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Beschreibung

Die Geschichte der bedeutendsten Religion der Welt

Die Geschichte des Christentums ist auch für Nichtchristen faszinierend. Vor fast 2000 Jahren begann die Glaubensgemeinschaft als jüdische Sekte und stieg dann inmitten der antiken Götterwelt unaufhaltsam auf: erst zum römischen Staatskult, später zum meistverbreiteten Bekenntnis der Welt. Was machte Das Christentum so attraktiv? Und wie konnte es, trotz aller Ketzerkämpfe und Spaltungen, den Kern seiner Heilsbotschaft bewahren? SPIEGEL-Autoren, Kirchenhistoriker und Theologen zeichnen im vorliegenden Buch den Aufstieg des Christentums zur bedeutendsten Weltreligion nach, beleuchten aber auch Irrungen, Seitenwege und Reformen. Sie porträtieren epochale Gestalten wie Augustinus, Meister Eckhart oder Dietrich Bonhoeffer und zeigen, warum Das Christentum bis heute ein Hauptfaktor abendländischer Identität ist.

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Zum Buch

Die Geschichte des Christentums ist auch für Nichtchristen faszinierend. Vor fast 2000 Jahren begann die Glaubensgemeinschaft als jüdische Sekte und stieg dann inmitten der antiken Götterwelt unaufhaltsam auf: erst zum römischen Staatskult und dann zum meistverbreiteten Bekenntnis der Welt. Was machte das Christentum so attraktiv? Und wie konnte es, trotz aller Ketzerkämpfe und Spaltungen, den Kern seiner Heilsbotschaft bewahren? SPIEGEL-Autoren, Kirchenhistoriker und Theologen zeichnen im vorliegenden Buch den Aufstieg des Christentums zur bedeutendsten Weltreligion nach und beleuchten dabei auch Irrungen und Seitenwege des Glaubens. Sie porträtieren epochale Gestalten wie Augustinus, Meister Eckhart oder Dietrich Bonhoeffer und zeigen, warum das Christentum bis heute ein Kern abendländischer Identität ist.

Zur Herausgeberin

Eva-Maria Schnurr, geboren 1974, ist seit 2013 Redakteurin beim SPIEGEL und verantwortet seit 2017 die Heftreihe SPIEGEL GESCHICHTE. Zuvor arbeitete die promovierte Historikerin als freie Journalistin, u.a. für „Zeit“ und „Stern“. Sie ist unter anderem Herausgeberin der DVA/SPIEGEL-Bücher „Die Reformation” (2016) und „Die Kelten“ (2018).

Eva-Maria Schnurr (Hg.)

DAS CHRISTENTUM

Die Geschichte einer Religion, die die Welt verändert hat

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München, und SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagmotiv: The Last Supper, Carducho, Bartolomé (1560–1608)/Prado, Madrid, Spain/Bridgeman Images Gestaltung und Satz: DVA / Andrea Mogwitz Gesetzt aus der Garamond E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-23254-2 V002 www.dva.de

Inhalt

Vorwort

Helden der Transzendenz

Das Erfolgsgeheimnis des Christentums: Es erfand sich immer wieder neu. Von Johannes Saltzwedel

TEIL I: Von der Sekte zum Reichskult

»Das Christentum war subversiv und gefährlich«

Es gilt als westliche Religion. Doch erste Erfolge erzielte es im Osten, sagt der Historiker Peter Frankopan im Gespräch.

Klarer Schnitt?

Die Urgemeinde stritt über Grundsätzliches: Durften sich nur Juden taufen lassen, oder konnten sich auch Heiden bekehren? Von Markus Deggerich

»Wüster, maßloser Aberglaube«

So sahen römische Beamte die Anhänger Jesu.

Seelenfänger

Im Altertum konnten Suchende aus konkurrierenden spirituellen Angeboten wählen. Von Johannes Saltzwedel

Vom Birnendieb zum Kirchenvater

Am Ende der Antike entwickelte Augustinus ein Lehrgebäude der jungen Religion. Sein eigenes Leben war anfangs wenig vorbildlich. Von Klaus Rosen

Sehnsucht nach Vollkommenheit

Die erstaunliche Entscheidung der reichen Römerin Melania Von Judith Rosen

Gebete für den Kaiser

Wie das Christentum zum römischen Staatskult wurde Von Klaus Rosen

Askese im eisernen Hemd

Die ersten Mönche waren Außenseiter. Ihr Beispiel fand allerdings schnell Nachahmer. Von Cord Aschenbrenner

»Aus dem Vater gezeugt«

Um das Glaubensbekenntnis gab es erbitterte Kämpfe. Von Johannes Saltzwedel

TEIL II: Zwischen Glaube Und Macht

»Erhebe dich, Rom!«

Kaiser Otto III. träumte von einem christlichen Imperium. Seine Idee einer Verbindung zwischen Papst- und Kaisertum scheiterte jedoch grausam. Von Christoph Gunkel

Bis ans Ende der Welt

Die vielleicht folgenreichste Fälschung der Geschichte Von Johannes Saltzwedel

Stütze des Staates

Die byzantinische Ostkirche brach mit Rom – und prägte das russische Zarenreich. Von Uwe Klußmann

»Heilige Pflicht«

Warum Russlands Präsident Putin die Kirche braucht Von Uwe Klußmann

Vertreibung aus dem Paradies

Jahrhundertelang lebten Christen im Irak. Dann kam der IS. Eine Reportage Von Susanne Koelbl

Das östliche Christentum

Gott, logisch erklärt

Scholastiker wie Thomas von Aquin näherten sich dem Glauben wissenschaftlich. Von Jan Puhl

Im Verfolgungswahn

Die Inquisition fahndete nach Ketzern und Häretikern. Die Folgen spürt man bis heute. Von Nils Klawitter

»Verblüffende Doppelgesichtigkeit«

Wie veränderte sich das Verhältnis zwischen weltlicher und kirchlicher Macht im Laufe der Zeit? Der Kirchenhistoriker Volker Leppin im Gespräch.

TEIL III: Von Reformern und Missionaren

Auf Teufel komm raus

Nach der Reformation rangen die Konfessionen um die Vormachtstellung. Durfte man die »wahre Religion« mit Gewalt durchsetzen? Von Volker Reinhardt

Wie frei ist der Mensch?

Ein Briefwechsel zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam Von Johannes Saltzwedel

Zuflucht der Seele

Die mystische Innerlichkeit der Teresa von Ávila Von Alexandra Gittermann

Giftige Schlange, schwaches Licht

In China warben Missionare friedlich für den Glauben. Einer wurde gar Berater des Kaisers. Von Bettina Musall

Große Dinge geschehen

Die Pietisten bekämpften protestantische Prinzipienreiterei. Von Uwe Klußmann

»Sinn und Gefühl für das Unendliche«

Der Berliner Theologe Friedrich Schleiermacher brachte Religion und Rationalität zusammen. Von Joachim Mohr

Stille Nacht

So entstand das bürgerliche Weihnachtsfest. Von Joachim Mohr

TEIL IV: Mit Gott oder ohne?

Der Antichrist

»Gott ist tot«, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche – aber was meinte er? Von Andreas Urs Sommer

Dem Rad in die Speichen fallen

Mit der »Bekennenden Kirche« widersetzte sich Dietrich Bonhoeffer dem Naziregime. Von Michael Sontheimer

Adler und Huhn

Befreiungstheologen in Lateinamerika wollten Sozialismus und Religion verbinden. Von Jens Glüsing

Klub für Aufsteiger

Welche Zukunft hat das Christentum? Fragen an den Soziologen Detlef Pollack.

ANHANG

Karten

Chronik

Buchempfehlungen

Autorenverzeichnis

Dank

Personenregister

VORWORT

Die Geschichte des Christentums ist faszinierend, sogar für Nichtchristen: Vor mehr als zwei Jahrtausenden entstand die Glaubensgemeinschaft als jüdische Sekte. Inmitten der antiken Götterwelt stieg sie unaufhaltsam auf, heute ist sie weltweit die Religion mit den meisten Anhängern.

Die Einflüsse des Christentums gehen weit über das Spirituelle hinaus. In vielen Kontinenten, etwa in Europa, den USA oder Südamerika, hat es Denken, Werte und Kultur nachhaltig geprägt. Bildende Kunst, Musik, Architektur, Philosophie und Ethik, all das war jahrhundertelang eng verbunden mit der Religion. Parteien berufen sich in ihrem Namen auf das Christentum, das vermeintlich »christliche Abendland« wird immer wieder beschworen. Selbst in der weitgehend säkularisierten Gegenwart ist noch zu spüren, wie stark der Erlöserglauben die Welt verändert hat. Aus dem historischen Selbstverständnis Europas ist das Christentum – auch mit seinen Schattenseiten wie Glaubenskriegen oder Ketzerverfolgungen – nicht wegzudenken.

Gerade aus der Perspektive einer Zeit, in der religiöse Bindungen abnehmen, stellt sich deshalb die Frage: Was machte das Christentum über all die Jahrhunderte hinweg so attraktiv? Wie gelang ihm die beinahe globale Verbreitung in Gebieten mit ganz unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen? Diesen Fragen gehen die Autoren in diesem Band nach. Quer durch die Jahrhunderte zeichnen sie die Entwicklung des Christentums nach, erläutern unterschiedliche Traditionsstränge und berichten über die Weiterentwicklung der Lehren und die gesellschaftlichen Folgen daraus.

In einem Überblick erläutert SPIEGEL-Redakteur Johannes Saltzwedel, maßgeblich mitverantwortlich für das Konzept dieses Buches, ein zentrales, scheinbar paradoxes Erfolgsrezept der Erlösungsreligion: Einerseits kodifizierte die Kirche schon früh die christliche Lehre, regelte selbst kleinste Details und schloss immer wieder angeblich abweichende Lehransichten aus. Andererseits jedoch führte spirituelles Suchen und Hinterfragen des Althergebrachten immer wieder auch zu neuen Strömungen wie der Reformation von Martin Luther im Jahr 1517. Sie rissen die Menschen mit, hielten den Glauben lebendig – und erneuerten das Christentum auf diese Weise immer wieder von innen.

Dass das Christentum zum Inbegriff abendländischer Tradition werden würde, war dabei anfangs gar nicht abzusehen. Denn es erzielte seine ersten missionarischen Erfolge im Osten – bis etwa zum Jahr 1300 gab es in Asien mehr Christen als Europa. Warum das Christentum dort besonders früh ankam und warum diese Episode heute fast vergessen ist, erläutert der Historiker Peter Frankopan von der Universität Oxford im Interview.

Nicht selten waren es einzelne Entscheidungen, die maßgeblich waren für die Ausbreitung der Religion – und nicht selten stellte sich deren Tragweite erst später heraus. So stritt die Urgemeinde um Petrus und Paulus erbittert darum, ob nur Juden Christen werden durften oder auch Heiden. SPIEGEL-Redakteur Markus Deggerich hat nachvollzogen, wie der Streit die Weichen für die weitere Entwicklung stellte; der Althistoriker Klaus Rosen erzählt am Beispiel des Kirchenvaters Augustinus, welche religiösen Angeboten spirituell Suchenden in der Spätantike zur Verfügung standen und warum die Wahl bei immer mehr von ihnen auf das Christentum fiel.

Doch nicht immer überzeugten spirituelle Kraft oder staatliche Autorität – auch mit roher Gewalt wurde die christliche Religion durchgesetzt. Das grausame Vorgehen gegen Abweichler und Andersgläubige schildert SPIEGEL-Redakteur Nils Klawitter in seinem Text über die Inquisition. Gewaltexzesse im Namen der Religion, wie sie etwa im Dreißigjährigen Krieg verübt wurden, ließen immer wieder Zweifel am Wahrheitsanspruch der Religion aufkommen. In Europa drohte das Christentum an Attraktivität zu verlieren: Selbst die Protestanten, aufgebrochen, die Kirche zu erneuern, hatten sich unter der Fürstenmacht eingerichtet. Nun aber traten wieder Erneuerungsbewegungen an, die den Erlöserglauben ein weiteres Mal attraktiv machen wollten. Die Pietisten propagierten eine innerliche Spiritualität, die auf das religiöse Gefühl setzte. Der Aufklärungstheologe Friedrich Schleiermacher hingegen bemühte sich, Religion und Rationalität zu versöhnen und schuf damit die Grundlagen des modernen Protestantismus. Und im 20. Jahrhundert erregten die südamerikanischen Befreiungstheologen weltweit Aufsehen mit ihrem Versuch, Christentum und Sozialismus zusammenzubringen.

Dieses Buch will Einblicke liefern ein die mehr als 2000-jährige Geschichte des Christentums, seinen Werdegang nachvollziehen und damit vielleicht auch manche Entwicklungen der Gegenwart besser verständlich machen. Denn so uralt die christlichen Traditionen auch sein mögen, seine Überzeugungskraft wahrte das Christentum gerade dadurch, dass es sich immer wieder neu erfand.

Wir wünschen Ihnen spannende Lektüre.

Hamburg, im Juli 2018

Eva-Maria Schnurr

Helden der Transzendenz

Seit Langem ist das Christentum die führende Weltreligion – trotz vieler Rangeleien um Konfessionen und Ketzer. Es liegt wohl an seiner inneren Vielfalt und der Fähigkeit, sich unentwegt selbstkritisch neu zu erfinden.

Von Johannes Saltzwedel

Der Angeklagte war gut vorbereitet. Man bezichtige ihn also, er lehne die religiösen Überzeugungen seiner Mitbürger ab? Dabei glaube er doch an dämonische Mächte. Geradezu spöttisch wies Sokrates, Athens berühmt-berüchtigter Fragekünstler, den Vorwurf der Gottlosigkeit zurück. Vergebens: Das Gericht verurteilte ihn zum Tod. Die mögliche Flucht lehnte er ab; kurz darauf trank er im Gefängnis den Schierlingsbecher.

Das war 399 v. Chr. Ziemlich genau zwei Jahrtausende später stand wieder ein angeblicher Gotteslästerer vor dem Tribunal. Giordano Bruno, ehemals Mönch, hatte gelehrt, das Universum sei unendlich und beherberge zahllose Welten. Obendrein hatte er laut seinen Anklägern die Göttlichkeit Jesu, Marias Jungfräulichkeit, die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi sowie die ewige Verdammnis geleugnet. Am 17. Februar 1600 wurde Bruno auf dem Campo de’ Fiori in Rom verbrannt.

Beide gingen aufrecht in den Tod: Sokrates verlangte beim Schlussplädoyer gar, man solle ihn fortan wie einen Ehrenbürger im Rathaus beköstigen. Und Bruno, auch nach jahrelangen Gefängnisqualen ungebrochen, drehte den Spieß diagnostisch um: »Möglich, dass ihr mit größerer Furcht das Urteil gegen mich sprecht, als ich es annehme.«

Etwas Entscheidendes allerdings trennt die beiden Ketzer. Sokrates sah sich beschuldigt, »die Götter nicht zu glauben, welche der Staat glaubt, sondern allerlei neues Dämonisches« – Paragrafen aber konnten die Ankläger nicht zitieren. Brunos Inquisitoren hingegen folgten haarklein den kirchen- und zivilrechtlichen Handbüchern. Während der Athener Denker durchaus Chancen gehabt hätte, freigesprochen zu werden, trieben die römischen Rechtskenner ihr Opfer im Namen des dreieinigen Gottes nach allen Regeln dogmatischer Kunst in die Enge.

In der hellenischen Welt des Sokrates wohnte nach alter Ansicht jedem Stadtstaat ein übernatürliches Wesen inne, aber auch jeder Quelle und jedem Gewächs. So gut wie alles war irgendwie heilig oder göttlich. Glaube äußerte sich im Vollzug, im Ritual; alles Weitere blieb Einweihungswissen.

Zu Brunos Zeit dagegen war die kirchliche Lehre genauestens festgeschrieben. Über Jahrhunderte hatten Theologen die Prüfung dessen, was sich christlich nennen durfte, immer weiter verfeinert. Mit jemandem, der zu dieser Lehre in Widerspruch geriet, verfuhren die Wächter des Glaubens nicht zimperlich – gerade jetzt nicht: Nach erbitterten Konfessionskriegen sah sich die römische Kirche in Abwehrstellung. Von 1545 bis 1563 hatte sie im Konzil von Trient noch einmal ihren Anspruch bekräftigt, allein selig machend zu sein, auch wenn die Zweifel daran spätestens seit Luthers Reform nicht mehr verstummten.

Wie hatte es so weit kommen können? Hatte nicht das Christentum in der spirituellen Vielfalt der Spätantike als Gemeinschaft der Nächstenliebe eine klare Alternative zu den eher moralfreien Götterwelten der Römer und Griechen sein wollen? Anfangs ein Ableger des Judentums, war die neue Religion als monotheistische Heilslehre aufgetreten, die ein baldiges Endgericht Gottes erwartete und ihren Anhängern nach der Mühsal des irdischen Daseins Erlösung verhieß. Die »frohe Botschaft« (so die Übersetzung von »Evangelium«) verkündete, die Jesus-Gläubigen seien durch den Opfertod und die Auferstehung ihres Heilands von Sündenschuld gereinigt. Warum hatte dies in engstirnigen Dogmatismus und Ketzerjagd umschlagen können?

Wer das erklären will, muss die erstaunliche Entwicklung des Christentums in Rechnung stellen. Durch seinen Aufstieg zur Staatsreligion im Römischen Reich und seinen Provinzen 380 n. Chr. bewirkte es eine der größten Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte – mit so vielen Aspekten, dass man nur einige zu nennen braucht, um das Maß des mentalen Wandels anschaulich zu machen.

Da ist der völlige Umschwung im Weltverständnis überhaupt: Zuvor hatten nur ein paar versprengte Sektierer das Leben als leidvolle Prüfung vor dem befreienden Übertritt ins Jenseits betrachtet; nun aber war die Lehre von der letztlich sündhaft-verfallenen irdischen Welt öffentliches Credo, das Gebet an den Erlöser amtlicher Ritus.

Da ist die tiefe Umgestaltung des Soziallebens: Am Anfang der Kaiserzeit, inmitten einer faszinierenden Glaubensvielfalt, galten Christen als beargwöhnte Sekte mit anarchischen Neigungen, die man bändigen, ja bekämpfen musste. Seit dem römischen Kaiser Konstantin dem Großen wurde aus den einst Verfolgten die neue Führungsschicht; im Zerfall des Reiches übernahmen Bischöfe oft sogar die weltliche Herrschaft ihrer Region.

Schon der Wechsel zu einer Buchreligion, die Berufung auf heilige Schriften, die man nun sammelte, übersetzte, auslegte und kommentierte, veränderte einschneidend den Charakter der christlichen Spiritualität. Aber vor allem auch den Denkhaushalt krempelte das Christentum radikal um. Dass der allmächtige Gott wie schon bei den Juden kein Bildnis von sich dulden mochte, verstörte viele Gläubige; der als schmählich geltende Kreuzestod des Erlösers, die Geschichte von seiner Auferstehung und erst recht die schwer verständliche Trinitätslehre von der Einheit zwischen Gott Vater, Sohn Jesus und dem Heiligen Geist befremdeten ebenso.

Und doch war die frühere Vielfalt von Mythen und Kulten erstaunlich rasch durch neue, christliche Konzepte überlagert. An die Stelle von Orakelsprüchen, wie man sie zu Sokrates’ Zeiten in Dodona oder am Apollon-Heiligtum von Delphi erlangen konnte, trat die Erwartung der nahen Wiederkunft Christi, dazu die Prophetenweisheit des aus dem Judentum übernommenen Alten Testaments. Heilige Schriften bürgten nun dafür, wie Göttliches und Menschliches zusammenhing. Man opferte keine Tiere mehr, aber Altäre samt Gebetshandlungen gab es weiterhin. Nach und nach wurde es gute Sitte, als Sünder Beichte abzulegen und Buße zu tun. Den Platz antiker Kraftgestalten wie Herakles, die als göttlich verehrt worden waren, übernahmen Apostel, Märtyrer und andere Vorbilder. Wo zuvor Göttinnen überirdische Macht ausgeübt hatten, wandte man sich jetzt an Maria und weibliche Heilige.

Die bunte Bilder- und Sagenwelt der polytheistischen Antike wurde durch schlichte Symbole ersetzt, allen voran das Kreuz. In feindlicher Umgebung fanden Christen im Zeichen des Fisches zueinander: Die Figur aus zwei Rundbogen signalisierte das griechische Wort »Ichthys« (Fisch) – unter Eingeweihten das Kürzel für »Iesous Christos Theou Hyios Soter« (Jesus Christus, Gottes Sohn, der Erlöser). Aber auch das Bild von Jesus als gutem Hirten, der seine Schafe weiden lässt, war früh verbreitet.

Zu dieser neuen Bildwelt – die auf kultivierte Griechen und Römer ziemlich einfältig wirkte – kam ein radikal anderer Umgang mit der Sprache. Seit Jahrhunderten war Redekunst die Basis nicht nur des politischen Umgangs, sondern der höheren Bildung überhaupt gewesen. Nun sollten plötzlich krude in griechischer Allerweltsprosa verfasste Texte aus dem Vorderen Orient ehrwürdiger sein als alle Tragödien, Versepen und anderen Wortkunstwerke zum Ruhm der olympischen Götterwelt, zudem wahrer, nützlicher und trostreicher als die in langen Schultraditionen ausgefeilte, meist auch für Lebenskunst zuständige Philosophie.

Christliche Intellektuelle, zum Beispiel der wohl in der Gelehrtenmetropole Athen geborene Clemens von Alexandria (um 150 bis um 215), bemühten sich zwar um Vermittlung – so wurde Jesus bei Clemens, wie schon im Johannes-Evangelium, reichlich abstrakt zum »Logos« (Sinn) der Welt. Dennoch klang der »sermo humilis«, die niedere Sprachform der christlichen Texte, in den Ohren hellenistisch kultivierter Menschen noch lange barbarisch simpel.

Anhänger fand die Heilslehre in besseren Kreisen eher, weil sie die Werte des Lebens neu sortierte. An die Stelle des Glücks im Hier und Jetzt trat das Versprechen künftiger Seligkeit, die man nur durch geistliche Sorge um sich selbst, Reinigung von Sünden und klares Bekenntnis erlangen konnte. War bislang die Zukunft weitgehend ungewiss, so lief die Geschichte nun – vor allem in der maßgeblichen Sicht des Apostels Paulus – auf ein Finale zu, bei dem jeder seine moralische Bilanz empfing. Das wirkungsvolle Buch des Kirchenvaters Augustinus über den »Gottesstaat« machte daraus sogar eine strikte Zwei-Reiche-Lehre.

Sobald dieser Rigorismus, von eifrigen Predigern propagiert, nach über drei Jahrhunderten des Misstrauens und der Unterdrückung auch offiziell als Weltsicht anerkannt war, trat man durch das christliche Bekenntnis nicht nur in einen Kreis ein, der sich auserwählt fühlte – buchstäblich als Elite –, man rückte zunehmend auch sozial auf die Gewinnerseite. Stolz verzeichneten christliche Annalen, wie »heidnische« Herrscher sich taufen ließen und damit ihrem Volk ein Beispiel gaben. Region um Region schwenkte die Kultur auf christliche Maßstäbe ein; das war der eigentliche Durchbruch.

Möglich wurde er allerdings nur, weil Ritus und Glaubensleben gut organisiert waren und die Glaubensoberen weder Bündnisse mit weltlichen Herrschern scheuten noch sich selbst allein auf den geistlichen Bereich beschränkten. Noch heute erinnert das Gefüge vor allem der katholischen Kirche in vielem an die Würde des römischen Kaisertums. Nicht einmal die protestantische Ablehnung des Papstregiments in der Reformationszeit hat etwas daran ändern können, dass Gottes Bodenpersonal, wie Spötter den Klerus nennen, als weltliche Institution im Konzert der Mächte eifrig mitspielt.

Heilsaussicht und Machtfrage sind im Christentum enger aneinandergekoppelt als in den meisten anderen Religionen. Auch wenn stets Wege zur Weltflucht offenstanden, behielt das Denken in Hierarchien und weltlichen Ordnungen die Oberhand. Schon das griechische Wort für Gemeinde und dann Kirche überhaupt, Ekklesia, meinte ursprünglich die städtische Volksversammlung. Und in der gewaltigen Jenseitsreise von Dantes »Göttlicher Komödie« (1321) stellt sich nach den immer schrecklicheren Kreisen des Höllentrichters und den nicht minder penibel definierten Sühne-Plateaus des Läuterungsberges heraus, dass auch das Himmelreich in Sphären wachsender Heiligkeit gestaffelt ist.

Straffe Hierarchien und klares Machtbewusstsein sind wichtige Gründe für die Engstirnigkeit der Kirche im 16. Jahrhundert. Ihr fiel ein Giordano Bruno zum Opfer, und sie hatte zuvor schon Martin Luthers Widerspruch ausgelöst, was nach 1517 zur Kirchenspaltung führte. Dennoch: Lange schien diese von der Aura alter Ideologie umwobene Ordnung, die sich auch auf protestantischer Seite schnell mit weltlichen Mächten verbündete, sich selbst zu tragen.

Aber welche Bindekraft haben die christlichen Denkmuster noch angesichts der heute weitgehend vollzogenen Trennung von Kirche und Staat und vor allem der fast vollständig individualisierten Spiritualität? Wie steht das Christentum mit seiner Heilsbotschaft und seinem Gebot der Feindesliebe da in einer Welt, die den »Kampf der Kulturen« (Samuel Huntington) immer schwerer im Zaum halten kann?

Pessimisten innerhalb der Kirchen wie Kritiker außerhalb leiten aus dem konstant hohen Saldo von Kirchenaustritten, dem Rückgang an Taufen oder Trauungen und weiteren Indikatoren ab, dass es bald mit dem Christentum vorbei sein könnte. »Europa wird in der Tat immer säkularer«, beobachtet der Schweizer Religionssoziologe Jörg Stolz. »Seit rund 200 Jahren ist jede Generation weniger religiös als die vorherige.« Er nimmt an, dass sich diese »Auskühlung« in Richtung Atheismus zunächst fortsetzen wird.

Global hingegen sieht die Sache anders aus. »In den nächsten Jahrzehnten wird die Welt nicht säkularer, sondern religiöser«, so Stolz, »weil ärmere Länder religiöser sind als reiche und eine höhere Geburtenrate aufweisen.« Zwar macht der Islam mit seinen 1,8 Milliarden Anhängern momentan die meisten Schlagzeilen, leider vorwiegend dank lautstarker Fundamentalisten und mörderischer Gotteskrieger. Aber das Christentum mit weltweit knapp 2,5 Milliarden Anhängern legt ebenso zu.

Gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern wachsen evangelikale Freikirchen seit Jahrzehnten, die sich von überlieferten Traditionen abkehren und neue, eigene Formen der Spiritualität auf christlicher Grundlage zelebrieren. Auch für Europa trifft das in gemäßigterer Form zu – und fordert die etablierten Kirchen heraus. Auf Kirchentagen oder in Jugendgruppen öffnet sich ein Markt religiöser Möglichkeiten, von denen viele Spontaneität, Gemeinschaftsgeist und kreativen Enthusiasmus jüngerer Christen eher ansprechen als das Althergebrachte.

Eines ist so gut wie sicher: Der bis zum letzten Mausklick verschalteten Gegenwart – naturwissenschaftlich durchleuchtet, modellhaft funktional, einschüchternd hektisch, dabei weitgehend zu Optionen und Sachzwängen ernüchtert –, dieser Welt fehlt den meisten Menschen so offenkundig höhere Sinnwärme, dass Religiöses gefragt bleibt.

Auf christlicher Seite erzwingt das vor allem einen Wandel im Selbstverständnis von Pfarrern, Bischöfen und ihresgleichen. Weniger Donnerwort und Zeigefinger, mehr Lebenshilfe; weniger Dogmenstrenge, mehr individuell seelsorgerische Gesprächskunst – so ließe sich in erster Näherung beschreiben, was von Glaubenshütern heute oft verlangt wird. Allerdings haben auch strenge, charismatische Gurus Zulauf.

Was also mag aus dem Christentum werden? Angesichts der globalen Gemengelage ist es ratsam, sich bewusst zu machen, welch individualistische Kräfte in der alten Religion stecken; welch beachtliche Freiräume den Gläubigen trotz aller Dogmen und Traditionen innerhalb der christlichen Religion bleiben. In jeder Epoche hat die Suche nach dem persönlichen religiösen Erlebnis, das Bedürfnis nach eigener, unmittelbarer Frömmigkeit die kirchlichen Normen überschritten, oft sogar ausgehebelt.

Martin Luther und die anderen Reformatoren sind nur besonders prominente Beispiele dieser Dynamik des Suchens und Hinterfragens. Selbst der Umgang mit Zweifeln gehört zur langen Geschichte fortwährenden Erneuerungsdrangs. Am anschaulichsten wird das gewaltige Spektrum zwischen Mystik und Aufklärertum, Kabbalistik und Existenzialismus an ein paar Beispielen.

Da ist etwa Meister Eckhart, der heute als Mystiker berühmt ist. Zu Lebzeiten jedoch musste der Dominikanermönch sich gegen den Vorwurf behaupten, den im Jahr 1325 zwei Mitbrüder beim Kölner Erzbischof gegen ihn erhoben: Er vertrete ketzerische Ansichten. Der Beschuldigte war nicht irgendwer. Geboren nahe Gotha, zählte Eckhart von Hochheim zur Elite des europäischen Klerus. Er hatte bis 1311 die große Ordensprovinz Saxonia geleitet und mehrfach in Paris, der Hochburg theologischer Studien, als Dozent gewirkt.

Was warf man ihm vor? Äußerungen wie die folgende: »Die nach nichts trachten, weder nach Ehren noch nach Nutzen noch nach innerer Hingabe noch nach Heiligkeit noch nach Belohnung noch nach dem Himmelreich … in solchen Menschen wird Gott geehrt.« Für die Inquisitoren klang das blasphemisch. Dabei ging der Gelehrte in seinen Predigten und Traktaten nur couragiert an die Grenzen des Sagbaren. So nannte er etwa »Abgeschiedenheit« frommer als alle Barmherzigkeit, da sie vom Elend anderer ungetrübt bleibe.

Der Fall kam bis vor den Papst, und das Verfahren lief noch, als Eckhart Anfang 1328 starb. Seither galt der Mönch, der mit meditativer Inbrunst den mystischen Funken der Verbindung von Gott und Mensch besser als frühere Theologen zu erfassen versucht hatte, kirchenamtlich als dubios. Erst viel später wurde seine mutige Sprachkunst angemessen gewürdigt.

Eckhart inspirierte in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Visionäre. Unter ihnen war auch ein weitblickender Kirchenrechtler von der Mosel, der es bis zum Kardinal brachte. Nikolaus Cryfftz oder Krebs, nach seinem Geburtsort Kues meist Cusanus genannt, erklärte, dass der Mensch die Realität nur über »Konjekturen« – postmodern gesprochen: in Form gedanklicher Konstruktionen – begreift; den Grund des göttlichen Seins nannte er versuchsweise das »Nicht-Andere«.

Cusanus beließ es nicht bei Theorien, die sich bis zum Paradox vorwagten. Auf dem Basler Konzil seit 1431 diskutierte er eifrig mit den angeblich ketzerischen Hussiten; als Kuriendiplomat begleitete er den byzantinischen Kaiser 1438 zum Konzil nach Ferrara. Stets auf Verbesserung aus, entwickelte er 1459 den Plan einer »reformatio generalis« der römischen Kirche. Im Alter schrieb er eine »Durchmusterung des Korans«, die den Propheten der Muslime nicht rundweg verteufelte, sondern respektvoll der »Unwissenheit« zieh.

Nicht immer blickten Glaubenserneuerer nach vorn: Nach den grausamen Konfessionskämpfen des 16. Jahrhunderts hofften viele fromme Geister auf Erleuchtung aus der Tradition. So sammelte der Schlesier Christian Knorr von Rosenroth, ein hochgebildeter Pfarrerssohn, wichtige Texte der jüdischen Mystik und brachte sie von 1677 an unter dem Titel »Kabbala denudata« (Enthüllte Kabbala) heraus. Knorr, der sich auch in Alchemie und Medizin auskannte, wollte in den alten Geheimlehren einen göttlichen Urgrund aufspüren helfen, gewissermaßen die Quintessenz allen Glaubens.

Zur großen Glaubenseinigung beitragen wollte ein Jahrhundert später auch Johann Joachim Spalding. Allerdings ging der Lutheraner genau gegenteilig zu Werke. In seiner »Betrachtung über die Bestimmung des Menschen« mied er 1748 jede Berufung auf christliche Dogmen, ja überhaupt auf Tradition; von Kreuz und Erlösung war keine Rede, der Name Jesus fiel nicht. Stattdessen legte Spalding in einem literarisch geradezu eleganten Selbstgespräch dar, »daß meine Natur mich innerlich antreibet«, Weltvertrauen, Rechtlichkeit, den Glauben an einen Schöpfer und schließlich auch die Gewissheit zu entwickeln, dass der Mensch »für ein anderes Leben gemacht« sei.

Konservative Orthodoxe waren empört. Auch fromme Erweckte und Pietisten lehnten ab, wie hier das Christentum zur Lesart aufgeklärter Vernunft heruntergedimmt wurde. War ein Gott, der als stets plausible »Stimme der ewigen Wahrheit … in mir redet«, nicht harmlos und belanglos? Erklärte man den Weltlauf weitgehend aus natürlichen Ursachen, wo blieben Sünde, Strafe und Erlösungsbedürfnis? Wurde Religion so nicht zur bloßen Gewissens-Instanz – und damit zur Privatsache?

Preußens König Friedrich dem Großen kam die neue Sicht gelegen; er machte Spalding 1764 demonstrativ zum Berliner Konsistorialrat. Der religiös liberale Monarch sah in Predigern keine Stellvertreter Christi mehr, sondern schlicht Moralapostel; genau das dachte und schrieb auch Spalding.

Die naheliegende Konsequenz zog der Aufklärer freilich nicht. Sie blieb einem Mann vorbehalten, der in Spaldings Todesjahr 1804 erst geboren wurde. Seit 1839 verfocht Ludwig Feuerbach vehement die Überzeugung, Religion sei bloß »der Traum des menschlichen Geistes«. Genauer: »Die Religion hat ihren Ursprung, ihre wahre Stellung und Bedeutung nur in der Kindheitsperiode der Menschheit, aber die Periode der Kindheit ist auch die Periode der Unwissenheit, Unerfahrenheit, Unbildung und Unkultur.«

Vor allem auf das etablierte Christentum hatte der selbst ernannte »geistige Naturforscher« es abgesehen. Jesu Leiden, die Trinität, Sammlung im Gebet oder die Verehrung der Mutter Gottes: Für Feuerbach waren das Spiegelungen innerer Bedürfnisse des Menschen, Folgen eines letztlich infantilen »Abhängigkeitsgefühls«. Sein Fazit: »Die Gottheit des Menschen ist der Endzweck der Religion.« Aber wozu den Menschen vergöttlichen? Mitleid und Nächstenliebe seien auch ohne christliche Grundierung machbar.

Feuerbach betrieb die Entzauberung mit geradezu prophetischem Ernst und Eifer. Das ließ ihn seltsam vernunftfromm erscheinen – wie noch heute ähnlich missionarische Religionsgegner aus der Naturwissenschaft, etwa Richard Dawkins (»Der Gotteswahn«). Aber die Botschaft drang durch. Karl Marx und seine Adepten beriefen sich auf sie, weitere Christentumskritiker wie David Friedrich Strauß schlossen sich an, und selbst Nietzsches Fanalsatz »Gott ist tot« wäre ohne Feuerbach kaum denkbar.

Inmitten des anbrechenden Industriezeitalters wirkte der alte Erlösungsglaube tatsächlich immer öfter wie ein Saurier aus der Spätantike, der im Licht von Vernunft und wissenschaftlichem Fortschritt ruhig aussterben konnte. Eine verfrühte Diagnose: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde klar, dass das menschliche Wissen nicht aus sich selbst garantiert werden kann. Gegen den marxistischen Materialismus gewendet ließ sich das auch so verstehen: Wo Gott fehlt, bleibt eine triste Leerstelle, »transzendentale Obdachlosigkeit« (Georg Lukács).

Wieder gingen religiös Kundige daran, die christliche Botschaft zu erneuern. Im Alleingang tat dies der reformierte Theologe Karl Barth aus Basel. Er nannte 1922 mit existenzialistischem Pathos Gott den »ganz Anderen«; dennoch oder gerade deshalb schrieb er den Rest seines Lebens an einer riesigen »Kirchlichen Dogmatik«. Wahres Christentum, so Barth, sei »tätige Erkenntnis«.

Inzwischen gilt Barth schon als etwas angegrauter Klassiker. Jede Generation stellt die Glaubensfragen neu, und bis heute eröffnet jede Bewegung auf dem bunten Markt der Spiritualität auch dem Christentum – oder was eben dafür gehalten wird – die Chance einer kleinen Renaissance.

Hartnäckige Verfechter der Vernunft mag das stören; »religiös unmusikalische« (Max Weber) Zeitgenossen wird es kaltlassen. Aber wer dem Menschen auch nur irgendein Verlangen nach höherem Sinn zubilligen mag – und das ist global gesehen die große Mehrheit –, wird wohl auch in Zukunft damit rechnen dürfen, dass das Christentum sich immer wieder neu erfinden, ja entdecken lässt.

TEIL I

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VONDERSEKTEZUM REICHSKULT

© AKG / De Agostini Picture

Oberteil einer Grabstele aus der römischen Kaiserzeit mit dem christlichen Symbol der Fische, griechisch und lateinisch beschriftet

»Das Christentum war subversiv und gefährlich«

Der christliche Glaube gilt meist als westliches Phänomen. Doch anfangs breitete sich die Lehre Jesu vor allem im Osten aus, sagt der Oxforder Historiker Peter Frankopan. Sogar im heutigen Afghanistan gab es Bischöfe.

Das Gespräch führte Johannes Saltzwedel.

SPIEGEL: Professor Frankopan, selten gab es so viel religiöse Vielfalt im Nahen Osten wie in der Antike: Griechisch-römische Götterwelt, ägyptische Kulte, Judentum und vieles mehr. Dann aber stieg von Palästina aus das Christentum auf. Eine konsequente Entwicklung – oder staunt da auch der Fachmann?

Frankopan: Natürlich ist der Vorgang erstaunlich, aus mindestens zwei Gründen: Das Christentum war weit beständiger als andere Glaubensrichtungen, und es erstreckte sich bald auf ein verblüffend großes Gebiet, vor allem nach Osten, sodass es schließlich eine Weltreligion werden konnte.

Aber wie ist das zu erklären? Erlösungsprediger gab es zur Zeit Jesu in Mengen, das haben ja schon die britischen Filmsatiriker der »Monty Python«-Truppe in ihrer frechen Evangelienparodie »Das Leben des Brian« gezeigt. Ein Argument klingt sogar plausibel: Jesus gewann Vorsprung gerade dadurch, dass man ihn kreuzigte; so jemand meinte es offenbar ernst.

Eine reichlich zynische Betrachtungsweise. Ebenso wichtig scheint mir, dass sich sehr früh im Christentum Strukturen bildeten. Das geschieht normalerweise nicht bei gesellschaftlichen Außenseitern. Also: Jesus löste mit seiner Botschaft echten Widerhall aus; die Menschen, die ihm und seiner Lehre folgten, fühlten sich wirklich verwandelt, und das beeindruckte immer mehr Menschen.

Gab es nicht anfangs eher kleine, verstreute Gemeinden, wie das in den Briefen des Paulus um das Jahr55steht, mit oft verschiedenen Lehrschwerpunkten?

Es ist wahr, dass die Quellen oft ein einseitiges Bild zeichnen. So breitete sich das Christentum am Mittelmeer keineswegs sehr rasch aus. Im Osten, in Asien dagegen hatte es schneller Erfolg, bis nach Indien. Um das Jahr 600 findet man von Mesopotamien, zum Beispiel in Basra, bis ins heutige Afghanistan und in Kaschgar eine Menge Erzbischöfe, also schon sehr gefestigte Strukturen.

So etwas wird in westlichen Kirchengeschichten kaum erwähnt. Warum ging es im Osten schneller?

Wir können fast nur spekulieren. Offenbar bildete sich gerade die richtige Mischung von Motivationen heraus, die geeignete Atmosphäre für Bekehrungen. Warum bin ich Historiker geworden? Aus Interesse, aber auch weil ich damit Geld verdiene, weil Zufall und Glück mitgespielt haben, weil mir sinnvoll und nachhaltig erscheint, was ich tue, und so weiter.

Was heißt das auf das Christentum übertragen?

Religionen, die ewiges Leben versprachen, waren offenbar recht attraktiv. Der christliche Lebensstil mit seiner Grundansicht, dass Tugenden belohnt werden, erschien plausibel. Nicht zu stehlen, dem Nachbarn nichts anzutun und dergleichen war kein bloßer Rechtssatz mehr, auch nicht an Belohnung oder Profit geknüpft, sondern wurde zur persönlichen Überzeugung aufgewertet. Christen, die es ernst meinten, erschienen als bessere Menschen, als Menschen mit einem echten Lebenszweck. Natürlich ist auch Gruppendruck dabei, natürlich braucht es eine kritische Masse, um die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen. Aber das gelang eben erstaunlich oft. Übrigens, rund um das Mittelmeer scheint sich das Christentum vornehmlich durch Frauen verbreitet zu haben, speziell Frauen von hohem gesellschaftlichen Status. Sie fanden damit offenbar eine Stimme, gesellschaftlich wie spirituell. Im Mittleren Osten spielte ein anderer Faktor mit: Hier war der Blick weiter, man handelte mit Kulturen in aller Welt, war neugierig auf kluge Weltanschauung.

Wollen Sie andeuten, es wurde auf einmal modisch, Christ zu sein?

Das ginge zu weit – schließlich riskierte man in den frühen Jahrhunderten einiges. Christen waren Verfolgungen ausgesetzt, nicht nur im römischen Kaiserreich, auch unter den Sassaniden, die in Persien den Zarathustra-Glauben recht gewaltsam durchsetzten. Aber tatsächlich machten »Heilige«, die ihren Glauben – auch und gerade als Askese – lebten, weithin Eindruck. Strenge und Disziplin, gerade solche antiindividualistischen Merkmale genossen Achtung. Ähnliches ist heute interessanterweise am radikalen Islam zu beobachten.

Nun verlangte nicht nur das Christentum Selbstzucht, auch Juden, Zoroastrier, Buddhisten und andere taten das.

Mag sein, aber von wem? Das Christentum trat ausdrücklich als nicht elitär auf. Dadurch stand es über den sozialen Schranken, ja jenseits von ihnen. Es war subversiv und intern gemeinschaftsbildend zugleich, deshalb erschien es den Kaisern ja als so gefährlich. Und gewandt im Anpassen war es auch – zum Beispiel kennen wir ein Dokument, worin der Heilige Geist mit der Heiligkeit eines Buddha parallelisiert wird.

Ganz zu schweigen von hellenistischen Denkern wie Clemens von Alexandria um das Jahr200, die dem Christentum mit seiner dem Volksglauben nahen Bildlichkeit philosophische Würde verliehen und es so auch für die Gebildeten akzeptabel machten.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass das Christentum eine sehr menschliche Religion ist, dass es den Gläubigen auf seiner Lebensreise begleitet, dass es Mitteltöne zulässt, während es bei Zarathustra und Buddha doch eher um ein Schwarz-Weiß, um Reinigung vom irdischen Ballast und Leiden geht.

Konstantin der Große, der Gründer Konstantinopels und erste Imperator, der das Christentum als Glaubensrichtung anerkannte, war selbst bis kurz vor seinem Tod Verehrer des Sol invictus, huldigte also der Sonne als oberster Gottheit. War in solchen Kulten der Monotheismus angelegt?

Ach, das ist eher eine Streitfrage für Professoren. Sol invictus war eine von vielen Gottheiten im erstaunlich reichen, pluralen Spektrum antiker Religiosität. Wichtiger ist doch, dass die Evangelien bezeugten, Christus sei der Sohn Gottes. Und der wird hingerichtet! Und er überwindet den Tod! Dieser Sieg in der Niederlage rührt emotional an, er verbindet die Menschen viel existenzieller mit der Gottheit als der antike Glaube, wo Halbgötter, Dämonen und zahllose andere Zwischenwesen agieren. Alles in allem: Das Christentum scheint einfach ein attraktives Gesamtkonzept angeboten zu haben.

Spielten aber nicht auch säkulare Faktoren eine Rolle? In Ihrer Weltgeschichte erzählen Sie, wie im Kaukasus das Christentum aufblühte, weil man sich so von den verhassten Sassaniden noch besser abgrenzte.

Man zeigte eben im Glauben seine Identität. Auch später erweist sich die armenische Christenheit dann als besonders eigenwillig.

Was antworten Sie auf die alte Streitfrage, ob das Christentum den Fall des Römischen Reiches mitverschuldet hat?

Das bezweifle ich. Die Völkerwanderung war eine Kettenreaktion, sie wurde durch Klimaveränderungen ausgelöst, die zu einem kriegerischen Druck von Steppenvölkern aus dem Nordosten führten. Als das Imperium unter den Angriffswellen in die Defensive geriet, war es im Inneren schon christlich; die Kaiser hatten sich ja für das Christentum entschieden, gerade weil sie es als stabilisierenden Faktor betrachteten.

Der Jesus-Glaube war in den frühen Jahrhunderten keineswegs normiert. Weiß man von Synkretisten, die mehreren Religionen zugleich oder einem Mischmasch huldigten?

Wenig – in der Regel achtete man auf Exklusivität. Aber es gibt Inschriften und Münzen aus dem Reich von Kuschan, dessen Zentrum in Nordwestindien und im Hindukusch lag, die zeigen, dass der Herrscher, obwohl er prinzipiell den Buddhismus förderte, sich als Erlöser, ja als Gottessohn darstellen ließ. Das mag politisch ein kluger Schachzug gewesen sein, aber natürlich ist es ebenso sehr eine spirituelle Aussage, in der offenbar christliche Elemente aufgegriffen sind.

Fanden Christenverfolgungen auch im Osten statt?

Ja, es gibt eine Menge Märtyrergeschichten, überwiegend aus der Sassanidenzeit. Wir müssen uns klarmachen, was das heißt: Die Menschen waren damals sicher geistig nicht beschränkter als heute. Sie entschieden sich meist sehr bewusst, einer Religion zu folgen. Fragen wie »Worin finde ich Seelenfrieden, welcher Lehre vertraue ich?« konnten existenziell sehr wichtig sein.

Aber es waren doch nicht alle tief religiös?

Natürlich nicht. Die meisten im Perserreich werden das Glaubensproblem etwa so betrachtet haben, wie wohl heutige Europäer mehrheitlich denken: Es kümmerte sie kaum. Immer aber gab es lautstarke Minderheiten, die ihre Botschaften verkündeten und unablässig im Streit lagen.

Sie haben die Konkurrenz der Religionen einen Wettlauf genannt …

Ja, es gab große Konkurrenz um Anhängerschaft. Wenn zum Beispiel der Schah die Christen schützte, war das ein Durchbruch.

Gerade in den ersten Jahrhunderten traten neue, oft dualistisch geprägte Religionssysteme auf wie der Manichäismus oder die Verehrung des Stiertöter-Heilands Mithras. Musste das Christentum inmitten solcher Konkurrenz nicht unentwegt sein Profil schärfen?

Wenn es um Erlösung und den richtigen Weg zu Gott geht, dann gibt es kein Ungefähr. Alles muss stimmen: Was sagte Jesus wirklich? Wie ist ein Bibelspruch oder eine dogmatische Vorschrift zu verstehen? Oder jenseits der heiligen Schriften: Unter welchen Umständen darf jemand wieder heiraten? Darf ich meinen Sklaven auspeitschen? Wenn ein Kind vor der Taufe stirbt, kann es dennoch in den Himmel kommen? So fingen die Bischöfe an, in Streitschriften und Konzilien über Fragen zu debattieren, die uns heute manchmal furchtbar kleinkrämerisch vorkommen und selbst für Fachleute nicht leicht verständlich sind.

Riskierten sie damit nicht, viele Gläubige zu verschrecken?