Das Dorf - Arno Strobel - E-Book + Hörbuch

Das Dorf Hörbuch

Arno Strobel

0,0

Beschreibung

DU WILLST DEM MENSCHEN HELFEN, den du am meisten liebst. Doch der Ort, an den dich deine Suche führt, ist anders als alles, was du kennst. WILLKOMMEN IM DORF OHNE WIEDERKEHR … Der neue Bestseller von Erfolgsautor Arno Strobel Panik, Todesangst, das ist es, was Bastian Thanner in der Stimme seiner Exfreundin hört, als sie ihn völlig unerwartet anruft. Über zwei Monate ist es her, dass Bastian Anna zuletzt gesehen hat, als sie Hals über Kopf und ohne Erklärung einfach verschwunden ist. Jetzt braucht sie dringend seine Hilfe, sie bangt um ihr Leben. Bastian macht sich sofort auf die Suche nach Anna und gelangt in ein Dorf an der Müritz, das ihm von Anfang an unheimlich ist. Überall deuten Spuren auf Anna, doch niemand kann oder will ihm weiterhelfen. Bis zu dem Abend, als Bastian Zeuge einer schrecklichen Zusammenkunft wird. Und auf den Mann trifft, der genau weiß, was mit Anna geschehen ist …

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 21 min

Sprecher:

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Arno Strobel

Das Dorf

Psychothriller

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoProlog12345Entwurf Tag 12678Entwurf Tag 1691011Entwurf Tag 201213Entwurf Tag 23 – morgens um drei Uhr1415Entwurf Tag 251617Entwurf Tag 2718Entwurf Noch immer Tag 27 dreiundzwanzig Uhr1920Entwurf Tag 2821Entwurf Tag 28 Gegen zwei Uhr22232425262728293031323334353637Entwurf Tag 28 Zwei Uhr dreißig38394041424344454647484950EpilogMein Dank …Die FlutProlog1

Für meine Mutter

Ein Dorf mit wenigen Häusern ist

ein böses Dorf.

Aus Griechenland

Prolog

Sie bildeten einen Kreis um den Tisch und hielten sich an den Händen. Niemand sprach ein Wort. Nur der Wind, der sich hier und da zwischen den groben Brettern hindurchdrückte, erfüllte die Scheune mit einem wispernden Geräusch. Er ließ die Flammen der Kerzen tanzen und ihren flackernden Schein über die gesenkten Gesichter huschen.

Als er mit erhobenen Händen an den Tisch herantrat und seinen Blick auf die reglose Gestalt vor sich richtete, die ihm mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrte, schien selbst der Wind zu verstummen. Als er seine Stimme erhob, begannen die Hände der anderen zu zittern.

»Du wirst jetzt dem Schmerz übergeben. Du wirst Leid erfahren, wie es kaum ein Mensch je ertragen hat. Du wirst flehen, sterben zu dürfen, aber du bist für den Schmerz bestimmt. Er wird lange währen, doch sei gewiss, am Ende wartet der gnädige Tod auf dich.«

Die Gestalt auf dem Tisch lag noch immer reglos da, nur ein einzelner Muskel zuckte in ihrem Gesicht.

Er bemerkte es und sah auf. »Bringt diesen Menschen nun zu seiner Bestimmung.«

Als die anderen nicht sofort auf seine Anweisung reagierten, befahl er: »Sofort.« Da erst griffen sie nach der Gestalt.

Einer von ihnen hatte Tränen in den Augen.

1

Es gab einige Dinge in Bastian Thanners Leben, die er nicht mochte. Die Fettröllchen an seinen Hüften zum Beispiel. Und die dicke, grellgeschminkte Frau Selkes mit den strähnigen Haaren, die ein Stockwerk unter ihm wohnte und den Großteil ihrer Zeit im Flur zu verbringen schien, wo sie ihm ekelhaft anzügliche Blicke zuwarf, wenn er auf dem Weg nach unten an ihr vorbeikam. Oder auch wichtige Termine, die er einzuhalten hatte und die ihm Stress bereiteten. All das waren Dinge, auf die er liebend gern verzichtet hätte. Genau wie auf das Klingeln des Telefons vor Sonnenauf- oder nach Sonnenuntergang. Er empfand solche Anrufe als nicht akzeptable Eingriffe in seine Privatsphäre und bestrafte die Anrufer mit offen zur Schau gestellter schlechter Laune.

Noch bevor sein Bewusstsein sich vollkommen aus der Umarmung des traumlosen Schlafes befreit hatte, setzte ein dumpfer Kopfschmerz ein, der Bastian vermuten ließ, dass es noch mitten in der Nacht war. Unwillig öffnete er ein Auge und wälzte sich zur Seite. Das penetrante Klingeln versuchte er dabei zu ignorieren.

Das Display des Radioweckers auf dem Nachttisch zeigte mit rot leuchtenden Zahlen zehn Uhr dreiundzwanzig an. Schon später Vormittag. Die Dunkelheit des Zimmers rührte also nicht von der Abwesenheit der Sonne, sondern vom geschlossenen Rollladen vor dem kleinen Schlafzimmerfenster.

Schnaubend drehte Bastian sich wieder auf den Rücken. Er hatte die halbe Nacht wach gelegen und fühlte sich wie gerädert.

Sein langsam schärfer werdender Blick machte einen verwaschenen Fleck auf dem Dunkelgrau der Zimmerdecke aus. Die nackte Glühbirne, die seit seinem Einzug die Deckenlampe des Schlafzimmers darstellte.

Nebenan im Wohnzimmer bimmelte das Telefon stoisch weiter. Fast im gleichen Rhythmus schien etwas in seinem Kopf zu pulsieren. Er würde eine Aspirin nehmen müssen, vielleicht besser gleich zwei.

Bastian überlegte, wann er endlich eingeschlafen war, und kam zu dem Schluss, dass es wohl fast fünf Uhr gewesen sein musste. Vorsichtig richtete er sich auf und schob die Beine aus dem Bett. Das Telefon läutete noch immer. Der Anrufer hatte entweder eine geradezu unglaubliche Ausdauer, oder er war einfach stur. Mit einem Seufzer stand Bastian auf und ging ins Wohnzimmer. Das Smartphone hing auf einem kleinen Beistelltisch neben der billigen Couch aus dem Lagerverkauf am Ladekabel. Als er sich auf dem orangefarbenen Stoff niederließ, hörte das Klingeln auf. Einige Sekunden ruhte sein Blick auf dem flachen Gerät, dann schüttelte er den Kopf. »Typisch.«

Als wäre das der Befehl zu einem weiteren Versuch, begann das Klingeln von neuem. Nach dem zweiten Mal hatte Bastian das Telefon am Ohr. »Thanner«, meldete er sich und ließ dabei, ungeachtet der Tatsache, dass es schon später Vormittag war, keinen Zweifel daran, dass er sich gestört fühlte.

»Bastian«, flüsterte eine Stimme ihm gehetzt ins Ohr. Augenblicklich war er hellwach, sprang auf und war mit einem Mal so fahrig, dass ihm das Telefon fast aus der Hand gefallen wäre.

»Anna! Bist du das, Anna? Sag doch was.«

Es vergingen einige Sekunden, bis die Stimme sich endlich wieder meldete. Quälend lange Sekunden, in denen Bastian im Wohnzimmer auf und ab lief wie ein Tier im Käfig.

»Hilf mir, bitte. Ich …« Ein schabendes Geräusch überlagerte die Worte, es folgte ein Knall, als ob das Telefon heruntergefallen wäre, dann wieder Rascheln, Knistern, und schließlich, »… mich hier fest. Ich … sie werden mich töten … hilf mir.«

Es hörte sich so an, als sei es sehr windig dort, wo Anna gerade war. Bastian konnte fast nichts verstehen. Er hätte schreien können vor Verzweiflung.

»Was? Anna, ich habe dich nicht verstanden. Wo bist du? Anna!«

»Frundorf … Müritz. Bitte hilf … Bastian. Ich … solche Angst.« Ihre Stimme klang jetzt panisch, und er konnte trotz der immer lauter werdenden Hintergrundgeräusche ihre Angst förmlich spüren.

»Du bist … wo? In … wie heißt das? Frundorf? An der Müritz? Anna?«

»Beeil dich. O Gott … sie …« Die Verbindung wurde unterbrochen, und obwohl Bastian wusste, dass es sinnlos war, schrie er noch einige Male Annas Namen. Sein Atem ging stoßweise, so, als hätte er gerade einen Sprint beendet.

Mit zitternden Fingern öffnete er die Liste der letzten Anrufe … Anonym. Die Nummer war unterdrückt worden.

Bastian ließ sich auf die Couch fallen, seine Hand mit dem Telefon sank herab, öffnete sich kraftlos. Das schmale Gerät fiel mit einer Drehung um die eigene Achse auf den Stoff und blieb dort liegen. Stumm starrte er das Display an. Er fühlte sich, als hätten die letzten beiden Minuten alle Kraft aus seinem Körper gesaugt. Annas unerwarteter Anruf hatte den Schmerz mit solcher Wucht zurückgebracht, dass er das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie war sofort wieder so präsent, als hätte es die vergangenen Wochen nicht gegeben.

Seine Anna. Für eine kurze, aber sehr intensive Zeit war sie das gewesen, seine Anna. Bastian lehnte sich in das weiche Polster zurück und schloss die Augen.

Zwei Monate war es her, dass sie gegangen war. Ende August war das gewesen. Und sie hatte ihn auf eine Art und Weise verlassen, die es ihm unmöglich gemacht hatte zu glauben, dass sie es aus freien Stücken tat. Er war sicher gewesen, dass Anna ihn nicht verlassen wollte, sondern aus irgendwelchen Gründen musste. Dass sie gelogen hatte, als sie behauptete, ihn nicht genug zu lieben, um mit ihm zusammenbleiben zu können. Er hatte die Lüge in ihren grünen Augen gesehen, als sie vor ihm stand, den kleinen Koffer in der Hand, mit dem sie nur vier Wochen zuvor zu ihm gekommen war.

Bastians Gedanken hangelten sich an seinen Erinnerungen entlang wie an einem straff gespannten Seil. Die kurze, unbeschreiblich glückliche Zeit, die er mit Anna verbracht hatte. Sie war wie ein Rausch gewesen. Ihre Picknicke am Schweriner See, an der nicht einsehbaren kleinen Bucht. Sonntage, die sie im Bett verbracht hatten. Wilde Kissenschlachten, die in leidenschaftliche Umarmungen übergingen und damit endeten, dass sie wohlig ermattet eng aneinandergeschmiegt dalagen. Der Tag, an dem sie sich kennenlernten …

Bastian wohnte noch nicht lange in Schwerin und war durch Zufall in diese Kneipe geraten, die eigentlich gar nicht sein Fall war. Er hatte nur ein Bier getrunken und wollte gerade zahlen, als sie plötzlich vor ihm gestanden und ihn stumm angesehen hatte. An seinen ersten Gedanken erinnerte er sich noch genau: Diese Frau passt nicht hierher. Ihre schlanke, fast zerbrechlich wirkende Gestalt, das zarte, feine Gesicht, umrahmt von einer Fülle brauner Haare … das alles stand in geradezu groteskem Kontrast zu der hämmernden Musik im Hintergrund, den Bierpfützen auf den abgenutzten Stehtischen mit den grölenden und schwankenden Typen daran.

»Hallo«, hatte er nur zu ihr gesagt, mehr war ihm nicht eingefallen. Sie hatte ihn angelächelt. »Ich bin Anna. Darf ich mich zu dir stellen?«

»Ja, sehr gerne.« Bastians Herz hatte einen Sprung getan, als sie an ihm vorbei auf die andere Seite des Stehtisches gegangen war und dabei seine Hand berührte. Er …

Jäh wurde er in die Gegenwart zurückgeschleudert. Bastian brauchte ein, zwei Sekunden, um zu registrieren, dass das Telefon erneut läutete. Mit einer hastigen Bewegung griff er nach dem Gerät und hatte Mühe, auf die richtige Stelle zu drücken, um das Gespräch anzunehmen. Sofort hörte er wieder diese Hintergrundgeräusche, den Wind.

»Anna. Anna, bist du das?«, stammelte er in den Hörer. Auf der anderen Seite war ein Schnaufen zu hören, dann eine raue männliche Stimme: »Wer sind Sie?«

Im ersten Moment war Bastian zu keiner Reaktion fähig, seine Gedanken rasten und versuchten, eine logische Erklärung zu finden. Er war sicher, der Anruf kam vom gleichen Telefon, von dem kurz zuvor Anna angerufen hatte. Sie hatte große Angst gehabt. Hatte er den Grund ihrer Angst gerade am Telefon? »Hören Sie«, sagte er hastig, »ich möchte Anna sprechen. Wo ist sie?«

Sekundenlang war nur das Rauschen zu hören, dann sagte die Stimme: »Vergessen Sie sie.«

2

Langsam ließ Bastian die Hand mit dem Telefon sinken und starrte das Display an. Sein Daumen bewegte sich, strich über das Glas, als führe er ein Eigenleben. Drückte auf eines der Symbole. Die Fotogalerie. Annas lächelndes Gesicht. Bastian starrte es an, sekundenlang … minutenlang?

Das Foto verschwamm vor seinen Augen, wurde verdrängt von anderen Bildern. Der Nachmittag in dem Café. Dieser Kerl, zwei Tische weiter. Anna hatte ihn nicht gesehen, aber Bastian war aufgefallen, dass der Mann sie nicht aus den Augen ließ.

Ihr trauriges Gesicht zwei Tage später, als sie mit ihrem Koffer aus dem Schlafzimmer gekommen war. »Es tut mir leid, ich liebe dich nicht genug«, hatte sie behauptet. Es war so plötzlich gekommen, traf ihn vollkommen unvorbereitet. Bastian war wütend geworden, hatte sie gefragt, ob es was mit dem Typen aus dem Café zu tun hatte. Und wer der Kerl überhaupt sei. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt: »Welcher Kerl? Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Es hat nur mit mir zu tun. Es reicht einfach nicht für das hier.«

Er hatte sie angefleht, es wenigstens noch mal zu versuchen, doch sie war gegangen. Einfach so. Er konnte sie telefonisch nicht erreichen, wusste nicht einmal, wo ihre Eltern wohnten. Nur die Stadt, Berlin. Es gab tausend Wagners in Berlin.

Er hatte nichts mehr von Anna gehört. Bis zu diesem Tag. Bastian legte das Telefon zur Seite, stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und vergrub das Gesicht in beiden Händen. Anna war in Gefahr. Sie hatte ihn angerufen. Er musste etwas unternehmen, und das einzig Richtige konnte nur sein, sich an die Polizei zu wenden, und zwar sofort. Er nahm das Telefon wieder in die Hand und wählte die Eins-Eins-Null.

Die weibliche Stimme am anderen Ende informierte ihn ruhig und sachlich darüber, dass er mit der Leitstelle der Schweriner Polizei verbunden war.

»Guten Morgen.« Bastian hörte selbst, wie aufgeregt er im Gegensatz zu ihr klang. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. »Mein Name ist Bastian Thanner, ich wohne in Schwerin. Eben hat meine Exfreundin mich angerufen. Sie sagte, sie ist in Gefahr. Jemand hält sie fest und will sie umbringen.«

»Hat Sie gesagt, wo sie festgehalten wird?«

»Ja, in Frundorf. An der Müritz.« Bastian erzählte der Frau den Wortlaut des Telefonats, soweit er sich daran erinnerte.

»Ich brauche bitte Ihre komplette Adresse.«

Am liebsten hätte er gefragt, was das jetzt zur Sache tat und dass es nicht um ihn ging, sondern um Anna. Aber der logische Teil seines Verstands sagte ihm, dass die Polizei natürlich wissen musste, wer da anrief. Allein schon, um Missbrauch vorzubeugen. Er nannte seine Adresse.

»Und der Anruf kam auf das Mobilgerät, mit dem Sie gerade telefonieren?«

»Ja.«

»Gut. Frundorf sagten Sie, an der Müritz. Das kenne ich nicht. Scheint ein kleineres Dorf zu sein. Wie ist der Name Ihrer Exfreundin?«

»Anna. Anna Wagner.«

»Alter?«

»Fünfundzwanzig.«

»Und Sie sind wie alt?«

»Achtundzwanzig.«

»Sie sagten, Frau Wagner ist ihre Exfreundin. Das heißt, sie wohnen nicht zusammen?«

»Nein. Nicht mehr.«

»Wie lautet ihre neue Adresse?«

»Die … weiß ich nicht.«

»Hm … Konnten Sie denn die Nummer des Anrufers sehen?«

»Nein, die wurde unterdrückt.«

»Und Frau Wagners Telefonnummer?«

»Ich glaube, sie hat eine neue Handynummer. Unter der alten konnte ich sie schon vor zwei Monaten nicht mehr erreichen.«

Die Polizistin zögerte einen Moment. »Aber die andere Nummer kennen Sie? Die alte?« Bastian sagte sie ihr.

»Seit wann wird Frau Wagner vermisst?«

»Vermisst? Ich weiß nicht. Wir hatten keinen Kontakt, nachdem sie gegangen ist. Ich habe keine Ahnung, seit wann sie … in Gefahr ist. Sie hat mich eben angerufen und mir gesagt, dass sie festgehalten wird und jemand sie töten will. Mehr weiß ich nicht. Können Sie jetzt bitte was unternehmen?«

»So einfach ist das nicht, Herr Thanner.« Die Stimme der Frau hatte sich verändert, sie war weicher geworden. »Seit wann sind Sie und Frau Wagner getrennt?«

»Seit zwei Monaten.«

»Und wie lange waren sie zusammen?« Als Bastian nicht gleich antwortete, hakte die Frau nach. »Herr Thanner?«

»Das war nicht sehr lange. Aber wir haben zusammen gewohnt … Es waren vier Wochen.«

»Vier Wochen. Das ist wirklich nicht lange. Klang dieser Anruf für Sie glaubwürdig?«

»Glaubwürdig? Wie meinen Sie das? Anna hatte Angst, das habe ich deutlich gehört. Hätte ich Sie sonst angerufen?«

»Warum hat Frau Wagner wohl ausgerechnet Sie angerufen? Und nicht die Polizei?«

»Eben weil sie große Angst hatte. Und keine Zeit, erst lange ihre Adresse und Telefonnummern zu nennen.« Für einen Augenblick tat der kleine Seitenhieb ihm gut, doch schon im nächsten Moment war Bastian klar, dass er damit bestimmt nichts beschleunigte. »Tut mir leid. Ich bin ziemlich aufgeregt. Anna ist wohl davon ausgegangen, dass ich die Polizei anrufe. Was ich ja auch gerade getan habe.«

»Wo wohnen Frau Wagners Eltern?«

»In Berlin. Mehr weiß ich leider nicht.« Und nach einer kurzen Pause fügte er leise hinzu: »Ich kenne ihre Eltern nicht.« Bastian ahnte, wie das alles auf die Polizeibeamtin wirken musste. Die Frau atmete hörbar aus. »Sie waren also vier Wochen mit Frau Wagner zusammen, danach haben Sie nichts mehr von ihr gehört. Das ist jetzt zwei Monate her. Sie haben weder eine Adresse, noch eine Telefonnummer. Ihre Eltern kennen Sie nicht und wissen auch nicht, wo Frau Wagner sich in den letzten zwei Monaten aufgehalten hat. Und eben hat sie Sie mit unterdrückter Nummer angerufen und Ihnen gesagt, jemand hält sie in … Frundorf fest und will sie umbringen. Ist das so weit richtig?«

»Ja.«

Bastian befürchtete, die Frau würde ihm als Nächstes sagen, dass die Polizei in diesem Fall nichts unternehmen könne. Sein Magen fühlte sich an, als drücke eine Faust ihn zusammen.

»Also gut, Herr Thanner, wir werden jetzt Folgendes tun: Ich informiere die zuständigen Kollegen für Frundorf oder eine Polizeidienststelle in der Nähe. Die werden rausfahren und sich dort mal umhören. Ob jemandem etwas aufgefallen ist, irgendwelche außergewöhnlichen Dinge. Außerdem werden wir nachforschen, ob vielleicht doch ein Notruf bei den Kollegen im dortigen Regierungsbezirk eingegangen ist. Über das Einwohnermeldeamt in Berlin können wir wahrscheinlich die Adresse von Frau Wagners Eltern herausfinden. Außerdem werden wir versuchen, einen TKÜ-Beschluss zu bekommen, damit wir über Ihren Provider entweder den Besitzer des Telefons ermitteln oder wenigstens den Anruf einer bestimmten Funkzelle zuordnen können.«

»Was ist ein … TKÜ-Beschluss?«

»Das ist ein Beschluss zur Telekommunikationsüberwachung«, erklärte die Frau. »Der wird von einem Richter ausgestellt. Wir brauchen ihn, damit Ihr Provider uns Ihre Verbindungsdaten herausgibt und wir über die Telefonnummer den Besitzer des Telefons ermitteln können.«

»Wie lange dauert so was?«

»Das ist unterschiedlich und hängt vom Provider ab, es kann aber bis zu zwölf Stunden dauern.«

»Zwölf Stunden? Aber … das ist viel zu lange.« Bastian war verzweifelt. In zwölf Stunden konnte alles Mögliche mit Anna passieren. »Wenn jemand Anna umbringen will …«

»Tut mir leid, Herr Thanner, wir gehen der Sache selbstverständlich nach, aber mehr können wir im Moment nicht tun. Solange sich keine dringenden Verdachtsmomente ergeben …«

»Dringende Verdachtsmomente?«, fiel Bastian ihr ins Wort. »Anna hat mich gerade angerufen. Sie wird gegen ihren Willen festgehalten und hat Todesangst, weil jemand sie umbringen will. Und dann dieser Kerl am Telefon … Welche Verdachtsmomente brauchen Sie denn noch?«

»Ich verstehe, dass Sie aufgeregt sind, Herr Thanner.« So musste die Stimme einer Psychiaterin klingen, die einen durchgedrehten Patienten zu beruhigen versuchte. »Aber wir können aufgrund dessen, was Sie mir gerade geschildert haben, keine Hundertschaft nach Frundorf schicken, die jedes Haus durchsucht. Im Grunde genommen kennen Sie Frau Wagner doch selbst kaum. Sie wissen fast nichts von ihr.«

»Was heißt …«, setzte Bastian an, beendete den Satz aber nicht. Letztlich hatte die Frau ja recht. Was wusste er schon von Anna Wagner?

»Glauben Sie mir, wir werden alle nötigen Schritte in die Wege leiten. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir etwas wissen. Ich brauche noch ein möglichst aktuelles Foto. Ich hoffe, Sie haben eins?«

Bastian nickte, obwohl es niemand sehen konnte. »Ja, ich habe mehrere. Sie sind etwas mehr als zwei Monate alt.«

»Können Sie mir zwei oder drei per Mail schicken?«

»Ja, mache ich.«

Die Frau nannte ihm die Mail-Adresse. Als sie kurz darauf das Telefonat beendeten, schickte Bastian sofort zwei Fotos an die angegebene Adresse. Als er auf Senden drückte, hatte er das Gefühl, Annas Schicksal in fremde Hände zu geben.

3

Bastian wusste nicht, wie lange er dagesessen und ins Leere gestarrt hatte, nachdem das Telefonat beendet war. In seinem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Erst schien es, als stemme sein Verstand sich dagegen, Worte zu sinnvollen Sätzen zusammenzufügen. Bastian hatte diesen seltsamen Zustand schon einige Male erlebt. Es fühlte sich an, als wate er durch einen dicken gedanklichen Brei, in dem er jedes einzelne Wort suchen und mühsam von einer klebrigen Masse befreien musste, bevor er seinen Sinn erfasste.

Schon im nächsten Augenblick jedoch rasten seine Gedanken wild los und produzierten einen Wust aus Spekulationen.

Wie akut war die Gefahr, in der Anna sich befand? Warum und wie war sie in diese Situation gekommen? Hatte sie schon Angst gehabt, als sie zwei Monate zuvor gegangen war? War das der Grund gewesen, warum sie jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen hatte? Was sollte er nun tun? Was konnte er tun? Zwölf Stunden dasitzen und darauf warten, dass die Polizei sich endlich meldete? Das würde er nicht durchhalten. An Arbeit war auch nicht zu denken.

Bastian sprang auf und begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Anna hatte nicht bei der Polizei angerufen. Auch nicht bei ihren Eltern oder jemand anderem, sondern bei ihm. Und wen ruft man im Moment der größten Not an? Den Menschen, der einem am nächsten steht. Ein weiterer Beweis dafür, dass sie noch mehr für ihn empfand, als sie ihn glauben machen wollte.

Bastian hatte von Anfang an gewusst, dass Anna ihn nicht aus freien Stücken verlassen hatte. Dass sie ihn noch liebte. Dieser Kerl aus dem Café, der sie so angestarrt hatte … Hielt er sie jetzt irgendwo in diesem … Frundorf fest? Frundorf!

Bastian ging ins Schlafzimmer, wo auf einem schmalen Tisch unter dem Fenster sein Notebook stand. Es hatte sich als gute Idee herausgestellt, den Arbeitsplatz im Schlafzimmer einzurichten. Wenn er nachts noch einen Artikel fertigschreiben musste, brauchte er nur aufzustehen und sich aufs Bett fallen zu lassen, nachdem er den Text per Mail in die Redaktion geschickt hatte.

Bastian klappte das Notebook auf, öffnete den Browser mit Google als Startseite und tippte Frundorf ein. Es dauerte eine Weile, bis eine Ergebnisliste eingeblendet wurde, die sich allerdings nicht auf das Wort Frundorf bezog, sondern auf Frundow, wie Bastian feststellte. Die Erklärung dafür stand über der Liste:

Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage übereinstimmenden Dokumente gefunden. Meinten Sie: Frundow?

Frundow, das konnte sein. Die Verbindung war derart schlecht gewesen, dass Anna möglicherweise wirklich Frundow gesagt hatte. Wenn dieses Frundow an der Müritz lag …

Eine eigene Website hatte das Dorf nicht, aber immerhin einen Eintrag bei Wikipedia. Laut den Angaben dort war Frundow eine Gemeinde im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte in Mecklenburg-Vorpommern und wurde vom Amt Seenlandschaft Waren mit Sitz in der Stadt Waren verwaltet. Die Einwohnerzahl wurde mit 1324 angegeben.

Bastian schloss die Wikipedia-Seite und betrachtete wieder die Google-Ergebnisliste. Wenn man nach Orten suchte, bot die Suchmaschine oft einen Link zu einem Kartenausschnitt mit der gesuchten Stadt an. Dafür war Frundow aber offensichtlich zu klein, also wechselte Bastian manuell zu Google Maps und entdeckte das Dorf schließlich schräg oberhalb der Binnenmüritz. Von Schwerin aus waren es etwas mehr als hundert Kilometer bis dorthin. Mit dem Auto vielleicht eineinhalb Stunden. Er warf einen Blick auf die Uhr unten rechts auf dem Monitor. Elf Uhr vierzehn. Eineinhalb Stunden …

Bastian rieb sich über die nackten Oberschenkel. Eine Dusche würde ihm jetzt guttun. Danach konnte er entscheiden, was er als Nächstes unternehmen würde. Er ging ins Badezimmer, zog die Unterhose aus, stieg in die enge Glaskabine, wo er das Wasser so heiß stellte, dass sich seine Haut rot färbte. Nachdem er sich die kurzen blonden Haare gewaschen und den Körper mit Duschgel eingerieben hatte, stand er mit hängenden Armen und geschlossenen Augen da und ließ sich berieseln.

Seine Gedanken wanderten wieder zu Anna, zu der dumpfen Leere, die sie in ihm hinterlassen hatte, als sie gegangen war. Erst einmal in seinem Leben hatte er ein ähnlich intensives Verlustgefühl gehabt: als damals seine Eltern verunglückt waren. Zumindest glaubte er, dass es damals ähnlich gewesen war. Sicher wusste er es nicht, dazu waren seine Erinnerungen daran zu nebulös.

Von dem Unfall selbst wusste er nur, was man ihm erzählt hatte. Er war gemeinsam mit seinen Eltern in dem Wagen gewesen, den sein Vater gelenkt hatte. Sein Vater war am gleichen Tag von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückgekommen, hatte seine Familie angeblich aufgefordert, hastig in den Wagen zu steigen, und war losgefahren. Sie waren wohl viel zu schnell unterwegs gewesen. In einer Kurve hatte sein Vater die Kontrolle über den Wagen verloren und war gegen einen Baum geprallt. Bastian hatte den schweren Unfall wie durch ein Wunder als Einziger überlebt. Er war damals drei Jahre alt gewesen.

Seine eigenen Erinnerungen reichten nicht so weit zurück. Nur bis zu der Zeit danach, im Kinderheim. Als die Tage bestimmt waren von hilflosem kindlichen Schmerz und die Nächte von furchtbaren Albträumen, aus denen er weinend und schreiend aufwachte. Sieben oder acht war er da schon.

Nie in seinem Leben hatte Bastian sich so fremd und verlassen gefühlt wie in diesen ersten Jahren ohne jemanden, der ihn liebte. Die Familie seiner Mutter lebte in Amerika. Es hatte keine näheren Verwandten außer seiner Großmutter väterlicherseits gegeben, einer alten, gebrechlichen Frau, die ihn in zwei Jahren nur drei- oder viermal besucht hatte, bevor sie starb.

Niemand war da gewesen, wenn Bastian das Bedürfnis nach Nähe gehabt hatte oder danach, in den Arm genommen zu werden. Wenn es allzu schlimm wurde, hatte er sich im Bett zusammengerollt wie ein Säugling. Er hatte die Decke über den Kopf gezogen und sich eng darin eingewickelt. Die dunkle Wärme, der Stoff, der seinen Körper dicht umschloss … ein Ersatz für die Umarmung seiner Mutter oder die Brust des Vaters, an die er sich nicht drücken konnte.

Bastian riss sich von diesen Gedanken los. Damals war er ein Kind gewesen. Hilflos. Hoffnungslos. Nun war es anders. Er musste nicht mehr ohnmächtig akzeptieren, was geschah. Mit ihm oder dem Menschen, den er liebte. Anna.

Mit energischen Bewegungen drehte er das Wasser ab, griff sich das Handtuch, das über der Glastür hing, und begann, seinen Körper trockenzureiben. Er würde nicht dasitzen und abwarten, was passierte.

Er würde etwas unternehmen, aber zuvor wollte er mit jemandem reden, einem Freund: Safi Hammoud.

Der in Frankfurt am Main geborene Libanese war ein exzellenter Fotograf und arbeitete wie Bastian beim Schweriner Telegramm, der zweitgrößten regionalen Tageszeitung.

Safi war rund zehn Jahre älter als Bastian. Früher war er Kunstlehrer gewesen, zu einer Zeit, als Zahlen für ihn noch keine so bedeutende Rolle spielten. Damals hatte er noch keine drei Armbanduhren besessen, die er mehrmals täglich penibel kontrollierte.

Safi nannte sich selbst Herrscher der Zahlen. Dahinter verbarg sich eine ausgeprägte Zwangsstörung, die dazu geführt hatte, dass er seinen Job als Lehrer verlor. Ein halbes Jahr später wurde er von seiner Frau verlassen.

Wann genau die zwanghaften Gedanken und Handlungen begonnen hatten und was der Auslöser dafür gewesen war, wusste Bastian nicht. Safi redete nicht gern über sein altes Leben, wie er selbst es nannte, und Bastian akzeptierte das. Außer ihm gab es jedoch kaum jemanden, der freiwillig seine Zeit mit Safi verbrachte, was Bastian durchaus verstehen konnte. Zeit mit Safi zu verbringen konnte anstrengend sein. Ebenso wie ein Telefonat mit ihm, wie Bastian in diesem Moment wieder einmal feststellen musste. Noch bevor er Safi von Annas Anruf erzählen konnte, sprudelte der los: »Bastian. Gut, dass du anrufst. Sag mal, wann hast du zum letzten Mal eine Schifffahrt auf dem Schweriner See gemacht? Ich habe gerade darüber nachgedacht. Bei mir ist das 162 Tage her. Verrückt, nicht wahr? Wo der See doch quasi vor meiner Haustür liegt. 2100 Meter bis zur Bootsanlegestelle, wenn ich den kürzesten Weg nehme. Es war ein Dienstag, neunzehn Grad. Ich habe die Schifffahrt sehr genossen. Sie dauerte achtundachtzig Minuten. An dem Tag habe ich beim Spazierengehen an der Straße entlang 121 Pfosten angetippt, sechzig davon sogar am Stück, ohne einem Fußgänger oder Radfahrer ausweichen zu müssen. An einem Stück! Das war ein verdammt guter Tag. An dem Abend …«

»Safi«, unterbrach Bastian den Redeschwall. »Ich muss dir was erzählen. Es ist wichtig.«

Safi verstummte augenblicklich, für Bastian die Aufforderung, weiterzureden. »Anna hat mich eben angerufen.«

»Anna?« Safi wusste offensichtlich gleich, wen er meinte, obwohl er Anna nur ein paarmal gesehen hatte.

»Sie hat sich einen guten Tag ausgesucht. Vor sechsundsechzig Tagen ist sie bei dir ausgezogen. Schnapszahl. Ob das Absicht war? Kommt sie wieder zurück?«

»Nein, sie hatte große Angst und sagte, sie würde in einem Dorf an der Müritz festgehalten. Und dass jemand sie töten will.«

»Was? Jemand will sie töten? Aber … Das ist doch absurd. Wie hat sie das gemacht? Dich anzurufen, wenn jemand sie festhält und töten will?«

»Ich weiß es nicht. Es war windig, sie hat wohl im Freien gestanden, als wir telefonierten. Das Gespräch endete plötzlich, als sei sie überrascht worden. Dann hat mich wieder jemand angerufen. Die gleichen Hintergrundgeräusche. Er wollte wissen, wer ich bin. Als ich nach Anna gefragt habe, meinte er, ich solle sie vergessen.«

»Hast du die Polizei alarmiert?«

»Ja, natürlich. Die wollen dort irgendwo anrufen und Polizisten losschicken, die sich in dem Dorf umsehen.«

»Gut. Glaubst du, sie hat das ernst gemeint?«

»Fängst du jetzt auch damit an? Das hat diese Polizistin mich auch schon gefragt. Warum sollte Anna mich nach zwei Monaten anrufen und mir panisch erklären, dass sie gegen ihren Willen festgehalten wird und Angst um ihr Leben hat?«

»Warum sollte sie in dieser Situation ausgerechnet dich anrufen, nachdem sie dich vor zwei Monaten verlassen hat?«

»Vielleicht, weil sie doch mehr für mich empfindet, als sie damals zugeben wollte?«

»Hm …« Safi schien diese Möglichkeit nicht für sehr wahrscheinlich zu halten. »Die schicken also Polizisten dahin?«

»Ja. Und sie versuchen, über meinen Provider die Telefonnummer herauszufinden und wem das Handy gehört, mit dem Anna mich angerufen hat. Aber das kann zwölf Stunden dauern. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich kann doch nicht hier rumsitzen und bis heute Nacht warten. Um dann womöglich zu erfahren, dass sie nichts herausgefunden haben.«

»720 Minuten. 720 Mal langsam bis sechzig zählen. Das ist lang. Aber was willst du tun? Kennst du den Ort?«

»Frundow, sagte sie. Ich habe ihn über Google gefunden. Er liegt hundert Kilometer von hier. Ich denke …« Bastian zögerte kurz. »Safi, ich denke darüber nach, einfach mal dahin zu fahren. Ich bin mir nicht sicher, dass die Polizei das alles wirklich ernst nimmt. Weil ich kaum was über sie weiß und wir nicht mehr zusammen sind. Aber die haben ihre Stimme am Telefon nicht gehört. Sie hatte wirklich panische Angst. Ich werde verrückt, wenn ich nichts unternehme. Verstehst du das?«

»Hm …«, machte Safi erneut. »Mit dem Auto brauchst du bis zu mir sieben Minuten, wenn du an drei der fünf Ampeln die Rotphase mitmachst.«

»Wie, was heißt das?«

»Ich komme mit.«

»Du kommst mit? Einfach so? Du kennst Anna doch kaum.«

»Du doch auch nicht. Außerdem kenne ich dich.«

»Safi, das ist …«

»In sieben Minuten. Ich warte vor der Tür.« Safi redete nun deutlich schneller als zuvor.

»Nein, warte«, stieß Bastian hastig aus, bevor Safi auflegen konnte. »Zwanzig Minuten, gib mir zwanzig Minuten, okay?«

»Gut. Wir müssen jetzt aufhören.«

Bastian schüttelte den Kopf und legte das Telefon zur Seite. Sie waren nun schon eine ganze Weile befreundet, aber Gespräche und vor allem Telefonate mit Safi waren immer wieder eine Herausforderung. Wahrscheinlich hatten sie auf die Sekunde genau fünf Minuten miteinander telefoniert, als Safi auflegte.

Bastian dachte darüber nach, was die Polizei wohl davon halten würde, wenn er sich auf eigene Faust auf die Suche nach Anna machte. Begeistert würden die sicher nicht sein, aber wer wollte es ihm verbieten, nach Frundow zu fahren und sich dort ein bisschen umzusehen? Er arbeitete schließlich für eine Zeitung, da war es normal, dass er recherchierte.

Gut, dass Safi ihn begleitete. Bastian war kein ängstlicher Typ, aber diese Sache konnte vielleicht gefährlich werden. Da war es schon beruhigend zu wissen, dass er nicht alleine sein würde.

4

Safi wartete mit vor der Brust verschränkten Armen vor dem vierstöckigen Haus, als Bastian einige Minuten verspätet dort ankam. Eine schwarze Sporttasche stand zwischen seinen Beinen auf dem Asphalt. Sie sah prall gefüllt aus, und Bastian fragte sich, was sein Freund wohl alles mitschleppte.

»Du bist zu spät«, begrüßte Safi ihn, während er die Tasche auf den Rücksitz des Golfs hievte und einstieg. »Sechseinhalb Minuten.«

»Ja, ich weiß. Tut mir leid.« Bastian legte den Gang ein und fuhr los.

»Vierundfünfzig Autos.«

»Was?«

»Vierundfünfzig Autos sind an mir vorbeigefahren seit dem Moment, an dem du da sein wolltest.«

»Ich sagte doch, dass es mir leid tut.«

»Ja. Und ich sagte, dass vierundfünfzig Autos vor dir da waren. Wie groß ist dieser Ort?«

»Frundow? Nicht sehr groß, 1300 Einwohner.«

»1300. Wenn es dort einige Mehrfamilienhäuser gibt … etwa 250 Häuser. Wenn man berücksichtigt, dass derjenige, der Anna in seiner Gewalt hat, sie sicherlich nicht an die Tür gehen lässt, wenn du klingelst, sondern sie wahrscheinlich irgendwo eingesperrt hat … Die Chance, Anna zu finden, steht etwa 200000 zu eins.«

Bastian warf einen kurzen Blick zur Seite und zuckte mit den Schultern. »Wir müssen es zumindest versuchen.«

Sie brauchten rund eineinhalb Stunden für die Strecke nach Frundow. Anfangs spekulierten sie noch darüber, was mit Anna wohl geschehen war und was sie unternehmen konnten, wenn sie angekommen waren. Etwa auf der Hälfte der Strecke bemerkte Safi, dass ihnen recht viele weiße Autos begegneten, und erklärte Bastian, dass es sehr interessant sei, eine Hochrechnung darüber anzustellen, in welchem Bundesland die meisten weißen Autos zugelassen seien. Mit schnellen Bewegungen löste er seinen Sicherheitsgurt, kniete sich gegen die Fahrtrichtung auf den Sitz und kramte in seiner Sporttasche herum. Als er sich wieder setzte und anschnallte, hatte er einen A4-Block und einen Stift in der Hand.

»Was hast du vor?«, fragte Bastian, obwohl er schon eine ungefähre Vorstellung davon hatte. Er kannte Safi lange genug.

»Statistik. Weiße-Auto-Statistik.« Den Block aufgeschlagen auf den Knien, den Stift in der Hand, starrte Safi nach vorne. Bastian wusste, es war nun sinnlos, ihn anzusprechen, bis er den Block wieder zuklappte. Also konzentrierte er sich auf die wenig befahrene Landstraße, die jedoch kaum Abwechslung bot. Zu beiden Seiten erstreckten sich blasse Wiesen und Felder, hier und da unterbrochen von einzelnen Häusern, Bauernhöfen oder Baumgruppen. Dann wieder flaches Land. Von Zeit zu Zeit zog ein Dorf an ihnen vorbei, meist nur eine kleine Ansammlung brauner Einfamilienhäuser. Dann ein großer, halbverfallener Bau, der zu DDR-Zeiten wohl zu einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft gehört hatte. Vergammelte Holztore hingen schief in den Angeln, einzelne, schmutzige Farbinseln darauf zeugten von einem ehemals hellen Anstrich. Mehrere verrostete Metallschornsteine ragten windschief aus dem Dach des flachen Gebäudes hervor, die Scheiben der kleinen Fenster waren entweder blind oder eingeworfen. Alles war farblos und trist. Der schmutzig graue Himmel tat sein Übriges dazu.

Bastian lenkte seine Gedanken weg von dieser besonderen Art der Monotonie aus Steinen, Bäumen und Feldern, die zu beiden Seiten auftauchten und wieder aus dem Blickfeld verschwanden. Er war wieder bei Anna, spürte, wie allein der Gedanke an sie Reaktionen in ihm auslöste, er horchte in sich hinein.

Dieses Gefühl des Verlustes, nun noch um ein Vielfaches verstärkt durch die Angst um seine Exfreundin, schien ihn zu erdrücken, ihm das Atmen zu erschweren. Bastian öffnete die Seitenscheibe einen Spalt weit. Der rauschende Luftzug tat ihm gut.

Er überlegte, dass er an diesem Tag zum ersten Mal nach langer Zeit wieder an seine Eltern gedacht hatte. Eine Frau und ein Mann, an die er keine persönliche Erinnerung hatte bis auf einige verwaschen erscheinende Szenen, Schlaglichter ohne Zusammenhang. Ohne Emotion. Undeutliche Bilder, so weit weg, als entstammten sie einem Film, den er als Kind gesehen hatte. Aber es gab auch einige reale Bilder, zwölf teilweise schon vergilbte Fotos. Das einzige Vermächtnis seiner Eltern. Sonst war ihm nichts geblieben. Keine Gegenstände, keine Schmuckstücke. Kein Geld. Er wusste nicht, was mit ihren restlichen Habseligkeiten damals geschehen war. Wahrscheinlich hatte seine Großmutter alles bekommen. Es war ihm egal.

Er ließ die Fotos vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Bastian als Baby auf Papas Arm. Mit Mama auf einem Spielplatz, da war er vielleicht drei. Mama und Papa alleine, irgendwo vor einem Brunnen bei strahlendem Sonnenschein, lächelnd für die Kamera. Jedes Mal wenn Bastian das Foto sah, fragte er sich, wer es wohl gemacht hatte. Wahrscheinlich irgendein Passant, den sie gefragt hatten.

Dann war da noch das Foto, auf dem sein Vater hinter dem Schreibtisch in der Redaktion saß, die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt und die Krawatte gelockert, eine qualmende Kippe im Aschenbecher vor sich. Neben dem altertümlichen Monitor aus den Anfangszeiten des Computers lag ein zugeklapptes Buch mit hellbraunem Ledereinband. Auf der anderen Seite des Schreibtischs Berge von Dokumenten, dazwischen Zeitungsausschnitte. Wie oft hatte er dieses Foto schon in der Hand gehabt und es angestarrt? Hundertmal? Tausendmal? Oft genug jedenfalls, dass er jedes kleinste Detail darauf kannte.

Horst Thanner. Ein guter und solider Journalist. Das hatte Gerhard Vogelbusch, der damalige Verleger und Chef seines Vaters Bastian erzählt, als er ihn besuchte, um von ihm mehr über diesen Menschen auf dem Foto zu erfahren. Es war schon einige Jahre her, damals war Bastian gerade neunzehn gewesen. Er hatte dem etwa siebzigjährigen Mann gebannt zugehört, als er ihm erzählte, sein Vater sei in den Wochen vor seinem Tod an einer ganz großen Sache dran gewesen. Was das für eine Sache war, hatte auch er nicht gewusst, er habe ihn lange nicht gesehen, weil er irgendwo undercover recherchiert hatte, aber wenn Horst Thanner sagte, es sei ein ganz großes Ding, dann stimmte das.

Bastians Vater sei in manchen Dingen sehr eigen gewesen, berichtete der Mann, manchmal schwierig, regelrecht seltsam, aber auch genial. Dann hatte der Mann den Zeigefinger gehoben und feierlich gesagt: »Und sehr gläubig war er, Ihr Vater, ein strenger Katholik. Manchen Kollegen ist er damit gehörig auf die Nerven gegangen.« Und nach einer Pause hatte er dünn gelächelt und hinzugefügt: »Ja, er war wirklich kein einfacher Mann, aber ich habe ihn geschätzt. Es ist ein Drama, dass er so früh sterben musste. Er wäre ein ganz Großer geworden, das weiß ich.«

Wieder einmal stellte Bastian sich die Frage, ob er Journalist geworden war, weil er seinem Vater nacheifern wollte. Um eine Brücke zu schlagen zu diesem fremden Mann.

Ja, es hatte diese Zeit gegeben, in der er sehr unter dem Verlust seiner Eltern gelitten hatte, aber irgendwann war das vorbei gewesen. Er hatte keine Eltern. Das war zu einem Faktum geworden, einer Tatsache, die so selbstverständlich zu seinem Leben gehörte wie die längliche, helle Narbe am rechten Oberarm. Ein Arzt hatte ihm erklärt, sie stamme von einem offenen Bruch in frühester Kindheit. Sie sei mitgewachsen. Ein Unfall, vielleicht auf dem Spielplatz. Da käme so was häufiger vor. Bastian erinnerte sich nicht.

Als sie das Ortsschild von Frundow passierten und Safi endlich den Block zuklappte, fühlte Bastian sich so niedergeschlagen und hilflos, dass er am liebsten wieder umgekehrt wäre.

Der Ort lag einige Kilometer abseits der B 108 und war größer als die meisten der Dörfer, die sie auf den letzten zwanzig Kilometern gesehen hatten. Und doch wirkte er verlassen. Die meisten der Häuser zu beiden Seiten der Straße sahen unbewohnt aus, die schmalen Gehwege davor waren fast leer. Nur eine alte Frau quälte sich, weit vornüber gebeugt und auf einen Stock gestützt, langsam voran.

Bastian folgte der Straße ein Stück weit bis zu einem Haus auf der rechten Seite, an dessen Außenfassade die Leuchtreklame einer Brauerei hing. Neben dem Gebäude gab es vier Parkplätze, wovon zwei frei waren. Bastian bremste und deutete mit dem Kopf an Safi vorbei. »Was hältst du von einem Kaffee?«

»Gute Idee. Vielleicht können wir da drinnen jemanden nach Anna fragen?«

Das Betreten der Kneipe stellte sich zunächst als etwas schwierig heraus. Die drei Treppenstufen, die zum Eingang führten, waren mit grauen Fliesen mit einer Kantenlänge von etwa zehn Zentimetern belegt. Safi blieb vor der Treppe stehen, starrte die Stufen an und sagte: »Mist.«

Bastian wusste, dass Safi es hasste, auf Fugen zu treten, außer es handelte sich um kleine Mosaikfliesen. Deren Fugen waren vernachlässigbar schmal, wie Safi ihm einmal erklärt hatte. Diese Treppenfliesen waren um einiges größer als ein Mosaik, aber zu klein, um einen Fuß darauf setzen zu können, ohne die hellen Fugen zu berühren. »Safi, ich muss da rein«, erklärte Bastian und war bemüht, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. »Ich wäre froh, wenn du mitkommst. Kannst du es nicht versuchen?«

Safi benötigte mehrere Ansätze, bis er schließlich mit drei schnellen Hüpfern auf den Schuhspitzen den großen Absatz vor der Tür erreicht hatte.

Die Kneipe war geräumiger, als Bastian vermutet hatte. An den etwa fünfzig Quadratmeter großen, rustikal eingerichteten Schankraum mit Eichentheke schloss sich ein etwa doppelt so großer Saal an. Er konnte durch braune Faltschiebetüren abgetrennt werden, die aber offen standen.

Fünf Gäste hielten sich im vorderen Bereich auf. Zwei Frauen und zwei Männer saßen an einem Tisch und aßen, ein weiterer Mann hockte vor einem fast leeren Bierglas an der Theke. Er musterte sie kurz, als sie sich ein Stück neben ihm an die Theke stellten. Dann starrte er wieder vor sich hin.

Der Wirt war ein großer Mann um die fünfzig. Die dünnen dunkelblonden Haare waren von schmutzigem Grau durchsetzt und hingen ihm strähnig über die Ohren. Sein schwarzes T-Shirt mit dem hellen ONKELZ-Aufdruck hing labberig an seinem hageren Oberkörper, bunte Tattoos schmückten die sehnigen Unterarme. Er ging auf die beiden zu, während er seine Hände an einem karierten Tuch abwischte, das wie der Zipfel eines zu langen Hemdes vorne unter dem Shirt heraushing.

Bastian bestellte einen Kaffee, Safi ein stilles Wasser.

Als der Mann die Getränke vor ihnen abstellte, sprach Bastian ihn an. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe eine Frage: Wir suchen eine Freundin von uns, die uns sagte, sie sei hier in Frundow. Sie heißt Anna. Mitte zwanzig, zierlich, eine ziemlich auffällige braune Mähne. Sehr gutaussehend. Haben Sie sie zufällig gesehen? Frundow ist ja nicht so groß.«

Der Wirt legte den Kopf ein wenig schief. »Ist der was zugestoßen?« Bastian war verwirrt über die Reaktion des Mannes. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Na ja, eben waren zwei Polizisten hier, die haben auch schon nach der Frau gefragt. Die wollten mir nicht sagen, warum sie nach ihr suchen. Aber wenn sie eine Freundin von Ihnen ist …«

Zwei Polizisten, natürlich. Die Beamtin am Telefon hatte ihm doch gesagt, sie würde dafür sorgen, dass ihre Kollegen sich mal in Frundow umsehen. Bastian nickte. »Ja, Anna hat sich seit einigen Tagen nicht mehr gemeldet und geht nicht ans Telefon. Deswegen …«

Ein schwarzhaariger Mann in Bastians Alter betrat die Kneipe, sah sich kurz um und ging zur Theke, wo er sich ein Stück neben Bastian auf einen Hocker setzte und ihnen freundlich zunickte. Bastian nickte zurück und wandte sich wieder dem Wirt zu. »Also, was nun, haben Sie Anna gesehen?«

Der Wirt zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Sicher nicht. So was hätte ich mir gemerkt. Gibt nicht so viele Frauen hier, die so aussehen. Hab ich den Polizisten auch schon gesagt.«

Das glaubte Bastian ihm aufs Wort. Er nickte enttäuscht. »Vielleicht gibt es noch ein anderes Restaurant oder eine Kneipe im Ort, wo man nachfragen könnte?«, warf Safi ein.

»Nein.«

»Ein Hotel?«

Der Wirt stieß ein kurzes, heiseres Lachen aus und sah Safi mitleidig an. »Ein Hotel. In Frundow. Sonst noch was?«

»Wen könnte man hier sonst noch …«, setzte Bastian an, wurde aber durch das Summen seines Smartphones gestört.

Ein Oberkommissar namens Steffens meldete sich und erklärte mit ernster Stimme, er rufe an wegen Frau Anna Wagner. Bastians Herz begann zu rasen. »Ja, Anna. Haben Sie schon was rausgefunden?«

»Ja, wir haben eine Rückmeldung von ihrem Provider bekommen. Die Sache ist die … Laut deren Log-Dateien gab es heute Vormittag keinen Anruf auf Ihre Nummer.«

5

Bastian verstand nicht. »Wie, keinen Anruf?«

»Wir haben die Liste aller Gespräche vorliegen, die heute mit ihrem Telefon getätigt wurden, und daraus ist ganz klar ersichtlich, dass Ihr Anruf bei der Leitstelle der erste am heutigen Tag war. Davor gab es nichts.«

»Nein, das muss ein Irrtum sein. Natürlich hat Anna mich angerufen, und zwar bevor ich die Notrufnummer gewählt habe. Das habe ich doch nicht geträumt.«

»Ich kann Ihnen nur sagen, welche Auskunft wir von Ihrem Provider bekommen haben. Kein Anruf heute Vormittag. Nur ein längeres Gespräch mit einem Safi Hammoud. Das hat aber erst nach Ihrem Notruf stattgefunden.«

»Das kann doch nicht sein.«

»Sind Sie denn sicher, dass der Anruf über Ihr Mobilfunknetz kam?«

»Natürlich, worüber sollte er denn sonst …« Bastian stockte. Der nervige elektronische Klingelton vom Vormittag fiel ihm wieder ein. Der Mann hatte recht. Das war kein normaler Telefonanruf gewesen, der klang anders. Noch halb verschlafen hatte er nicht darauf geachtet, und nach dem Gespräch waren seine Gedanken um andere Dinge gekreist als um den Klingelton, mit dem er geweckt worden war.

»Herr Thanner?«

»Viber! Jetzt fällt es mir wieder ein. Der Klingelton … Der Anruf kam über Viber. Das ist dieser …«

»Ein Voice-over-IP-Dienst«, fiel der Beamte ihm ins Wort. »Internettelefonie.«

»Ja, genau. Moment, ich schaue mal nach.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm Bastian hastig das Telefon vom Ohr und tippte darauf herum, bis er die Viber-Anrufliste vor sich hatte. Die letzte aufgeführte Verbindung stammte tatsächlich vom Vormittag. Zehn Uhr fünfundzwanzig. Einige Sekunden starrte Bastian den Eintrag an, dann hielt er sich das Telefon wieder ans Ohr. »Da ist tatsächlich ein Anruf, aber ohne Nummer.«

»Hm …«, machte der Beamte. »Das ist dumm. Anrufe über Dienste wie Viber oder Skype können wir nicht zurückverfolgen.«

»Was? Warum nicht? Die Daten müssen doch auch irgendwo gespeichert sein.«

»Ja, aber nicht in Deutschland. Keine Chance.«

Es war zum Verzweifeln. »Mist. Und jetzt?«

»Wissen Sie, was ich nicht verstehe?« Die Stimme des Oberkommissars klang jetzt anders. Bastian glaubte, einen lauernden Unterton herauszuhören. »Laut Protokoll haben Sie heute Vormittag gegenüber meiner Kollegin auch schon angegeben, dass der Anrufer die Nummer unterdrückt hat. Da müssen Sie aber noch davon ausgegangen sein, dass der Anruf über das normale Telefonnetz gekommen war. Ein Telefonat, das über Viber geführt wird, kann man aber in der Liste der normalen Anrufe gar nicht sehen. Können Sie mir das erklären?«

Bastian spürte, dass sich kleine, kalte Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Was passierte da gerade? Er war vollkommen verwirrt. »Nein. Ich weiß nicht. Ich habe doch nachgeschaut. Der Anrufer hatte die Nummer unterdrückt, da bin ich sicher. Warten Sie …«

Wieder ließ Bastian die Hand mit dem Telefon sinken. Zum Glück fand er die Lösung recht schnell in der normalen Anrufliste.

»Es tut mir leid«, erklärte er dem Oberkommissar und atmete tief durch. »Der letzte Anruf in der Liste kam wirklich mit unterdrückter Nummer, aber er stammt von gestern Nachmittag. Ich habe in der Hektik nach Annas Anruf nur gesehen, dass oben in der Liste Anonym stand. Auf das Datum habe ich nicht geachtet. Ich erinnere mich an den Anruf, es war eine Kollegin.«

»Aha«, machte der Mann. Bastian fand, dass er nicht sehr überzeugt klang. »Aber da ist noch etwas. Wir haben beim Berliner Einwohnermeldeamt nachgeforscht wegen der Eltern der Frau.«

»Ja, und?« Eine Mischung aus Erleichterung und Hoffnung keimte in Bastian auf. Kam jetzt endlich eine gute Nachricht?

»Es gibt in Berlin zwei Familien, die Wagner heißen und eine Tochter mit dem Namen haben.«

»Gott sei Dank. Und? Haben Sie die richtigen Eltern gefunden? Wissen die mehr? Hat Anna sich bei ihnen gemeldet?«

»Die erste Anna Wagner ist erst acht Jahre alt, sie scheidet also aus.«

»Dann ist es also die andere. Haben Sie schon mit ihren Eltern gesprochen?«

»Das ist nicht nötig, Herr Thanner. Die zweite Anna ist zwölf. Und beide sind Gott sei Dank zu Hause und wohlauf.«

Bastian hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen beginne zu schwanken. Er schüttelte den Kopf und stammelte: »Aber wie ist das möglich? Anna hat doch …« Wie ohne sein Zutun legte sich seine Hand auf die Stirn. »Vielleicht sind sie umgezogen?« Seine Stimme klang mit einem Mal schrecklich dünn.

»Das ist sehr unwahrscheinlich, auch dann hätten wir sie in den Unterlagen des Einwohnermeldeamtes gefunden. Nein, wir können ziemlich sicher davon ausgehen, dass Frau Wagners Eltern nicht in Berlin wohnen. Sofern sie existieren.«

Sofern sie existieren? Bastian suchte nach einer logischen Erklärung, doch in seinem Kopf herrschte ein undurchdringbares Chaos. »Ich verstehe das alles nicht. Wie geht es denn jetzt weiter? Anna hat mich heute Vormittag angerufen, das war real. Und sie hatte furchtbare Angst.«

»Herr Thanner, so gut wie nichts von dem, was Sie angegeben haben, ist überprüfbar. Wenn wir davon ausgehen, dass Sie die Wahrheit sagen, bleibt aus unserer Sicht nur eine Schlussfolgerung: Ihre Exfreundin hat Ihnen wohl nicht die Wahrheit gesagt.« Er machte eine Pause, doch Bastian war nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz zu denken, geschweige denn auszusprechen.

»Herr Thanner, wir müssen in Betracht ziehen, dass dieser Anruf bei Ihnen nicht echt war.«

Irgendwo in Bastians Bewusstsein hatte sein Verstand ihm diese Möglichkeit auch schon zugeflüstert, ganz leise, so, dass er sie kaum wahrgenommen hatte. Nun, ausgesprochen durch den Oberkommissar, einen Fremden, der Anna gar nicht kannte, lösten diese Worte nicht nur Empörung, sondern auch den Beschützerinstinkt in ihm aus. »Nicht echt? Was soll das heißen?«

»Fingiert. Vorgespielt.«

»Das glaube ich nicht. Warum sollte sie das tun?«

»Diese Frage können Sie wohl eher beantworten als wir. Haben Sie sich im Streit getrennt? Kann es sein, dass sie sich an Ihnen rächen wollte?«

»Nein. Es gab keinen Streit zwischen uns. Wir sind im Guten auseinandergegangen.«

»Wie auch immer, die Kollegen, die sich vor Ort umgesehen haben, konnten auch nichts herausfinden. Niemand hat Frau Wagner dort gesehen. Tut mir leid, ich fürchte, wir können im Moment nichts mehr tun.«