuten aus. Putzmunter bin ich nicht, aber um 7.00 Uhr muss ein großer Topf warmer Haferbrei auf dem Tisch stehen plus eine Schüssel frisch geschnittenen Obstsalats. Daran werden sich alle fünf Mäuler unserer Lebensgemeinschaft laben. Wenn meine Frau danach in ihre Praxis geradelt ist und meine Tochter mit ihrem neugeborenen Säugling in ihren Wohntrakt entschwindet, brühe ich mir noch ein Glas Darjeeling First Flush auf, lausche der morgendlichen Literaturlesung im Kulturradio. Die Geschichten eines Richard Ford oder Haruki Murakami entführen mich in die Welt der literarischen Fantasie, in der sich viele Ungesellige am wohlsten fühlen. In diese Lesungen platzt meistens mein Schwiegersohn Gerrit, der den achtzehn Monate alten Theodor bei mir abliefert, bevor er in Gleitzeit zur Arbeit radelt. Theo ist von ganz anderem Kaliber als Lea und ihr fast fünf Jahre alter Bruder Boris, der mich in seinen ersten sechs Lebensmonaten als Schreikind maximal gefordert hatte. Beide Racker lassen sich nicht gerne die Nase putzen, warfen bereits im Alter von wenigen Monaten bei Versuchen mit einem Papiertaschentuch ihre Köpfe unwillig schreiend hin und her. Der kleine Theo lässt es einfach stoisch geschehen, guckt mich treu an, während ich ganz behutsam den grün-gelben Schleim unter seiner Nase abputze. Windelwechsel ist bei ihm kein Problem. Er liegt still, wenn ich ihm dabei eine Zahnpastatube zum Befingern in die Hand drücke. Theo ist seinem Vater Gerrit nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, sondern hat wohl auch dessen geduldigen Charakter geerbt. Dagegen bäumten sich die Racker meines Sohnes auf, drehten sich weg und sprangen fast vom Wickeltisch, weshalb ich dazu überging, sie etwas unbequem auf dem Fußboden zu wickeln. Sicher war sicher. Außer meinen Blutsverwandten und Schwiegerkindern habe ich nie Freunde oder gute Bekannte gehabt. Seit ich durch die monatlichen Zahlungen des Pensionsfonds aller materieller Sorgen enthoben bin, hat sich meine Gemütslage stabilisiert. Den Kampf um das Geld der anderen Leute habe ich hinter mir gelassen. Dabei war ich bei diesem Geschacher durchaus erfolgreich, kann mir nun einige Spleens und Extravaganzen leisten. Für meine Familie bin ich der skurrile, treusorgende Hausmann, der sich jeden Tag um Babys, Kleinkinder und gutes Essen kümmert. Nachmittags bleibt dann viel Zeit für Saunagänge, das Studium der Nautik und zweimal in der Woche der Gang zum Schießstand unseres Schützenvereins. Meine Frau Bettina hadert mit meiner Knauserigkeit. Dass ich kein Geld in die Renovierung unseres langsam zerfallenden, sechzig Jahren alten Bungalows investieren will und die Pullover meines Vaters auftrage, erscheint ihr als Marotte, die sie murrend toleriert, solange ich ihr ihre Freiheiten lasse. Sie übersieht großzügig mein spinnertes, recht kostspieliges und zeitaufwendiges Hobby - die Vorbereitung auf einen gänzlich unwahrscheinlichen Weltuntergang. Nun tarne ich diese Aktivitäten allerdings auch geschickt und hänge sie nicht an die große Glocke. Eigentlich bin ich nicht skurriler als die Kollegen, die den Jagdschein gemacht haben und in grünem Loden in Rotten mit großkalibrigen Gewehren deplatziert mitten in einer Großstadt auf Jagd gehen, was die Anwohner mitunter maximal erschreckt. Am nächsten Tag lautet die Schlagzeile im Lokalblatt „Das Geballer muss endlich aufhören!“

Der Sonnensturm trifft die Azoren

Am frühen Nachmittag übermannt Jorge oft der Schlaf, sobald er sich nach dem Essen in den alten Ledersessel setzt, der sich mit einem einfachen Klappmechanismus in einen Liegesessel verwandeln lässt, wie er in der Business-Class der Airlines (1. Klasse der Fluggesellschaften) nicht bequemer sein könnte. Gegen 12.30 Uhr liegt Jorge gar nicht entspannt auf diesem Möbel, bedenkt das Schicksal seiner armen Mutter, als der circadiane Rhythmusgeber (Tagesablaufregulierer nach Sonnenstand) in seinem Gehirn auf Schlummern umspringt, aber nur kurz und nicht tief, sodass ihn die ganz leise Musik für diese Stunde des Tages gerade noch erreicht. Mozarts Klaviersonaten, die zweiten Andante-Sätze aneinandergereiht, Köchelverzeichnis 279 und folgende. Bei leicht geöffnetem Mund rinnen Tränen und ein Ozean an Traurigkeit flutet Jorges schwankendes Bewusstsein. Hätte es nicht so weit kommen müssen? War der Strick um den Hals seiner Mutter unabwendbar gewesen? Geweckt wird er von seinem eigenen Schnarchen und einem kleinen Knall an der Fensterscheibe, gegen die ein dummer Vogel geprallt und tödlich abgestürzt ist. Um 13.30 Uhr sollte eigentlich in der Endlosschleife seiner Nachmittags-CD Robert Schumann erklingen, Fritz Wunderlich mit dem Ständchen „Leise flehen meine Lieder“ aus dem Schwanengesang, Deutschverzeichnis 957. Der CD-Player ist stumm. Jorge wirft einen Blick auf die analoge Wanduhr mit ihren großen Zeigern: 13.30 Uhr atlantischer Winterzeit, aber der Sekundenzeiger tickt nicht mehr. Mit einem tiefen Seufzer erhebt er sich aus seinem Liegesessel, stellt fest, dass keines seiner elektrischen Geräte funktioniert. Ein simples Problem mit der Windturbine oder Fotovoltaik kann es nicht sein, denn die LED-Beleuchtung im Turm müsste auch über die Batterienotversorgung funktionieren. Beim Blick aus dem Fenster dreht sich das Windrad flott. Die Sonne scheint auf die Solarpanelen. Der kleine Radioempfänger mit Batteriefach gibt keinen Laut, noch nicht einmal statisches Rauschen. Er klettert in die Spitze des Turms, überprüft die Steuerung des Leuchtfeuers. Keine der Dioden glimmt. Der kleine Monitor bleibt schwarz. Auch an der Wetterstation neben dem Turm sind sämtliche Digitalanzeigen ausgefallen. Dies ist sicher kein einfacher Stromausfall. Muss er sich Sorgen machen? Nein, wenn einer ohne Strom leben kann, dann er. Bei Tageslicht inspiziert er seine Wasserversorgung, die aus der Regenwasserzisterne rein hydraulisch fördert. Aus seinem Vorratsraum nimmt er einen Packen Teelichter und verteilt sie im Turmgebäude. Sein Gasfeuerzeug zündet problemlos. Um 18.00 Uhr geht die Sonne im Westen unter, aber im Norden beginnt es grün zu leuchten. Als dieses Leuchten bei zunehmender Dunkelheit immer intensiver wird, zieht Jorge die Verbindung zum Ausfall der elektrischen Geräte. Er ist ein gut ausgebildeter Naturwissenschaftler mit einem Faible für Geografie und Astronomie. Es sind für diesen Breitengrad unmöglich starke Nordlichter, die nur durch einen gewaltigen Sonnensturm ausgelöst sein können. Der muss durch zerstörerische Induktionsströme sämtliche Apparate ruiniert haben. Es dürfte keinen funktionsfähigen Satelliten mehr im All geben. Damit ist er von jeder Funkkommunikation abgeschnitten und zum Robinson geworden. Ob auch die Elektronik der Schiffs- und Flugzeugmotoren ausgefallen ist? Sollte das Versorgungsschiff nächsten Monat ausbleiben, würde sich seine Ernährung etwas einseitiger gestalten.

Der Sonnensturm trifft Devon

Um 14.30 Uhr britischer Winterzeit lauscht Ricarda einer online-Vorlesung Neurophysiologie an ihrem PC im Zimmer 326 des Studentenwohnheimes, als der Bildschirm plötzlich schwarz wird. Mit 22 Jahren studiert sie im zweiten Jahr Psychologie und weiß die Qualität der Lehre sehr zu schätzen, denn in ihrer Heimat Italien liegt nicht nur an den Universitäten vieles im Argen. Sie greift zum Smartphone, das dunkel bleibt. Einen kurzen Stromausfall hat sie bisher in Plymouth nur einmal während eines Herbststurmes erlebt. Die Briten mögen ihre vielen im Wind schwankenden Oberleitungen. Sie drückt den Lichtschalter – kein Licht. Auf dem Flur ist es still. Der große Kühlschrank in der Gemeinschaftsküche hat aufgehört zu brummen. Sie klopft an die Tür von Zimmer 325, wo Ken haust, der 19jährige schüchterne Physikstudent aus dem zweiten Semester. Mit ihm hatte sie - angetrunken - auf der letzten Weihnachtsfeier nach der Pantomime-Aufführung (Sketche mit urbritischem Humor) einen Kuss getauscht. Mehr hatte sich daraus nicht entwickelt. Ken war in der Liebe völlig unerfahren, sehr, sehr schüchtern und kleiner als sie. Nun steht er mit seinem roten Lockenkopf im Jogginganzug verschlafen in der Tür. Er schlummert oft in den Tag hinein, sitzt nachts am Rechner und braucht keine sechzig Sekunden, um trocken zu konstatieren: „Es scheinen alle elektrischen Geräte kaputt zu sein.“ Beim Blick aus dem Fenster sehen sie ratlose Fahrer herumlaufen, deren Lieferwagen und PKWs auf den Fahrbahnen liegen geblieben sind. „Es hat auch die Fahrzeugelektrik erwischt. Sollte eigentlich nicht sein, wegen des Faraday’schen Käfigs (Metallhülle, die z.B. vor Blitzeinschlag schützt). Aber die Bleche werden immer dünner. Wenn wir gleich verglühen, dann war das der elektromagnetische Puls einer Atombombe, die die Russen oder Iraner über Plymouth gezündet haben.“ Da sie während des Nachmittags nicht verglühen, wird wohl keine Atombombe explodiert sein. Auf dem Flur gehen weitere Türen auf. Es bilden sich kleine Grüppchen in den Gemeinschaftsküchen. Zwei hypertrophe (übersteigerte, überzogene) Sportstudenten, die auch in der Heimverwaltung immer das Wort führen, wollen sich auf ihre Fahrräder schwingen und zum Polizeipräsidium in der Innenstadt radeln. Ricarda schnappt sich vorsorglich ihre Plastikkiste mit einem Tetrapak Milch aus dem Kühlschrank, deponiert die Lebensmittel bei 10° C Außentemperatur auf ihrem winzigen Balkon. Auch bei geöffneten Supermärkten war Mundraub im Wohnheim ein eher häufiges Kavaliersdelikt. Als sie ihre Toilette benutzt, läuft kein Wasser mehr in den Spülkasten nach. Aus dem Hahn des Waschbeckens tropft nur noch ein Rinnsal, das sie in ihrem größten Kochtopf auffängt. Bis zum Abend sinkt die Zimmertemperatur so tief, dass sie ihren dicksten Pullover überzieht und sich auf dem Bett unter der Decke verkriecht. Sie hat einige Teelichter bereitgestellt, aber die braucht sie nicht, denn es wird nicht dunkel. Der Himmel leuchtet hell wie bei Sonnenuntergängen nur mit einem anderen wabernden grünen Farbenspiel. Es klopft an der Tür. Ken stapft mit einer Tüte Popcorn ins Zimmer. „Das sind Nordlichter – Aurora Borealis, ganz ungewöhnlich für unseren Breitengrad. Ich tippe auf einen massiven Sonnensturm, der eine Wolke aus geladenen Teilchen und Photonen auf die Erde schleudert. Das gibt es alle paar Jahre und je nachdem wie der Sturm auf das Magnetfeld der Erde trifft, merken wir nichts davon oder es entstehen Induktionsströme in allen elektrischen Leitern. Es ist noch gar nicht lange her, da lief das hier in UK genauso ab wie heute. Das war 1859. Richard Carrington hatte schon damals die Ereignisse mit der Sonnenfleckenaktivität in Verbindung gebracht. Viel Schaden hatte es 1859 nicht gegeben, weil es bis auf Morseapparate noch keine elektrischen Geräte gab. Aber Nordlichter beobachteten die Menschen selbst in Südeuropa. In London konnte man nachts die Zeitung lesen. Seither haben wir Glück gehabt. Bis auf Schäden an ein paar Satelliten und gestörten Funkverkehr ging es immer glimpflich ab. Nur in den Jahren 993, 1052 und 1279 hatte die Sonne die Erde derart mit einem elektromagnetischen Sturm überzogen, dass man die Spuren noch heute mit der C14-Methode (radioaktiver Kohlenstoff) in Baumringen exakt nachweisen kann. Dagegen war das Carrington-Ereignis von 1859 übrigens ein laues Lüftchen ohne C14-Spur. Heute dürften alle elektrischen Installationen durchgebrannt sein. Wenn die Wolke weiter Induktionsströme erzeugt, während sich die Erde dreht, ist innerhalb von 24 Stunden überall auf der Welt Blackout ohne Hoffnung auf Reparatur. Wie soll man denn Umspannwerke, Generatoren, Computer und Pumpen ohne Strom neu bauen? Wasser läuft jetzt schon nicht mehr aus den Leitungen und die Heizung fehlt. Da kein LKW mehr fährt, gibt es auch keinen Nachschub für die Supermärkte. Mein Popcorn reicht noch für eine Woche.“ So ist Ken - immer gut für eine Kurzvorlesung. In seinem Bücherregal stehen die 32 Bände einer antiquarischen Ausgabe der Enzyklopädia Britannica des Jahrgangs 2002, die er gerade konsultiert hat. Die beiden Sportstudenten sind zurück, bitten lautstark auf dem Flur um Aufmerksamkeit. Vor dem Polizeipräsidium gab es einen großen Auflauf. Die Beamten wussten nichts über die Ursachen des Stromausfalls, riefen dazu auf, in den Wohnungen zu bleiben und abzuwarten. In der Innenstadt randalierten Menschen vor und in Geschäften, weil die Kassen nicht mehr funktionierten, weshalb die Angestellten die Türen schlossen.

Der Sonnensturm trifft die norddeutsche Tiefebene

Wie fühlt man sich, wenn der Ernstfall eintritt, auf den man sich lange, sehr lange vorbereitet hat, obwohl dieses Ereignis gänzlich unwahrscheinlich schien? Ist es ein Triumph für den Schlechtdenker und Besserwisser? Ich sitze am 26. Januar um 15.30 Uhr mitteleuropäischer Winterzeit im Liegesessel vor dem leise summenden Kaminofen, als der Bildschirm meines neuen Notebooks plötzlich schwarz wird. Der Rechner hängt am Netzteil und die Batterie war im für ihre Lebensdauer optimalen 50% Ladezustand. Ein Blick auf die Mehrfachsteckdosenleiste: Die Kontrollleuchte im Kippschalter ist erloschen, ebenso die Kontrollleuchte im Babyphone, mit dem ich den Mittagsschlaf meines Enkels überwache. Ich stehe auf, betätige einige Lichtschalter, wische über das Smartphone, teste die Taschenlampe an der Garderobe. Kein einziges elektrisches Gerät im Haus funktioniert mehr. Das kleine DAB-Radio in der Küche mit Akku bleibt stumm. Das ist kein simpler Stromausfall. Ich nehme den Autoschlüssel, gehe vor die Haustür. Stille. Das je nach Windrichtung laute oder leise Dröhnen der Stadtautobahn ist schlagartig verstummt. Die Zentralverriegelung des Wagens reagiert nicht. Der analoge Schlüssel öffnet wenigstens die Fahrertür. Schlüssel ins Zündschloss – nichts. Ich gehe über die Straße, öffne den kleinen Torweg zum Haus unserer hochbetagten Nachbarn. Die Türklingel gibt keinen Laut. Ich klopfe, höre die schlurfenden Schritte des alten, schwerhörigen Schiffsingenieurs: „Stromausfall. Was?“ „Nein, ich glaube es ist schlimmer. Alle elektrischen Geräte sind kaputt.“ Er guckt mich durch seine dicken Brillengläser ungläubig an: „So. Na mal abwarten, wie lange das dauern wird.“ Ich nicke und gehe. Der Schiffsingenieur war vor Jahren ein begeisterter Hobbyfunker gewesen. Aus jener Zeit stammt eine lange Antenne, die das Dach des Hauses um mehrere Meter überragt. Während ich mich umdrehe, sehe ich, dass dieser Draht leuchtet. Elmsfeuer. Ich betrete mein Haus und checke, ob der Enkel noch schläft. Dann wecke ich meine Tochter und den Schwiegersohn, die sich ebenfalls einen Schlummer gegönnt haben. Wir gehen durch die Räume. Die Heizung ist ausgefallen. Aus den Hähnen läuft Wasser mit geringem Druck. Beatrix ist ratlos, Gerrit prüft alle greifbaren elektrischen Geräte und erneut den Wagen. Was bereitet ihm die größten Sorgen? Keines der Smartphones sagt auch nur einen Pieps. Er erkennt die Tragweite seiner Beobachtungen: „Hoffentlich ist das ein lokales Ereignis.“ Wir setzen uns vor den lodernden Kamin und ich erzähle ihnen, was ich über Sonnenstürme weiß, die auf der Erde in allen elektrischen Leitern starke Induktionsströme auslösen können. Sie gucken mich skeptisch an. Ist das mal wieder einer dieser vielen Vorträge ihres Vaters, für die sie sich nie sonderlich interessiert haben? Würden wir von nun an ohne Telekommunikation, ohne Fahrzeuge, ohne fließendes Wasser und Heizung leben müssen? Vielleicht weltweit und für immer? Wie ich dieses Höllenszenario mit ruhiger Stimme ausmale, gucken die beiden ungläubig. Ja, der Vater ist ein Schlechtdenker wie seine Mutter, die auch zeitlebens das Schlimmste befürchtet hatte und am liebsten schwarzmalte. Bea muss sich um ihren Sohn kümmern, der wach geworden ist. Gerrit beginnt mit seinen kleinen Uhrmacherwerkzeugen einige Elektrogeräte aufzuschrauben. Und er findet sie, die durchgebrannten Wicklungen. Ich hole neues Feuerholz, lasse Waschbecken und Badewanne mit dem versiegenden Strahl aus den Hähnen volllaufen. Die Haustür wird aufgeschlossen. Meine sonst so fröhliche kleine Ehefrau stürzt alarmiert ins Wohnzimmer: „Was ist passiert? Die Autos sind auf den Straßen stehen geblieben. Totaler Stromausfall.“ Wir ziehen einen weiteren Sessel vor die Feuerstelle. Während Bea den Kleinen stillt, entwerfe ich mit klammheimlicher Freude das Szenario, auf das ich mich seit Jahren vorbereitet habe: den Weltuntergang. Am Himmel wabern dazu diabolisch fluoreszierende Lichter.

Jorges Zukunft

Dass er keine Musik mehr spielen kann, trifft Jorge hart, gibt seiner Arbeit am Buch einen anderen Dreh. Er setzt sich an den Papierausdruck seines Manuskripts und grübelt: Wo ordnet er seine eigene Schuld am Unglück weniger Menschen ein? Erscheinen seine Sünden nicht lächerlich klein, wenn er an das Schicksal der Milliarden Menschen ohne ihre technischen Geräte denkt? Im Observatorium hat er eine stattliche Bibliothek in einer Regalwand untergebracht. Vor Jahren war ihm von einem Kollegen, der sich der Virologie zugewandt hatte, Stephen Kings „The Stand“ in die Hand gedrückt worden. Jorge hielt die Angst vor Viren während der Covid-Pandemie für übertrieben, rafften die Varianten der Coronaviren doch maximal 1% der Infizierten hin und die waren im Mittel auch noch über achtzig Jahre alt. Da hatte die Menschheit mit den Pocken und ihrer 30%igen Infektionsmortalität schon Viren von ganz anderem Kaliber überstanden. Er war damals nicht in der richtigen Stimmung gewesen für Kings literarische Dystopie (in der Zukunft spielende Erzählung mit negativem Ausgang) von mehr als tausend Seiten über eine postapokalyptische Welt. Kings Faible für Fantasy-Horror fand er albern. Heute Abend nimmt er den Wälzer, setzt sich in seinen Liegesessel, liest im schwachen Schein zweier Teelichter wie sich Stephen die Reaktion der 1% Überlebenden einer tödlichen weltweiten Viruspandemie vorstellt. Was sich in den nächsten Tagen auf der Erde abspielen wird, dürfte Kings Szenario an Bösartigkeit übertreffen, denn von dessen Viruspandemie wurden nur 99% aller Menschen getötet – ihre technischen Geräte blieben für die Überlebenden funktionsfähig. Neben dem dicken Paperback findet er noch eine schmale Novellensammlung von T.C. Boyle mit der Titelgeschichte „After the plague“ („Nach der Pest“). Auch bei Boyle können sich die wenigen Überlebenden einer Viruspandemie lange Zeit gut von verbliebenen Resten der Zivilisation nähren. Boyles Titelheld ist ein Schriftsteller, der sich für einen schöpferischen Urlaub in eine einsame Hütte in den Rocky Mountains zurückzieht und über sein kleines Transistorradio hört, wie die Menschheit innerhalb weniger Tage vom Killer-Virus dahingerafft wird. Immerhin kann er sich in seinen Wagen setzen, um nach stundenlanger Fahrt das Ausmaß des Desasters an einer Tankstelle in Augenschein zu nehmen. Später krabbelt eine auf den Hund gekommene junge Frau auf seine Blockhütte zu. Mit ihr erlebt er all die Dinge, die Jorge sein ganzes Leben unglücklich gemacht haben einschließlich sexueller Details. Er liest die halbe Nacht. Dazu tanzen Nordlichter nach einer fantastischen Choreografie über dem gläsernen Observatorium, was dem Drama ein ekstatisches Bühnenbild von wunderbarer Schönheit verleiht.

Ricarda denkt an Flucht vor dem drohenden Chaos

Im Wohnheim wird es immer kälter. Es beginnt zu riechen. Ricarda zieht sich die Bettdecke über die Ohren, denkt über Kens Szenario nach. Was bedeutet das für die Menschen in Plymouth, für sie? Wie geht es ihrer Familie in Neapel? Was kann sie tun? Sie hat noch einen Liter Milch, ein paar Liter Wasser, Knäckebrot, Streichkäse und eine Schachtel Müsli. Schon beim Wasser muss sie überlegen, ob sie es für eine Toilettenspülung opfert oder besser als Trinkwasser aufspart. Sie klettert aus dem Bett, geht zur Tür, dreht den Schlüssel zweimal um und schiebt noch den kleinen Schreibtisch davor. Es wird still. Sie zieht sich eine Wollmütze über den Kopf, Wollsocken an die Füße. War der Umzug von Neapel nach Plymouth ein Fehler gewesen? Wie viel besser würde sie sich jetzt in der Küche der winzigen Wohnung ihrer Eltern fühlen. Mehr als einmal hatte die Familie dort Krisensitzungen abgehalten, wenn einer ihrer Brüder wieder etwas angestellt hatte und man stündlich mit dem Eintreffen der Polizei rechnen musste. Laut ging es dann zu, sehr laut. Oft kamen andere Verwandte, sodass keine Handbreit Platz war zwischen den vielen Personen in einem kleinen Raum. Alle rochen nach Knoblauch. Die Menschen im Armenviertel lebten dicht beieinander, hielten wenig Abstand. Wie anders verhielten sich die Engländer, die selbst an der Bushaltestelle diszipliniert ohne irgendwelche Hinweisschilder eine Schlange bildeten, penibel auf mindestens einen halben Meter Distanz zu Mitwartenden achteten und bei jeder kleinsten, ungewollten Berührung „sorry“ murmelten. Als sie am Tag ihrer Ankunft in Plymouth am Bahnhof auf den Stadtbus wartete, fiel ihr sofort auf, dass die Autofahrer nicht hupten und merkwürdig bedächtig fuhren. Im Neapel ihrer Kindheit war das ständige Hupkonzert von früh bis spät das Hintergrundgeräusch des Tages. Und Neapel war nicht nur laut, sondern auch gewalttätig. Die Eltern hielten ihre Brüder an, immer gut auf die kleine Schwester aufzupassen. Die Zudringlichkeit junger süditalienischer Männer war für Ricarda ein Problem gewesen. So empfand sie die scheue Harmlosigkeit ihrer britischen Kommilitonen als Befreiung. Neapel nachts ohne Strom, ohne Polizei? Ein Albtraum. Vielleicht schon ein bisschen wie Tahir-Platz Kairo, Afrika? Aber ihre Eltern und all ihre armen Verwandten hatten gelernt, in einer solchen toxisch-männlichen Gesellschaft zu überleben. Wenn die Polizei nicht half, konnte man sich immer noch an den lokalen Stadthalter der Ndrangheta (Vereinigung der kalabrischen Mafia) wenden. War die Ehre eines jungen Mädchens beschmutzt worden, der Übeltäter bekannt, aber die Polizei machtlos, so schickte ihm die Ndrangheta eines nachts Racheengel, die mit ihren Eisenstangen nur wenige Knochen in seinem Körper heil ließen. Die Ordnung war wiederhergestellt, notfalls durch Ehrenmord. Plymouth war anders, wenn man die eng beieinander lebenden Migrantengemeinden ausklammerte. Radelte sie gelegentlich durch das Viertel der Pakistani, war da so ein Hauch von Neapel zu spüren und das nicht nur, weil die Bewohner dunkle Haut und pechschwarze Haare hatten. Nein, wenn schon Stromausfall, dann lieber in Plymouth als im brodelnden Neapel. Diese kühlen und schweigsamen Engländer werden schon für Ordnung sorgen und die Maschinen schnell wieder zum Laufen bringen. Am nächsten Morgen erwacht sie dennoch mit einem vagen Gefühl von Angst, steigt aus dem Bett und guckt aus dem Fenster. In der Nacht hat es einen für Plymouth seltenen Temperatursturz unter 0°C gegeben. Die Dächer sind mit einer feinen Raureifschicht überzuckert, der Wind weht aus Nordost. Noch immer wabern die Nordlichter. Die Erde hat sich im Sonnensturm schon fast einmal um ihre Achse gedreht. Die Straßen sind leer. Ricarda schiebt den Schreibtisch beiseite, öffnet die Tür, späht vorsichtig in den Flur. Da ist niemand. Sie klopft an Kens Tür. Es dauert, bis er öffnet. Ein übler Geruch schlägt ihr entgegen. Er muss die Toilette benutzt haben. Sie reißt das Fenster auf: „Lieber im Mief ersticken als erfrieren?“ Sie setzen sich nebeneinander auf das Bett, die Decke um die Schultern gelegt. „Ken, wie soll das weitergehen?“ „Weiß ich auch nicht. Ohne Strom keine Versorgung. Die Leute frieren jetzt schon. Die Kühlschränke sind rasch leer. Dann geht es auf die Suche nach Essbarem. Die Supermärkte sind schnell leer geräubert. Plymouth hat über 260 000 Einwohner, darunter nicht nur friedliche Gestalten. Die Polizei kann man nicht mehr rufen. Das wird dann rasch ungemütlich werden. In Dörfern auf dem Land ist man wahrscheinlich besser aufgehoben. Meine Eltern haben einen Caravan-Park mit kleinem Supermarkt in der Nähe von Fowey im National Trust Park. Ziemlich einsam, ziemlich abgelegen mit nur wenigen Wintercampern.“ Er entfaltet einen Flyer, der einen Campingplatz anpreist, direkt am Fowey-River gelegen. Es sind allerdings 27 Meilen von Plymouth. Die Fähre über den Tamar verkehrt sicher nicht mehr. 27 Meilen und davon viele, viele durch eine Großstadt voller schräger Typen. „Wenn die See nicht zu rau ist, könnten wir es mit den Kajaks versuchen?“ Ricarda ist trainierte Kajakfahrerin. Der Sportclub der Universität hält eine ganze Reihe von Seekajaks bereit. Ken ist nicht begeistert von einer mehrstündigen Paddeltour über den winterlichen Atlantik. „Warten wir mal ab, was sich heute über Tag so tut. Vielleicht können wir es mit den Rädern über die Landstraßen probieren. Nur die Fähre wird wohl nicht mehr verkehren. Das wäre dann ein riesiger Umweg.“ Über Tag tut sich nichts Gutes. Es bleibt frostig kalt. Einige Schneeflocken tanzen vor den Fenstern. Sie greifen in die Palette Cola-Dosen unter Kens Bett. Um die Mittagszeit hören sie Glasscherben bersten und lautes Grölen vor dem Wohnheim. Ein halbes Dutzend Männer ist dabei, die Eingangstür zum kleinen Coop-Markt einzuschlagen. Das Sicherheitsglas splittert unter ihren Schlägen nur langsam aus dem Rahmen. Dann sind sie im Laden, schleppen wenig später Kisten und Kartons auf die Straße. Rasch kommen aus anderen Häusern mehr Menschen, plündern das Geschäft in kürzester Zeit. Die meisten Studenten haben das Wohnheim nach einer eiskalten Nacht verlassen, um sich auf den Weg zu ihren Eltern oder Verwandten in der Umgebung zu machen. Die Ausländer und Briten aus anderen Landesteilen sitzen fest. Ricarda hat ihre Kommilitonen als eher scheu, zurückhaltend und höflich erlebt. Nur an Wochenenden waren ihr Zweifel gekommen. Was sich da entlang der Pub-Meile aber auch vor den Studentenwohnheimen spät nachts abspielte, passte sogar nicht zum Tagesverhalten dieser sehr hellhäutigen Inselbewohner. Vielleicht noch am ehesten zu ihrem gewählten flamboyanten Premierminister, aber der hatte ja auch einen Großvater mit Namen Osman Kemal und jüdische Urgroßeltern aus Osteuropa. Andererseits war die überwältigende Mehrheit der jungen Snobs im Oxforder Bullingdon-Club natürlich urbritisch und zertrümmerte dennoch oder gerade deswegen ritualistisch die Pubs der Umgebung. Nach Mitternacht war das Jaulen der Polizeiwagen- und Krankentransportsirenen jeden Freitag und Sonnabend allgegenwärtig. Wie so eine Nacht ohne Ordnungshüter ablaufen würde, sollte sie schon bald hautnah erfahren.

Die dystopische Welt der „Prepper“(dystopisch – in einer düsteren Zukunft angesiedelt, englisch „to prepare“ – sich vorbereiten)

Warum wird jemand zum Prepper? Wenn ich mit den Preppern aus der Szene in den Foren diskutiere, komme ich mir immer etwas überlegen vor, weil ich das Wahnhafte bei vielen von ihnen spüre und meine eigene Exzentrik einzuordnen weiß. Gemeinsam ist uns eine leicht paranoid-antagonistische Sicht auf unsere Mitmenschen, die wir als Bedrohung erleben. Tief in uns rumort übertriebene Feindseligkeit und zumindest bei mir auch unangemessene Angst. Anders als die meisten Prepper habe ich weder Atomkrieg, Viruspandemie, Bürgerkrieg oder Blackout durch Hackerangriffe auf Kraftwerke ganz oben auf meiner Liste apokalyptischer Szenarien stehen, sondern einen Sonnensturm als Ursache der Zerstörung aller elektrischer Infrastruktur. Anders als die meisten Prepper habe ich mein Geld nicht in einen Schutzraum im Keller oder einen Erdbunker im Garten investiert, denn bei allen Szenarien sind die Überlebenschancen im Hexenkessel eines völlig überbevölkerten Westeuropas sehr, sehr gering. Die verhungernden Millionen und marodierenden Bewaffneten werden systematisch alle Keller aufbrechen und so mancher Beamte im Bauordnungsamt wird sich an die Genehmigung eines Schutzbunkers erinnern, ebenso der Tiefbauunternehmer und sein Baggerfahrer. Noah hätte in einem Erdloch auch keinen Schutz vor der Sintflut gefunden. Nein, man musste im Fall der Fälle weg an einen Ort, der bereits natürlichen Schutz vor diesen Heerscharen irrewerdender Lemminge bot. So kam mir Noahs Arche in den Sinn. Schaute ich auf einem Spielplatz den Enkelkindern beim Schaukeln zu, gefielen mir ihre wehenden blonden Locken, ihr Jauchzen und Quietschen. Mit ihren hübschen Gesichtern und strahlend blauen Augen konnten sie Reklame für Zwieback und andere Kleinkindartikel machen. Ja, diese kleine Brut vor Chaos und ziemlich sicherem Tod zu retten, dafür lohnte es sich, Vorsorge zu treffen. Ich begann mich mit Wonne auf den Tag X vorzubereiten, eine Menge Zeit und eine beachtliche Summe Geldes in meine Arche zu investieren. Da war ich meiner Mutter und Großmutter ähnlich. Vor den akkurat belegten Regalen in ihren Kellern hatte ich als kleiner Junge oft staunend gestanden. Hunderte von Dosen und Gläsern bewirtschaftete Oma peinlich genau mit Aufklebern, die das Einkochdatum und den Inhalt auswiesen. „Das ist für schlechte Zeiten.“ Und dabei dachte sie an die Erfahrung des Hungers nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als ein Stück Butter oder ein Kilo Zucker gegen Perserteppiche und Silberbesteck getauscht wurden. In den Regalen standen Kisten mit Dosen von Schmalzfleisch, Schwarzbrot und Gulasch aus Bundeswehrbeständen. Mutter hatte diese Tradition fortgesetzt, eine sagenhafte Speisekammer angelegt, die jedes Jahr im November mit den Würsten und Schinken aus einer Hausschlachtung vollgehängt wurde. Ich erinnere große Steingutkrüge gefüllt mit Schweineschmalz, Batterien von Weckgläsern in unterschiedlichsten Größen, in denen alles konserviert wurde, was der eigene Garten abwarf. Zentner Kartoffeln lagerten in einer speziellen Holzkiste. Vater hatte die alte Schwengelpumpe hinter dem Haus nie außer Betrieb gesetzt. Sie förderte zwar nur braunes Wasser, aber das konnte man ja zur Not abkochen, sollte die Wasserversorgung einmal ausfallen. Auch den gemauerten Schornstein für den Küchenofen hielt er in Schuss, stapelte reichlich gespaltenes Holz unter dem Dachüberstand. „Jedes Haus braucht einen Holzofen. Wie willst du heizen, wenn mal der Strom ausfällt?“ Und heute macht dieses skurrile Verhalten plötzlich Sinn – gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Die Familie will abwarten. Noch ist das Wohnzimmer warm. Genügend Feuerholz lagert im Carport. Noch läuft Wasser in dünnem Strahl aus dem Hahn. Aber sie sind einverstanden, einen Notrucksack zu packen – für alle Fälle. „Die Polizei kann jetzt niemand mehr rufen.“ Großes Staunen. Ich glaubte immer an das Schlechte im Menschen – meine Familie setzte fest auf das Gute. Wir gehen zum Waffenschrank im Schlafzimmer, der hinter einem Spiegel in der Wand verborgen ist. Als Sportschütze konnte ich ihn völlig legal mit Kurz- und Langwaffen bestücken. Zu mehr als einigen Schnupperstunden im Verein hatte ich die friedliebende Familie nicht motivieren können. Nur meine Ehefrau zeigte ein gewisses Interesse an den Schießübungen, fand die Sportkameraden dann doch zu dröge und Tanzstunden beschwingender. Immerhin hatten sie alle gelernt zu munitionieren und einigermaßen zu zielen. Dass ich die Munition im Haus aufbewahre, entspricht nicht ganz der strengen Vereinssatzung, erlaubt mir nun schnell Magazine in die 9 mm Pistolen zu laden und jedem eine scharfe Waffe in die Hand zu drücken – für alle Fälle. Im Waffenschrank lagert noch eine kleine mit dicker Bleifolie ausgeschlagene Kiste, in der ich ein Radio und vier LED-Taschenlampen mit Kurbelantrieb sowie zwei geladene Taser (Elektroschockpistolen) aufbewahre. Die Taser hatte ich bei einem ersten Segeltörn über die Ostsee in Hela auf einem dieser obskuren polnischen Trödelmärkte erstanden. Wie schnell werden all die Tunichtgute mit einer gewalttätigen Ader merken, dass es keine einsatzfähige Polizei mehr gibt? Dass man machen und sich holen kann, was man will? Meine Frau hat eine leichte Ader in Richtung folie a deux ("Geistesstörung zu zweit"), Beatrix und Gerrit überhaupt nicht: „Das ist jetzt übertrieben. Stell die Kiste mal schnell wieder weg.“ Ich halte sie gut verschlossen, solange die Nordlichter noch wabern. Auf mich kommt eine kleine Radtour zu, denn Sohn Jasper hat sich bisher mit seiner Familie nicht gemeldet. Ich meide die Hauptverkehrsstraßen und nehme unbefestigte Fußwege. Es ist still. Das merkwürdig grün-gelbe Licht am Himmel flackert im Takt eines kosmischen Rhythmus. Wenn ich Straßen queren muss, sehe ich Fahrzeuge auf den Fahrbahnen stehen. Einige Fahrer laufen ratlos hin und her. Sie diskutieren miteinander. Das Wohnhaus der Kinder liegt hübsch eingerahmt von Immergrün hinter einem eindrucksvollen Hofportal mit einem elektrischen Torweg, das ich von Hand aufschieben muss. Die Kinder sitzen am Tisch neben dem Holzofen, der den großen Raum mollig warm hält und in ein flackerndes Licht taucht. Sie haben auch bereits registriert, dass dies kein simpler Stromausfall ist. Ich erkläre ihnen die Bedeutung der intensiven Nordlichter und die zu erwartenden Konsequenzen. „90%, mindestens 90% aller Menschen werden in den nächsten Wochen sterben. Und das wird nicht still und friedlich abgehen. Wir müssen sofort auf die Arche, bevor das große Hauen und Stechen losgeht.“ Sie gucken mich stumm und entgeistert an. Aber ich bekomme sie so weit: Notfallgepäck wird zusammengestellt. Gegen ein paar Tage auf der Arche im Hafen von Brake ist prinzipiell nichts einzuwenden. Entspannt sich die Lage, fährt man eben wieder heim. Irgendwie können sie nicht glauben, dass in wenigen Stunden das Chaos über diese Stadt hereinbrechen wird. Weil gerade eine Kaltfront Luftmassen polaren Ursprungs nach Norddeutschland schaufelt, sinken die Temperaturen rapide. Aber der Holzofen heizt derart gut, dass die Familie diese Wärme nicht gegen Stunden bei frostigen Temperaturen auf den Fahrrädern tauschen will. „Papa, lass uns mal bis morgen warten. Unser Kühlschrank ist voll. Holz haben wir für Wochen. Heute Nacht sollen es minus 10° werden. Fahr nach Hause oder bleib bei uns. Wir entscheiden das morgen.“ Für die Kinder ist alles im Leben immer glatt gelaufen. Natürlich vor allem deshalb, weil ihre Eltern vor ihnen wie eine Art Planierraupe gefahren sind und fast alle Hindernisse aus dem Weg räumen konnten. Dass dieses Wegräumen von Hindernissen oft einer Art siebtem Sinn für Gefahren geschuldet war, sehen die Kinder nicht. Für sie ist besonders der Vater paranoid ängstlich – auch wenn er es weit gebracht hat. Auf die Räder zwingen kann ich sie nicht. „Ich fahre heute, spätestens morgen früh. Mama, Beatrix und Gerrit kommen mit. Ihr wisst, wo die Arche liegt. Wie lange wir im Hafen bleiben können, weiß ich nicht. Wird es zu brenzlig, stechen wir in See. Wenn ihr es bis dahin nicht geschafft habt, dann war es das. Wer zu spät kommt, den kostet es in diesem Fall das Leben.“ Sie wollen warten, rollen mit den Augen. Ich lege ihnen eine geladene Pistole mit einem Reservemagazin auf den Tisch. Schwiegertochter Ellen schnappt sie sich empört und steckt sie in ihre Handtasche. „Bitte, lass diesen Unsinn. Wenn das die Kinder sehen.“ Sohn Jasper hat damit schon selbst einige Probeschüsse abgegeben, lächelt müde entspannt. „OK, Papa, wir überlegen es uns. Aber lass uns eine Nacht hier im Warmen schlafen.“ Vielleicht leiten vollgeschissene Toiletten ohne Wasserspülung einen Sinneswandel ein? Minusgrade und ein von kräftigem Ostwind getriebener Schneeflockenwirbel haben die Straßen leergefegt. Die Menschen verkriechen sich in ihre dunklen Wohnungen, die jetzt ganz schnell auskühlen. Sie warten auf Nachrichten, die nicht kommen. Alle Bildschirme, Lautsprecher und Telefone sind tot. Kein Lautsprecherwagen wird durch die Straßen fahren und Notmaßnahmen verkünden. Bei fast absoluter Stille knarren die Räder meines uralten Gazelle-Rades im Schnee. Die Stadtlandschaft macht einen unheimlich friedlichen Eindruck. Reagiere ich über wie so oft in meinem Leben? Wie war das, als ich bei der Einführung des Euro alle meine Ersparnisse in Dollar getauscht hatte, später in Goldmünzen? Der Dollar fiel, der Euro stieg und ich war ein Drittel meines Geldes los. Wie war das bei Noah gewesen? Trieb auch ihn damals eine Angst, die in den Herzen seiner Zeitgenossen fehlte? Der Glaube an das Positive im Menschen, an seine Kooperations- und Anpassungsfähigkeit – schön und gut. Nur wird der Mensch damit diese Probe bestehen können? Kann es geordnet zugehen, wenn innerhalb weniger Wochen sämtliche Nahrungsvorräte auf der Erde aufgegessen bzw. verdorben sein werden? Wenn es wegen kaputter Maschinen keinen Nachschub mehr geben kann? Was machen die Menschen, wenn in ihren Wohnungen in wenigen Stunden Dauerfrost herrscht und kein Wasser mehr fließt? Fallen sie übereinander her – mein Szenario – oder harren stumm und geduldig aus? Wie lief das im Holodomor 1933 in der Ukraine ab? Bis zu 14 Millionen Ukrainer verhungerten innerhalb eines Jahres, ohne dass die Sowjetunion unterging. Wie viele Menschen könnten in Deutschland ohne Landwirtschaft als Jäger und Sammler überleben? Eine Million, vier Millionen – sicher nicht mehr. Also müssten 78 Millionen ziemlich elendig in wenigen Wochen bis Monaten sterben. Wie wird so ein Massensterben ablaufen? Magda Goebbels hatte ihre sechs kleinen Kinder im Führerbunker eigenhändig vergiftet kurz bevor russische Soldaten die Türen eintraten. Unwahrscheinlich, dass die Passiven zu den Überlebenden zählen könnten. Wie lange wird diese trügerische Winterruhe noch anhalten?

Jorges ganz persönliche Katastrophen vor dem Weltuntergang

Als Jorge bei Sonnenaufgang erwacht, sind die Teelichter verloschen und das Spektakel am Himmel leuchtet weniger intensiv. An den Metallspitzen der Außengeländer des Turms funkelt es nicht mehr wie von tausend Glühwürmchen. Erstaunlich, dass der menschliche Körper für diese physikalischen Naturgewalten kein Sinnesorgan hat. Strahlung und energiereiche Partikel durchschlagen uns, ohne dass wir es spüren. Jorge erinnert sich dunkel an den Artikel einer Schweizer Arbeitsgruppe, die über die Bestimmung von Isotopen in Baumringen einige solcher Jahrhundertereignisse in geschichtlicher Zeit nachweisen konnten. Man schätzte die Gefahren solcher Sonnenstürme ähnlich ein wie die Folgen eines großen Meteoriteneinschlags – also als sehr unwahrscheinlich - und mochte keine kostspielige Vorsorge treffen. Dabei ist die Vorsorge eigentlich naheliegend. In seinem Fall gibt es genug Gemüse im Garten, mehr als genug Fisch im Meer und im Frühling tausende köstliche Möweneier. Er kann auf seinem einen Quadratkilometer Eiland nachhaltig ohne technische Geräte wirtschaften. In Portugal leben allerdings 111 Menschen auf einem Quadratkilometer, in Singapur 8000. Diese Überbevölkerung muss in wenigen Wochen ein grausames Ende finden. Wenn der große Hunger kommt, werden sich viele auf die Suche nach Nahrung begeben. Die Azoren sind ein Seglerparadies mit hunderten hochseetüchtigen Yachten. Seine Insel liegt zwar abgelegen, ist aber auf allen Seekarten schon wegen des Leuchtturms verzeichnet. Muss er mit Besuch rechnen? Wie soll er potenziell Nahrungssuchende behandeln? Die Insel hat einen betonierten Bootsanleger an der der Brandung abgewandten Seite. Andererseits feuert der Leuchtturm nicht mehr und die meisten Hobbysegler verlassen sich gänzlich auf GPS-Navigation (satellitengestütztes globales Positionssystem), die es nun nicht mehr gibt. Jorge zieht sich an, füttert die Hühner und nimmt das Fernglas mit auf einen Inselrundgang. Ihm fällt auf, dass er am Himmel keinen einzigen Kondensstreifen mehr sieht. Drei größere Schiffe kann er am Horizont ausmachen. Er vermerkt ihre Position auf einer Karte. Ansonsten ist alles, wie es immer war. Er greift sich seine Angel, beginnt mit dem Vormittagsfischen. Diesmal hat er Glück. Der frische Fang beschert ihm durch tierisches Protein die wohlige Sättigung, die er in seiner veganen Periode so nie erreichen konnte. Im bequemen Liegesessel verliert für ihn der anstehende Untergang der Zivilisation seine Schrecken. Wichtiger scheint es ihm, die eigenen persönlichen Desaster in Sprache zu fassen. Seiner Mutter war es viele Jahre ganz gut gegangen. Doktor da Silva hatte sie auf Lithium eingestellt, was ihre psychotischen Schübe stoppte. Richtig glücklich war sie nicht, beklagte den frühen Tod ihres Mannes und die folgenden Jahre der Einsamkeit. Dass ihr Sohn keine Familie gründete, hielt sie ihm ständig vor. Sie trafen sich dennoch zweimal in der Woche. Er brachte ihr Patisserie mit. Bei den vierteljährlichen Blutkontrollen war dem Hausarzt ihre verschlechterte Nierenfunktion aufgefallen. Er murmelte etwas von einer möglichen Nebenwirkung der Lithiumtabletten, die sie daraufhin heimlich absetzte und innerhalb weniger Wochen in eine schwere Depression fiel. Wenn sie vom Tod sprach, versuchte Jorge sie aufzuheitern. Wollte er ihr Abgleiten nicht wahrhaben? Als er an einem Dienstag gegen 16.00 Uhr an ihrer Tür klingelte, öffnete sie nicht. Er trat mit seinem Zweitschlüssel ein, rief „Mama“ und fand sie ihm Bad an einem Wasserrohr baumelnd, das knapp unter der Decke durch den Raum lief. Weder die Polizei noch der Amtsarzt machten ihm Vorwürfe. Damals endeten auch seine Versuche, als Wissenschaftler auf Dauer Reputation und Festanstellung zu gewinnen. Als einer von dutzenden junger Forscher hatte er sich von Kurzzeitvertrag zu Kurzzeitvertrag gehangelt. Portugal war ein armes Land. Es gab nur eine Handvoll Positionen an den Universitäten. Auf jede freie Stelle bewarben sich zu viele Kollegen. Mit einem randständigen Forschungsgebiet in der Botanik hatte er nicht auf sich aufmerksam machen können. Er zog nach dem Tod der Mutter in ihre kleine Wohnung. Dort fühlte er sich wie in einen Kokon aus Schuld eingestrickt. Hatte er abends einen Artikel über den mitochondrialen Stoffwechsel des roten Brotschimmels verfasst, blickte er im Bad düster auf das dicke Wasserrohr unter der Decke. Konnte er sich noch einmal neu erfinden? Nach einer Abendveranstaltung in den ehrwürdigen Universitätsgebäuden traf er zufällig seinen alten Kommilitonen (Mitstudenten) Dorgival, der auf einem feinen Posten als Leiter der Naturschutzbehörde saß. Der blickte ihm tief in die Augen und brummte freundlich: „Jorge, du schaust traurig aus. Lass uns noch ein Glas Wein trinken. Erzähl mir, was dir auf der Seele liegt.“ Dorgival hätte besser Psychologie als Biologie studieren sollen. Er las in Menschen wie in offenen Büchern. Nach einer Stunde Lebensbeichte fühlte sich Jorge unter einem warmen Lissabonner Sternenhimmel fast befreit. Sie saßen an diesem kleinen Zweiertisch vor dem Weinlokal und gerieten in starke Resonanz. Dorgival sah ihn in einer Sackgasse, aus der er so schnell wie möglich im Rückwärtsgang herausfahren müsse, bevor ihn eine Depression komplett stranguliere. Raus aus der Butze seiner Mutter, raus aus einem Wissenschaftsbetrieb, der viel zu viele Botaniker ausbildete, die am Ende niemand brauchte. Für eine traditionelle Rolle als Ehemann und Familienvater taugte er anscheinend in diesem Jahrhundert nicht. Dann brachte Dorgival diesen pittoresken (malerischen) Außenposten der Naturschutzbehörde ins Spiel. Der sei sofort zu besetzen. Einige Monate Ruhe, frische Luft und viel Zeit zum Nachdenken. Eine Neubesinnung sei auch mit vierzig möglich. Da war er, der Rettungsring. Aus angedachten wenigen Wochen wurden sechs Jahre. Und nun eine echte Robinsonade. Ähnlich wie Robinson weiß auch Jorge nicht, ob er sich über völlige Funkstille und den kompletten Verlust von Kontakt zur Außenwelt freuen soll, wenn er dadurch seine Vorräte mit niemandem teilen muss. Was, wenn hungrige Segler einfielen? Im Geräteschuppen hängt seine großkalibrige zweiläufige Schrotflinte. Im Schrank liegen zwei Schachteln Munition. Er nimmt die Jagdwaffe vom Haken, hängt sie über die Schulter, steckt die Munitionsschachteln in die großen Außentaschen seiner Regenjacke. Die nächsten Tage läuft er bewaffnet Patrouille.

Als der Horror in Ricardas Körper dringt