Das Elfenlicht von Arwarah - Elisabeth Schieferdecker - E-Book

Das Elfenlicht von Arwarah E-Book

Elisabeth Schieferdecker

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Beschreibung

Ein magisches Land Ein mächtiger Fluch Und eine einzige Hoffnung Für den 15-jährigen Till aus Hamburg bricht die Welt zusammen: Nach dem Tod seiner Eltern muss er zur Familie seines Onkels nach Thüringen ziehen. Till ahnt nicht, dass hier nicht nur eine liebevolle neue Familie, sondern auch das Abenteuer seines Lebens auf ihn warten. Denn hinter den Saalfelder Feengrotten liegt das magische Elfenland Arwarah, in dem seit vielen Jahren die böse Fee Farzanah herrscht. Nur Till, seine 16-jährige Cousine Lilly und die kleine Flora können Arwarah vom Fluch der bösen Fee befreien und den wahren König retten. Dabei treffen sie auf Zwerge, Zentauren, Drachen und andere unglaubliche Wesen. Mehr als einmal riskieren sie ihr Leben. Glücklicherweise ist Elf Alrick, der Hüter des Tores zur Menschenwelt, stets an ihrer Seite.

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Seitenzahl: 378

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Elisabeth Schieferdecker

Das Elfenlicht von Arwarah

Biber & Butzemann

Für Ruth und Katharina

Besuchen Sie uns im Internet unter www.biber-butzemann.de

© Kinderbuchverlag Biber & Butzemann

Geschwister-Scholl-Str. 7

15566 Schöneiche

1. Auflage, März 2013

Alle Rechte vorbehalten. Die vollständige oder auszugsweise Speicherung, Vervielfältigung oder Übertragung dieses Werkes, ob elektronisch, mechanisch, durch Fotokopie oder Aufzeichnung, ist ohne vorherige Genehmigung des Verlags urheberrechtlich untersagt.

Text: Elisabeth Schieferdecker

Illustrationen: Sabrina Pohle (www.splinteredshard.com)

Lektorat: Steffi Bieber-Geske

Lektoratsassistenz: Franziska Holst, Christiane Menzel, Cecilia Preiss, Gwenn Wunsch

Layout und Satz: Andrea Jäke

Korrektorat: Peggy Büttner

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN: 9783942428200

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

I. Veränderungen

II. Oma Gertrude

III. Krank

IV. Alrick Flötenspieler

V. Huckeduûster Grindelwarz

VI. Rückkehr und Aufbruch

VII. Arwarah

VIII. Die Herrin der Quellen

IX. Zaâmendra

X. Die Festung

XI. Die Wiege der Drachen

Ebenfalls bei Biber & Butzemann

  I.  

Veränderungen

Auf ironische Weise fand Till es passend, dass der wohl schwerste Tag seines Lebens ein dunkler, verregneter Septembertag war. Obwohl er geschützt unter der bunten Blase aneinandergepresster Regenschirme stand, peitschte ihm der Herbstwind den eiskalten Regen ins Gesicht. Die Sicht war verschwommen, aber auch bei klarem Wetter hätte er die beiden Särge vor sich nur undeutlich wahrgenommen, denn seine Augen waren von den heimlichen Tränen der Nacht gerötet.

„Ein richtiger Junge weint nicht“, hatte die fremde Frau im Waisenhaus gesagt, in dem er vorübergehend wohnen musste, bis das Jugendamt entschied, dass er von jetzt an bei Tante Lucie, Onkel Philipp und deren drei Kindern wohnen würde. Obwohl sie seine nächsten Verwandten waren, kannte er sie kaum. Bei diesem Gedanken legte sich eine eiserne Hand um sein Herz, das zum Zerspringen raste. Er hörte nichts von den tröstenden Worten des Pfarrers oder dem Schluchzen der anwesenden Trauergäste.

Während er der Abschiedsmelodie lauschte, die die Regentropfen in monotonem Rhythmus auf die Särge trommelten, schweiften seine Gedanken in die glücklichen Tage seiner bisherigen Kindheit zurück, die nun mit dem tödlichen Unfall seiner Eltern ein jähes Ende gefunden hatte. Tills Vater Stephan und Onkel Philipp waren Brüder und in Saalfeld aufgewachsen, aber während Philipp mit seiner Familie noch immer in Lucies altem Elternhaus wohnte, hatte es Stephan seinerzeit in die Welt hinaus gezogen. Er wollte unbedingt Schiffsbauer werden. Nach dem Abitur ging er zum Studium an die Küste und lernte dort seine zukünftige Frau Teresa kennen.

Im Gegensatz zu seinen Freunden fand Till immer, dass seine Eltern cool waren. Sie hatten ihm nie Stress gemacht, so wie andere Eltern es scheinbar taten, sondern waren für ihn da gewesen, wenn er sie brauchte. Freilich hatte sein Vater viele, viele Stunden in seinem Konstruktionsbüro auf der Werft verbracht, aber wann immer er eine freie Minute hatte, verbrachte er sie mit seiner Mutter und ihm. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte Papa ihm ein kleines, altes Boot gekauft und es gemeinsam mit Till wieder auf Vordermann gebracht. Im kommenden Frühjahr sollte es vom Stapel laufen, aber dazu würde es ja nun nicht mehr kommen. Jetzt musste er hier wohnen, am Ende der Welt sozusagen, fernab von der berauschenden Weite des Wassers, weit weg von seinen Freunden und allem, was ihm in seinem Leben je vertraut gewesen war.

Sein Blick wanderte zu den Bergen hinüber, die sie Gartenkuppen nannten und der üppige, dunkle Wald erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen. Jetzt bist du aber echt ungerecht, schalt ihn seine innere Stimme. Du solltest ein wenig Dankbarkeit empfinden, dass Onkel Philipp und Tante Lucie dich aufnehmen. Schließlich haben sie auch ohne dich schon genug um die Ohren und die Alternative dazu wäre das Waisenhaus gewesen. Puh! Beim Gedanken an diesen Ort lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Da hätte mir auch die schönste Aussicht aufs Meer nichts genutzt. Nein, vorerst muss ich mich damit abfinden, aber später, später kann ich hier wieder abhauen, so wie Papa es getan hat!

Inzwischen war der Augenblick gekommen, da seine Eltern in die dunkle, wohlriechende Erde gebettet wurden und er wusste, dass er nun als Erster nach vorn gehen musste, um ihnen eine Handvoll Blumen auf die letzte Reise mitzugeben. Blumen sind gut, sie passen zu Mama, die ihren kleinen Garten liebte, aber für Papa hatte er noch etwas anderes vorbereitet. In seiner Hosentasche trug er zwei kleine Flaschen mit Meerwasser, Sand und Muscheln. Eine für Papa und eine für sich selbst.

Die Augen der Anwesenden waren wartend auf ihn gerichtet, aber seine Füße versagten ihm den Dienst und schienen geradewegs am Boden zu kleben. Schon befürchtete er zu fallen, da spürte er plötzlich eine kleine, feingliedrige, warme Kinderhand in der seinen. Fest drückten die Fingerchen zu und hielten den Kontakt zu seinem neuen Leben aufrecht, bis er Abschied genommen hatte und der Trauergottesdienst zu Ende war. Es war Flora, das zierliche Nesthäkchen der Familie, die mit ihren großen, grünen Augen fest an Till hing.

„Du bleibst ja jetzt bei uns!“, flüsterte sie ihm vertraut zu. „Und es wird dir bestimmt gefallen!“

Till schaute stumm zu seiner kleinen Cousine hinab. Im Augenblick bezweifelte er, dass es ihm überhaupt irgendwann, irgendwo wieder gefallen würde, aber sie blickte ihn so zuversichtlich an, dass er ihr zuliebe zustimmend nickte.

„Ich friere so! Bitte bring mich zum Auto“, sagte die Kleine und zog an Tills Hand. „Ist bestimmt offen. Los, wir rennen um die Wette!“

„Auf dem Friedhof darf man nicht rennen!“, sagte Lilly, die hinzugetreten war und schüttelte dabei ihr langes Haar keck über die Schulter. „Das schickt sich nicht!“

„Ich will ja auch niemandem was schicken! Komm Till, komm!“

Der Junge schaute sich um und als er sah, dass das Händeschütteln und Umarmen immer näher rückte, stimmte er zu und rannte mit Flora zum Auto. Das fehlte noch, dass er all diesen fremden Leuten vorgestellt würde! Trotz ihrer Einwände folgte Lilly ihnen.

Mit lautem Knall schlug die Fahrzeugtür zu. Im Inneren war es warm, trocken und still. Erschöpft ließ er sich in den Rücksitz fallen, doch seine Cousine hatte nicht vor, ihn ungestört seiner Trauer zu überlassen.

„Zuhause haben wir schon soooo viel zu Essen vorbereitet. Mama und Omi haben gekocht und gebacken, aber Papa wollte nicht, dass die ganzen Leute mitkommen. Er hat gesagt, dass das nicht nur eine Beerdigung, sondern vor allem eine Begrüßungsfeier für dich ist.“

Flora zupfte ihre Mütze vom Kopf und Till sah, dass sie leuchtend rotes Haar hatte, das ordentlich in zwei dicke lange Zöpfe geflochten war. Über ihrer Stupsnase prangten ein paar vorwitzige Sommersprossen und wenn sie lachte, sah man die nachwachsenden Schneidezähne, die vorübergehend ein sympathisches Lispeln hervorriefen. Sie wartete nicht auf Tills Antwort, sondern plapperte munter weiter. „Hast du deine ganzen Sachen in dem einen Koffer? Das ist ja nicht gerade viel! Aber wir haben bestimmt genug Anziehsachen für dich. Mutter schimpft immer, dass Oskar so schnell wächst.“

„Hm“, machte Till nachdenklich. Er war ein Einzelkind und alles, was er bisher an Kleidung bekommen hatte, war neu und nur für ihn gekauft worden, aber im Grunde interessierte ihn das im Augenblick nicht. Onkel Philipp hatte ihn aus dem Waisenhaus geholt und beim überstürzten Umzug dorthin hatte er nur das Allernötigste mitgenommen. Das meiste seiner persönlichen Sachen war noch in der elterlichen Wohnung, die in den nächsten Wochen aufgelöst werden musste.

„Mama hat gesagt, dass sich alles finden wird“, sagte die 16-jährige Lilly, ausnahmsweise mal weniger naseweis. Sie empfand echtes Mitgefühl für ihren Cousin, der nur wenige Monate jünger war als sie. Scheu betrachtete sie ihn von der Seite. Es war lange her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Wann war das nur? Ja richtig, jetzt erinnerte sie sich, es war zu Floras Taufe gewesen, also vor fünf langen Jahren. Eigentlich sieht er ganz hübsch aus, dachte sie. Wenn man es genau nahm, sah er Oskar sogar ein bisschen ähnlich, die gleiche, kleine gerade Nase, die das charakteristische Aussehen aller Rudloffs prägte, die klaren grau-grünen Augen unter schmalen, kühn geschwungenen Augenbrauen und der weiche Mund, um den jetzt allerdings ein bitterer Zug lag. Wer es nicht besser wusste, würde sie für Brüder halten.

Till hatte sich müde zurückgelehnt und schloss die Augen, während Flora mit dem Finger ein Muster an die angelaufenen Autoscheiben malte und dabei ein Herbstlied summte. Beinahe wäre er eingeschlafen und schreckte zusammen, als die Autotür abermals ins Schloss fiel. Onkel Philipp und Tante Lucie waren eingestiegen und brachten einen Schwung kalte Herbstluft mit.

„Mach schnell Phil, dreh die Heizung hoch! Die Kinder sehen halb erfroren aus! Bring uns nach Hause“, sagte Lucie und strich sich eine Locke des nassen, kurzen Haares aus der Stirn. Sie hatte sich umgedreht und lächelte den drei Kindern auf der Rückbank freundlich zu. Als sie die schwarzen Ringe um Tills Augen sah, streichelte sie liebevoll seine Hand. „Du siehst erschöpft aus, aber du hast dich tapfer gehalten. Deine Eltern wären stolz auf dich!“

„Hm!“, machte Till erneut, da er nicht wusste, was er erwidern sollte, aber irgendwie freute er sich über das unerwartete Lob, das seine so mühsam aufrechterhaltene Standhaftigkeit bestätigte.

Er schaute aus dem Fenster und versuchte sich an das Haus seines Onkels zu erinnern, aber alles, was ihm dazu einfiel, war, dass es sich um ein kleines Anwesen in der Nähe des Waldes handelte.

Der alte Opel Astra schnaufte die Sonneberger Straße hinauf. Für einen kurzen Moment dachte Till an den schnittigen Audi seines Vaters, aber was hatte ihm der moderne Wagen genutzt?

Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Das Auto hielt vor dem letzten Haus in der Straße und Tante Lucie stieg behände aus, um das Tor zu öffnen.

„Hier wären wir also!“, sagte Onkel Philipp. „Nochmals herzlich willkommen zuhause, Till!“

„Danke!“, murmelte Till mit einem Kloß im Hals, der von Minute zu Minute größer wurde. Am liebsten hätte er geschrien, dass das hier keineswegs sein Zuhause sei.

Lilly und Flora sprangen aus dem Wagen und halfen, sein Gepäck hineinzutragen. Sein Unbehagen schwand ein wenig, als er im Flur einen freundlichen Willkommensgruß in Form eines bunten Herbstblumenstraußes vorfand. Flora hatte dazu ein lustiges Bild gemalt, das unverwechselbar alle Mitglieder der Rudloff-Familie darstellte. Der Größe nach aufgestellt und einander an den Händen haltend begrüßten sie ein dünnes Figürchen mit Kapitänsmütze in seinem neuen Zuhause. Unter diesem Szenario war mit wackligen Großbuchstaben

„WILLKOMMEN LIEBER TILL“

geschrieben.

Während Onkel Philipp half, Tills Sachen nach oben in Oskars Zimmer zu bringen, empfing Tante Lucie die wenigen Trauergäste, die zum Essen gekommen waren.

„Na Till, wenn du willst, kannst du deine Sachen dort in den kleinen Schrank legen. Oskar hat ihn für dich frei geräumt. Alles kam so überraschend, da hatten wir noch keine Zeit, ein eigenes Zimmer für dich vorzubereiten. Aber Oskar und ich haben schon Pläne gemacht. Wir wollen dir Omas altes Nähzimmer ausbauen.“

„Es tut mir leid, dass ihr meinetwegen solche Umstände habt“, antwortete Till mit belegter Stimme.

„Ach Junge, rede keinen Unsinn! Das sind keine Umstände für uns, verstehst du? Wir sind alle froh, dass du jetzt bei uns wohnst. Mein Bruder würde an meiner Stelle nicht anders handeln! Du hättest mal sehen sollen, wie Tante Lucie mit der Dame vom Jugendamt gekämpft hat! Eine Löwin ist nichts dagegen!“

„Vielen Dank dafür! Und die Frau im Waisenhaus, die war auch nicht von Pappe!“

„Du sagst es!“

Einen Augenblick lang schwiegen beide und Till schaute sich verlegen im Zimmer seines Cousins um. Im weitesten Sinne ähnelte es seinem eigenen daheim, nur war es vor Kurzem sehr ordentlich aufgeräumt worden. Er sah Poster von Caliban und Heaven Shall Burn an der Wand, ein Regal voller CDs und Bücher. In einer Ecke stand ein Schlagzeug und auf dem Boden ringsum lagen Noten. Die Abdrücke im Teppichbelag bestätigten, dass Oskars Bett erst kürzlich an die Seite gerückt worden war, damit Platz für Tills Liege frei wurde. Den Blickfang bildete der große, zweitürige Kleiderschrank aus Eichenholz, neben dem die kleine Anrichte stand, die nun vorübergehend Tills Habe beherbergen sollte.

„Till“, unterbrach sein Onkel die unangenehme Stille, „wir haben lange überlegt, was wir sagen könnten, um dich in diesem schrecklichen Verlust zu trösten, aber ehrlich gesagt sind uns nicht die rechten Worte eingefallen. Wundere dich also nicht, wenn wir von uns aus nicht so viel dazu sagen. Wir alle sind der Meinung, dass Handeln jetzt wichtiger ist als Reden! Gemeinsam werden wir aus diesem Tal herausfinden und du könntest uns helfen, indem du uns ehrlich sagst, wenn dir etwas nicht gefällt oder du dich nicht wohlfühlst. Und nun komm, eine Weile musst du noch mit hinuntergehen. Du hast heute noch nichts Warmes gegessen und deine Tante Lucie hat einen Topf Gulasch gekocht, mit dem kannst du die halbe Stadt füttern. Und Semmelknödel! Lilly hat behauptet, du würdest sie gern essen.“

„Das ist wahr! Nach so langer Zeit hat sie sich daran erinnert?“

„Oh, ja! Unsere Lilly tut immer nur so, als wäre sie aus Eis. In Wahrheit ist sie warmherzig und aufmerksam. Also komm, wir wollen gehen. Nach dem Essen könnt ihr Kinder euch zurückziehen, wenn ihr wollt! Es war ein langer, schwerer Tag!“

Er klopfte Till freundschaftlich auf die Schulter, so wie es sein Vater auch immer getan hatte und eine Welle des Vertrauens durchströmte den Jungen.

Auf der Treppe kam ihnen Oskar entgegen. Der 18-Jährige hatte die Strecke vom Friedhof nach Hause mit dem Rad zurückgelegt und war folglich nass bis auf die Haut.

„Beeil dich, Großer! Essen ist fertig!“

Till fühlte sich mies, weil er offensichtlich Oskars Platz im Auto eingenommen hatte, aber der zwinkerte ihm im Vorübergehen verschwörerisch zu.

Der restliche Tag ging an Till vorbei wie ein Traum. Er war so müde, dass seine Auffassungsgabe endgültig erschöpft war und er gleich nach dem Abendessen zu Bett ging. In der Nacht plagten ihn wirre Träume, aber schließlich fand er doch die Ruhe, die er so nötig brauchte.

Es war bereits 11 Uhr, als er am nächsten Tag erwachte. Im Haus herrschte eine seltsame, befremdliche Stille und es dauerte eine Weile, bevor er sich erinnerte, wo er war und warum. Sanftes Licht sickerte durch die geschlossenen Vorhänge und mahnte ihn zum Aufstehen. Er blickte zu Oskars Bett, das noch aufgedeckt von der Nacht war. Natürlich – die anderen hatten das Haus verlassen, um ihren täglichen Verpflichtungen nachzukommen.

Tante Lucie und Onkel Philipp hatten beschlossen, ihn eine Woche von der Schule zu befreien, damit er Zeit fand, sich zu sammeln und zu erholen. Unentschlossen träumte er noch eine Weile vor sich hin, dann entschied er aufzustehen und sein neues Zuhause zu erforschen. Diese Idee beflügelte seine Lebensgeister und schon merkte er, dass er hungrig war. Also wäre es am sinnvollsten, wenn er in der Küche beginnen würde. Hurtig schlüpfte er in Jeans und T-Shirt und rannte die Treppe hinunter. Allein fühlte er sich unbefangen und sogar ein wenig fröhlich. In der Küche war es angenehm warm. Jemand hatte ein Feuer im Herd angezündet und Moritz, der kleine schwarze Kater, schlief auf der Ofenbank. Auf dem Küchentisch fand Till einen Zettel, Brötchen und einen Krug mit frischer Milch.

„Guten Morgen, lieber Till!

Wir hoffen, dass du gut geschlafen hast. Lass dir das Frühstück schmecken. Oma ist auf den Markt gegangen. Wenn sie kommt, könnt ihr gemeinsam das Mittagessen zubereiten. Wir sind so gegen 14.30 Uhr wieder zuhause. Dann ist endlich Wochenende!

Tante Lucie“

Till legte den Zettel zur Seite und ging zum großen, alten Küchenschrank, der eine ganze Seite des Raumes für sich beanspruchte, und nahm einen Teller vom Board. Unter dem Teil mit dem Tellerregal waren zehn schöne alte Messinghaken, an denen je eine große, lustig dekorierte Tasse hing. Noch ein Schmiermesser aus dem Schubfach, fertig. Als Till den Kühlschrank suchte, bemerkte er, dass die Küche sozusagen in zwei verschiedene Jahrhunderte eingeteilt war: Den älteren Teil bildeten der Küchenschrank, eine ebenso hübsche, alte Anrichte, die Essecke mit vier Stühlen und die Ofenbank. Hier gab es auch mehrere Wandregale mit alten, teils seltsamen Küchengeräten und jeder Menge Kräutertöpfchen. Im modernen Teil gab es eine dunkle Holzarbeitsplatte, unter der Spüle, Geschirrspüler, Kühlschrank, Eisschrank und Mikrowelle ihren Platz gefunden hatten. Oberhalb der Arbeitsplatte befand sich ein Fenster, vor dem bunte Geranientöpfe prangten.

Da die Rudloffs ein altes Bauernhaus bewohnten, war die Küche natürlich dementsprechend groß. Hier hatten schon viele Generationen gekocht und gegessen. Till fand den Raum sehr gemütlich. Er nahm Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank, setzte sich zu Moritz auf die Bank und ließ es sich schmecken. Unterdessen trommelte draußen der Regen an die Fensterscheiben und Till dachte mit Bedauern an Oma Gertrude, die auf dem langen Weg vom Markt bis zum Haus bestimmt pitschnass werden würde. Nachdem er aufgegessen hatte, räumte er den Tisch ab und nahm seinen Besichtigungsrundgang wieder auf.

Der Grundriss des Rudloffschen Hofes war wie der der meisten aus dieser Zeit stammenden Gebäude. Betrat man das Haus durch den Haupteingang, erreichte man zunächst die Diele, von der aus alle Zimmer des vorderen Wohnbereichs abgingen. Rechts beginnend war das Wohnzimmer, dann kam das Arbeitszimmer und, dem Eingang genau gegenüber, befanden sich Küche und Speisekammer. Till richtete seinen Blick nach links. Dort war die alte, ausgetretene Holztreppe, die zu den oberen Räumen führte und die bei jedem Tritt ächzte, als wolle sie den Benutzer auf ihr ehrbares Alter aufmerksam machen. Unter der Treppe war eine niedrige Tür, die offenbar zum Keller führte, und daneben, wusste Till, die untere Toilette.

Till drückte die alte, eiserne Türklinke, aber der Keller war verschlossen, und da der Schlüssel nicht steckte, ging er weiter. Er würde schon noch eine Gelegenheit zur Erkundung des Kellers finden. Die letzte Tür der Diele führte zu einem geräumigen Abstellraum, in dem sich der Heizkessel und allerlei notwendige Arbeitsgeräte befanden. Till stellte fest, dass Tante Lucie ihn praktischerweise auch zum Wäschetrocknen und Bügeln nutzte. Später erfuhr Till von Oma Gertrude, dass dieser Raum ursprünglich einmal die Futterküche gewesen war. Er hatte einen zweiten Ausgang, der in die Garage und von dort aus auf den Hof führte. Das hübsche Anwesen gehörte einst Oma Gertrudes Großeltern, die noch richtig Landwirtschaft betrieben hatten. Heutzutage hielt man außer Moritz, dem Kater, lediglich noch ein paar Hühner auf dem Hof.

Till steckte den Kopf zur Garagentür hinaus und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Scheune und die anderen einladend ausschauenden Nebengebäude. Nein, bei diesem Wetter würde er keinen Fuß vor die Türe setzen, auch wenn ihn die Neugierde noch so plagte.

Das gemütliche Wohnzimmer hatte er gestern Abend schon kennengelernt und das Arbeitszimmer hatte wenig Anziehungskraft für einen Jungen wie ihn. Neben dem Arbeitszimmer war das untere Bad, oder vielmehr die Dusche. Bei so vielen Hausbewohnern waren ein Bad und eine Toilette nicht ausreichend. Till schloss die Tür und stieg die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Sie führte zu einem hübschen, mit alten Bauernmöbeln und Grünpflanzen eingerichteten Vorzimmer. Gestern, bei seiner Ankunft, war er viel zu müde und niedergeschlagen gewesen, um sich genauer umzublicken. Die Anordnung der Räume im vorderen Wohnbereich glich der des Untergeschosses. Rechts, das helle, große Zimmer gehörte Oskar und ihm selbst, daneben wohnten die beiden Mädchen. Till öffnete die Tür, schaute sich um und entschied, dass dies Lillys Zimmer sein musste. Weit gefehlt, wenn er hier den typischen Mädchenkram erwartet hatte. Es gab weder Himmelbett noch rosa Plüschhasen, dafür aber ein Teleskop, das so groß war, dass es ein eigens dafür gebautes Podest gab.

„Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, Cousinchen!“, flüsterte er, während er das Gerät staunend umkreiste. An einer Wand hatte das Mädchen eine riesige Sternenkarte befestigt und die Zimmerdecke war hellblau gestrichen. Till glaubte eine Menge von Sternen zu sehen, die mit phosphoreszierender Farbe gemalt waren, so dass sie im Dunkeln leuchten würden. Fast ehrfürchtig ging er zum Bücherregal und las die Titel auf den Buchrücken, während er mit dem Finger suchend darüber strich. „Du bist, was du liest!“, hatte sein Deutschlehrer immer gesagt. „Astronomie, Geologie, Mondkalender 2010, Geschichtsbücher für Jugendliche und einen Almanach der Zauberwesen! Wer hätte das gedacht!“, murmelte Till beeindruckt.

„Hätte mir auch noch gefehlt, dass ich so eine Zicke zur Stiefschwester bekomme, die nur auf der Suche nach dem nächsten Glitzernagellack ist!“, brummte er. Naja, ein bisschen schräg fand er sie trotzdem, denn mit ihren schwarzen Klamotten und den langen dunklen Haaren hatte sie offensichtlich einen Hang zum Mystischen. Aber was ging ihn das an? Für ihn war sein Aufenthalt hier nur eine Zwischenstation, die sich nicht umgehen ließ.

Das Zimmer hatte zwei Fenster. Während vor dem einen das Teleskop platziert war, stand unterhalb des anderen ein alter Schreibsekretär mit vielen kleinen Schubladen. Till trat näher und betrachtete die aufgeschlagene Seite eines Notizbuches, auf dem die Umlaufbahn des Mondes fein säuberlich aufgezeichnet war. Die Koordinaten waren jeden Tag zur gleichen Stunde festgestellt und aufgeschrieben worden.

„Hm! Das ist interessant!“, murmelte Till. „Vielleicht kann ich dabei auch mal mitmachen.“ Weiterhin hatte sie noch einen hübschen Kleiderschrank, einen Schreibtisch mit Computer und Zubehör und eine gemütliche Schlafcouch mit vielen bunten Kissen im Zimmer. Obwohl es verlockend war, fand Till, dass er nicht das Recht hatte, in eines der Schubfächer zu sehen. Nein, so weit ging seine Neugierde nicht. Er würde auch nicht wollen, dass jemand während seiner Abwesenheit in seinen persönlichen Sachen herumkramte! Dass alle Räume unverschlossen waren, bewies, wie sehr sie ihm vertrauten, und dieses Vertrauen würde er nicht ausnutzen! Das nächste Zimmer gehörte der kleinen Flora und war noch wie ein richtiges Kinderzimmer eingerichtet. Ursprünglich besaß es eine Verbindungstür zu Lillys Zimmer, aber Onkel Phil hatte sie mit einer Holzplatte verschlossen und ein hübsches Regal in den Türrahmen gebaut, in dem jetzt Floras Schätze untergebracht waren. Es gab viele bunte, der Größe nach sortierte Kinderbücher, Bau-, und Legosteine, Malzeug, Kinderkassetten, CDs. Till fand die Dinge irgendwie tröstlich und vertraut, da es ihn an seine eigene Kindheit erinnerte. Mit Vergnügen betrachtete er eine gemütliche Teegesellschaft, die aus ein paar hübschen Püppchen und Stofftieren bestand. Sie waren um einen kleinen Tisch versammelt, der liebevoll mit einem Kinderservice gedeckt war.

„Na meine Damen und Herren, sie werden sich wohl noch ein wenig gedulden müssen, bis ihre Gastgeberin nach Hause kommt!“, sagte Till, während seine Aufmerksamkeit von einer hübschen, silbernen Dose angezogen wurde, die mit bizarr verschlungenen Linien und Zeichen verziert war und auf deren Deckel eine winzige Gestalt saß. Es war offensichtlich, dass das Gefäß Floras fehlende Zuckerdose ersetzen sollte.

Till nahm sie in die Hand und spürte eine rätselhafte Wärme von ihr ausgehen. Aufmerksam betrachtete er die anmutige Figur, die einen Flötenspieler darstellte, der so fein gearbeitet war, dass er lebendig zu sein schien. Er schüttelte das Kästchen und hörte, dass sich in seinem Inneren etwas verbarg, aber leider ließ es sich nicht öffnen. Enttäuscht stellte er den Gegenstand wieder auf den Tisch und beeilte sich, den Raum zu verlassen, denn er hörte, wie sich im unteren Flur die Haustür öffnete.

II.

Oma Gertrude

Gleich darauf ertönte Oma Gertrudes freundliche Stimme: „Till, mein Junge, bist du schon aufgestanden? Ich bin zurück! Wenn du willst, kannst du mir mit dem Mittagessen behilflich sein!“

„Ich komme!“ Till eilte die Treppe hinab und half der alten Dame, die schweren Einkaufstüten in die Küche zu tragen.

„Weißt du, wie man einen Pudding kocht?“, fragte sie, hängte ihre nasse Jacke an den Ofen und band sich eine Schürze um.

„Ja, hab’ ich schon gemacht!“

„Gut, dann würdest du mir sehr helfen, wenn du den Schokoladenpudding anrührst, während ich die Fleischbrühe ansetze. Eine Suppe, mag sie noch so lecker sein, ist doch nichts ohne einen süßen Schokoladenpudding!“, sagte sie und wischte sich mit einem Taschentuch die Regentropfen von der runzligen Stirn. Sie wollte ihm keine wirkliche Wahl lassen und schob alles Notwendige zu ihm hinüber. Till war froh, etwas tun zu können, denn obwohl er nicht schüchtern war, wusste er im Augenblick nicht, worüber er sich mit der fremden Verwandten unterhalten sollte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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