Das dunkle Land - Elizabeth Kostova - E-Book
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Das dunkle Land E-Book

Elizabeth Kostova

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Beschreibung

Alexandra Boyd, eine junge Amerikanerin, kommt nach Sofia, um in Bulgarien Englisch zu unterrichten. Kurz nach ihrer Ankunft gelangt sie durch Zufall in den Besitz einer Urne mit der Asche eines Verstorbenen. Es beginnt eine abenteuerliche Odyssee, denn Alexandra ist entschlossen, die Asche den Hinterbliebenen zurückzubringen. Die Suche nach ihnen führt Alexandra immer tiefer hinein in das wilde, ihr fremde Land und immer weiter hinab in dessen Geschichte. Nach und nach enthüllt sich auf den Stationen ihrer Reise das Schicksal des Verstorbenen: Stoyan Lazarov, ein begnadeter Musiker, dessen Leben von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und von einer großen Liebe bestimmt waren.

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Buch

Alexandra Boyd kommt eigentlich nach Sofia, um dort Englisch zu unterrichten. Doch kurz nach ihrer Ankunft kommt es durch eine Verkettung von Zufällen zu einem Missgeschick: Als Alexandra einem älteren Paar in ein Taxi hilft, bemerkt sie zu spät, dass versehentlich eine Tasche der beiden zurückgeblieben ist. Sie entdeckt darin eine kunstvoll mit Schnitzereien verzierte Holzschatulle, die offensichtlich die Asche eines Verstorben enthält. Auch der Name des Toten ist eingraviert: Stoyan Lazarov. Ein Versuch, die Polizei einzuschalten, um die Urne ihren Besitzern zurückzugeben, scheitert. Und so macht sich Alexandra schließlich selbst auf die Suche nach der Familie des Toten. Dabei hilft ihr der bulgarische Taxifahrer „Bobby“. Die beiden beginnen eine Reise tief hinein in das so schöne wie geheimnisvolle Land. Auf ihren Stationen liegen alte Klöster, entlegene und scheinbar der Zeit enthobene Bergdörfer und ein vor der Öffentlichkeit verborgener Ort mit grausamer Vergangenheit. Nach und nach enthüllt sich auf den Stationen ihrer Reise das Schicksal des Verstorbenen, eines begnadeten Musikers, dessen Leben von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und von einer großen Liebe bestimmt war … »Die Idee zu diesem Roman kam in Gestalt eines Traums zu mir: Ich sah, wie jemand einer jungen Frau eine Schatulle mit der Asche eines Verstorbenen überreichte. Noch im Traum wusste ich, dass es die Aufgabe dieser Frau war, dem Toten sein Leben zurückzugeben, indem sie seine Geschichte aufdeckte. Die Kraft dieser Ausgangssituation trieb meine Arbeit über all die Jahre an.«Elizabeth Kostova

Autorin

Elizabeth Kostova, geboren 1964 in Connecticut, ist die Autorin der internationalen Bestseller »Der Historiker« und »Schwanendiebe«. Sie verbrachte bereits in ihrer Jugend viel Zeit in Europa und lernte später bei einem Bulgarienaufenthalt ihren künftigen Mann kennen. Sie ist Mitbegründerin der Elizabeth Kostova Foundation für kreatives Schreiben in Bulgarien und gehört dem Hochschulrat der American University of Bulgaria an. Mehr Information zu Elizabeth Kostova und ihrem Werk finden Sie unter www.elizabethkostova.com

Aus dem Englischen übersetzt vonThomas Mohr

ЗАГЕОРГИНОЕМВРИ1989С ОБИЧ

für Georgi

November 1989

in Liebe

DENKE DU,

WIE DIR’S GEFÄLLT;

DOCH IHN BEGRAB ICH.

Sophokles, Antigone

Dieses Buch ist ein altmodischer Zug mit vielen Waggons, der bei Nacht schwerfällig über die Schienen rollt. Ein Wagen birgt einen kleinen Kohlevorrat, der sich auf den Gang ergießt, wenn die Innentür geöffnet wird. Allenthalben häuft sich ölig-schwarzer Grus. Ein anderer Waggon enthält für den Export bestimmtes Getreide. Einen Wagen haben Musiker mit ihren Instrumenten und billigen Reisetaschen in Beschlag genommen, fast ein halbes Orchester, das, streng getrennt nach Freund und Feind, die Abteile der zweiten Klasse bevölkert. Ein weiterer Waggon ist voller böser Träume. Der letzte Wagen hat keine Sitze, und dicht gedrängt im Dunkeln liegen Schlafende auf ihren Mänteln ausgestreckt.

Die Tür dieses Waggons ist von außen zugenagelt.

ERSTES BUCH

Eins

Sofia, das Jahr: 2008. Der Monat: Mai. Es herrschte strahlendes Frühlingswetter, und die Göttin Kapitalismus saß auf ihrem bröckelnden Thron. Auf der obersten Stufe der Vortreppe des Hotel Forest stand eine junge Frau, eigentlich eher Mädchen als Frau, Fremde und Fremdkörper zugleich. Vom Hotel blickte man auf das NDK, den Kulturpalast des früheren kommunistischen Regimes, einen gigantischen Betonklotz, der jetzt von Teenagern umlagert wurde; ihre gegelten Spikes glitzerten in der Sonne, die auf den belebten Platz herabschien. Alexandra Boyd, erschöpft von einem schier endlosen Flug, sah den bulgarischen Kids auf ihren Skateboards zu und versuchte, sich das lange glatte Haar hinter das Ohr zu streichen. Zu ihrer Rechten erhoben sich graue und ockerfarbene Mietskasernen neben moderneren Gebäuden aus Glas und Stahl sowie eine Plakatwand mit dem Bild einer Bikinischönheit, deren Brüste sich nach einer Flasche Wodka reckten. Unweit der Reklametafel blühten imposante Bäume in Weiß und Magenta – Rosskastanien, die Alexandra von einem Studientrip nach Frankreich kannte, ihrer einzigen anderen Europareise. Sie hatte trockene Augen, und der Schweiß auf ihrer Kopfhaut juckte. Sie musste dringend essen, duschen, schlafen – ja, schlafen, nach dem letzten Flug von Amsterdam, bei dem sie alle paar Minuten aus ihrem Dämmer gerissen worden war, zurück in ihr selbst gewähltes Exil in den Wolken. Sie sah auf ihre Füße, um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren. Bis auf ein Paar hellrote Sneakers war sie schlicht gekleidet – dünne Bluse, Jeans, eine um die Hüften geknotete Strickjacke –, sodass sie sich neben den maßgeschneiderten Röcken und High Heels, die an ihr vorüberstöckelten, geradezu schäbig vorkam. An ihrem linken Handgelenk trug sie ein breites schwarzes Armband, dazu passend lange Obsidianohrringe. Sie umklammerte die Griffe eines Rollkoffers und einer dunklen Satchel-Bag, in der sich ein Reiseführer, ein Wörterbuch und Kleider zum Wechseln befanden. An ihrer Schulter baumelten ihr Laptop und die bunte Umhängetasche, in der ihr Notizbuch und ein Gedichtband von Emily Dickinson steckten.

Vom Flugzeug aus hatte Alexandra eine von Bergen umringte Stadt gesehen, flankiert von Wohntürmen, die wie Grabsteine in die Höhe ragten. Als sie mit ihrer neuen Kamera in der Hand aus der Maschine gestiegen war, hatte sie ungewohnte Luft geatmet – Kohle und Diesel, dann ein Windstoß, der nach frisch gepflügter Erde roch. Sie war mit dem Flughafenbus zum Ankunftsterminal gefahren und hatte die nagelneuen Zollkabinen bestaunt, die schweigsamen Beamten, den exotischen Stempel in ihrem Pass. Ihr Taxi war eine Zeit lang durch die Außenbezirke Sofias gekurvt, ehe es ins Herz der Hauptstadt vorgestoßen war – ein unnötiger Umweg, wie sie jetzt vermutete –, vorbei an Straßencafés und Laternenmasten, an denen entweder Werbung für Sexshops oder Wahlplakate hingen. Durch das Taxifenster hatte sie uralte Opels und Fords fotografiert, neue Audis mit getönten Scheiben wie im Gangsterfilm, große, sich träge dahinschleppende Busse und Straßenbahnen wie scheppernde Megalosaurier, deren Räder grelle Funken schlugen. Mit Verwunderung hatte sie festgestellt, dass die Stadtmitte gelb gepflastert war.

Doch der Fahrer hatte sie offenbar irgendwie missverstanden und sie hier abgesetzt, am Hotel Forest, nicht an dem Hostel, wo sie schon vor Wochen ein Zimmer gebucht hatte. Das allerdings hatte Alexandra erst bemerkt, nachdem er davongefahren und sie die Vortreppe hinaufgestiegen war, um sich das Hotel aus der Nähe anzusehen. Jetzt war sie allein, so allein wie noch nie in ihren sechsundzwanzig Lebensjahren. Mitten in einer Stadt mit einer Geschichte, von der sie allenfalls eine vage Ahnung hatte, unter Menschen, die zielstrebig an ihr vorübereilten, und sie fragte sich, ob sie die Treppe wieder hinabsteigen und nach einem Taxi Ausschau halten sollte. Sie bezweifelte, dass sie sich diesen Monolith aus Glas und Beton würde leisten können, der hinter ihr in den Himmel ragte, mit seinen dunklen Fenstern und krähengleichen Gästen in grauen Anzügen, die unablässig ein und aus hetzten oder vor dem Eingang standen und rauchten. Eins schien gewiss: Hier war sie an der falschen Adresse.

Alexandra hätte vielleicht noch ein paar Minuten lang so dagestanden, doch plötzlich glitt die Tür hinter ihr auf, und als sie sich umdrehte, verließen drei Personen das Hotel. Ein weißhaariger Mann im Rollstuhl, auf dessen Schoß sich mehrere Reisetaschen stapelten. Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters, der sich mit einer Hand an dem Stuhl und mit der anderen an einem Handy festhielt; er telefonierte. Neben ihm stand ihre Begleitung, eine alte Frau, O-beinig in ihrem schwarzen Kleid; mit einer Hand umfasste sie den Ellbogen des hochgewachsenen Mannes, an der anderen baumelte eine Handtasche. Ihr Haar war rötlich braun, durchsetzt mit grauen Strähnen, die strahlenförmig von einem schmerzlich kahlen Scheitel ausgingen. Der Mann mittleren Alters beendete sein Telefongespräch. Die alte Frau sah zu ihm hoch, und er beugte sich zu ihr hinab und raunte ihr etwas ins Ohr.

Alexandra trat beiseite, beobachtete, wie die drei sich mühsam auf die Treppe zubewegten, und verspürte, wie schon so oft, einen Anflug von Mitleid für das Schicksal anderer Menschen. Anders als zu Hause gab es hier weder einen Behindertenzugang noch eine Rollstuhlrampe. Doch der dunkelhaarige, hochgewachsene Mann schien übermenschliche Kräfte zu besitzen; er bückte sich und hob den alten Mann mitsamt dem Gepäck aus seinem Rollstuhl. Und die Frau schien in ihrem leeren Blick zum Leben zu erwachen, lange genug, um den Stuhl mit ein paar geübten Handgriffen zusammenzuklappen und ihn langsam die Treppe hinunterzutragen – auch sie war kräftiger, als sie aussah.

Alexandra ließ sich von ihrer Energie anstecken, nahm ihre Taschen und ihren Koffer und folgte ihnen. Am Fuß der Treppe setzte der hochgewachsene Mann den Alten wieder in seinen Rollstuhl. Sie ruhten sich einen Moment lang aus; Alexandra stellte sich zu ihnen an den Taxistand. Ihr fiel auf, dass der Mann eine schwarze Weste und ein blütenweißes Hemd trug, zu warm, zu förmlich für einen Tag wie heute. Auch seine Hose war ein wenig zu glänzend, seine schwarzen Schuhe etwas zu blank poliert. Sein dichtes, silbrig schimmerndes dunkles Haar war streng aus der Stirn gekämmt. Ein markantes Profil. Aus der Nähe sah er jünger aus, als sie zunächst angenommen hatte. Er runzelte die Augenbrauen, sein Gesicht war gerötet, sein Blick messerscharf. Er mochte achtunddreißig sein, vielleicht aber auch schon fünfundfünfzig. Trotz ihrer Erschöpfung kam ihr der Gedanke, dass er extrem gut aussah, breitschultrig und elegant in seiner irgendwie altmodischen Kleidung, die Nase lang und aristokratisch, schmale, strahlende Augen über hohen Wangenknochen, als er sich leicht in ihre Richtung drehte. Zarte Grübchen umspielten seinen Mund, als habe er noch ein anderes Gesicht, mit dem er zu lächeln pflegte. Er war wohl doch etwas zu alt für sie. Seine Hand hing schlaff herab; zwei Schritte, und sie hätte sie berühren können. Tatsächlich verspürte sie ein leises Verlangen und wich unwillkürlich ein Stück zurück.

Nun ging der hochgewachsene Mann zum Fenster des ersten Taxis und begann mit dem Fahrer zu verhandeln, der lauthals protestierte; Alexandra fragte sich, ob sich aus alldem vielleicht etwas lernen ließ. Während sie noch zusah, befiel sie mit einem Mal ein leichter Schwindel, und der Verkehrslärm ebbte ab zu einem unangenehmen Summen in den Ohren, nur um gleich darauf mit umso größerer Lautstärke zurückzukehren – Jetlag. Der hochgewachsene Mann und der Fahrer schienen sich nicht einigen zu können, auch nicht, als die alte Frau hinzutrat und ihrer Empörung wortreich Ausdruck verlieh. Der Fahrer winkte ab und kurbelte das Fenster hoch.

Der hochgewachsene Mann nahm das Gepäck, drei oder vier Stoff- und Nylontaschen, und ging zum nächsten Taxi, nur ein paar Schritte von Alexandra entfernt. Sie nahm sich vor, es bei dem ersten Fahrer gar nicht erst zu versuchen. Nach kurzem Feilschen öffnete der hochgewachsene Mann den Fond des preiswerteren Taxis. Er stellte das Gepäck auf den Gehsteig und half der gebeugten Gestalt aus dem Rollstuhl in den Wagen.

Alexandra hätte sich ihnen wohl nicht genähert, wenn die Frau bei dem Versuch, sich neben den alten Mann auf den Rücksitz zu zwängen, nicht plötzlich gestolpert wäre. Alexandra streckte die Hand aus und packte die Frau am Oberarm, fester, als sie es sich zugetraut hätte. Durch den schwarzen Stoff des Ärmels spürte sie einen Knochen, erstaunlich warm und fragil. Die Frau wandte den Kopf und starrte sie an, dann rappelte sie sich hoch und sagte etwas auf Bulgarisch, worauf der hochgewachsene Mann Alexandra zum ersten Mal anblickte. Er war vielleicht doch nicht ganz so attraktiv, überlegte sie; aber seine Augen waren bemerkenswert – größer, als sie von der Seite ausgesehen hatten, die Iris bernsteinfarben, wenn ihm die Sonne ins Gesicht schien. Er und die alte Frau bedachten sie mit einem Lächeln. Er half seiner Mutter behutsam in den Fond des Taxis und streckte die andere Hand nach dem Gepäck, ganz so, als wüsste er, dass Alexandra ihnen ein weiteres Mal zu Hilfe kommen würde. Was sie auch tat; sie nahm sämtliche Taschen auf einmal und reichte sie ihm. Plötzlich schien er es eilig zu haben. Sie umklammerte ihre Satchel-Bag, ihren Laptop und besonders ihre Umhängetasche etwas fester, für alle Fälle.

Er richtete sich auf und betrachtete die Taschen, die sie ihm gereicht hatte. Wieder sah er sie an.

»Haben Sie vielen Dank«, sagte er auf Englisch mit starkem Akzent – war es so offensichtlich, dass sie hier fremd war?

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und kam sich töricht vor.

»Sie haben mir doch schon geholfen«, sagte er. Nun war seine Miene traurig, sein Lächeln verflogen. »Machen Sie Ferien in Bulgarien?«

»Nein«, sagte sie. »Ich unterrichte. Sie sind wohl nicht aus Sofia?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde ihr klar, wie unhöflich sie geklungen hatte. Zwar wirkten er und seine alten Eltern in dieser Umgebung in der Tat nicht sonderlich kosmopolitisch. Aber sie hatte seit fast zwei Tagen mit niemandem mehr gesprochen und wollte sich noch ein wenig mit ihm unterhalten, obwohl der alte Mann und die alte Frau im Taxi auf ihn warteten.

Er schüttelte den Kopf. In ihrem Reiseführer hatte sie gelesen, dass bei den Bulgaren ein Nicken »nein« bedeutete und ein Kopfschütteln »ja«, aber beileibe nicht alle an dieser Tradition festhielten. Sie fragte sich, in welche Kategorie der hochgewachsene Mann wohl fallen mochte.

»Eigentlich … wollten wir zum Kloster Velin«, sagte er. Er warf einen Blick über die Schulter, als hielte er nach einem Verfolger Ausschau. »Es ist sehr schön und berühmt. Sie müssen es sich ansehen.«

Sie mochte seine Stimme. »Ja, ich werde es mir merken«, sagte sie.

Nun lächelte er doch – schwach, nur eine Andeutung von Grübchen. Er roch nach Seife und nach frisch gewaschener Wolle. Er wollte sich eben abwenden, als er jäh innehielt. »Gefällt es Ihnen in Bulgarien? Man sagt, dass hier alles passieren wird. Passieren kann«, verbesserte er sich.

Alexandra war noch nicht lange genug in Sofia, um sich ein Urteil über das Land bilden zu können.

»Es ist wunderschön«, sagte sie und musste an die Berge denken, die sie beim Anflug auf die Stadt gesehen hatte. »Wirklich wunderschön«, setzte sie mit etwas mehr Nachdruck hinzu.

Er legte den Kopf schief, verbeugte sich knapp – höfliche Menschen, diese Bulgaren – und wandte sich zum Taxi.

»Darf ich Sie fotografieren?«, fragte sie hastig. »Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie sind die ersten Bulgaren, mit denen ich spreche.« Sie wollte ein Foto von ihm – von dem interessantesten Gesicht, das sie je gesehen hatte und das sie vermutlich niemals wiedersehen würde.

Der Mann neigte sich bereitwillig zu der offenen Wagentür, auch wenn er ein wenig beklommen wirkte. Sie hatte den Eindruck, dass er in Eile war. Die alte Frau hingegen beugte sich aus dem Fenster und schenkte Alexandra ein strahlendes Lächeln: ein Gebiss, zu weiß und regelmäßig. Der alte Mann rührte sich nicht; er saß im Fond des Taxis und starrte stur geradeaus. Alexandra zog die Kamera aus ihrer Umhängetasche und drückte rasch auf den Auslöser. Sie überlegte, ob sie ihnen anbieten sollte, ihnen das Bild später zu schicken, aber sie wusste nicht, ob alte Leute – oder elegant gekleidete Männer mittleren Alters – hierzulande Fotos per E-Mail auszutauschen pflegten, zumal mit Ausländern.

»Mersi«, sagte sie. Das war die bulgarische Kurzform für »danke«; sie wagte es nicht, das längere, sehr viel kompliziertere Wort in den Mund zu nehmen, das sie sich einzuprägen versucht hatte. Der hochgewachsene Mann starrte sie einen Augenblick lang an, und seine Miene schien jetzt noch trauriger als zuvor. Er hob die Hand zum Abschied und schloss den Fond des Taxis. Dann schwang er sich auf den Beifahrersitz. Ihr Gespräch hatte nur wenige Minuten gedauert, dennoch hatte ein Fahrer weiter hinten die Geduld verloren und hupte. Der Chauffeur der kleinen Familie brauste mit quietschenden Reifen davon und war gleich darauf im reißenden Verkehrsstrom verschwunden.

Zwei

Und nun? Der Fahrer des nächsten Taxis hatte sie offenbar bemerkt; er kurbelte das Fenster herunter und sah derart aufgeweckt zu ihr herüber, dass er sie bestimmt zu ihrem Hostel bringen würde.

»Taxi?«, rief er. Sie betrachtete sein hübsches Gesicht und seine weit auseinander stehenden Augen, die ersten blauen Augen, die sie seit ihrer Ankunft in Sofia gesehen hatte. Er hatte glattes helles Haar, das ihm in einem Pony in die Stirn fiel, ähnlich wie die Pilzköpfe der Beatles. Als sie ihm den Zettel hinhielt, auf dem sie in kyrillischen Schriftzeichen die Adresse notiert hatte, nickte er sofort und hob die Finger, um ihr den Fahrpreis in Lewa anzuzeigen. Ein ehrlicher Typ, und anscheinend meinte er ja, wenn er nickte. Er stieg aus, nahm ihren großen Koffer und verstaute ihn im Kofferraum.

Alexandra zwängte sich eilig in den Fond des Taxis. Obwohl sein Gesicht im Spiegel recht sympathisch wirkte, sprach er kein weiteres Wort mit ihr; offenbar wusste er bereits alles, was er über sie zu wissen brauchte. Sie stellte die Taschen neben sich auf den Rücksitz. Endlich konnte sie sich zurücklehnen. Der Fahrer fädelte sich in den Verkehr ein und bog um die nächste Ecke, und plötzlich waren sie mitten im Getümmel. Sie sah hoch aufgeschossene Pappeln am Straßenrand, dahineilende Passanten in dunkler Kleidung oder Jeans, Teenager in knalligen, englisch bedruckten T-Shirts, funkelnde Glasscherben und Abfall in den schlammigen Rinnsteinen, als sei dies Großstadt und schäbige Provinz in einem. Es war eine andere, eine neue Welt, doch sie hatte keinen Zweifel, dass sie hier gut zurechtkommen würde, vorausgesetzt, sie konnte die Tür hinter sich zumachen und ein paar Stunden schlafen.

In diesem Augenblick bemerkte sie die Tasche des hochgewachsenen Mannes – oder war es die des Vaters? –, die neben ihren Taschen auf dem Sitz stand, die Gurte ein wirres Knäuel in ihrem Schoß. Bei ihrem Anblick durchzuckte sie ein leiser Schauder – schmuckloser schwarzer Stoff, lange schwarze Griffe, schwarzer Reißverschluss. Sie betrachtete sie von allen Seiten. Nein, sie gehörte ihr nicht. Zwar ähnelte sie ihrer kleineren Tasche, aber sie gehörte ihm oder besser ihnen, und sie waren im Dickicht der Stadt verschwunden.

Sie fuhr mit der Hand über die Tasche. Weder der Stoff noch die Griffe trugen eine Aufschrift oder dergleichen. Nach kurzem Zögern öffnete sie den Reißverschluss und suchte im Innern nach einem Adressschild oder Etikett. Sie spürte etwas Hartes, Eckiges, gehüllt in schwarzen Samt. Als sie auch im Innern keinen Hinweis auf den rechtmäßigen Besitzer finden konnte, tastete sie so lange blind umher, bis sie das rätselhafte Objekt von seiner Hülle befreit hatte.

Es war eine kleine Kiste aus Holz – die Oberseite mit kunstvollen Schnitzereien verziert, der Rest wunderschön poliert –, und hier war endlich auch ein Namensschild oder vielmehr eine dünne hölzerne Plakette mit kyrillischer Gravur. Zwei Wörter, das eine länger als das andere: Стоян Лазаровv. Sie spürte, wie das Taxi um eine Ecke bog. Da weiter nichts draufstand, sagte sie die Wörter ganz langsam vor sich hin, mit Hilfe des Alphabets, das sie geübt hatte. Stoyan Lazarov. Keine Daten. Das Ende des zweiten Wortes deutete – nach allem, was sie in ihrem Reiseführer gelesen hatte – darauf hin, dass es sich um einen Nachnamen handelte. Wie betäubt durchsuchte Alexandra die Tasche, doch es war nichts weiter darin. Ohne es wirklich zu wollen, hob sie den mit Scharnieren versehenen Deckel der kleinen Kiste an. Im Innern steckte ein durchsichtiger, fest verschlossener Plastikbeutel. Er war gefüllt mit Asche – dunkelgrau, hellgrau, dazwischen hier und da gröbere weiße Partikel. Sie berührte das Plastik mit der Fingerspitze; unter normalen Umständen hätte ihre Handbewegung wie eine pietätvolle Geste ausgesehen, und trotz ihrer schrecklichen Bestürzung verspürte sie in der Tat so etwas wie ein Gefühl der Pietät.

Alexandra blickte sich um, nach vorn und hinten, auf die undeutliche, verschwommene Stadt. Sie wusste nicht, was tun. Jack hätte es gewusst. Jack, der demnächst achtundzwanzig geworden wäre. In Momenten wie diesen brauchte man einen Bruder. Sie hätten gemeinsam durch Europa wandern können, Seite an Seite, mit geschulterten Rucksäcken.

Sie streckte die Hand über den Sitz, ergriff die knochige Schulter des Fahrers und schüttelte ihn – schüttelte ihn mit aller Kraft.

»Halt!«, rief sie. »Bitte halten Sie an!« Dann fing sie an zu weinen.

Drei

Mein Bruder und ich wuchsen in einer Kleinstadt in den Blue Ridge Mountains auf. Meine Mutter unterrichtete Geschichte an einem örtlichen College, mein Vater Englisch an der Highschool. Kurz nach ihrer Hochzeit hatten sie beschlossen, in die Provinz zu ziehen, und so verbrachten wir einen Großteil meiner Kindheit in einem sehr alten Farmhaus auf dem Land. Dort lebten wir in den Neunzigerjahren fast genau wie die Menschen hundert Jahre zuvor. Das Haus hatte eine umlaufende Veranda mit grau gestrichenen Dielen. Gleich vor der Tür knarrte eine Diele wie eine Art Klingelersatz; Jack, der zwei Jahre älter war als ich, versuchte diese Diele immer wieder zum Sprechen zu bewegen. Dabei hatte das Haus durchaus eine – wenn auch etwas ungewöhnliche – Klingel: einen Messingschlüssel im Türrahmen, den man drehen musste, worauf ein lautes, freundliches Schrillen durch die beiden Stockwerke hallte. Hinter dem Haus, nach Süden hin abfallend, befand sich ein Obstgarten oder vielmehr das, was davon noch übrig war – knorrige, fast menschenähnliche Bäume, die Stämme von Winterstürmen gespalten, der Boden übersät mit glitschigen Äpfeln, die im Sommer Wespen anzogen.

Die hohen Räume waren mit Secondhandmöbeln vollgestopft. Ich sehne mich bis heute zurück in dieses Haus mit seinen Johannisbeersträuchern und Rhabarberbeeten, seinen uralten Schwertlilien, deren flache Zwiebeln Triebe bildeten, die so dick waren wie mein Unterarm, und dem hohen Gras, in dem Jack und ich liegen konnten, ohne selbst gesehen zu werden – oder selbst mehr sehen zu können als die blauen Umrisse der Berge. In der hinteren Stube stand ein bauchiger Kanonenofen, den mein Vater im Winter mit Apfel- und Eichenholz befeuerte. Wenn wir eingeschneit waren und sie mit dem Truck den Berg weder herauf- noch hinunterkamen, saßen wir am Ofen, und meine Eltern lasen uns vor.

Da die meisten Kinder, mit denen wir in der Dorfschule Freundschaft geschlossen hatten, weit weg wohnten, waren wir oft einsam und allein auf diesem Hügel, redeten, kochten, perfektionierten unsere Halma-Strategie, durchforsteten die Plattensammlung meines Vaters mit Aufnahmen der großen europäischen Sinfonieorchester oder erkundeten die Bergwelt. Haben Sie schon einmal eine LP in der Hand gehabt, eine dieser schwarzen Vinylscheiben, deren Rillen mit einer Nadel abgetastet werden und die immer leicht verkratzt klingen? Und im Wohnzimmerregal standen mehrere Bücher, die uns besonders lieb und teuer waren. Darunter ein dickes Lexikon, aus dem wir uns gegenseitig obskure Wörter vorlasen, deren Bedeutung der andere dann erraten musste, und ein Band mit Rembrandts Selbstporträts, dessen Gesicht von Seite zu Seite wissender – aber nicht unbedingt weiser – wirkte.

Kein anderes Buch jedoch faszinierte uns so sehr wie ein Atlas von Osteuropa. Ich weiß nicht, wie er in unser Regal gekommen war, und ich vergaß, meine Mutter oder meinen Vater rechtzeitig danach zu fragen; wahrscheinlich stammte er von irgendeinem Grabbeltisch im College. Wir fragten einander nach den Namen von Ländern oder Regionen, in denen niemand, den wir kannten, je gewesen war und deren Grenzverlauf sich über die Jahre und Jahrhunderte ständig verändert hatte. Jack deckte mit der Hand einen Ortsnamen ab oder klappte das Buch bisweilen sogar zu und sagte: »Okay, das kleine rosafarbene Land in der Mitte, 1850. Fünf Punkte.« Wer als Erster fünfzig Punkte beisammenhatte, musste für den anderen Kekse backen, obwohl am Ende zumeist ich allein am Ofen stand und er sich verdrückte, um Wespen zu erschlagen oder unter der Veranda ein Loch zum Hineinpinkeln zu graben. Jeder von uns hatte ein Lieblingsland – meins war Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg, ein Teppich aus kleinen bunten Flicken, die auf der nächsten Seite wie durch ein Wunder zu einer einheitlichen gelben Fläche zusammengewachsen waren. Jack mochte die Länder am liebsten, die sich wie ein Ring um das Schwarze Meer schlossen – zumindest theoretisch konnte man mit dem Schiff von einem zum anderen fahren, und genau das wollte er eines Tages auch tun. Das blassgrüne Bulgarien hatte es ihm besonders angetan; wenn ich ihm sämtliche Nachbarländer nennen konnte, gab er mir zehn Extrapunkte.

Wir lasen natürlich auch für uns, Narnia und Mittelerde, Arthur Conan Doyle und die National Geographic-Hefte, die sich im Hinterzimmer stapelten, wo auch der Ofen stand. Ich verschlang eine Reihe von Mädchenbüchern, für die Jack nichts als Verachtung übrighatte, zum Beispiel Nancy Drew. Meine Eltern zogen das Radio dem Fernseher vor, und die Stadtbibliothek wurde zu unserem zweiten Zuhause, bis ein Schulfreund erst Jack und später auch mich in eine Spielhalle mitnahm – und uns langsam, aber sicher schwante, dass man mit den Computern im Informatikraum der Schule auch ganz andere, wunderbare Dinge anstellen konnte. Ich fand die Spielhalle nicht ganz so toll wie Jack und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass mir Jack allmählich fremd wurde.

Jack und ich ärgerten einander wie die meisten Geschwister. Und doch waren wir unzertrennlich in unserer Zweisamkeit, kühn und erfinderisch. Wir konnten ein Zelt aufbauen, ein Lagerfeuer machen, auf einem Grashalm pfeifen, sicher über vereiste Felsen kraxeln und wussten, dass man nur einem Wasserlauf bergab zu folgen brauchte, um zu einer Siedlung zu gelangen, wenn man sich verlaufen hatte. Wir hatten gelernt, ausdrucksvoll vorzulesen, auch wenn Jack sich oft dagegen sträubte. Wir konnten den Hühnerstall ausmisten, in den Keramiktassen unserer Mutter Muffins backen und Kartoffeln ernten. Ich brachte mir Häkeln und Nähen bei. Ich besserte nicht nur meine, sondern auch Jacks Kleider aus, da er daran wenig Interesse zeigte; seine Hosen scheuerten zumeist an den Knien durch, und ich entwarf passende Flicken in dunklen, gedeckten Farben. Wir konnten spielen, wo wir wollten, solange wir uns von den Häusern am Ende der Straße mit den Privatmüllhalden und den großen Kettenhunden fernhielten. »Ein guter Zaun macht gute Nachbarn«, pflegte mein Vater zu sagen, der sie im Vorbeifahren dennoch immer freundlich grüßte.

Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen, und zumeist war ich das auch, denn ich liebte unser Haus auf dem Hügel und das Zusammensein mit meinem Bruder über alles. Aber wie es in Familien manchmal so ist, kam es von Jacks frühester Kindheit an immer wieder zu Reibereien zwischen ihm und unseren Eltern; sie schienen ihm einfach nichts recht machen zu können. Schon mit sieben oder acht ergriff eine seltsame Zerstörungswut von ihm Besitz: Wenn wir im Garten Unkraut jäteten, riss er absichtlich ganze Bündel von Karotten mit heraus. Mussten wir den Hühnerstall ausmisten, legte ich mich schwer ins Zeug; für mich gab es nichts Schöneres, als die Hennen an einem heißen Nachmittag in ihren Ecken glucksen zu hören, frisch gelegte Eier zu entdecken und von meinem Vater für die getane Arbeit mit Lob überhäuft zu werden. Jack vertrieb sich derweil die Zeit damit, ein Loch in die Stallwand zu schlagen, was dazu führte, dass ein Fuchs ein paar Tage später ein veritables Blutbad anrichtete. Jack schrieb mit einem verkohlten Ast »Ihr könnt mich allemal« an die Wand über seinem Bett. Als er eines Nachmittags einen Baum im Obstgarten anzündete und das Feuer auf das Haus überzugreifen drohte, erteilte mein Vater ihm eine Woche Hausarrest – auch wenn das in den Bergen wenig Sinn hatte –, und meine Mutter musste sich am College einen Vormittag freinehmen, um bei seiner Vertrauenslehrerin vorstellig zu werden.

In der Mittelschule wurde es noch schlimmer. Jack rauchte an der Bushaltestelle, bis ein anderer Junge ihn verpetzte, und statt der Risse von den Brombeersträuchern musste ich nun münzgroße Brandlöcher in seinen Hosen stopfen. Er stutzte seine roten Locken, rasierte sich die Augenbrauen ab und erklärte meinen Eltern, dies sei eine ihrer viel gerühmten Sparmaßnahmen (statt uns zum Friseur zu schicken, schnitt unsere Mutter uns die Haare). Im Jahr darauf eröffnete er meinen Eltern, dass er weglaufen werde, »ohne Scheiß«, wenn sie ihn nicht einmal die Woche in die Stadt chauffierten, damit er »mit den Jungs abhängen« konnte – anderen dürren Siebtklässlern mit hässlichen Frisuren. Während mein Vater ihn ermunterte, seine Drohung wahrzumachen, fuhr meine Mutter ihn schweren Herzens jeden Samstag in die Stadt; jetzt, wo wir langsam größer würden, meinte sie, bräuchten wir einen Freundeskreis, und dann spendierte sie mir ein Eis. Ich hatte ständig Angst, dass die Auseinandersetzungen zwischen Jack und meinen Eltern weiter eskalieren würden. Ich hingegen genoss seine Zuneigung und sein Vertrauen. Als er mir erzählte, dass er und die Jungs gelegentlich billige Taschenmesser oder eine Tüte Beef Jerky klauten, bewahrte ich sein Geheimnis – dieses kleine Opfer brachte ich gern, nicht zuletzt, weil er mir Süßigkeiten und Comichefte schenkte, die er angeblich von seinem Taschengeld bezahlt hatte.

Wir lebten auf dem Land, bis Jack in die neunte und ich in die siebte Klasse kam. Da verkauften unsere Eltern das Haus und erwarben eine Wohnung in der wiederbelebten Innenstadt von Greenhill; dort konnten sie zwar kein Gemüse anbauen, dafür konnten wir die Schule bequem zu Fuß erreichen. Nach dem Umzug in die Stadt gingen mein Bruder und ich immer häufiger getrennte Wege; ich besuchte die Mittelschule, einen Stall voll schrecklich aufgedonnerter Mädchen und rätselhafter Jungs, und Jack schaffte es in die Leichtathletik- und Basketballmannschaft der Highschool und trieb sich mit seinen muskelbepackten neuen Sportsfreunden herum. Unsere Eltern waren sichtlich erleichtert – er war einfach zu beschäftigt, um Dummheiten zu machen, und da er schon frühmorgens zu trainieren anfing, fiel er jeden Abend todmüde ins Bett. Jenes erste Jahr in der Stadt verlief ohne besondere Zwischenfälle, ebenso der Beginn des zweiten. Doch er fehlte mir, genau wie unser Haus in den Bergen; es war, als habe Jack sich unbemerkt aus meinem Leben gestohlen. Er war netter zu mir als damals, als wir noch Kinder gewesen waren, aber auch distanzierter. Am schönsten fand ich es, wenn er abends in mein vollgestopftes Zimmer kam, oft während ich Hausaufgaben machte.

»Ach, an diese Gleichungen kann ich mich gut erinnern«, sagte er dann. »Soll ich dir helfen?« Oder er trat ohne anzuklopfen ein, die Haare noch nass vom Duschen, und sank ächzend auf die Kante meines Bettes. »Ich bin fix und fertig. Sondertraining.« Doch diese Augenblicke währten nur kurz, denn früher oder später versetzte er mir eine zärtliche Kopfnuss und trottete in sein Zimmer, um seine Hausaufgaben zu erledigen oder mit einer Freundin zu telefonieren.

Meine Eltern nahmen all das widerspruchslos hin, weil sie es für die normale Entwicklung eines jungen Mannes hielten, der sich allmählich von seinem Elternhaus abnabelte; zum Ausgleich bestanden sie jedoch auf dem einen oder anderen Ritual unseres früheren Lebens, allem voran der Wanderung, die wir einmal im Monat zusammen unternahmen. Gewöhnlich warteten wir das richtige Wetter ab – einen sonnigen, klaren Samstag- oder Sonntagmorgen, an dem die hohen Berge sich scharf gegen den wolkenlosen Himmel abhoben, egal zu welcher Jahreszeit. An solchen Tagen waren wir wieder eine richtige Familie und ließen den Blick gemeinsam über die blauen Gebirgsgipfel schweifen, die sich bis zum Horizont erstreckten.

Noch wussten wir nicht, dass wir ihn bald verlieren würden.

Vier

Als Alexandra die Urne öffnete, brach sie in Tränen aus, und das nicht etwa, weil sie Angst vor den sterblichen Überresten eines Menschen hatte, sondern weil es ihr schlicht zu viel war, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie war in einem fremden Land, schon jetzt ging alles schief, und in ihrem jugendlichen Hang zur Übertreibung hatte sie das Gefühl, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein – ein bloßer Spielball finsterer Mächte, die vielleicht gut, vielleicht aber auch böse waren.

Sie musste den Fahrer zweimal an der Schulter packen und »Halt!« rufen, bevor er sich zu ihr umdrehte. Als er ihre kummervolle Miene bemerkte, schlängelte er sich eilig durch den dichten Hauptstadtverkehr und bog in eine Seitenstraße. Zwei junge Kätzchen und eine räudige Katze stoben davon, als das Taxi am Bordstein hielt; Alexandra sah, dass sie an einem blutigen Kadaver genagt hatten. Der Gehsteig lag im Schatten großer Bäume, von denen sie noch nicht wusste, dass es sich um lipa handelte – Linden, über und über behangen mit grünlich weißen Blüten. Nach dem breiten Boulevard und dem Hotel war es in dieser Straße seltsam still. Alexandra wartete und versuchte ihr Schluchzen zu ersticken, während der Fahrer den Gang herausnahm und den Motor laufen ließ.

»Stimmt etwas nicht?«, wollte er wissen. Sie fragte sich, weshalb er so gut Englisch sprach und warum er ihr das bislang verheimlicht hatte.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber dieses Gepäck gehört mir nicht.«

Das ging ihm offenbar etwas zu schnell, oder ihre Stimme bebte zu sehr. Er sah sie stirnrunzelnd an. »Was? Alles okay?«

»Ja, aber ich habe eine fremde Tasche bei mir.«

»Fremd?«, fragte er und beugte sich mit gerecktem Hals über den Sitz. Sie deutete, wortlos diesmal, auf die Urne und tätschelte sie behutsam.

»Das ist nicht Ihre?« Er starrte sie an, würdigte die Tasche keines Blickes – war es womöglich typisch für Bulgaren, ihrem Gegenüber erst einmal in die Augen zu sehen, bevor sie sich mit einem Problem befassten? Der hochgewachsene Mann hatte sie auf dieselbe Art und Weise gemustert, vielleicht aber auch nur, weil sie Ausländerin war.

Er stieg aus, riss ihre Tür auf, streckte den Kopf herein und inspizierte ihr Gepäck. »Wem gehört die Tasche?«, fragte er.

Auch sie starrte ihn nun an, weil er ihr so dicht auf die Pelle rückte. In diesem Moment sah sie ihn zum ersten Mal nicht in seiner Funktion als Taxifahrer, der sie in ihr Hostel brachte, sondern als Person, als einen Mann, der kaum älter war als sie – vielleicht neunundzwanzig oder höchstens Anfang dreißig. Wieder bemerkte sie sein Gesicht, bleich und vierschrötig, das hinter seinem hellen Haar verschwand, wenn er sich vornüberbeugte. Und er hatte tatsächlich blaue und nicht blaugrüne Augen. Er war eher schmal, und seine Bewegungen, seine feingliedrigen Hände hatten etwas Sinnliches, Graziles.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte er. »Wie ist das passiert?«

»Ich habe sie dem Mann auf der Hoteltreppe abgenommen, den alten Leuten. Der große Mann und der alte Mann im Rollstuhl und die alte Frau.« Sie versuchte, möglichst deutlich zu sprechen.

»Sie haben ihnen die Tasche gestohlen?« Aus seinem Blick sprach eher Verwunderung als Missbilligung. Sie begriff, dass auch er die alten Leute auf ihrem Weg zum Taxistand gesehen hatte.

»Nein.« Wieder war sie den Tränen nahe. »Ich habe sie aus Versehen an mich genommen, als ich ihnen ins Taxi geholfen habe. Aber ich glaube … Sehen Sie hier.«

Sie öffnete den Deckel der Urne und zeigte ihm den Plastikbeutel darin. Er beugte sich noch näher zu ihr – sie hatte das Gefühl, ihn völlig verwirrt zu haben – und berührte ihn, genau wie sie es getan hatte. Er runzelte die Stirn. Seine Finger suchten, genau wie zuvor die ihren, an der Außenseite der Kiste nach einem Hinweis auf ihren Besitzer, glitten forschend über das polierte Holz. Er zog das Samtsäckchen etwas weiter herunter, und diesmal sah sie, dass es sich bei der Schnitzerei um ein Laubgewinde handelte, rechts und links flankiert von einem Tierkopf. Bevor sie ihn darauf aufmerksam machen konnte, hatte er den Namen auch schon gefunden und las ihn laut.

»Ich glaube, das ist ein Mensch«, sagte er. »War ein Mensch – ein Mann.«

»Ich weiß«, sagte sie und musste an den Mann im Rollstuhl denken. Sie spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Vielleicht hatte der Alte seinen anderen Sohn verloren? Oder seinen Bruder?

»Verstehen Sie? Das ist die Leiche eines Mannes«, wiederholte der Taxifahrer.

»Ich weiß«, wiederholte sie. »Aber nicht die Leiche, sondern die Asche.«

»Ja, Asche.« Seine Stimme war schneidend. »Auf Bulgarisch nennen wir es prah. Staub.« Rau drang das Wort aus seiner Kehle. »Sie sollten sie so schnell wie möglich zurückgeben.«

»Ja, natürlich«, jammerte sie. »Aber ich weiß weder, wie sie heißen, noch, wohin sie wollten. Wahrscheinlich gehe ich am besten zur Polizei.« Sie stellte sich vor, wie ein Polizist den Namen in den Computer eingab, fündig wurde, die Urne pietätvoll an sich nahm und ihr versprach, sie ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben. Vielleicht würden sie ihr aber auch die Adresse nennen, sodass sie das selbst erledigen konnte. Sie malte sich aus, wie sie den Leuten gegenübertreten würde, deren kostbarsten Schatz sie gehütet hatte. Bei dem Gedanken schnürte sich ihr die Kehle zu – sie suchten vermutlich in der ganzen Stadt nach ihr. Aber als sie ihr Taxi bestiegen hatte, waren sie längst fort gewesen; womöglich hatten sie noch gar nicht entdeckt, dass die Tasche fehlte? Ach was, sie hatten es bestimmt sofort bemerkt.

»Nein – bringen Sie mich lieber zum Hotel zurück«, verbesserte sie sich. »Wenn überhaupt, suchen sie vermutlich dort nach mir.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte er. Sein Englisch wurde von Minute zu Minute biegsamer und flüssiger, doch seine Miene blieb skeptisch. Sein Akzent war schwer einzuordnen – britisch, Cockney beinahe. »Kommen Sie. Wir fahren am besten gleich los.« Trotz ihres Elends gefiel es ihr, wie seine schmalen, wohlgeformten Lippen die Worte fanden. Seine Vorderzähne waren ein wenig schief, und einer von ihnen hatte einen dunklen Kariesfleck wie eine Sommersprosse. Seine Wangenknochen trugen ihren Namen zu Recht – Knochen, breit und markant –, und seine Gesichtshaut war milchweiß und ohne jeden Makel, bis auf eine kleine Ansammlung hellbrauner Leberflecken in einem Mundwinkel. Behutsam schloss er den Urnendeckel und zog den Reißverschluss der Tasche zu. Dann setzte er sich wieder hinters Steuer und legte den Gang ein, bevor sie sich bei ihm bedanken konnte.

Fünf

Der Windy Rock Trail war einer der schönsten Wanderwege in den Blue Ridge Mountains North Carolinas. Und das ist er vermutlich immer noch. Ich bin zuletzt 2007 mit meiner Mutter dort gewesen – eine schmerzliche Erinnerung.

Der Windy Rock gehörte zu den Lieblingswanderwegen meiner Familie, aber Jack hatte an diesem Oktobermorgen schlechte Laune – warum, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht, wie ich noch Jahre später spekulierte, weil er am Tag zuvor sechzehn geworden war. Zum Geburtstag hatten meine Eltern ihm zwar den Führerschein geschenkt, nicht aber ein Auto. Sie waren übereingekommen, sich mit ein paar hundert Dollar zu beteiligen, mehr nicht, den Rest müsse er sich selbst hinzuverdienen. Er hatte zwar etwas gespart, aber längst nicht genug für einen auch nur halbwegs verkehrstüchtigen Wagen.

Vielleicht war das die unmittelbare Ursache für die Spannungen zwischen Jack und meinem Vater, vielleicht war er aber auch nur sauer, weil er zu seinem Ehrentag keinen fahrbaren Untersatz bekommen hatte. Er kam schlaftrunken und mürrisch an den Frühstückstisch getrottet, und ich hütete mich, ihn auch nur anzusprechen. Als wir unsere Stiefel und Jacken anzogen, unternahm er einen halbherzigen Versuch, sich in letzter Minute noch aus der Affäre zu ziehen. Offenbar machte meine Mutter ein trauriges Gesicht, vielleicht warf mein Vater ihm aber auch nur einen gestrengen Blick zu, jedenfalls gab Jack keine weiteren Widerworte.

Auf der Fahrt über den Blue Ridge Parkway saß er schweigend neben mir. Um mich von seiner miesen Laune nicht anstecken zu lassen, sah ich aus dem Fenster auf die herbstlichen Bäume, die Pappeln, deren blassgoldenes Laub sich allmählich braun verfärbte, und die erstaunlich roten Beeren der Ebereschen, die zwischen den grauen Zweigen hervorlugten. Es war ein herrlich klarer Tag, vor mir erstreckte sich ein Meer von Gipfeln, und ich fragte mich, wie ich es schon als kleines Mädchen getan hatte, weshalb sie von fern so blau aussahen, während sie aus der Nähe in allen Farben schillerten. Als ich auf dem Balkan zwölf Jahre später das erste Mal Berge sah, erschienen sie mir seltsam fremd und zugleich seltsam vertraut: Sie ragten steil empor, statt in sanften Hügeln zu verlaufen, und ihre bedrohlichen Hänge, dunkelgrün und schwarz, waren von vernarbten Felsschrunden durchzogen. Aber wie meine Berge daheim boten sie einen prachtvollen Anblick, stoisch, massiv, beruhigend.

Mein Vater stellte den Wagen auf dem Wanderparkplatz ab, und wir stiegen aus und schulterten unsere Daypacks. Jack schnürte sich die Stiefel auf der hinteren Stoßstange des Autos; seine Miene war düster. Obgleich er ganz wie er selbst aussah, schien er gleichsam über Nacht erwachsen geworden zu sein – seine hoch aufgeschossene Gestalt, an die ich mich nur schwer gewöhnen konnte, die breiten Schultern und die kräftigen Beine, die aus seinen khakifarbenen Cargoshorts ragten, der schwere Lederstiefel mit den gestreiften Senkeln, den er fest gegen die Stoßstange stemmte. Er hob den Blick, bedachte mich mit dem letzten Lächeln, das wir jemals tauschen sollten, und bedeutete mir mit einem Nicken, schon einmal vorauszugehen – in unserer Familie war es Sitte, dass mein Vater als Erster losmarschierte, dann meine Mutter, dann ich. Seit er muskulös und sportlich war, bildete Jack das Schlusslicht. Hätte uns etwas den Weg hinaufgejagt, hätte es erst einmal mit Jack fertigwerden müssen, weshalb ich mir um ihn ein wenig Sorgen machte, während ich mich in trügerischer Sicherheit wähnte.

Auf halber Strecke zum ersten Gipfel rief er plötzlich: »Warte mal«, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie er sich auf einem Felsvorsprung den Stiefel zuband. Ich blieb stehen, wartete schweigend, während er mürrisch hervorstieß, er habe ohnehin nicht mitkommen wollen.

»Ich habe tausend Dinge zu erledigen.« Er zerrte an dem Schnürsenkel, während ich sein gebräuntes Profil betrachtete, das dem unseres Vaters so ähnlich war. Sein Zorn richtete sich sogar gegen seine Stiefel. »Bist du es nicht langsam leid, ständig Berge hinaufzukraxeln, nur weil Mum und Dad es so wollen?«

»Aber wir sind doch immer schon gewandert«, erwiderte ich unbeholfen. »Eigentlich macht es mir Spaß.«

»Sie scheinen zu vergessen, dass ich inzwischen etwas zu alt bin, um mich herumkommandieren zu lassen. Was soll ich hier, am Arsch der Welt?« Er richtete sich auf und wies mit ausgestrecktem Arm auf das weite Panorama von Bergen und Himmel. Ich liebte diesen Ausblick.

Und dann sagte ich etwas, das ich nicht hätte sagen sollen. Plötzlich packte mich die Wut, weil er uns den schönen Tag verdarb. Weil er so hässliche Dinge über unsere Eltern sagte, die womöglich vieles falsch sahen, es aber (trotz allem) immer gut mit uns meinten. Weil er mich schon so oft im Stich gelassen hatte und seine Zeit lieber mit Freunden, Mädchen und Basketball verplemperte, als sie mit mir zu verbringen.

»Wenn du unbedingt den Miesepeter spielen willst«, sagte ich aufgebracht, »warum haust du dann nicht einfach ab?«

In seinem Gesicht machte sich ein ungläubiger Ausdruck breit – Gott, wie ich dieses Gesicht liebte, sogar wenn ich die Wut darin selbst entfacht hatte, und ich liebe es noch heute. Er sagte nur zwei Sätze. Erstens, ich solle mich verpissen. Und zweitens, genau das werde er jetzt auch tun.

Das waren seine Worte, und ich werde sie nicht in Anführungszeichen setzen. Es waren vermutlich die letzten Worte, die er je mit einem Menschen gesprochen hat. Ich kämpfte mit den Tränen – nicht nur, weil ich meine Gemeinheit bereute, sondern weil ich zutiefst getroffen war. Ich kehrte ihm den Rücken zu und marschierte weiter; ich verfiel in einen grimmigen Rhythmus und ignorierte die Stille, die ich rasch hinter mir ließ. Seine Schritte waren nicht mehr zu hören; ich redete mir ein, es geschehe ihm ganz recht, wenn ich ihn stehen ließ. Ich überquerte einen Bach oder besser der Bach querte unseren Weg, und ich musste von einem Stein zum anderen hüpfen, um trockenen Fußes über das rauschende Wasser zu gelangen. Nach ein paar Minuten hatte ich meine Eltern wieder eingeholt; sie wanderten schweigend vor sich hin, und ich heftete mich an ihre Fersen.

Jack war nirgends zu sehen, als wir beim ersten großen Aussichtspunkt eine Trinkpause einlegten: ein gewaltiges Schauspiel wogender Gipfel wie die Zacken einer riesigen rauchblauen Krone, das den gesamten Horizont einnahm. Das Tal lag zwölfhundert Meter unter uns, gleich hinter den weinroten Blättern der Blaubeersträucher am Wegesrand. Meine Mutter lächelte mir aufmunternd zu und hielt nach meinem Bruder Ausschau, und dann setzten wir uns, streckten die Beine aus und warteten ein paar Minuten.

»War Jack hinter dir?«, fragte mein Vater nach einer Weile. Ich erklärte ihm, dass er stehen geblieben sei, um sich die Schnürsenkel zu binden, erwähnte unseren Streit jedoch mit keinem Wort. »Na ja, er wird schon kommen«, sagte mein Vater. Meine Mutter wirkte wohl ein wenig unruhig, denn mein Vater setzte hinzu: »Er ist ein großer Junge.«

Wir gingen weiter, wenn auch etwas langsamer als zuvor. Ich fragte mich, ob meine Eltern ahnten, wie übel er es ihnen nahm, dass sie ihn hierher verschleppt hatten, bevor ich mich anderen Dingen zuwandte: dass ich mir die gleiche Frisur schneiden lassen wollte wie die beiden Mädchen aus meinem Gemeinschaftskundekurs, der Geschichte, die wir für den Literaturunterricht am Montag lesen mussten. Es war eine Nacherzählung von »Rotkäppchen«, mit Jugendlichen als Protagonisten, und ich hatte das Gefühl, dass sie irgendwie nicht so recht funktionierte. Ich trug mich mit dem Gedanken, eine eigene Version davon zu schreiben, nur um herauszufinden, ob ich es besser konnte. Ich starrte auf meine abgetragenen Wanderstiefel, die einst Jack gehört hatten (meine Mutter hatte mir versichert, es seien Unisex-Stiefel, und solange ich damit nicht zur Schule gehen musste, konnte ich damit leben).

Beim nächsten Aussichtspunkt machten wir Rast, und meine Mutter schlug vor, schon einmal unsere Lunchpakete auszupacken und etwas zu essen, bis Jack zu uns aufgeschlossen war. Mein Vater willigte ein und streifte sein Daypack von den Schultern. Meine Mutter fand eine flache Stelle ein Stück abseits des Weges, und ich half ihr, die kleine karierte Picknickdecke auszubreiten. Sie hatte meine Lieblingsspeise eingepackt, gefüllte Eier, dazu ein paar Scheiben von dem leckeren selbst gebackenen Brot meines Vaters und für jeden von uns eine Flasche Zitronenlimonade, die es in unserem eher ärmlichen Haushalt sonst nur zu feierlichen Anlässen gab. Jacks Flasche lehnte sie an einen Felsen. Mein Vater sah keinen Grund zu warten, und so fingen wir an zu essen. Doch das Brot schmeckte trocken, als hätte ich schon jetzt schwer an den Worten zu kauen, die ich meinem Bruder im Zorn ins Gesicht geschleudert hatte, und mir fiel auf, dass meine Mutter alle paar Minuten den Weg hinuntersah. Damals hatten wir noch keine Handys – sie waren eine relativ neue Erfindung –, die schafften wir uns erst ein paar Jahre später an.

Schließlich legte mein Vater ihr die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, Clarice«, sagte er. »Jack ist ein erfahrener Wanderer. Er wollte wahrscheinlich nur eine Weile allein sein. Er wird langsam erwachsen.«

»Ich weiß, dass er langsam erwachsen wird.« Sie klang beinahe gereizt, was nur sehr selten vorkam.

»Soll ich ein Stück zurückgehen und ihm winken?« Mein Vater klaubte die Überreste unseres Picknicks zusammen, ohne den Wildvögeln auch nur einen Krümel zu gönnen: Bitte hinterlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn vorzufinden wünschen.

»Ja, wärst du wohl so nett?« Meine Mutter lächelte, in der Hoffnung, so jeglicher Beunruhigung ein Ende machen zu können. »Wir beide warten hier auf euch.«

Nach etwa einer halben Stunde kehrte mein Vater allein zurück, aus seiner Miene sprach Verdruss.

»Ich bin bis zur großen Biegung zurückgelaufen«, sagte er. »Ich habe sogar ein paarmal nach ihm gerufen, ohne Erfolg. Ich fürchte, er ist allein zum Wagen zurückgegangen.« Ich kannte diesen Unterton in seiner Stimme: Er zeigte an, dass Jack gegen die Wanderregeln verstoßen hatte und deshalb mit ernsthaften Konsequenzen rechnen musste. Außerdem hatte Jack inzwischen den Führerschein – und einen Schlüssel für unser Auto, ein Zugeständnis meines Vaters zum Geburtstag seines Sohnes.

»Wir haben dich nicht rufen hören«, sagte meine Mutter zweifelnd. »Sehr laut kannst du also nicht gerufen haben.«

»Laut genug.« Mein Vater setzte sich einen Augenblick. »Was haltet ihr davon, wenn ihr langsam weiterlauft und die Aussicht genießt, und ich gehe zurück zum Auto?« Falls es noch da ist, aber das sprach er nicht laut aus. »Wenn ich nicht spätestens in einer Stunde wieder bei euch bin, kehrt ihr um, und wir treffen uns auf dem Parkplatz.« Und selbst wenn der Wagen noch da ist, wird Jack sein blaues Wunder erleben.

Ich sah meiner Mutter an, dass sie nicht weitergehen wollte, solange sie nicht wusste, wo Jack abgeblieben war; Jahre später erst wurde mir klar, dass sie vermutlich glaubte, dass dann alles wieder gut werden oder zumindest eine Zeit lang Normalität einkehren würde. Das allerdings begriff ich erst, nachdem ich selbst Mutter geworden war – dieses verzweifelte Feilschen mit dem Schicksal, mit unseren eigenen Ängsten.

Mein Vater marschierte zurück zum Parkplatz, und meine Mutter und ich setzten uns langsam wieder in Bewegung und nahmen seinen Rucksack mit, in dem die restlichen Wasserflaschen steckten. Bald waren wir weiter nichts als zwei Frauen, die sich unter dem weiten Himmel klein und nichtig vorkamen; der Wanderweg mündete auf eine Wiese und überquerte eine natürliche Lichtung, die ich besonders mochte, weil dort lauter Baumruinen standen, silbrig und verwittert. Von Zeit zu Zeit sah meine Mutter auf die Uhr und räumte schließlich widerstrebend ein, dass es wohl das Beste sei, den Rückweg anzutreten.

Sechs

Als der Fahrer den Wagen wendete, um zum Hotel zurückzufahren, sah Alexandra, dass die Straße, in der sie gehalten hatten, recht kurz war, gesäumt von heruntergekommenen Mietskasernen; Wäscheleinen spannten sich von Balkon zu Balkon über die Fahrbahn. Jetzt, wo sie Hilfe hatte, konnte sie sich endlich in Ruhe umschauen. Ihre Schönheit verdankte die Stadt nicht zuletzt ihren Bäumen: schwere Blätterbaldachine, geschmückt mit gelblichen Blüten, wie Tausende von Insekten mit gefalteten Flügeln, durch die das Sonnenlicht auf die geparkten Autos fiel. Sie sah einen langhaarigen Mann mit einem Rucksack auf dem Rücken, der sich unter den Bäumen die Zähne putzte. In einem Hauseingang versuchte eine mit prallen Einkaufstaschen beladene Frau in einem braun-blau gestreiften Kleid den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Zwei alte Männer im Anzug wanderten vorbei und suchten sich vorsichtig einen Weg über den löchrigen Gehsteig. Alexandra fragte sich, warum in einer so wunderschönen Stadt wie dieser die Gehwege nicht ausgebessert wurden. Die beiden Männer waren ins Gespräch vertieft und fuchtelten wild mit den Händen. Alle hier schienen lebendiger als anderswo, vielleicht gestikulierten sie aber auch nur ein wenig mehr, oder sie war bereits halbtot vor Müdigkeit. Sie hielt die fremde Tasche auf ihrem Schoß mit beiden Armen umklammert, weil sie sie nicht wie einen gewöhnlichen Gegenstand neben sich auf dem Rücksitz stehen lassen mochte. Sie würde sie erst aus der Hand geben, wenn sie die rechtmäßigen Besitzer gefunden hatte, obwohl das schiere Gewicht der blank polierten Urne unter dem Stoff ihr ein mulmiges Gefühl gab.

Kurz darauf schwammen sie wieder mit dem Verkehrsstrom auf dem breiten Boulevard. Alexandras Fahrer hielt am Taxistand vor dem Hotel und sprang aus dem Wagen. Auch Alexandra stieg aus und ließ ihr Gepäck auf dem Rücksitz zurück, ohne es auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Der schlanke, muskulöse Fahrer lief die Vortreppe hinauf. Sie war ihm für seine tatkräftige Unterstützung dankbar; er trug Bluejeans, ein schwarzes T-Shirt und schwarze Tennisschuhe und strich sich im Laufen die Haare aus den Augen. Er verschwand durch die gläsernen Schiebetüren im Hotel.

Doch als er Minuten später wiederkehrte, war seine Miene ausdruckslos und leer. Er wandte sich erst vor dem Eingang, dann auf der Treppe hilfesuchend an Passanten. Schließlich kam er zum Taxistand zurück und trat vor sie hin.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe alle gefragt, und einige Angestellte erinnern sich an die Familie mit dem Rollstuhl. Diese Leute sind jetzt aber nicht mehr hier. Bevor sie gegangen sind, haben sie im Hotelrestaurant mit einem Mann Kaffee getrunken. Einer der Angestellten sagte, der jüngere Mann sei mit dem Mann, mit dem sie Kaffee getrunken haben, in Streit geraten – der Mann, mit dem sie sich dort getroffen haben, sei ein im Hotel wohlbekannter Journalist. Der Journalist sprang wütend auf und verschwand durch die Hintertür, und dann haben der große Mann und die alten Leute das Gebäude durch den Haupteingang verlassen.« Er vollführte eine Reihe lebhafter Gesten, wies mit den Händen nach allen Seiten.

Und dann, dachte Alexandra, hatte sie am Fuß der Vortreppe mit ihnen gesprochen.

Das Taxi hinter ihnen begann zu hupen. Alexandras Fahrer setzte sich ans Steuer, und nach kurzem Zögern stieg auch sie wieder ein. Er ließ den Motor an, scherte aus der Warteschlange aus und hielt ein paar Meter weiter am Bordstein.

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte er. Aus seiner Stimme und seiner Körperhaltung sprach eine gewisse Skepsis – als habe er Angst, ihre Antwort könnte ihm nicht gefallen –, aber auch Neugier.

»Ich glaube, ich gehe damit zur Polizei«, sagte Alexandra. »Könnten Sie mich hinbringen?«

Er schwieg einen Augenblick. »Okay«, erwiderte er schließlich. »Aber ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Die Polizei hier ist nicht immer eine große Hilfe, es sei denn, es geht um Geld, zum Beispiel, weil Sie zu schnell gefahren sind oder am Steuer telefoniert haben, dann ist sie sofort zur Stelle.« Seine Miene hatte sich verfinstert. »Aber wenn Sie möchten, kann ich Sie gern aufs Revier bringen. Das ist wahrscheinlich das Beste. Vielleicht können die Beamten einiges über den Namen auf der Urne herausfinden, aber ich bezweifle, dass sie etwas unternehmen werden.«

Im Herzen der Altstadt, ein paar Häuser entfernt von einem großen Betonbau mit Glastüren, hielt er an. »Das ist das nächstgelegene Revier«, sagte er und wies unauffällig auf das Gebäude. »Wahrscheinlich müssen Sie am Eingang Ihren Pass vorzeigen.«

»Könnten Sie mir eventuell helfen, den Polizisten die Sache zu erklären? Sie sprechen vielleicht kein Englisch.«

Er schüttelte den Kopf. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht begleite. Ich würde Ihnen ja gern behilflich sein, aber …« Plötzlich schien er sich seiner mangelnden Ritterlichkeit zu schämen. Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. »Ich hatte vor Kurzem Ärger mit der Polizei, darum komme ich nur ungern hierher.«

Alexandra verließ der Mut. Es wurde immer grotesker: Noch keine zwei Stunden in Bulgarien, und schon war sie an die falschen Leute geraten und hatte eine fremde Tasche auf dem Schoß. Sie konnte sich die Reaktion ihrer Eltern lebhaft vorstellen; Jack hingegen hätte sie mit ziemlicher Sicherheit verstanden. Aber das änderte nun auch nichts mehr.

Ihr Taxifahrer schien eine Antwort zu erwarten. »Und, äh …«, sagte sie. »Was haben Sie …?«

»Ich bin kein Krimineller«, sagte er und reckte das Kinn. »Bitte halten Sie mich nicht für kriminell. Ich wurde letzten Monat bei einer Demonstration festgenommen. Es war zwar nur eine Öko-Demo, aber wir haben uns nicht widerstandslos abführen lassen. Es kam zu ein paar kleineren Rangeleien, und sie wollten ein Exempel an mir statuieren, darum habe ich drei Tage im Gefängnis gesessen.«

Sie atmete auf. »Wogegen haben Sie demonstriert?«

»Die Regierung will mehrere Bergwerke in Zentralbulgarien wieder in Betrieb nehmen – diese Gruben waren jahrelang geschlossen, weil es dort regelmäßig zu schweren Unfällen kam und weil sie ein schreckliches Gift in einen unserer größten Flüsse eingeleitet haben, aus dem viele Städte ihr Trinkwasser beziehen. Die Regierung glaubt, die Sache ist vergessen, und einige Geschäftsleute sind offenbar derselben Meinung. Aber wir wissen, dass sich dort gar nichts ändern wird und es ihnen einzig und allein ums Geld geht. Verstehen Sie?« Er schnaubte. »Die Polizei hat mir und einigen anderen damit gedroht, dass wir das nächste Mal in ein richtiges Gefängnis kommen.« Wieder schwieg er einen Moment. »Ich habe viele Gründe, sie nicht sonderlich sympathisch zu finden.«

»Aha«, sagte Alexandra erleichtert. Sie war selbst bei der einen oder anderen Demonstration mitmarschiert, auf dem College, gegen verschiedene Kriege. »Dann verstehe ich, warum Sie mich nicht begleiten können.«

Er rieb sich das Kinn. »Es gibt durchaus ein paar anständige Polizisten, aber auch viele, die glauben, dass man Leute einfach so zusammenschlagen kann, selbst in einer Demokratie.«

Sie nickte. »Ich weiß.« Obwohl sie derlei allenfalls vom Hörensagen kannte. »Gut. Oder … warten Sie …« Sie hielt inne. »Wie hieß das noch gleich auf Bulgarisch – die Asche?«

»Prah«, antwortete er geduldig.

Sie sagte es leise vor sich hin. »Jetzt weiß ich zwar noch immer nicht, wie ich zu meinem Hostel komme, aber das kriege ich schon heraus, falls Sie Wichtigeres zu erledigen haben. Soll ich Sie jetzt gleich bezahlen?«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als würde ihn Geld nicht interessieren. »Später. Sie sind ohnehin todmüde, und ich habe Ihr Gepäck im Kofferraum«, sagte er wie ein Vater oder älterer Bruder. Dann schüttelte er den Kopf. »Keine Angst. Ich werde ihn schon nicht stehlen.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Alexandra. Es war die Wahrheit.

»Wir treffen uns hier wieder. Es wird mindestens eine halbe Stunde dauern, bis Sie vorgelassen werden, aber keine Sorge, ich kaufe mir eine Zeitung.«

Sieben

Beim Wandern kommt einem der Rückweg meist nur halb so lang vor, ob es bergab geht oder nicht, und diesmal ging es hauptsächlich bergab. Wir schlugen ein zügiges Tempo an, und an den gefährlichen Stellen warf ich immer wieder einen verstohlenen Blick die steile Felswand hinab ins Tal. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter hinter mir dasselbe tat. Mein Vater erwartete uns auf dem Parkplatz; schweigend und mit verschränkten Armen stand er gegen den Wagen gelehnt. Als er schließlich den Mund aufmachte, klang seine Stimme düster. »Ich habe anderthalb Stunden nach ihm gesucht und mir die Lunge aus dem Hals geschrien. Wenn er glaubt, dass ich das witzig finde, dann hat er sich geschnitten.«

»Ihm wird doch nichts passiert sein?«, sagte meine Mutter mit zitternder Stimme. Wenn wir Jack fanden, würde es ein Riesentheater geben, und wenn wir ihn nicht fanden oder erst nach Stunden – aber das durfte ich nicht einmal denken.

...Ende der Leseprobe

Foto: © Lynne Harty / c/o Jenny Meyer Agency

Elizabeth Kostova, geboren 1964 in Connecticut, ist die Autorin der internationalen Bestseller »Der Historiker« und »Schwanendiebe«. Sie verbrachte bereits in ihrer Jugend viel Zeit in Europa und lernte später bei einem Bulgarienaufenthalt ihren künftigen Mann kennen. Sie ist Mitbegründerin der Elizabeth Kostova Foundation für kreatives Schreiben in Bulgarien und gehört dem Hochschulrat der American University of Bulgaria an.

Mehr Information zu Elizabeth Kostova und ihrem Werk finden Sie unter www.elizabethkostova.com

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Shadow Land«

bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of

Penguin Random House LLC, New York.

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Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung September 2018

Copyright © 2017 by Elizabeth Kostova

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München

Umschlagillustration: Collage: Ruth Botzenhardt

Redaktion: Regina Carstensen

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21542-2V003

www.wunderraum-verlag.de