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Ein Spiegelbild irrt umher, eine Küchenmaschine fliegt in die Luft, und ein Hund im karierten Regenmantel hopst über die Straße. »Ich befürchte, jeder Einzelne von uns ist Sand im Getriebe der Evolution. Aber was weiß ich schon. Es gibt Dinge im Leben, die weiß niemand.« Was ein sprechender Stein, ein verschwundener Großvater und eine Burg auf Spitzbergen mit der Frau zu tun haben, die ein Reiskorn mit den Fingern durch eine geschlossene Tür schnippen kann... ...das alles und noch viel mehr in der ebenso schrägen wie absurden Fortsetzung von »Die Gilde der Ewigen Zeit«.
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Bert von Norden wurde in Bremen geboren, ist aufgewachsen und lebt in Norddeutschland.
In der Schule fand er Goethes Faust und Homo Faber doof.
Er machte und mag Filme und Musik, tanzt aber nicht.
Bert von Norden entdeckte seine Passion fürs Schreiben während einer Hochhaussprengung an einem Regentag in Bad Salzuflen.
ebenfalls von Bert von Norden erschienen:
Fussel schweben in der Luft
Die Gilde der Ewigen Zeit
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Vor ein paar Jahren in Griechenland
»Was für eine Sauerei!«, schimpfte Eddie Luckner, als er sich neben dem Namco Pony aufrappelte und sich im Schutz des kleinen kantigen Geländewagens, 1977 in Thessaloniki vom Band gelaufen, Staub von den sandfarbenen Klamotten klopfte. Luckner zwinkerte ein paar Mal, wischte sich fluchend einige Sandkörner aus den Augenwinkeln und versuchte, im Rauch etwas zu erkennen. Nachdem dieser sich einigermaßen verzogen hatte, konnte Luckner erleichtert sehen, dass die zwei großen Marmorsäulen immer noch unter ihrer Plane auf der Ladefläche des Steyr 680M, eines ausgemusterten Lastkraftwagens der Schweizer Armee, der auf zweifelhaften Wegen die Peloponnes erreicht hatte, festgezurrt waren.
»Allēloúïa!«, entfuhr es dem Fahrer des LKW, nachdem er vorsichtig hinter seinem Lenkrad hervorgetaucht war, um freudig festzustellen, dass zwar die Frontscheibe des Führerhauses durch diverse Einschusslöcher verunstaltet war, sein Sousaphon aber bis auf eine kleine Delle im Schalltrichter keine Schramme abbekommen hatte. Erleichtert schloss der Grieche sein geliebtes Musikinstrument, das auf dem Beifahrersitz angeschnallt war, in die Arme.
Mit sandiger Frisur und verstaubten Augenbrauen kroch unter dem LKW ein dritter Mann hervor. Der hatte dort Deckung gesucht, nachdem heimtückisch aus den Büschen das Feuer auf die Männer und ihre zwei Fahrzeuge eröffnet worden war, und er geistesgegenwärtig zwei Rauchgranaten auf die Straße geworfen hatte. Als die Granaten unmittelbar vor dem unbekannten Schützen detoniert waren, hatte der sich schnurstracks über die kargen Felsen im Schutz einiger Aleppo-Kiefern, aus deren Rinde das Harz geerntet wird, das dem Retsina seinen Geschmack verleiht, davon gemacht.
Es roch nach abgefackelten Feuerwerkskörpern. Die Luft flimmerte. Hinter einem Mastixstrauch geduckt beobachtete eine Waldschnepfe, was da einige Meter vor ihr auf der sandigen Piste vor sich ging.
»Alles in Ordnung, Chatzi?«, rief Luckner dem Mann im Führerhaus des LKW zu.
»Ja, und bei Euch?« Der Fahrer hatte die Seitenscheibe heruntergekurbelt, hielt den verschwitzten Kopf aus dem Fenster. Seine feuchte Stirn glänzte in der Sonne. Er kniff die Augen zusammen, um im sich verziehenden Rauch alles etwas besser erkennen zu können.
»Hier auch«, antwortete Luckner.
»Nicht so ganz«, meldete sich der dritte Mann, der neben der Ladefläche des Steyr stand und die Plane angehoben hatte, um den Zustand der meterlangen Säulen zu begutachten.
Luckner kam um den LKW geeilt. »Was meinst du?«
»Sieh es dir an«, forderte ihn der dritte Mann auf.
Als auf die Männer und ihre Fahrzeuge geschossen wurde, hatten die Säulen ein paar Treffer abbekommen, und nun wies deren halbkreisförmige Kannelierung ein paar unschöne Einschusslöcher auf.
Luckner machte ein verkniffenes Gesicht, schaute hin und her, schnaufte kurz durch die Nase. »Nicht schön, aber selten«, meinte er und rief: »Wie weit ist es noch?«
Der Fahrer hatte sich mittlerweile an seinem Sousaphon vorbei gequetscht und schaute nun aus dem Beifahrerfenster des Führerhauses. »Ich schätze, noch 15 Kilometer bis Nea Kios«, gab er zurück.
Der dritte Mann blickte in die Ferne auf die schindelgedeckten Häuser des pittoresken Fischerortes am Argolischen Golfs. »Wie heißt nochmal das Schiff?«, wollte er wissen.
»Die Torte der Kathode«, antwortete Luckner.
Zuvor:
Ein kleiner feiner Knall ließ mich aufschrecken. Ich war wohl kurz eingenickt und massierte mein Sofa, als es an der Tür klingelte. Als ich nachsehen wollte, wer das wohl sein könnte, entdeckte ich ein winziges Loch in meiner Wohnungstür, und ein Reiskorn auf dem Boden liegen. Ich öffnete die Tür.
Das erste worauf mein Blick fiel, war eine violette Lederjacke, die sich hauteng an ein sehr sympathisches Dekolleté schmiegte. Die übrigen wohligen Wölbungen, die sich unter der Jacke abzeichneten, wurden vom matschigen Licht der Treppenhauslampe angenehm betont.
Vor mir stand Penelope Wong, die einzige mir bekannte Frau, die ein Reiskorn mit den Fingern durch eine geschlossene Tür schnippen kann. Breitbeinig, die Hände ich die Hüften gestemmt, durchbohrte sie mich mit einem Blick, so scharf wie eine 8.000.000-Scoville-Chilischote.
»So, junger Mann«, lächelte sie mich an, »dann lass uns deinen Großvater finden.«
Jetzt:
Wong drückte mir eine gefüllte Papiertüte in die Hand. Die Tüte stammte von der mir bis dato unbekannten Konditorei Glupsch, und war mit dem Spruch Back to the future bedruckt. Wong rauschte an mir vorbei in die Tiefen meiner Wohnung hinein und war in meiner Küche verschwunden noch bevor ich irgendetwas zu ihr sagen konnte.
»Ich habe uns eine kleine Leckerei zum Kaffeeklatsch mitgebracht«, hörte ich sie rufen. »Ich weiß zwar noch nicht, wie wir das anstellen, aber mir wird schon etwas einfallen. Also wegen deines Großvaters, meine ich.«
Bevor ich Wong mit der Konditorei-Tüte folgte, sammelte ich das Reiskorn ein, schloss die Wohnungstür und begutachtete das kleine Loch darin. Nichts, was man nicht reparieren könnte, entschied ich.
In der Küche drapierte Wong gerade die mitgebrachten Konditorei-Erzeugnisse auf zwei Kuchenteller, die sie bereits aus dem Schrank gezupft hatte.
»Woher wussten Sie ...«, setzte ich an.
»Wer du bist, und wie ich dich finde?«, führte Wong meine Frage zu Ende. »Dein Großvater hatte zwar seine Geheimnisse vor uns, aber über dich hat er einiges erzählt.«
»Mir gegenüber hat er Sie nie erwähnt«, beschwerte ich mich.
Wong lächelte mich an. »Das ist auch gut so. Und übrigens: Du musst nicht ›Sie‹ sagen, nenn mich einfach Pen.«
Ich nickte.
»Ich glaube, er wusste etwas, was wir nicht wussten, und mit dem er niemanden behelligen wollte«, erzählte Wong weiter. »Ich glaube, er verfolgte einen Plan. Er wusste stets ganz genau, was zu tun war ... immer war alles perfekt organisiert.« Sie trug die Kuchenteller, belegt mit zwei luftigen, saftigen und in der Mitte fruchtigen Quarkplundern, in mein Wohnzimmer. »Gerne würde ich sagen, einfach so plötzlich von der Bildfläche zu verschwinden, wäre nicht seine Art ... aber, naja.«
Ich dachte kurz nach. »Du meinst, sein Verschwinden gehört mit zu dem ... Plan?!«
»Ich weiß es nicht. Aber nun erzähl doch mal«, forderte Wong mich auf. Sie schlüpfte aus ihrer Lederjacke und besetzte mein Sofa – ebenfalls aus Leder, aber im Gegensatz zu Wong, schwarz und kantig. Wong schlug die Beine übereinander, balancierte ihren Kuchenteller auf einem ihrer Knie.
Während wir unsere kleine Leckereien genossen, berichtete ich Wong von allem, was passiert war. Vom Verschwinden meines Großvaters, vom Wichtelmännchen und dem Sparkommissar, von der weißen Welt, von Dr. Tetraeder und den Allwissenden, vom Multigravitationshaus und der Schlacht in der Bar Kokolores.
Mein ausführlicher Bericht weitete sich aus wie ein Tropfen Geschirrspülmittel auf einem Teller Hühnersuppe, schien uns aber in der Sache nicht weiter zu bringen. Wong nickte dann und wann, schüttelte den Kopf oder steuerte ein nichtssagendes »hm« bei, hatte aber ansonsten dazu nicht all zu viel zu sagen und schien von den absurden Geschehnissen auch nicht besonders beeindruckt zu sein.
»Da hast du ja einiges erlebt«, sagte sie, nachdem ich zu Ende erzählt hatte.
Sie dachte nach. »Dann weißt du ja, dass ich zusammen mit ein paar Anderen für deinen Großvater gearbeitet habe«, meinte sie, stellte ihren leeren Kuchenteller beiseite und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Zuckerguss-Krümel aus dem Mundwinkel. »Er war ein Geheimniskrämer. Er hat uns nie verraten, was das für Dinge waren, die wir für ihn beschaffen sollten. ... Vielleicht hätte ich mal in eines der Pakete reinschauen sollen, die wir für ihn besorgt haben. Aber wir hatten eine Vereinbarung mit ihm, eben dies nicht zu tun«, sagte sie. Und nach einer kurzen Pause: »Ich gebe zu, es wird nicht einfach, herauszufinden, wo dein Großvater sein könnte.«
»Was ist denn mit Mombusa oder Luckner ... könnten die nicht...?«, fragte ich.
Wong schüttelte den Kopf. »Die wissen genauso wenig wie ich. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
Wir saßen einen kurzen Moment still da.
»Findest du es nicht merkwürdig, dass dir all diese Sachen passiert sind, nach dem du angefangen hast, deinen Großvater zu suchen?«, fragte Wong.
»Was meinst du damit?«
»Es macht fast den Eindruck, als würden dir diese, ich nenne sie mal ›Vorfälle‹, die Suche absichtlich erschweren«, erklärte Wong. »Als würden dir zielgerichtet Schwierigkeiten in den Weg geworfen, damit du deinen Großvater nicht so schnell findest.«
»Hm, darüber habe ich noch nicht nachgedacht ...«, meinte ich.
»Okay, sein Verschwinden muss etwas mit den Paketen und den Dingen darin zu tun haben«, beschloss Wong. »Aber wo fangen wir an ... Hat Dir dein Großvater überhaupt keine Nachricht hinterlassen, oder irgendeinen Hinweis?«, wollte sie nun wissen.
»Nein«, war meine kurze, aber präzise Antwort.
Draußen knallte es gewaltig. Ich stand auf, schaute aus dem Fenster hinaus und stellte fest, dass mein merkwürdiger Nachbar durch sein Küchenfenster gewaltsam einen alten Ledersessel aus seiner Wohnung entfernt hatte. Dieser lag nun als unattraktiver Trümmerhaufen aus Holz, Leder und Metallfedern vor dem Haus, machte den Gehweg unpassierbar. Mein Nachbar wedelte mir mit seiner Gasmaske von seinem Fenster eine kurze Begrüßung zu, bevor er wieder in seine Küche verschwand.
Im gegenüberliegenden Schulgebäude gab es eine Souterrainwohnung, deren Fenster mit gerafften Gardinen verschönert waren. Aus deren Eingang kam der dort wohnende Schulhausmeister auf die Straße geeilt. Er hielt eine Schneeschaufel mit beiden Händen umklammert und schaute sich grimmig um, wer ihm beim Genuss seiner Lieblings-Daily-Soap Bratwurst und bebende Leidenschaft gestört hatte.
In Folge 2146 stellt nämlich die Anästhesie-Assistentin Gaby fest, dass der vor ihr ausgebreitete, angeschlagene Patient der lokale Wurstfabrikant Ansgar ist – Stiefvater von Frieder, Besitzer einer Imbissbude -, der heimlich mit seiner Jugendliebe Leni, Mutter von Gaby, nach Sansibar abhauen will.
Jeanette, Ansgars Frau, ahnt von nichts, ist aber ohnehin für die Handlung der Serie nicht besonders relevant.
Hotelbetreiberin Doris, die ein Verhältnis mit Frieders Zwilligsbruder Elmar hat, und im Reisebüro war, um ihren Urlaub in der Sächsischen Schweiz zu buchen, konnte dort beobachten, wie Ansgar zwei Flugtickets nach Sansibar abholte. Nun hat sie versucht, Ansgar zu erpressen. Auch wegen der Sammlung alter Autoreifen, die sie auf Ansgars Firmengrundstück entdeckt hat.
Im Krankenhaus wird Gaby vom Rettungssanitäter Maurice berichtet, dass Elmar – der gar nicht weiß, dass er einen Zwillingsbruder hat – früher eine WG in Bergisch Gladbach mit ihm bewohnte. Bei der anschließenden Begegnung mit Elmar erkennt Gaby in ihm den jungen Mann wieder, der ihr während ihres Medizinstudiums in Genf als Paolo vorgestellt wurde.
Frieder ist derweil im Baumarkt, um sich einen Innensechskantschlüssel für die Montage einer neuen Wursttheke zu beschaffen. Im Kassenbereich lernt er Jeanette kennen, weil er einen teuren Keramik-Übertopf, der aus Jeanettes Einkaufswagen stürzt, davor bewahrt, auf dem Boden zu zerschellen.
Weil der Schulhausmeister nicht ausmachen konnte, woher der Lärm kam, der ihn aus der komplexen Serien-Handlung gerissen hatte, zog er sich kopfschüttelnd wieder in seine Wohnung zurück. Die Schneeschaufel schleifte er lustlos hinter sich her.
Als ich mich wieder Wong zuwandte, lief die mit verschränkten Armen in meinem Wohnzimmer umher. Wongs Lederjacke, die sie sich wieder übergeworfen hatte, quietschte wie ein durstiges Mäuschen.
Wären mein Besuch und ich Protagonisten in einem Film oder Roman gewesen, hätte Wong plötzlich eine Eingebung gehabt, und wir wären in ein wahnwitziges Abenteuer verwickelt worden, das uns nach einer rasanten Verfolgungsjagd und der Begegnung mit den schießwütigen Schergen einer uns nicht wohlgesonnenen Geheimorganisation schließlich zu meinem Großvater geführt hätte.
Aber leider lief Wong nur nachdenklich auf und ab, und ganz unspektakulär klingelte mein Telefon. Es war der Gernot.
»Das war noch längst nicht alles. Da kommt noch was. Du solltest aufpassen«, meinte der, ohne mir erst einmal ›Hallo‹ zu sagen. »Und übrigens: Dein Besuch ist fort.«
»Was?«, fragte ich verdutzt. Dann verstand ich, drehte mich um, und tatsächlich: Wong war weg.
Als ich die leeren Kuchenteller in die Küche zurückbrachte und ins Spülbecken stellte, nachdem ich die letzten Quark-Plunder-Krümel mit einer lockeren Handbewegung in den Mülleimer befördert hatte, huschte ein Silberfischchen in den Abfluss.
Ich dachte: »Soso.«
Am Abend besetzte ich, kurz nachdem die Bar geöffnet hatte, meinen Stammplatz am massiven, neuen Zement-Tresen der Kokolores. Der ebenfalls neue, nicht weniger massive Barkeeper, mit blondiertem Man Bun Undercut und ähnlich dunkler Hornbrille wie sein Vorgänger, spülte gerade ein paar Gläser aus. Die Ärmel seines schwarz changierenden Hemdes im Ausbrenner-Look, das am Bauch etwas spannte, hatte er nach italienischer Art hochgekrempelt und nickte mir gähnend zur Begrüßung zu. Dann trocknete er die Gläser mit einem modrigen Lappen ab, der lässig über seine Schulter gelegt war. Das übergebliebene Kunstfaserhemd des vorigen Barkeepers hatte man in einen pseudo-barocken Bilderrahmen eingesperrt und hinter dem Tresen an die Wand genagelt.
Nach der üppigen Randale war das ohnehin bereits lädierte Interieur der Kokolores weitgehend wieder hergestellt worden, so dass nichts mehr erahnen ließ, was hier vor ein paar Tagen los gewesen war. Der leichte Geruch nach Spanplatten und frischer Farbe konnte allerdings nicht gegen die Aromen von Alkoholika und Parfums anstinken, die sich in der Einrichtung Bar in den Abenden nach dem Zwischenfall wieder festgefressen hatten.
Die neu installierten gläsernen Regale präsentierten eine reichhaltige Auswahl alkoholischer Getränke. Bekannte Gesöffe, aber auch Raritäten mit schicken Flaschen-Etiketten - perfekt für Oldschool-Drinks und abenteuerliche Kreationen.
Die Decke der Bar war nicht mehr mit Styropor, sondern mit raffiniert geformtem Bauschaum verkleidet, der nachträglich noch lackiert worden war, so dass es nun in der Kokolores aussah, als befände man sich auf einer Exkursion durch eine goldene Tropfsteinhöhle. Nicht ganz passend dazu waren die Wände mit frischem karminrotem Pannesamt bezogen. Statt des Spielautomaten hatte man dem Interieur ein Aquarium spendiert, an dessen Grund ein kleiner Totenkopf von Zeit zu Zeit Blubberblasen ausspie und damit die über ihm kreisenden Guppys irritierte. Das Porträt des bärtigen Mannes mit Ledermütze war leider dem Sachschaden zum Opfer gefallen. Ebenso die kleinen Vasen mit den Ranunkeln, die ich ohnehin nicht mochte. Aus den kleinen, in verschiedenen Ecken der Decke angebrachten Lautsprecherboxen nölte Mark E. Smith: »I can hear the grass grow«.
Langsam aber schneller als üblich füllte sich die Bar mit Gästen. Das lag wohl daran, dass an diesem Abend in der benachbarten Diskothek Brummbunker ein Konzert von Ben Elektro feat. Ketchup-Blondie stattfinden sollte, und man sich in der Kokolores zum altbekannten Vorglühen traf. Der Name der Band sagte mir nichts, aber ich entdeckte einen herumliegenden, schief geschnittenen Flyer, kopiert auf neonfarbenem Papier, der irgendeinen Ambient-Disco-Murks androhte.
Immer mehr breitete sich der Geruch von Haarspray und Duftwässerchen aus. Es dauerte nicht lange, bis mich das penetrante Publikum, das sich mit komischen Frisuren und farbenfrohen Klamotten darauf freute, im Brummbunker den Tanzboden malträtieren zu dürfen, unangenehm berührte.
Kurz nach Konzertbeginn, als in der Bar etwas Ruhe eingekehrt war, und man durch die Wände ein eintöniges Wummern aus der Diskothek nebenan wahrnehmen konnte, verließ ich nach dem Genuss zweier leckerer Kaltgetränke die Kokolores und schlenderte gemütlich durch die leeren Straßen nachhause. Am Straßenrand lagen grelle, gesichtslose Kürbisse, über die ich mich ein wenig wunderte.
»Kissenschlacht!«, schrie plötzlich jemand, und wie auf Kommando flogen daraufhin unzählige Kissen aus unterschiedlichen Richtungen kreuz und quer an mir vorbei, verfehlten mich nur knapp. Einige blieben an Hausecken und scharfen Kanten von Straßenschildern hängen und rissen auf, oder prallten so heftig aufeinander, dass sie aufplatzten, und sich massenhaft Federn in der Luft verteilten.
Bald konnte ich nichts mehr sehen, sondern war nur noch damit beschäftigt, mir kitzelnde Daunen aus dem Gesicht und aus dem Nacken zu fuchteln. Immer mehr Kissen wurden geworfen, gingen kaputt, und immer mehr leere Kissenbezüge segelten auf die Straße herab.
Nach und nach baute sich um mich herum eine riesige Wand aus Federn auf. Wie ein gigantisches Federbett ohne Bettbezug. Egal, in welche Richtung ich schaute, überall Federn. Ich konnte nichts ausmachen, an dem ich mich hätte orientieren können, um dem flauschigen Gestöber zu entfliehen.
Ich bewegte mich in einem federfreien, sich dahin schlängelnden, ständig die Richtung wechselnden Korridor zwischen kuschelig weichen Wänden, die um mich herum waberten und alle Geräusche verschluckten. Es war ganz still geworden.
Da vernahm ich ein undefinierbares Quietschen, dass sich mir von irgendwo vor mir durch den Korridor zu nähern