Das Cottage über den Klippen - Joanna Hines - E-Book
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Das Cottage über den Klippen E-Book

Joanna Hines

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Beschreibung

Eine Wahrheit, zu dunkel, um sie einem Lebenden anzuvertrauen … Der Roman »Das Cottage über den Klippen« von Joanna Hines jetzt als eBook bei dotbooks. Ein malerisches Cottage an der Küste Cornwalls … doch die Idylle trügt: Alles deutet darauf hin, dass die gefeierte Lyrikerin Kirsten Waller ihrem Leben hier ein Ende gesetzt hat, einzig ihre Tochter Sam glaubt nicht daran. Warum hat ihre Mutter in den letzten Wochen solch ein Geheimnis um die Arbeit an ihrem neuen Gedicht gemacht – und warum ist es nun spurlos verschwunden, zusammen mit ihrem Tagebuch? Mehr und mehr beschleicht Sam der Verdacht, dass der Schlüssel zu Antworten in der Vergangenheit ihrer Familie liegt. Doch um das herauszufinden, muss Sam nach London zu ihrem Vater reisen, einem skrupellosen Star-Anwalt, dem sein makelloses Image schon immer wichtiger war als die Wahrheit. Unerwartete Hilfe erhält Sam von Mick, dem Junior-Anwalt seiner Kanzlei – aber darf sie ihm wirklich trauen … oder treibt jeder in ihrer Nähe ein doppeltes Spiel? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Spannungsroman »Das Cottage über den Klippen« von Joanna Hines. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 505

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Über dieses Buch:

Ein malerisches Cottage an der Küste Cornwalls … doch die Idylle trügt: Alles deutet darauf hin, dass die gefeierte Lyrikerin Kirsten Waller ihrem Leben hier ein Ende gesetzt hat, einzig ihre Tochter Sam glaubt nicht daran. Warum hat ihre Mutter in den letzten Wochen solch ein Geheimnis um die Arbeit an ihrem neuen Gedicht gemacht – und warum ist es nun spurlos verschwunden, zusammen mit ihrem Tagebuch? Mehr und mehr beschleicht Sam der Verdacht, dass der Schlüssel zu Antworten in der Vergangenheit ihrer Familie liegt. Doch um das herauszufinden, muss Sam nach London zu ihrem Vater reisen, einem skrupellosen Star-Anwalt, dem sein makelloses Image schon immer wichtiger war als die Wahrheit. Unerwartete Hilfe erhält Sam von Mick, dem Junior-Anwalt seiner Kanzlei – aber darf sie ihm wirklich trauen … oder treibt jeder in ihrer Nähe ein doppeltes Spiel?

Über die Autorin:

Schon in ihrer frühen Jugend begann Joanna Hines, mit Leidenschaft zu schreiben. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie auch Kurzgeschichten und Artikel in »The Guardian« und »The Literary Review«; unter dem Namen Joanna Hodgkin schreibt sie außerdem Biografien. Die Autorin verbrachte viele Jahre mit ihrer Familie in Cornwall; heute lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt London.

Bei dotbooks veröffentlichte Joanna Hines auch ihre Spannungsromane »Das Geheimnis von Chatton Heights«, »Die Frauen von Briarswood Manor«, »Die Schatten von Glory Cottage«, »Das Erbe von Grays Orchard«, »Das einsame Haus am Fluss« und »Das Schweigen der alten Villa«.

Ebenfalls erschien bei dotbooks ihre historische Familiensaga »Die Rosen von Cornwall« mit den Romanen:

»Sturmjahre – Band 1«

»Schicksalslied – Band 2«

»Sehnsuchtsleuchten – Band 3«

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2021

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »The Murder Bird« bei Simon & Schuster, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Abschiedslied« bei Lübbe.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2006 by Joanna Hines

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Helen Hotson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-338-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Joanna Hines

Das Cottage über den Klippen

Roman

Aus dem Englischen von Veronika Dünninger

dotbooks.

Für John, Casey, Nicholas und Anna

Kapitel 1

Es war, als würde es in einem Traum passieren.

Fünf Wochen bevor Kirsten Wallers Leiche in einem Cottage am Rand der Klippen in Cornwall gefunden wurde, räumte Grace Hobden das Mittagessen weg, vergewisserte sich, dass ihre drei Kinder auf dem Klettergerüst am Ende des Gartens spielten, und ging dann ins Haus, um ihren Ehemann zu ermorden. Paul Hobden, ein großer, speckiger Wal von einem Mann, schlief die Folgen von zu viel Alkohol zum Mittagessen aus. In einer Ecke des Zimmers lief im Fernsehen leise ein Schwarz-Weiß-Film mit reichlich Säbelgerassel. Während ein lachender Douglas Fairbanks Jr. mit tödlicher Präzision sein Schwert durch die Luft schwang, nahm Grace Hobden ein Sabatier-Filetiermesser von dem Regal in ihrer Küche, ging ins Wohnzimmer und rammte die Klinge, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, in die weiche Erhebung der Brust ihres Ehemanns.

In diesem Augenblick musste er verzweifelt versucht haben, sich aufzusetzen, doch schon der erste Stich durchdrang seine rechte Herzkammer und war tödlich: Grace war gelernte Röntgenassistentin und kannte sich aus mit Anatomie. Der zweite Stich traf seinen Brustkorb in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel, sodass eine beträchtliche Menge Blut auf den karierten Bezug des Sofas, ihren neuen olivgrünen Teppich und vermutlich auf Grace selbst quoll. Ein dritter Stich war nicht erforderlich.

Nachdem sie geduscht und sich umgezogen hatte, sammelte Grace ihre Kinder – Angus, acht, Matthew, sieben, und Susan, die erst drei war – ein und sagte ihnen, sie würden einen Ausflug unternehmen. Sie fuhr mit ihnen ans Meer, vierzig Meilen weit, wo sie einen schönen Nachmittag verbrachten, in der Maisonne Strandkricket spielten, Sandburgen bauten und Eis schlemmten. Gegen Abend rief sie die Polizei an, die schon auf sie wartete, als sie nach Hause zurückkehrte.

»Ich konnte es nicht mehr ertragen«, sagte sie zu ihnen, während sie die blutüberströmten Überreste ihres Ehemanns betrachteten. »Es war, als würde es in einem Traum passieren.«

Raph Howes blätterte den Stapel Unterlagen mit wachsendem Unglauben durch. Sein Hemd war schweißdurchnässt, und das nicht nur wegen der spätsommerlichen Hitze. Was in aller Welt dachte sich sein Büroleiter eigentlich? Wie alle anderen in der Kanzlei wusste Dermot durchaus, dass Raph in den zwei Monaten seit Kirstens Tod im Mittsommer Rechtssachen mit familiärem Bezug vermieden hatte. Und wer wollte es ihm verübeln? Während er die Fotos von Paul Hobdens blutüberströmtem Körper betrachtete, gruselig und leicht lächerlich zugleich, war es Kirstens Leiche, die er immer wieder vor seinem geistigen Auge sah. Immer noch schön, selbst im Tod, mit dieser kühlen skandinavischen Blässe lag sie nackt da, ein Bein über den Rand der Badewanne gestreckt, den Kopf zurückgeworfen, nirgends eine Spur von Blut. Aber trotzdem tot. Entsetzlich und unwiderruflich tot.

Wütend stand er auf und begann, zwischen den Schreibtischen in seinem Zimmer auf und ab zu laufen. Selbst vor dem Tod seiner Noch-Ehefrau hatte er solche Rechtssachen immer verabscheut. Ein Mord in der Familie war zu schmutzig, zu persönlich, zu schmerzlich. Man musste sich bloß diese drei unschuldigen Kleinen vorstellen, die im Garten herumtollten, während zwanzig Meter weiter ihre Mutter einen blutbeschmierten Vorhang über ihre Kindheit zog. Falls diese armen kleinen Würmchen überhaupt eine Kindheit gehabt hatten.

Ereignisse dieser Art trafen keine normale, alltägliche Familie. Ausgeschlossen.

Raphs Kehle wurde trocken, während sich die Auswirkungen bemerkbar machten. Schweiß rann ihm über die Wangen. Seine Nasenlöcher nahmen einen schwachen, aber unverwechselbaren Geruch von Verbranntem wahr; irgendein hirnloser Schwachkopf musste ein offenes Feuer entfacht haben.

Er beugte sich vor, schob die Unterlagen über seinen Schreibtisch und rief nach Dermot, damit er sie entfernte. Niemand kam.

Ein Foto rutschte aus dem Stapel. Mit Anfang dreißig war Grace Hobden auf eine unauffällige Art hübsch; die Frau, die ihren Ehemann tödlich aufgespießt hatte, hatte ein rundliches Gesicht mit stämmigen Zügen. Nichts an ihrem Aussehen ließ vermuten, dass sie die Art Frau war, die unter gar keinen Umständen mit einem scharfen Messer und einem schlafenden Ehemann allein gelassen werden sollte.

Aber andererseits sahen Mörder, wie Raph wusste, selten danach aus.

Sie schien verloren und verwirrt, und das aus gutem Grund. Er starrte das Foto aus sicherer Entfernung an. Wie lange hatte es gedauert, fragte er sich. Dreißig Sekunden? Zwei Minuten? Wie lange dauert es, die unwiderrufliche Tat zu begehen, die das Leben einer ganzen Familie für immer verändert?

Früher hätte er vielleicht darüber reden können. Mit Kirsten.

Zu der Zeit, als es noch okay für sie beide war, über Mord zu reden.

»Dermot!«, brüllte er noch einmal und trat ans Fenster. Keine Luft hier drinnen. Das war das Problem. Wo war der Mann? Warum schaffte er dieses verdammte Zeug nicht einfach fort?

Raph fuhr mit einem dicken Finger unter seinen Kragen. Schweiß rann über seine Knöchel. Er konnte mit Stress nicht mehr so gut umgehen wie früher. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, dieses unermüdliche, beharrliche Bellen eines Hundes, der angekettet ist oder gefangen oder verzweifelt … ein Bellen, als ginge es um sein Leben.

Der Fall hing einzig und allein davon ab, welchen Eindruck Grace Hobden vor Gericht erwecken würde. Aus nahe liegenden Gründen war es immer schwer, Notwehr oder keinen Vorsatz zu beweisen, wenn das Opfer im Augenblick des Angriffs schlief – schwer, aber nicht unmöglich. Am aussichtsreichsten würde der Ansatz sein, dass sie über Monate und Jahre hinweg durch Gewalt und Missbrauch dazu getrieben worden war, bis sie auf einmal, an einem windigen Maimorgen, einfach durchdrehte.

Ein Satz aus ihrer Aussage hatte sich in seinem Gehirn festgesetzt.

»Ich konnte es nicht mehr ertragen …«

Was ertragen? Paul Hobdens Eltern und seine Schwester hatten erklärt, er sei sanft wie ein Lamm – aber das war schließlich zu erwarten, oder? Familien sehen nie der Wahrheit ins Auge und sagen aus: »Er war ein Monster und hatte es verdient zu sterben«. In ihrer Aussage zeichnete Grace das Bild eines Sadisten und Schlägers. Sie hatte die Blutergüsse an ihren Beinen als Beweis. Brandwunden von Zigaretten an ihrer linken Hand. Sie sagte, am schwersten zu ertragen sei die psychische Folter gewesen.

Psychische Folter.

Raphs Herz hämmerte, und das Atmen fiel ihm schwerer. In den Räumen dieser Kanzlei war es im Sommer immer unerträglich heiß. Er hätte gern das Fenster geöffnet, aber er wollte nicht noch mehr von diesem verdammten Rauch hineinlassen. Und wo zum Teufel kam der überhaupt her?

»Dermot! Herrgott, Mann!«

Warum brachte nicht irgendjemand diesen verdammten Hund zum Schweigen?

Dermot Mercer spülte und schloss die Toilettentür in dem Augenblick hinter sich, als Raph zum dritten Mal brüllte. Dermot hatte sehr klare Ansichten über Anwälte, die ihn anschrien, allesamt negativ. Seine Züge, die, selbst wenn er in guter Stimmung war, denen eines ängstlichen Hamsters ähnelten, wurden noch verkniffener und versunkener. Aber er setzte sich rasch in Bewegung. Raphs drittes Brüllen erzeugte Eindringlichkeit: der Adrenalinkick der Panik.

»Was gibt's, Mr. Howes? Stimmt irgendetwas nicht?«

Eine rhetorische Frage. Er sah aus, als würde überhaupt nichts stimmen. Als junger Mann hatte Raph Howes das dunkle Haar und gute Aussehen besessen, das in einem anderen Jahrhundert vielleicht einem Piraten gut zu Gesicht gestanden hätte. Seit er in sein fünftes Lebensjahrzehnt eingetreten war, hatte er zugenommen, sein Kiefer war kräftiger geworden unter dem blauen Schatten von Stoppeln, und seine physischen Bewegungen hatten sich verlangsamt. Geistig jedoch, vor allem wenn er es vor Gericht mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun hatte, war er so agil und gefährlich wie eh und je.

Weshalb es umso schockierender für Dermot war, ihn so zu sehen.

»Sie sehen nicht gut aus, Mr. Howes.«

»Bestens … alles bestens … schaffen Sie nur diese verdammte Rechtssache fort!«

Doch in dem Augenblick, als Dermot die Hand ausstreckte, um den Stapel mit den Unterlagen zu entfernen, schlug Raph mit der Faust auf den Tisch. Dermots Hand streifte die feinen Härchen auf Raphs Fingern, und er zog sie zurück, als sei er gestochen worden.

Raphs Augenbrauen prallten zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Wer hat das geschickt?«

»Alan Caulder von Fergal & Smith. Er war sehr beharrlich.«

»Sie wissen doch, dass ich gesagt habe, keine Mordfälle. Nicht mehr seit …«

Er musste den Satz nicht zu Ende führen. Dermot wusste, was er meinte. Seit Kirstens Tod. Obwohl niemand anders beteiligt gewesen war, war auch das eine Art Mord gewesen. Selbstmord – die etwas andere Bezeichnung für den Freitod. Dermot hätte etwas sensibler sein sollen: Nach zwei Monaten litt der Mann noch immer. »Bob Holles hat mir das Versprechen abgenommen, dass Sie es sich ansehen würden. Er ist überzeugt, Sie hätten eine geniale Hand, seit Sie in diesem einen Fall von schwerer Körperverletzung eine Bewährungsstrafe für den Mandanten rausgeholt haben. Ich nehme es trotzdem wieder mit.«

»Nein. Warten Sie.« Raph ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen. Er atmete schwer.

Dermot trat an die Fenster, um sie zu öffnen. Es war stickig hier drinnen; das war das Problem.

»Nicht!«, krächzte Raph.

»Aber ich dachte …«

»Von diesem verdammten Rauch werde ich noch ganz heiser.«

»Rauch?« Dermot schnupperte an der Luft: Autoabgase, warmer Staub von den Gehsteigen, Pollen vielleicht. Aber eindeutig kein Rauch.

»Irgendein Schwachkopf hat hier ein offenes Feuer entfacht …« Raphs Stirnrunzeln vertiefte sich, als ihm sein Irrtum bewusst wurde.

Dermot sagte leise: »Middle Temple ist nicht unbedingt bekannt für seine offenen Feuer, Mr. Howes«, bevor er hinzufügte: »Vermutlich ist irgendjemand mit einer Zigarre vorbeigelaufen.« Er riss das Fenster weit auf, und schmutzige Sommerluft wehte mit einem Windstoß herein.

»Ich muss es mir eingebildet haben«, sagte Raph. Er rieb sich mit der flachen Hand über den Mund, bevor er murmelte: »Und der Hund …«

»Hund? Was für ein Hund?«

Raph verlagerte sein Gewicht, wich seinem Blick aus. »Nur so ein verdammter Hund.« Er sah so verwirrt aus, dass Dermot verlegen wurde, als hätte er ihn unerwartet nackt überrascht. Raph sagte: »Hören Sie, jetzt, wo die Unterlagen schon hier sind, können Sie sie mir auch dalassen. Ich werde sie mir kurz ansehen.«

»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt …?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Lassen Sie es mich einem der Mädchen geben. Das dürfte genau das Richtige für Selina sein.«

»Ich sagte, ich würde es mir ansehen, okay? Lassen Sie das Zeug einfach hier.«

Wenn Raph Howes in diesem Ton sprach, stritt sich niemand mit ihm. Dermot zog sich zurück und ging wieder in sein Büro, aber er war beunruhigt. Dermot konnte es sich nicht leisten, dass ihm der Mann zusammenklappte: Raph brachte mehr Geld ein als die meisten anderen Anwälte in der Kanzlei zusammen. Dermot hätte vorsichtiger sein sollen. Ab jetzt würde er, egal, was für Überredungskünstler Anwälte waren, dafür sorgen, dass Raph eine Schonkost aus bewaffnetem Raubüberfall und Korruption vorgesetzt bekam. Vielleicht mit ein klein wenig Brandstiftung zur befreienden Komik.

Wenn er gewusst hätte, was sein Büroleiter sich dachte, dann hätte Raph ihm völlig recht gegeben. Er brauchte Grace Hobden so sehr wie ein Loch im Kopf. Oder im Herzen.

Ihre Geschichte hatte all die Zutaten, die er am meisten verabscheute: die gemütliche häusliche Umgebung; verletzliche Kinder, die die Verlierer sein würden, egal, was passierte; eine schmutzige Sezierung familiärer Innereien – igitt, er müsste verrückt sein, den Fall zu übernehmen. Dermot hatte recht: Eine seiner Kolleginnen würde die Gelegenheit beim Schopfe packen, sie zu verteidigen.

Am vernünftigsten würde es sein, Dermot zu sagen, dass sich bei ihm ein Fieber ankündigte und er die Unterlagen zu dem Baseler Betrugsfall mit nach Hause nehmen und dort an ihnen arbeiten würde. Zu Hause – das hieß Lola, die mit ihm über Beinenthaarung mit Bienenwachs oder das Liebesleben ihrer Freundinnen reden würde, und er würde sich für ein paar Stunden in den glückseligen Belanglosigkeiten seiner Freundin verlieren können. Jung, mit einem vollkommenen Körper und einem auffällig geringen Verstand, war Lola in einer Zeit der Krise in sein Leben gedriftet und dort geblieben, da sie eine unvermutete Bastion gegen den Schmerz bot, der ihn fast zugrunde gerichtet hätte. Sei klug. Grace Hobden war nichts für ihn.

Er beobachtete, mit Distanz und leiser Neugier, wie sich seine Hand ausstreckte und die Hobden-Unterlagen näher zu ihm heranzog.

»Es war, als würde es in einem Traum passieren.«

Absoluter Wahnsinn, diesen Fall zu übernehmen. Und es war allgemein bekannt, dass Raph Howes ein überaus rationaler Mann war.

Seine Kehle war noch immer heiser. Von dem Rauch. Nur dass da keiner war. Ebenso wenig wie ein Hund.

Er breitete die Unterlagen fächerförmig auf seinem Schreibtisch aus.

Es waren die Details, die einem immer so nahe gingen. Die Tatsache, dass Paul Hobden geboxt hatte, als er bei der Marine war, und mit seinen beiden Söhnen noch am Tag vor seinem Tod Boxen geübt hatte. Die Tatsache, dass Grace Hobden den Nachmittag vor ihrer Festnahme damit verbracht hatte, Strandkricket zu spielen und Sandburgen zu bauen, als sei alles in bester Ordnung. Als sie später dazu befragt wurde, sagte sie aus, sie wollte, dass die Kinder etwas Spaß hatten, bevor »sich die Dinge ein bisschen zuspitzten«. Die Tatsache, dass zehn Tage zuvor ihr Vater gestorben war. Vielleicht könnte er das zu ihrer Verteidigung verwerten.

Aber, großer Gott, bevor sich die Dinge ein bisschen zuspitzten? In Augenblicken äußerster Krise, wenn man erwarten würde, dass sich der menschliche Geist eine Tirade von Shakespeare'scher Größe einfallen lassen würde, was bekam man da? Schiere Banalität. Es war, als würde es in einem Traum passieren. Und dabei ging es nicht nur um die stummen, unsterblichen Grace Hobdens dieser Welt. Wie hatte er denn selbst reagiert, als er von Kirstens Tod erfuhr? »Oh nein!« Nur das. Oh nein. Ein sofortiges und knappes Leugnen der Tragödie. Oh nein. Die beiden herzzerreißendsten Wörter der englischen Sprache.

(Es gab natürlich noch andere. Es tut mir leid, Daddy. Ich wollte nicht … bitte nicht.)

Vor ein paar Jahren hatte Raph einmal einen jungen Mann verteidigt, der meinte, einen vorbeikommenden Fremden mit dem Pfeil einer Armbrust töten zu müssen. Als er gefragt wurde, warum, erwiderte er seelenruhig: »Mir gefiel nicht, wie er mich ansah.«

Ja, nun ja … Wenn Leute durch die dünne Kruste der Zivilisation in die Tiefen des Grauens darunter schlingern und schlittern, wie erbärmlich ist dann die Sprache, die ihren Sturz begleitet.

Grace Hobden, fiel ihm auf, wurde von einem Nachbarn als eine Frau von wenig Worten geschildert. Die für sich blieb, natürlich.

Er kannte den Typ. Behalt es für dich.

Er musste eine Möglichkeit finden, das ebenfalls zu ihrer Verteidigung zu verwerten.

Was für eine Verteidigung? Was dachte er sich überhaupt? Das Blut pumpte durch seine Adern. Denk – pump – nicht einmal – pump – darüber nach – pump pump.

Zu spät. Er hatte bereits darüber nachgedacht.

Eine seltsame Stille umhüllte ihn, eine tiefe, lähmende Stille, wie Schneefall, die Stille, die auf eine Katastrophe folgt.

Es war der falsche Mord, natürlich. Das hatte er von Anfang an gewusst. Es war immer der falsche Mord.

Er nahm sich einen Notizblock, zückte einen Füllfederhalter aus seiner Brusttasche und begann, sich in seiner kleinen, eleganten Handschrift Notizen zu machen. Das Gesetz mit all seinen Gewissheiten war ein Zufluchtsort, der ihn nie im Stich ließ; das unerträgliche Chaos des menschlichen Schmerzes wurde auf ein juristisches Spiel reduziert. Ein Spiel, das zu gewinnen er zufälligerweise gut verstand. Raph Howes hatte es weit gebracht.

Und während er schrieb, fragte er sich: Hatte die Familie Hobden eigentlich einen Hund?

Ein kleiner Junge läuft über das Gras. Langes, nasses Gras, das seine nackten Knie durchfeuchtet. Ein unerträglicher Schmerz regt sich in seiner Brust. Angst und Schmerz, und er ist außer Atem, nachdem er so weit gelaufen ist. Das ganze Stück von der Straße her. In seinen Armen ein Totgewicht – und in seinem Herzen Entsetzen.

Oben vor ihm das Haus. Wo Daddy warten wird.

»Es tut mir leid, Daddy. Ich wollte nicht … Sei nicht böse, Daddy, bitte nicht …«

Kapitel 2

Ich musste es tun.

An der Rückwand von Raphs Haus, auf halber Höhe zwischen dem ersten und dem zweiten Stockwerk, gab Sam fast auf.

Das Sicherheitslicht hatte sich eingeschaltet, und sie fühlte sich ausgeliefert wie ein Seestern auf einem Felsen. Sie hatte darauf gesetzt, dass das Badezimmerfenster über der Küche angelehnt sein würde, hatte aber kein Glück. Es war fest verschlossen und von innen abgesperrt. Sie wagte es nicht, Glas zu zerbrechen, bis sie außerhalb des Sicherheitslichts war, was hieß, dass sie noch höher hinauf musste.

Sechs Meter über dem Boden, und sie wurde von einem heftigen Schwindel erfasst. Ihr Herz hämmerte. Das war keine dieser praktischen Theater-Kletterpflanzen, an denen Romeos hochkraxeln, leicht wie auf einer Leiter; diese hier konnte jeden Augenblick nachgeben. Die Pflastersteine unter ihr würden für eine harte Landung sorgen. Sie stellte sich vor, wie sie fiel, wie ihr Schädel auf Raphs geschmackvollem Yorkstein-Patio zerschellte.

Konzentrier dich. Denk nicht darüber nach.

Sie streckte die Arme weit aus, krallte sich mit jeder Faust eine Hand voll Kletterpflanze und presste die Wange gegen den sommerwarmen Stein des Gebäudes. Der Schwindel verlieh ihr die Illusion, sie könnte sich wie ein junger Vogel einfach von der Mauer abstoßen und fliegen. Tu es nicht. Atme durch. Bleib ruhig. Lass dir Zeit.

Jetzt blieb ihr sowieso keine andere Wahl mehr, da der Abstieg stets schwerer ist. Außerdem stand zu viel auf dem Spiel, um ans Aufgeben zu denken.

Auf der anderen Seite des Hauses dröhnte gleichmäßig der Verkehr auf der Holland Park Avenue. Selbst um zwei Uhr morgens ebbte er nie ab.

Grimmig, langsam, jeden Zweig prüfend, bevor sie ihm ihr Gewicht anvertraute, schob sich Sam Stück für Stück höher. Ihr Rucksack stieß gegen ihr Rückgrat, beeinträchtigte ihr Gleichgewicht. Der Hammer, den sie sich in den Gürtel gesteckt hatte, bohrte sich in ihre Rippen. Jetzt war sie mit Kopf und Schultern aus dem Sicherheitslicht. Jetzt mit dem Körper.

Als sie das nächste Mal nach oben griff, streifte sie mit den Knöcheln der rechten Hand die Unterseite eines steinernen Vorsprungs. Ein Fenstersims. Lieber Gott, lass dieses Fenster offen sein, nur einen Spalt.

Sie schob sich nach links, sodass sie sich dem Fenster von der Seite nähern würde.

In dem Augenblick, als sie die Hand danach ausstreckte, brach an der Mauer auf einmal ein entsetzlicher Lärm los, und kreischende Federn huschten an ihrer Wange vorbei. Sie ließ los, schwebte einen Augenblick lang in der Luft, die Muskeln schlaff unter dem Schock, und starrte in den Lichtkreis unter ihr. Sie stürzte fast, doch im letzten Augenblick schnappte sie sich mit den Fingern einen Zweig und klammerte sich an ihm fest, während ihr Herz hämmerte und die erschrockene Amsel kreischend in die Nacht davonflog.

Verdammter Vogel … keuchte sie … er hätte sie fast getötet.

Eine kalte Schweißschicht der Angst bedeckte ihren Körper, während sie sich an die Kletterpflanze klammerte, durch schiere Willenskraft gehalten, bis ihr hämmerndes Herz ruhig genug für den letzten Klimmzug war.

Das Sicherheitslicht ging aus. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit.

In ihren Albträumen, wenn sie eine Kluft im Boden überspringen musste, war es immer dunkel, noch dunkler als hier. Blinde Augen, die ins Schwarze sahen.

Kletter einfach weiter.

Langsam, unter Schmerzen zog sie sich hoch, bis sie mit der Hüfte auf einer Höhe mit dem Fenstersims war. Sie wagte kaum zu atmen, während sie mit den Füßen auf dem Zweig Halt suchte, sich mit der linken Hand ein Büschel der Kletterpflanze schnappte und den Arm ausstreckte, um das Fenster zu testen. Fest verschlossen. Natürlich. Sieh der Tatsache ins Auge, Sam; sie sind übers Wochenende weggefahren. Was hattest du denn erwartet? Dass sie für Einbrecher den roten Teppich ausrollen würden?

Jetzt fummelte sie an dem Hammer herum, um ihn aus ihrem Gürtel zu befreien. Bevor sie aufgebrochen war, hatte sie den Kopf des Hammers mit einem Baumwollschal umwickelt und ihn mit einer Schnur befestigt. Um das Geräusch zu dämpfen. Sie hoffte bei Gott, dass es klappen würde.

Ein leiser, dumpfer Aufschlag, als der Hammer auf das Glas traf. Kein Bruch. Sie versuchte es noch einmal, schlug etwas kräftiger zu. Noch immer nichts. Beim dritten Mal packte sie eine rasende Wut auf alle Hämmer und widerspenstigen Fenster, und sie holte mit dem Arm weit aus, vergaß das Zerren des Rucksacks an ihren Schultern, vergaß die Zerbrechlichkeit des Zweiges, an dem sie sich festhielt. Als der Hammer durch das Glas schlug, klammerte sie sich mit der linken Hand noch immer an der Kletterpflanze fest, die nicht mehr mit der Mauer verbunden war, und baumelte frei vor dem Gebäude. Der Rucksack schlingerte von ihren Schultern, und rings um sie herum war nichts als schwarze Luft. Doch im letzten Augenblick bekam sie das Fenstersims zu fassen, ließ den Hammer nach innen fallen, schnitt sich am Glas die Handfläche auf und klammerte sich fest, klammerte sich so fest, als hinge ihr Leben davon ab, suchte mit der runden Schuhspitze ihrer Turnschuhe nach einem Halt und stemmte sich schließlich unter Schmerzen, unter unsäglicher Anstrengung Zentimeter für Zentimeter weiter hoch, bis sie innen den Fensterriegel fand, ihn öffnete und sich dann über das Sims zog und unter einem Regen von Glasscherben in das noch tiefere Dunkel drinnen fiel.

Geschafft.

Sie verlor fast das Bewusstsein.

Aber nein, noch nicht geschafft. Der Einbruch war erst der Anfang.

Ein anhaltendes Piepsen, das immer lauter wurde, ertönte aus der Diele. Sam hatte weniger als vier Minuten, um den Alarm auszuschalten.

Sie nahm den Hammer und wollte ihn eben schon zurück in ihren Gürtel stecken, als ihr auffiel, dass irgendetwas Warmes und Klebriges von ihrer Hand tropfte. Blut. Blut auf ihrer kostbaren Musikerinnenhand. Keine Zeit, jetzt darüber nachzudenken. Sie zog den Baumwollschal von dem Hammer, knüllte ihn in ihrer rechten Hand zusammen und stillte den Blutfluss, während sie die Treppe hinunterrannte, zu der Alarmanlage neben der Haustür.

Vielleicht hatte Raph den Code ja nie geändert. Sie tippte Kirstens Geburtstag ein: 4-5-52, gefolgt von wahllosen Ziffern, aber das Piepsen wurde immer lauter. Ab jetzt konnte sie nur noch raten. Sie versuchte es mit Raphs Geburtsdatum, aber der Lärm nahm nur noch zu. Jeden Augenblick würde der Alarm nun auf dem Polizeirevier von Notting Hill ausgelöst werden. Verzweifelt tippte sie die ersten vier Ziffern von Raphs Telefonnummer ein.

Es wurde lauter.

Die nächsten vier Ziffern und dann …

Stille.

Herrliche Stille, die in den Ohren kribbelte.

Die Abwesenheit von Lärm war spürbar wie ein metallischer Geschmack auf ihrer Zunge. Eine ganze Minute lang stand sie da, ohne sich zu rühren, und lauschte auf das stille Rauschen des Verkehrs auf der Vorderseite. Diese Häuser standen hinter dichtem Immergrün ein Stück von der Straße entfernt, hohe Zufluchtsorte der Stille.

Sie hielt ihre Armbanduhr in das schimmernde Licht, das von der Straße durch das Oberlicht fiel. Sie hatte noch über drei Stunden bis zum Sonnenaufgang, das hieß, sie konnte sich Zeit lassen. Triumph durchströmte sie, und sie fühlte sich zu allem fähig – und auf einmal auch sehr hungrig. Na ja, wenigstens war der Kühlschrank in diesem Haus immer gut gefüllt. Sie schlurfte in die Küche im Souterrain, wo der meterlange Küchentresen aus kühlem Granit behaglich im Dunkeln schimmerte, und öffnete die Tür des riesigen Kühlschranks. Wie sie erwartet hatte, gab es genügend Vorräte für mehrere Festmahle: kalte Ente und Käsesorten, Oliven und Pastete, Räucherlachs und Wachteleier. In der Tür standen mehrere Sorten Obstsaft, Raphs allgegenwärtige Champagnerflaschen, ein paar Flaschen Chablis und drei Sorten Mineralwasser.

Sam schloss die Kühlschranktür entschieden. Schließlich hatte sie ihren Stolz. Es war nicht so, dass sie eine gewöhnliche Diebin war. Sie würde nichts von Raphs Dingen anrühren, nicht einmal das Wasser in den Flaschen. Sie war nur hier, um sich zu nehmen, was ihr gehörte.

Jetzt musste sie es nur noch finden.

Raphs Haus in Holland Park hatte ein erhöhtes Erdgeschoss, ein riesiges Wohnzimmer, das sich auf der linken Seite von vorn bis nach hinten erstreckte. Rechts neben der Diele führte eine Tür in ein großes Esszimmer. Raphs Arbeitszimmer befand sich hinter diesem Raum, konnte aber nur durch das Wohnzimmer erreicht werden. Sam holte die Taschenlampe aus ihrem Rucksack und knipste sie an, während sie sich nach links wandte und hineinging. Der fahle Lichtstrahl beleuchtete Gegenstände, die früher einmal ein Teil ihres Alltagslebens gewesen waren.

Sie hatte dieses Zimmer geliebt, seit sie es das erste Mal gesehen hatte, als sie vor sieben Jahren nach London gekommen war, als verwirrte und rebellische Fünfzehnjährige. Es waren nicht nur sein Ausmaß und Luxus, die sie beeindruckt hatten: die beiden riesigen weißen Sofas und der antike Perserteppich, so groß wie ein Tennisplatz, die Vasen, in denen stets Lilien standen, das Porzellan aus dem achtzehnten Jahrhundert und die umwerfenden zeitgenössischen Gemälde. Es war die Gesamtheit all dieser Dinge und noch etwas mehr: Es war das, was dieses Zimmer über Raph selbst aussagte. Das hier war ein Raum, der Selbstbewusstsein atmete, ein Zimmer, das von einem Mann geschaffen worden war, der seinen eigenen Status in der Welt kannte. Raphs Haus, und vor allem dieses Zimmer, hatte Sam Selbstvertrauen gegeben, als sie es am dringendsten benötigte.

Instinktiv trat sie an den Konzertflügel neben den hohen Fenstern, die hinten auf den Garten hinausgingen. Sie hob den Deckel an und berührte lautlos die Tasten, und vor ihrem geistigen Auge sah sie Raphs Finger, kurz und entschlossen wie der Mann selbst, die eine einfache Melodie improvisierten, während er ihr aufmunternde Worte zurief.

Mit seiner üblichen Mischung aus Arroganz, harter Arbeit und rascher Auffassungsgabe hatte Raph Klavierspielen gelernt, damit er sie bei ihrem Celloüben begleiten konnte. »Wenn ich dieses verdammte Stück aus dem Ärmel spielen kann, dann kannst du zumindest deinen Teil richtig hinbekommen!«, hatte er gebrüllt. Und sie hatte ihn hinbekommen, dank ihm. Ohne seine Ermunterung und Entschlossenheit hätte sie es vermutlich nie auf die Musikhochschule geschafft. Das hieß, sie stand in seiner Schuld, und zwar tief.

Dieser Dreckskerl.

Mit einem leisen, dumpfen Aufschlag klappte sie den Klavierdeckel zu und begann mit ihrer Suche. Abgesehen von den Bücherregalen gab es nicht allzu viele Orte in diesem Zimmer, um Dinge zu verstecken, aber sie würde sich trotzdem umsehen.

Na ja, hier war es nicht. Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, es im Wohnzimmer zu finden.

Raphs Arbeitszimmer war der wahrscheinlichste Ort. Eine hohe Doppeltür verband die beiden Zimmer. Nach dem Gedenkgottesdienst für Kirsten hatte sie weit offen gestanden; jetzt war sie geschlossen. Sams rechte Hand hielt noch immer den blutdurchtränkten Schal umklammert, daher benutzte sie die linke, um die Tür zu öffnen. Eine kaum spürbare Luftveränderung markierte den Übergang zwischen den beiden Zimmern: Bienenwachs und der schwere Geruch von Lilien wich dem Geruch von Leder und einem Hauch von Zigarren. Kein öffentliches Zimmer mehr, sondern privat und zutiefst männlich.

Hier gab es keinen Mangel an Versteckmöglichkeiten. Sam legte die Taschenlampe beiseite und schaltete die Stehlampe an, dann suchte sie rasch den lederbezogenen Schreibtisch ab, aber ohne Erfolg. Zwei ganze Wände verschwanden hinter Bücherregalen und Lagerschränken. Es wäre leicht, ein hellblaues, ledergebundenes A4-Notizbuch von der Art, wie Kirsten sie immer benutzte, in eines der Bücherregale zu stecken. Einem beiläufigen Betrachter würde es niemals auffallen.

Sam würde jeden Zentimeter des Bücherregals systematisch absuchen müssen, links oben angefangen. Sie zog die Bücherleiter über den Boden und begann, langsam mit dem Finger über die Buchrücken auf dem obersten Regal zu gleiten.

Sie hatte das dritte Brett im zweiten Regalabschnitt erreicht, als sie auf einmal innehielt. Erstarrt.

Jeder Nerv in ihrem Körper bebte vor Anspannung, während sie angestrengt versuchte, die neuen Geräusche zu deuten. Kein Verkehr. Stimmen.

Stimmen draußen, die näher kamen. Die Haustür ging auf und wieder zu. Gedämpftes Gelächter.

Sie schauderte. Raph? Aber er hatte doch gesagt, er würde nach Basel fliegen, um einen Mandanten zu treffen. War die Reise abgesagt worden? Hatte er es sich anders überlegt und war früher zurückgekommen?

Die Stimme einer Frau, leise und heiser. Sam fluchte lautlos. Diese Stimme hätte sie überall erkannt: Lola. O Gott! Diese verdammte, nutzlose Lola musste natürlich genau dann auftauchen, wenn sie nicht erwünscht war. Was hatte sie hier jetzt überhaupt verloren? Sam dachte, sie sei mit Raph nach Basel geflogen.

Ein Mann war bei Lola. Vielleicht hatte Sam sich in den Terminen geirrt, und sie waren doch nicht übers Wochenende weggefahren. Raph und seine neue Freundin waren abends ausgegangen und jetzt …

Aber es war nicht Raph. Es war die Stimme eines Mannes, das schon, aber sie war heller, ein Tenor anstelle von Raphs kräftigem Bariton. Eine Stimme, die Sam nicht erkannte.

Was zum Teufel ging hier vor?

Eben noch rechtzeitig knipste Sam das Licht aus und schloss in aller Eile die Tür, die ins Wohnzimmer führte. Was sollte sie jetzt tun? Verzweifelt sah sie sich um. Als ob sie eine Wahl hätte. Die Fenster in Raphs Arbeitszimmer waren, wie alle anderen im Erdgeschoss und im Souterrain, mit gusseisernen Gittern versehen und undurchdringlich. Der einzige Fluchtweg verlief zurück in der Richtung, aus der sie gekommen war.

Ein dünner Lichtstrahl erschien unter der Tür.

»Ha! Ich kann gar nicht glauben, dass Raph vergessen hat, die Alarmanlage einzuschalten!« Lolas Stimme war lallend, aber triumphierend. »Und das, nachdem er deswegen ständig an mir herumgenörgelt hat. Warte nur, bis ich ihm das sage! Und du kannst mein Zeuge sein. Hm …« Eine kurze Stille trat ein, und als Lola das nächste Mal sprach, war ihr Tonfall leiser, heiserer. »Das war schön.«

Wieder Stille. Und dann: »Ich sollte gehen«, sagte der Mann.

»Hey, du bist doch eben erst gekommen. Lass uns etwas trinken. Ich bin nachts nicht gern allein hier. Es ist mir unheimlich, ehrlich gesagt.«

»Na ja. Ich bin Raphs Referendar, weißt du. Ich will nicht …«

»Nur ein Glas oder zwei. Er hat immer irgendetwas Gutes im Kühlschrank. Warte hier. Ich hole uns eine Flasche. Hoppla.«

»Immer mit der Ruhe. Bist du sicher, dass du noch etwas trinken willst?«

»Ach Gott. Schätzchen, nach allem, was ich hatte, werde ich von Champagner höchstens wieder nüchtern werden. Hoppla, schon wieder. Diese Plateauschuhe bringen mich noch um. So, jetzt geht's besser. Ich hole den Schampus. Lauf nicht weg.« Lolas unmelodisches Singen verhallte die Treppe hinunter. Sam biss die Zähne zusammen. Lola war bestenfalls reine Platzverschwendung; im Augenblick war sie eine Last.

Warum folgst du ihr nicht einfach?, bat Sam im Stillen den Fremden auf der anderen Seite der Tür. Es würde dir gefallen in der Küche. Er bewegte sich, kam näher. Hatte er vor hereinzukommen? Auf Zehenspitzen schlich Sam auf Raphs massiven Schreibtisch zu, der groß genug war, um sich dahinter zu verstecken. Ihr linker Turnschuh quietschte protestierend, und auf einmal wurde die Tür zum Wohnzimmer weit aufgerissen, und Licht strömte herein.

»Was zum Teufel …«

Ihr Gegenüber sah in jeder Hinsicht ebenso schockiert aus wie sie.

Es war leicht nachzuvollziehen, wieso Lola ihn anbaggerte. Selbst zerzaust und abgekämpft nach einer langen Party war der junge Mann, der erwähnt hatte, er sei Raphs Referendar, attraktiv. Wirres braunes Haar und große braune Augen, die sich vor Verblüffung weiteten. Und der Kiefer, der ihm bei ihrem Anblick heruntergeklappt war, war schmal und kräftig.

Er kniff die Augen zusammen, holte einmal Luft und wandte sich um, um Lola zu rufen.

»Halt!«, zischte Sam. »Lola darf nicht wissen, dass ich hier bin.«

»Lola? Sie kennen sie?« Er wandte sich wieder zu ihr um.

»Natürlich kenne ich sie.«

»Wer zum Teufel sind Sie dann? Was tun Sie hier?«

»Ich …« Sie zögerte. Es ging Sam in letzter Zeit gegen den Strich, Informationen preiszugeben, egal wem, aber erst recht einem Fremden gegenüber, und vor allem einem Fremden, der zufällig ein Freund von Lola war.

Er sagte: »Woher soll ich wissen, dass Sie keine Einbrecherin sind?«

»Seien Sie nicht albern.«

»Ach ja? Und was tun Sie dann in Raphs Arbeitszimmer? Ohne Licht? Um zwei Uhr morgens?«

»Ich … warten Sie, ich kann es erklären.«

Der Schock hatte ihn ernüchtert. Er sah sie interessiert an. »Na, dann schießen Sie los.«

»Ich habe etwas gesucht.«

»Im Dunkeln?«

»Etwas, was mir gehört.«

»Warum dann die Heimlichkeit?«

»Es gibt einen guten Grund.«

»Und der lautet …?«

Sam hörte Lola aus der Küche hochrufen.

Sam sagte: »Das ist etwas Persönliches.«

»Ich glaube Ihnen nicht. Ich werde die Polizei rufen.«

»Dann stehen Sie wie ein Idiot da.« Sam holte einmal tief Luft. »Und ich glaube auch nicht, dass Raph sich sehr darüber freuen würde. Ich bin Kirstens Tochter.« Seine Miene blieb unverändert, daher fügte sie hinzu. »Sie wussten es nicht? Kirsten war seine Frau. Sie ist gestorben.«

»Ah.« Er zog sich ins Wohnzimmer zurück und schloss die Tür in dem Augenblick hinter sich, in dem Lola wieder ins Zimmer trat. Sam hielt den Atem an. Ah. Was sollte ›Ah‹ heißen? Dass er ihr glaubte und nichts sagen würde oder dass er plaudern würde?

»Was hattest du denn da drinnen zu suchen?«, wollte Lola wissen.

»Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Dachte, es könnte ein Einbrecher sein«, sagte der Mann.

»Und?«

Eine kurze Pause, dann hörte Sam ihn sagen: »Ich glaube, ich hab's mir nur eingebildet.«

Sie atmete erleichtert auf.

»Na bitte. Was habe ich dir gesagt?« Lola war wieder triumphierend. »Dieses Haus macht einem Angst und Bange.«

Kapitel 3

Obwohl er und Kirsten bereits seit neun Monaten getrennt gelebt hatten, als sie starb, schien das Haus in London, in dem sie zusammen glücklich gewesen waren, der naheliegendste Ort zu sein, an dem Freunde und Verwandte zusammenkamen, um ihr Hinscheiden zu betrauern.

Es hatte geregnet, als Sam das letzte Mal hier gewesen war. Erst vor zwei Wochen, aber schon jetzt schien Mitte August einer anderen Ära anzugehören. Raphs riesiges Wohnzimmer war voll von Trauernden gewesen, die nach Kirstens Gedenkgottesdienst mit nach Hause gekommen waren, die Frauen in schwarzem Leinenstoff und grauer Seide, die Männer in dunklen Anzügen. Die Doppeltür zu Raphs Arbeitszimmer war weit aufgerissen gewesen, und auch dort hatten Leute dicht beisammengestanden. Hinter den Fenstern fiel grüner Regen gleichmäßig auf den Sommergarten.

Und alle waren ausgesprochen nett zu Sam.

Und taktvoll. Es war besonders wichtig, dass die Leute taktvoll waren. Es hatte noch keine Untersuchung ihres Todes gegeben, daher wurde das Wort »Selbstmord« nicht laut ausgesprochen, aber es hing zwischen den Gästen wie Rauch, glitt in Nischen des Schweigens, flutete in die Stille, die ein nicht zu Ende geführter Satz hinterließ. Arme Sam. Es muss umso schlimmer für sie sein, zu wissen, wie ihre Mutter gestorben ist … Es ist besonders hart, wenn … Man hätte doch nie gedacht, dass Kirsten der Typ war, der … so etwas tut. Arme Sam. Glaubst du, sie wird damit klarkommen?

Arme Sam. Arme Sam wollte ihr Glas gegen die geschmackvollen Wände schleudern und schreien, dass sie keine Ahnung hatten, wovon sie redeten.

Arme Sam fragte sich, wieso zum Teufel sie bei dieser Farce überhaupt mitspielte. Sie sollte einen Schlussstrich ziehen und gehen, in diesem Augenblick, aber sie blieb, da hier Leute waren, die sich aufrichtig um ihre Mutter gesorgt hatten, und auch wenn sie sich hinsichtlich der Umstände von Kirstens Tod täuschten, fühlte sich Sam in gewisser Weise doch von ihnen unterstützt, und etwas vom Geist ihrer Mutter schwebte im Raum, wenn sie von ihr sprachen.

Leute wie Raphs Schwester Miriam und ihr Mann, Johnny Johns. Sam hatte sich mit Johnny auf Anhieb verstanden. Das tat jeder. Als sie bei Raph und Kirsten eingezogen war, war er in ihr Leben gestürmt wie ein ganzjähriger Weihnachtsmann. Er war groß und großzügig und honigfarben und hatte eine Stimme wie Glühwein und ein Lachen, das die Stimmung hob, egal, was los war. »Darling Sam«, sagte er und drückte sie in einer Umarmung an sich, die der eines Bären würdig gewesen wäre, »du bist so tapfer und so wunderbar. Du musst uns in Wardley besuchen kommen, wann immer du willst. Stimmt's, Miri?«

Miriam hielt sich an seinem Arm fest und nickte. Sie war eine blassere, weniger kantige Version ihres Bruders und schien ständig erschöpft von der Anstrengung, im Schlepptau ihres überschwänglichen Ehemanns zu hängen. Johnny war mit jedermann befreundet, und Miriam schien keine eigenen Freunde zu haben – es war irgendetwas Unnahbares und Verbissenes an ihrer Art, was die Leute abschreckte –, aber an dem Nachmittag nach Kirstens Gedenkgottesdienst war selbst sie freundlich zu Sam. Distanziert und selbstgenügsam wie immer, aber bemüht, freundlich zu sein.

Sogar Raphs Mutter, Diana, die nicht berühmt für ihr Einfühlungsvermögen war, tätschelte Sam den Arm und sagte: »Es ist schwer, Sam. Sehr schwer. Aber glaub mir, du wirst darüber hinwegkommen.« Sie wandte den Blick rasch ab, beängstigt von dem, was in ihren Augen eine überschwängliche Emotion war. Bei Diana erzeugten die kräftige Nase und die erschrockenen Augen des Howes-Clans ein fast papageienhaftes Aussehen.

Trevor Clay, Kirstens Londoner Agent, war unverblümter. Als guter Freund hatte er Kirsten geschätzt und sich von Anfang an für ihr Werk eingesetzt. »Eine doppelte Tragödie«, sagte er zu Sam, nachdem er ein paar Gläser von Raphs Weih getrunken hatte. Zu dem Zeitpunkt waren die meisten Trauergäste bereits gegangen, und nur der harte Kern war noch übrig. Er seufzte und sagte: »Eine solch wundervolle und einzigartige Frau – na ja, das wussten wir ja alle. Aber ihr Werk. Sie war im Begriff, zur Höchstform aufzulaufen. Die nächste Sammlung wird die beste bisher sein.«

»Gott, es ist so entsetzlich«, sagte Johnny kläglich. Seine Stirn war von Furchen durchzogen, wie von Wellen gekräuselter Sand. »Wenn man bedenkt, was sie alles hätte erreichen können.« Er schüttelte den Kopf.

Sie saßen jetzt da, eine intime kleine Gruppe, erschöpft von den Emotionen des Tages. Raph lockerte seine Krawatte und schenkte ihnen allen nach. Seine kantigen Züge waren straff vor Anspannung. Sam war schwindelig, jedoch eher von einem tiefen Unglauben, dass das hier tatsächlich geschah, als vom Alkoholkonsum, obwohl das vermutlich ebenfalls eine Rolle spielte.

Trevor sagte zu Sam: »Aber ich kann nicht glauben, dass sie ihr Tagebuch vernichtet haben soll. Das sieht ihr einfach nicht ähnlich. Wenn wir bloß wüssten, was in ihr vorging, als … als …« Wieder ein Satz, der in der Luft hängen blieb. »Bevor sie starb«, führte er ihn schließlich kläglich zu Ende.

»Sam und ich haben danach gesucht«, sagte Raph. »Als wir hinuntergefahren sind. Wenn es ein Tagebuch gegeben hätte, dann hätten wir es gefunden. Sie hatte nicht so viel Zeug in dem Cottage.«

Sam sagte: »Ihr Tagebuch war nicht das Einzige, was wir nicht finden konnten.«

Trevor seufzte. »Ich verstehe das einfach nicht.«

»Warum?«, fragte Johnny. »Was fehlte denn sonst noch?«

»Ein Gedicht«, sagte Trevor. »Es sollte das Titelgedicht ihrer nächsten Sammlung werden.«

»Hat sie das ebenfalls vernichtet?«, fragte Johnny.

»Sie muss es getan haben«, sagte Raph. »Es war nicht bei ihren Unterlagen.«

»Ich hatte einen Teil davon gesehen«, sagte Trevor. »Sie hat gerade daran gearbeitet. Aber sie wollte es mir nicht dalassen. Sie muss das einzige Exemplar vernichtet haben.«

»Gott, das ist so schrecklich«, sagte Johnny. Miriam schob eine Hand unter seinen Arm, und er tätschelte sie geistesabwesend.

Sam sagte: »Wisst ihr, wie das Gedicht hieß?« Und als niemand antwortete, sagte sie leise: »Der Mördervogel.«

Schweigen trat ein, nach ein paar Augenblicken unterbrochen von Diana, die sagte: »Was für ein seltsamer Name für ein Gedicht. ›Der Mördervogel.‹ Ganz schön makaber, wirklich.«

Makaber?, dachte Sam. Oder prophetisch?

»›Der Mördervogel‹«, sagte Johnny, während er über den Titel nachdachte. »Ich frage mich, worum es da wohl ging.«

»Ich mich auch«, sagte Sam.

In der Stille, die folgte, hörten sie alle, wie die Haustür auf- und wieder zuging und leichte Schritte die Diele durchquerten. Eine junge Frau, die höchstens ein paar Jahre älter als Sam sein konnte, stand im Türrahmen. Sie sah aus, als sei sie eben aus den Seiten eines Hello!-Magazins getreten, mit lauter blonden Strähnchen im Haar, Lipgloss über einem Schmollmund und unglaublich langen Beinen. »Bin ich zu früh gekommen? Ich bin so lange weggeblieben wie möglich.«

Es war das erste Mal, dass Sam Lola begegnete. Sie wusste, dass Raph eine Freundin hatte, hätte es sogar von ihm erwartet. Er hatte es schon immer gehasst, allein zu sein, und seit Kirsten im letzten Oktober gegangen war, hatte es einige gegeben. Aber trotzdem war es ein Schock für sie, sie ausgerechnet jetzt zu sehen, wo Kirsten noch so deutlich anwesend im Raum war. Sie war nicht die Einzige. Unbehagen breitete sich aus.

Dann sagte Raph: »Lola. Ich hatte dich nicht so früh zurückerwartet.«

»Na ja. Jetzt bin ich hier. Willst du mir nichts zu trinken anbieten?«

Sie trat ein, und Raph stellte sie vor. Sie sah gelangweilt aus, voller Ungeduld, dass sie alle endlich gehen würden. Auf Johnny und Trevor war der Effekt elektrisierend. Sie sprangen beide auf, überboten sich in ihrem Eifer, ihr einen Drink einzuschenken, Platz anzubieten, sich vorzustellen. Lola besaß die Art unverdünnter Sexualität, die einen Haufen trauernder Männer in mittleren Jahren in ein Rudel liebestoller Kater verwandeln konnte. Als er den Arm ausstreckte, um ihr Feuer zu geben, warf Johnny Raph einen anerkennenden »Gute Arbeit!«-Blick zu. Kirsten, die im Zimmer in gewisser Weise anwesend gewesen war, als sie über sie sprachen, trat in den Hintergrund.

Sam erhob sich. »Ich muss gehen«, sagte sie.

»Hast du das mit den Schlüsseln geklärt?«, fragte Lola Raph. Sie hatte Sam bis jetzt auf keine Weise zur Kenntnis genommen.

»Lola«, sagte Raph. »Ich glaube, jetzt ist wirklich nicht der richtige Augenblick.«

»Schlüssel?«, fragte Sam.

»Genau«, sagte Lola kühl, die Augen auf Raph gerichtet. »Jetzt, wo es nicht mehr dein Zuhause ist, erscheint es mir nicht angebracht, dass du noch einen Satz behältst. Niemand sonst hat einen.«

Sam zögerte, gab Raph Zeit, sich einzuschalten. Er blickte gequält und verlegen, aber er erwiderte Sams Blick nicht, und er sagte nichts.

Sie sagte: »Raph?«

Er sagte: »Du kannst sie mir später wiedergeben, wenn dir das lieber ist.«

Brillant, dachte Sam. Keine Heucheleien mehr.

»Ich kann es jetzt gleich erledigen.« Sie griff in ihre Tasche, zückte ihren Schlüsselring und löste zwei Schlüssel aus ihm. »Behalt die verdammten Dinger.« Sie warf sie auf die Glasplatte eines Tischs.

»Sam«, sagte Raph, »du musst deswegen nicht gleich überreagieren.«

»Scheiß auf dich. Ich bin ganz ruhig.«

»Also wirklich«, sagte Diana. Sie hasste jede Art von Konflikt und war stets schnell dabei, ihn mit einem sicheren Rückzug in die Normalität zu ersticken. Sie sagte: »Ich weiß ja nicht, wie es mit den anderen steht, aber ich könnte einen Happen vertragen.«

»Ich mache uns ein paar Rühreier«, sagte Raph. »Sam, dafür bleibst du doch noch, oder? Es gibt Räucherlachs.«

»Nein, danke.« Sie stand schon an der Tür, die in die Diele führte. Sie sagte: »Da hier nicht mehr mein Zuhause ist, werde ich nur noch rasch meine letzten Sachen holen.«

Auf der Treppe holte Raph sie ein. »Sam, bitte. Ich will mich nicht mit dir überwerfen. Du weißt doch, dass du hier jederzeit willkommen bist. Es geht nur darum, dass du vorher anrufst. Es tut mir leid wegen Lola, aber … na ja, im Augenblick ist die Situation ein bisschen heikel.«

»Heikel?« Sie lachte fast. »Schlechte Wortwahl, Raph.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Es ist mir egal, was du meinst.«

Sie rannte weg, in den zweiten Stock hoch, wo ihr eigenes Zimmer gewesen war, und zog einen Karton unter dem Bett hervor. Fotos hauptsächlich. Sonst war nichts wichtig, aber es war zu viel, um alles auf einmal zu tragen.

Als sie wieder herunterkam, zeigte ihr ein rascher Blick durch die Tür ins Wohnzimmer, wie Lola Hof hielt und Trevor und Johnny darum wetteiferten, wer am witzigsten und charmantesten war. Diana, nur froh, dass die Harmonie wiederhergestellt war, lächelte nachsichtig über das Trio. Stimmen in der Küche im Souterrain verrieten den Aufenthaltsort von Raph und seiner Schwester. Jetzt, wo sie keine Schlüssel mehr hatte, musste Sam ihm sagen, dass sie wegen des Rests ihrer Sachen noch einmal zurückkommen würde. Sie ging hinunter.

Auf halbem Weg hörte sie Miriam: »Du hast es, stimmt's?«

Raph: »Sei nicht albern.«

Aber Miriam blieb beharrlich: »Steht darin irgendetwas über … die Familie?«

»Ich hab's dir doch gesagt. Ich habe … ah, Sam.« Er warf ihr einen Blick zu – wie viel hatte sie gehört? »Willst du es dir nicht anders überlegen und bleiben, um einen Happen zu essen?«

Nein, sie würde sofort gehen. In dem Fall bestand er darauf, ihr ein Taxi zu rufen. Auf die Weise konnte sie auch gleich all ihre Kisten mitnehmen. Er würde sie ja selbst fahren, aber er hatte zu viel getrunken. Trevor und Johnny ebenfalls. Sam stritt sich nicht. Sie konnte es kaum erwarten, von diesem Haus mit seinen Erinnerungen an gute Zeiten und seinen gegenwärtigen Kompromissen und Lügen wegzukommen.

Aber … Du hast es, stimmt's?, hatte Miriam gesagt.

Raph war ungehalten gewesen. Ein sicheres Zeichen, dass er log

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sam wiederkommen würde.

Und das hatte sie getan, wobei sie Kopf und Kragen riskiert hatte, als sie außen an dem Gebäude hochkletterte – dank Lolas Beharren wegen der Schlüssel und Raphs erbärmlicher Weigerung, sich auf Sams Seite zu schlagen. Oder vielleicht war es ihm auch nur recht gewesen, Lola die Drecksarbeit für ihn erledigen zu lassen. Vielleicht hatte er seine eigenen Gründe, weshalb er nicht wollte, dass Sam frei in seinem Haus herumlief. Vielleicht hatte er Lola im Voraus entsprechend abgerichtet.

Sam rieb sich die Augen. Manchmal fragte sie sich, ob sie im Augenblick überhaupt rationale Entscheidungen traf oder ob das Grauen des Todes ihrer Mutter ihr Urteilsvermögen beeinträchtigt hatte. Aus welchen Gründen auch immer, jetzt saß sie in Raphs Arbeitszimmer fest, außerstande, sich auf eine gründliche Suche zu begeben, während Lola sich mit einem gut aussehenden jungen Mann amüsierte, der allem Anschein nach ein Referendar in Raphs Kanzlei war. Sam durchzuckte der Gedanke, dass nichts sie davon abhalten konnte, in die Party des vergnügten Pärchens zu platzen und ihre Suche fortzusetzen – nichts bis auf ihren Stolz, der sich weigerte, irgendetwas zu tun, was auch nur annähernd so aussehen könnte, als würde sie Lola um Hilfe bitten.

Sie würde einfach warten müssen.

Nebenan knallte ein Champagnerkorken, und Lola kreischte.

»Oh, sieh dir das an. Überall auf meinem Kleid!«

»Entschuldige.«

»Du kannst es ablecken, wenn du willst.«

»Nein, danke.«

»Wie du willst. Ich ziehe es sowieso aus.«

»Hey …«

»So ist es besser. Mmm. Machen wir's uns gemütlich.«

»Hör zu, Lola. Ich sollte wirklich gehen.«

»Hör auf zu quatschen. Jeder andere würde glauben, dass ich versuche, dich zu verfuhren. Bild dir nicht so viel auf dich ein, Micky Boy. So, zufrieden jetzt?«

Sams Augen hatten sich allmählich an das Halbdunkel in Raphs Arbeitszimmer gewöhnt. Sie stellte erleichtert fest, dass ihre Hand nicht mehr blutete. Sie dehnte die Finger – nichts passiert, Gott sei Dank – und stopfte den blutverschmierten Schal in ihre Tasche. Leise schnürte sie ihre Turnschuhe auf und zog sie aus; dann schlurfte sie zu dem Bücherregal und glitt mit einem Finger über die Buchrücken. Ein ledergebundenes A4-Notizbuch würde mit Sicherheit leicht zu finden sein, selbst in diesem Licht.

Nebenan schlug die Stimmung um.

»Mmm, mir wird schwindelig.«

»Dann leg dich schlafen.«

»Ja. Aber nicht hier.«

»Ich helfe dir nach oben.«

»Jetzt redest du Klartext.«

»Und dann werde ich gehen.«

»Oh. Weißt du was, Mick? Du kannst ein echter Spielverderber sein.«

Sam hörte sein leises Lachen. »Hör zu, Lola. Du bist vielleicht eine Frau, die einen Mann umhaut, aber was mich betrifft, so wird es mich umhauen, wenn ich anfange, mich mit dir einzulassen. Zufälligerweise arbeite ich für Raph, hast du das vergessen? Und auf meinem Lebenslauf wird es nicht so toll aussehen, wenn ich aus der Kanzlei gefeuert werde, weil ich meinem Chef Hörner aufgesetzt habe.«

»Du machst vielleicht ein Theater.«

»Bringen wir dich ins Bett.«

»Mm. Na schön.«

Mehr Gemurmel, Geschlurfe und leises Gekicher. Geräusche, die die Treppe hoch verschwanden. In dem Augenblick, in dem ihre Stimmen verhallt waren, knipste Sam ihre Taschenlampe wieder an und setzte ihre Suche fort. Sie ging akribisch vor, tastete hinter den Büchern bis nach unten, sah unter den Möbeln nach und unter den Ordnern in den beiden Aktenschränken mit den vier Schubladen.

Raphs Schreibtisch hob sie sich bis zuletzt auf. Während sie zwischen seinen alten Scheckheften und einer Handvoll Briefe wühlte, verspürte sie zum ersten Mal Gewissensbisse wegen ihres Tuns. Keine Zeit für Skrupel. Die Schritte eines Mannes kamen die Treppe herunter. Automatisch schaltete Sam die Taschenlampe aus, aber das Zimmer wurde heller. Es war fast Zeit zu gehen.

In dem Augenblick, in dem sie die unterste Schublade schließen wollte, legte sich ihre Hand um etwas Kaltes und Metallisches, ganz hinten, unter einem Stapel wattierter Briefumschläge. Sie zog es heraus.

Eine Pistole.

Sie passte genau in ihre Handfläche. Sam wusste nichts über Handfeuerwaffen, aber diese hier sah nicht unbedingt nach einem Spielzeug aus.

Sie hatte eben noch Zeit, sie wieder dorthin zu legen, wo sie sie gefunden hatte, als die Tür aufging und Lolas Begleiter dieses Abends – Mick oder Micky oder wie immer er hieß – wieder auftauchte. Sein Hemd war aufgeknöpft, und er sah noch zerknautschter aus als zuvor. Es stand ihm gut.

Er grinste und begann, sich das Hemd in die Jeans zu stecken.

»Sie ist hinüber«, sagte er. »Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?«

»Wenn ich es gefunden hätte, wäre ich nicht mehr hier.«

»Sagen Sie mir, was es ist, dann kann ich Ihnen helfen.«

»Warum würden Sie das tun wollen?«

Mick begann allmählich, sich dieselbe Frage zu stellen. Die Einbrecherin, die behauptete, Kirsten Wallers Tochter zu sein, und lächerlich viel Zeit eingepfercht in Raph Howes' Arbeitszimmer zugebracht hatte, war ungefähr so freundlich wie ein Kaktus. Vielleicht war Neugier der Grund dafür. Es musste irgendeine Erklärung dafür geben, warum dieses magere Mädchen mit dem kurz geschnittenen dunklen Haar und den nackten Füßen in Raphs Haus lauerte, während er mit einem Betrugsfall in Basel beschäftigt war.

Er sagte: »Sie sind misstrauisch, was? Fast wie jemand, der ein schlechtes Gewissen hat. Vielleicht habe ich Ihnen Ihre Geschichte etwas vorschnell abgenommen. Ich denke, ich werde mich doch bei Raph vergewissern. Tragen Sie immer einen Hammer an Ihrem Gürtel bei sich?«

»Das ist nicht Ihre Angelegenheit.«

»Ich erkläre es zu meiner Angelegenheit.«

»Ach ja? Und wenn Raph aus Basel zurückkommt und feststellt, dass Sie um sieben Uhr morgens noch immer hier sind, und …« Sie wies mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer, wo Lolas Kleidung deutlich sichtbar über und um das riesige weiße Sofa verstreut lag. »… und das alles hier sieht, dann werden Sie vielleicht selbst ein paar Dinge zu erklären haben.«

»Scheiße.« Mick grinste. »Sie werden sich doch für mich verbürgen, oder? Ich habe sie lediglich nach einer Party nach Hause gebracht. Sie war in keinem Zustand, in dem sie es allein geschafft hätte.«

»Ach nein?« Der Kaktus warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Und Sie haben eine Stunde gebraucht, um ihr die Treppe hochzuhelfen?«

»Ich muss eingenickt sein.«

»Raph würde das vielleicht anders sehen.«

»Hmm. Eine kleine Sackgasse, wirklich.« Mick amüsierte sich. Die Situation entsprach seinem Sinn für das Absurde. »Was meinen Sie, was wir deswegen unternehmen sollten?«

»Sie können tun, was Sie wollen. Ich gehe.«

»Ich hau auch ab.«

»Nicht mit mir, das nicht.«

Mick war so viel Feindseligkeit nicht gewohnt. Im Großen und Ganzen mochten ihn die Leute. »Sind Sie immer so unfreundlich?«, fragte er. »Sagen Sie mir, wonach Sie suchen, und ich werde mich danach umsehen.«

Sie zögerte, und sie schien fast bereit, sein Hilfsangebot anzunehmen. Es wurde rasch hell, und in diesem Augenblick des Zögerns sah Mick die Unsicherheit und den puren Schmerz, der genau unter der Oberfläche ihrer Feindseligkeit lag. Einen Augenblick lang wollte er ihr wirklich helfen.

Der Augenblick verstrich.

Sie murmelte, mehr zu sich selbst als zu ihm: »Der Dreckskerl muss es vernichtet haben.« Sie zog ihre Turnschuhe an, schlang sich ihren Rucksack über die Schulter. Im Garten sangen bereits die Vögel.

»Ich werde kein Wort zu Raph sagen«, sagte er.

»Da tun Sie verdammt gut dran.«

Und damit steuerte sie auf die Haustür zu. Er hörte sie hinter ihr zuknallen.

Kapitel 4

Das Untersuchungsgericht war brechend voll und luftlos in der Augusthitze. Sam saß neben ihrem Vater, Davy Boswin, und einer stämmigen Dame in einem Kostüm mit zitronengelben Rüschen, die, wie Raph vermutete, Davys jetzige Frau Linda war. Raph war an diesem Morgen nach Cornwall heruntergefahren. Er und Kirsten waren zum Zeitpunkt ihres Todes noch verheiratet gewesen, auch wenn sie bereits getrennt lebten. Ausgeschlossen, dass er der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache fernbleiben würde. Sam trug ein dunkles Kleid mit einem Hemd darüber, das sie sich locker um die Taille gebunden hatte. Mit ihrem kurz geschnittenen dunklen Haar und ihren verkniffenen, verängstigten Zügen sah sie entsetzlich jung und verletzlich aus. Raph erinnerte sich, wie sie vor einem Jahr ausgesehen hatte, strahlend und voller Energie. Damals war sie schön gewesen. Er wünschte, Sam hätte sich entschieden, der Untersuchung nicht beizuwohnen, aber da er wusste, wie stur sie war, wie sie nie vor einer unangenehmen Notwendigkeit zurückschreckte, war er kaum überrascht. Es war zu dumm, dass diese Geschichte mit Lola und den Schlüsseln einen Keil zwischen sie getrieben hatte. Aber vielleicht war ein solcher Keil letztendlich unvermeidlich gewesen.

Mehrere von Kirstens Freunden aus Cornwall waren ebenfalls anwesend, fiel ihm auf, darunter Judy Saunders, der das Cottage gehörte, in dem Kirsten gestorben war, und die Bauern, die ihre unmittelbaren Nachbarn gewesen waren. Dr. Riley, die Untersuchungsrichterin, strahlte eine Art gütige Autorität aus, wie eine strenge, aber gerechte Schulleiterin, während sie den Fall vortrug und dann mit dem Gerichtsbeamten die Urkundenbeweise durchging. Es gab Aussagen des Polizisten, der zum Tatort gerufen worden war, als die Leiche gefunden wurde, des Arztes, der den »Exitus« festgestellt hatte, und von Andy Borlase, dem örtlichen Elektriker, der für Judy Saunders im Cottage Arbeiten ausgeführt hatte. Ihm war aufgefallen, dass die elektrischen Leitungen veraltet waren und nicht mehr den heutigen Standards entsprachen; er hatte aber auch erklärt, dass es technisch nicht illegal sei. Und es gab Fotos. Die meisten davon, Aufnahmen von Gull Cottage und dem Badezimmer, in dem Kirstens Leiche gefunden worden war, wurden im Gericht herumgereicht. Diejenigen, die Kirstens nackte Leiche zeigten, über den Rand der Badewanne gestreckt, in der sie so grauenhaft gestorben war, wurden »diskret« zwischen der Untersuchungsrichterin, ihrem Beamten und denjenigen ausgetauscht, die als Erste am Tatort gewesen und daher Zeugen des tatsächlichen Ereignisses gewesen waren.

Raph, der Sams Miene beobachtete, wusste, dass sie diese Bilder in ihrem Kopf heraufbeschwören musste. Er wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben, wie er sie hätte schützen können.

Raph hatte ihr die Nachricht an jenem Mittsommertag, an dem Kirstens Leiche gefunden wurde, überbracht. Er war zu ihrer Wohnung gefahren, und sie waren sofort zusammen nach Cornwall aufgebrochen. Die meiste Zeit waren sie schweigend gefahren, aber das Band zwischen ihnen war damals noch so fest gewesen, dass Worte überflüssig waren. Und sie musste gewusst haben, wie sehr auch er trauerte. Er hatte die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass er und Kirsten vielleicht einen Weg finden würden, sich zu versöhnen.

Sie hatten Gull Cottage am frühen Abend erreicht. Ein paar Meter vom Rand der Klippen entfernt, war es immer nur als zeitweiliges Sommerhaus gedacht gewesen. An jenem ersten Abend bildete die Stille des Schauplatzes einen grausamen Kontrast zu der Tragödie, die sich eben erst ereignet hatte. Das Meer war ruhig und blau; Lerchen sangen über der Landspitze, und Seemöwen schwebten in der tiefen Kluft zwischen den Klippen und dem Meer. Selbst Gull Cottage, so beengt und baufällig, sah aus wie ein kleines Häuschen in einem Märchen, mit dem Abendlicht, das auf seinen Fenstern golden funkelte.

»Bist du sicher, dass du reingehen willst?«, hatte Raph sie gefragt, als sie aus dem Wagen stiegen und, wie alle Leute, wenn sie zu Gull Cottage kamen, über das von Kaninchen abgefressene Gras am Rand der Klippen gingen. Kirstens Leiche war von dem Bestattungsdienst entfernt worden, das wusste er, aber davon abgesehen war alles ungefähr so, wie es gewesen war, als Davy an jenem Morgen die Leiche gefunden hatte.

»Früher oder später muss ich es tun. Am besten bringe ich es gleich hinter mich«, hatte Sam gesagt. Am Rand der Klippen hatte sie sich im Hintergrund gehalten. Er erinnerte sich an ihre Höhenangst.

»Tapferes Mädchen«, sagte Raph. »Na schön, dann bringen wir's hinter uns.«

Sam nickte. Sie stand noch immer unter Schock, ging wie im Schlafwandel die Aufgaben durch, die erledigt werden mussten.

Sobald sie im Cottage waren, fanden sie Kirstens Habseligkeiten überall verstreut vor, genau so, wie sie sie hinterlassen hatte: ihre Wanderstiefel neben der Tür, ihre Leinenjacke über eine Stuhllehne geworfen, Bücher und Papiere überall, ihre übliche Ansammlung von praktischen und persönlichen Dingen. Im Grunde ihres Herzens eine Zigeunerin, besaß Kirsten die Fähigkeit, jeden Ort sofort zu einem Zuhause zu erklären; selbst Hotelzimmern wurde rasch ihr Stempel aufgedrückt. Auf dem Tisch standen ihr Lieblingsbecher, Wildblumen in einer billigen Vase, Fotos von Sam sowie das Foto, das Raph selbst erst im Jahr zuvor aufgenommen hatte: Mutter und Tochter zusammen an dem Tag, an dem Sam die Musikhochschule abgeschlossen hatte. Sam sah aus, als läge ihr die Welt zu Füßen.

Während sie sich umsahen, zitterte Sam, offenbar außerstande, es zu unterdrücken.

Raph sagte: »Ich koche dir einen Tee. Hier, setz dich hin.«

Sie setzte sich.

»Ich kann dir helfen, ihre Sachen durchzugehen, wenn du willst.«

»Vielleicht … morgen.« Sams Hand ruhte leicht auf einem dünnen Papierstapel: Der Mördervogel und andere Gedichte stand auf dem Titelblatt.