Das Ende der Frauenrechte in Afghanistan -  - E-Book

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Beschreibung

"Das Ende der Frauenrechte in Afghanistan. Geflüchtete Frauen berichten" schildert die bewegenden Schicksale afghanischer Frauen nach dem Machtantritt der Taliban und dem Zusammenbruch des von der NATO unterstützten Regierungssystems. Es beleuchtet die Herausforderungen und die Angst, die die afghanische Gesellschaft ergriff, insbesondere die Frauen, die unter den repressiven religiösen Regeln am meisten zu leiden haben. Diese Frauen, darunter Lohnarbeitende, Journalistinnen und politisch Aktive, sahen sich gezwungen, nach Wegen zu suchen, um der drohenden Gewalt und Unterdrückung zu entkommen. Das Buch gibt Frauen eine Stimme und archiviert somit die aus ökonomischer, politischer und sozialer Perspektive erlebten Ereignisse. Es gibt einen tiefen Einblick in den Kampf dieser Frauen gegen Korruption und Polarisierung und zeigt ihren Mut und ihre Entschlossenheit, trotz neuer Bedrohungen und Herausforderungen ein freies Leben zu suchen. Indem es persönliche Erinnerungen und Erfahrungen verwebt, wirft das Buch ein grelles Licht auf die zwanzigjährige Anwesenheit der NATO in Afghanistan und die daraus resultierenden langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2024

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herausgegeben von Sur Esrafil & Zohra Farhan

Sur Esrafil studierte an der Universität Herat Rechtswissenschaften und war viele Jahre als Anwältin in Kabul tätig. Sie ist leidenschaftliche Literatin und Dichterin. Im Jahr 2017 veröffentlichte sie ihre Gedichtsammlung unter dem Titel Esrafil Dar Band (übersetzt: die eingesperrte Esrafil). Ihre Gedichte wurden u.a. in Englisch und Deutsch übersetzt. Sie war Mitglied der Afghan Pen Association.

Zohra Farhan hat Politikwissenschaften, internationalen Beziehungen und Journalismus in Teheran studiert. Später arbeitete sie als Journalistin und Schriftstellerin in Afghanistan und schrieb vor allem für soziologische Zeitschriften. Sie war Mitglied in der Association of Intellectuals of Herat.

Sur Esrafil & Zohra Farhan (Hg.)

Das Ende der Frauenrechte in Afghanistan

Geflüchtete Frauen berichten

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Sur Esrafil & Zohra Farhan (Hg.):

Das Ende der Frauenrechte in Afghanistan

1. Auflage, April 2024

eBook UNRAST Verlag, August 2024

ISBN 978-3-95405-197-7

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | kontakt@unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag

Umschlagfoto: ©picture alliance/Reuters/ Omar Sobhani

Satz: UNRAST Verlag

Zur vorliegenden deutschen Ausgabe

Übersetzung aus dem Persischen: Sussan Jafari

Korrektorat der Übersetzung: Kava Spartak

Inhalt

Einleitung von Sur Esrafil

I. Der Schatten des Todes und die Härte der Flucht

Shaima Karimi

Hadia Armaghan

Kobra Rezaei

Katayoun Ahmadi

Niloofar Baghban

II. Abschied von der leuchtenden Perspektive für die Zukunft

Mahboba Islami

Marjan Rahmati

Farida Faryad

Arezoo J.

Sughra Ataie

III. Wie wir abstürzten!

Fatima Zahra Ahmadi

Maryam Kohdamani

Gulsom Zahra

Razia Barekzai

Taranom Sayedi

Schlusswort von Zohra Farhan

Anhang

Kurze Zeittafel

Bibliografie

Anmerkungen

aus dem Persischen von

Sussan Jafari

Die persische Sprache kennt kein Genus. Bei der Übersetzung ins Deutsche wurde die geschlechtergerechte Schreibweise gewählt, damit sowohl Frauen als auch Männer sichtbar werden.

Einleitung

Sur Esrafil

Der Sturz Kabuls im August 2021 wird für immer mein Leben prägen. Denn ich verlor damit zum wiederholten Mal meine geliebte Heimat. Als ich selbst Kabul im Jahr 2013 verlassen musste, glaubte ich fest daran, dass ich bald wieder zurückkehren würde, und meine Arbeit als Rechtsanwältin fortführen könnte. Ich war der festen Überzeugung, dass ich wieder mit Freundinnen und Freunden in Cafés essen und lachen würde, dass wir unbeschwert mit dem Auto von Kabul nach Mazar oder nach Paghman fahren würden, dass ich mit dem Flieger zu meiner Uni nach Herat fliegen könnte, um dort ehemalige Kommilitoninnen zu treffen, dass die Aufenthalte am Pol-e Sorkh und die Düfte und Klänge Kabuls meine Feder zu Gedichten führen würden. Das alles und Tausende anderer Erinnerungen wurden wie ein Schlag niedergeschmettert als Kabul fiel.

Obendrein erfuhr ich einige Tage später, dass ich wieder schwanger bin. Ich musste auf mich und auf das in mir wachsende Kind Acht geben. Ich durfte nicht zulassen, dass der Schmerz und die Tränen uns in eine Dunkelheit zerren und uns für immer Schaden zufügen würden. Als Mutter musste ich oft an andere Mütter in Kabul denken, die am Flughafen um ihr Leben und das ihrer Kinder kämpfen mussten. Die Evakuierungssituation vor Ort glich dem schlimmsten vorstellbaren Albtraum. Niemand wusste, wer auf wessen Liste kam, und wer es überhaupt in den Flughafen schafft. Ich fragte mich vor allem, welches Schicksal Frauen im Land erwartet. Mütter, Schwestern, Töchter? Werden ihre Erinnerungen und Erzählungen wieder in Vergessenheit geraten?

Erzählungen über die Unterdrückung der Frauen in der afghanischen Geschichte sind mündlicher Natur und häufig der Zensur der patriarchalischen Kultur Afghanistans ausgesetzt. Das hat zur Konsequenz, dass Frauen in ihrem Befreiungskampf stets mit einem fehlenden historischen Gedächtnis konfrontiert sind. Dieses historische Gedächtnis setzt mit der Unterdrückung in der Familie ein und erstreckt sich bis zur Migration der Frauen und der damit verbundenen Identitätspolitik. In den letzten 20 Jahren wurde Frauen in Afghanistan wieder, bis zu einem gewissen Grad der Zugang zu Bildung ermöglicht. Das hat den Frauen die Gelegenheit gegeben, die Umstände ihrer Unterdrückung in Texten festzuhalten und somit in die Schriftkultur zu transformieren und ihre Erfahrung nicht mehr nur in mündlicher Form, sondern auch in schriftlicher Form, zu überliefern. Wir waren nach dem Umsturz von Präsident Dr. Najibullah vor einigen Jahrzehnten Zeuginnen und Zeugen massenhafter Migration von Frauen, von der wir leider aus unterschiedlichen Gründen nur Weniges durch mündliche Überlieferung wissen.

Dieser Sachverhalt führt uns das doppelte Elend, Unwissenheit und fehlende Berichte über historische Erfahrungen der vergangenen Generation, vor Augen. Im August 2021 ist Afghanistan in die Hände der Taliban gefallen. Zohra Farhan, meine Schwester, und ich hatten die Idee, die Erzählungen von Frauen zu sammeln und so einen Teil der Erfahrungen der Frauen über den Sturz des Systems und den damit verbundenen Problemen der Frauen schriftlich festzuhalten.

In Anbetracht der schwierigen Situation der afghanischen Frauen stellen wir fest, dass sie einerseits ihre gesamten Wünsche und Forderungen hinter sich gelassen haben, und andererseits mit einer neuen Gesellschaft konfrontiert sind, die in jedem Augenblick das Bedürfnis nach Kampf und Widerstand verspüren lässt. Zu Beginn dieser Arbeit nahmen wir nicht an, dass unser Aufruf in der virtuellen Welt[1] so großes Interesse und Zuspruch seitens der Frauen erhalten würde. Aber uns wurden erstaunlich viele Erzählungen zugesandt.

Uns fiel es sehr schwer, aus den vielen lebendigen Erzählungen über die Situation der Frauen unter diesen widrigen Umständen einige wenige auszusuchen. So versuchten wir, die Erzählungen im Zusammenhang mit der Situation der Erzählerinnen einzuordnen. Aus diesem Grund war die gesellschaftliche, politische, familiäre und wirtschaftliche Situation der Erzählerinnen ausschlaggebend.

Diese Erzählungen sind in Bezug auf das Niveau sehr unterschiedlich, was den Schreibstil und die Erzählweise der Erzählerinnen anbelangt. Frauen und Mädchen, die uns ihre Beobachtungen und Erfahrungen zukommen ließen, haben uns entsprechend ihren Möglichkeiten an ihren Erlebnissen vor ihrer Ausreise aus Afghanistan bis zu ihrer Ankunft am Zielort teilhaben lassen. Sie haben unsere Arbeit respektvoll und geduldig durch WhatsApp-Nachrichten, E-Mails, Telefongespräche und Sprachnachrichten unterstützt. Wir haben uns für die persische Sprache entschieden, weil alle uns zugesandten Erzählungen auf Persisch sind. Aus diesem Grund wird auch das Buch ursprünglich auf Persisch verfasst, Ihnen liegt nun eine Übersetzung vor. Im Anschluss an die oben genannten Punkte wollen wir anmerken, dass wir Deutschland als einen geeigneten Raum für die Metadiskurse über Menschenrechte und feministische Diskussionen betrachten. Deshalb versuchen wir die Frauen- und Menschenrechtsfragen in Afghanistan, die bei politischen Gesprächen an den Rand gedrängt werden, erneut unter den Menschen- und Frauenrechtsorganisationen und -institutionen ins Zentrum der Debatten zu rücken. In Anbetracht der Tatsache, dass Deutschland zu den wichtigsten NATO-Mitgliedern zählt und in den letzten 20 Jahren zu den Mächten gehörte, die in Afghanistan mit involviert waren, halten wir es für notwendig, dieses Buch auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen, da die Konsequenzen der Politik dieser Länder in Afghanistan in den ausgewählten Erzählungen eindeutig zu erkennen sind.

Wir möchten uns herzlich beim Verein YAAR e.V. und allen Freundinnen und Freunden bedanken, die uns geholfen haben, dieses Buch überhaupt herausgeben zu können. Unser Dank gilt insbesondere denjenigen, die uns ihre Erzählungen zur Verfügung gestellt haben.

I.Der Schatten des Todes unddie Härte der Flucht

Die afghanische Gesellschaft war nie ein sicherer Ort für Frauen, da ihr traditionelles Verständnis von Beziehungen auf der Isolation der Frau und ihrem Ausschluss aus dem öffentlichen Raum beruht. Der afghanischen Frau war bewusst, dass ihre Präsenz in der Gesellschaft als Aktivistin zivilgesellschaftlicher, politischer, kultureller oder sonstiger Form sie mit ernsthaften Gefahren konfrontieren würde. Diese Gefahren sind bisweilen ein Galgenstrick, eine tiefe Messerwunde am Hals, eine Kugel im Kopf oder im Herzen und markieren so das Ende ihres Engagements. Sie haben aber im Laufe der blutigen Geschichte dieses Landes immer wieder bewiesen, dass sie zwar Frauen, aber darüber hinaus auch Menschen mit einem freien Geist und im Wissen über ihre Menschenrechte sind. Mit diesen Überzeugungen und in dem Bewusstsein der damit verbundenen Gefahren haben sie den Kampf gegen die in der Gesellschaft herrschenden Traditionen aufgenommen. Ein Blick auf die Opfer dieses Kampfes zeigt, wie mutig die Frauen in dieser Gesellschaft sind und welchen Gefahren sie sich ausgesetzt haben. In der religiösen Werteordnung der Taliban jedoch werden Frauen als Dunkelheit anstatt Licht, als Unehrenhafte anstatt Reine, als Verbannte anstatt Auserwählte angesehen. Daher sind die Frauen dazu verdammt, Schwarz zu tragen und ihre Gesichter zu verhüllen, damit sie aus orthodoxer Sicht stets als Symbole des Bösen isoliert bleiben. Die tiefgreifende ideologische und traditionelle Feindschaft der Taliban gegenüber Frauen lässt niemals zu, dass sich in Afghanistan eine gleichberechtigte menschliche Gesellschaft entwickelt. Frauen, die für ihre aktive Präsenz in der Gesellschaft kämpfen, werden von den Taliban als offensichtliche Feinde betrachtet und sind dem Tode geweiht. Daher wurden nach deren Machtübernahme in Afghanistan primitive und zutiefst menschenverachtende Gesetze gegen Frauen verabschiedet, so dass Frauen sogar verboten wurde, das Haus zu verlassen. Unter diesen Bedingungen droht allen Aktivistinnen die Gefahr durch diese Terroristen getötet zu werden. Die Furcht der Frauen vor den Glaubenssätzen der Taliban und deren gewalttätige Umsetzung führen dazu, dass Frauen nach der Taliban-Machtübernahme in tief wurzelnde Angst und Panik versetzt wurden. Sie griffen nach jeder Gelegenheit, ihr Leben zu retten. Das Leben einer Aktivistin unter dem Schatten der Taliban führt zu nichts weniger als dem Tod. Folgende Erzählungen berichten über die tiefe Angst der Frauen vor der Gewalt der Taliban und den daraus hervorgehenden Konsequenzen für ihr Leben.

Shaima Karimi

Es war drei Uhr nachmittags. Ein trauriger und trostloser Nachmittag hatte Kabul und seine ganze Lebensfreude verschlungen. Die Straßen waren leer und von den fröhlichen und fleißigen jungen Frauen und Männern war weit und breit nichts zu sehen. Meine beiden Brüder, die unterwegs waren, um das Schild des Sportklubs abzumontieren, kamen staubig und zerzaust zurück. Mein Vater war der Direktor des Sportklubs. Ich brachte ihnen Tee, damit sie sich erholten. Mein Vater war sauer, weil wir alle darauf bestanden, das Schild abzumontieren und warf uns vor, feige zu sein. Er argumentierte, die Taliban hätten sich geändert, und es würde nichts passieren. Er sagte, es gebe keinen Krieg und kein Blutvergießen. Was sollten die Taliban überhaupt mit einem Sportklub am Hut haben? Ich wies auf den Sportklub hin, in dem vor kurzem ein Selbstmordattentat begangen worden war. Er sagte: »Was auch immer passiert, bleiben wir beim Volk, und Gott hält zum Volk!« Diesen Satz hörten wir immer wieder von ihm, wenn wir alle paar Jahre darüber nachdachten, Afghanistan zu verlassen. Tatsächlich war es auch für keinen von uns einfach, Kabul zu verlassen. Trotz der ganzen Kriege und der Armut war Kabul für uns wie ein Paradies. Die Vorstellung, eines Tages dieser schönen Stadt den Rücken zuzukehren, lässt sich mit dem qualvollen Gefühl vergleichen, mitten im Schlaf aus der Höhe abzustürzen. Es war der dritte Tag nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban. In diesen drei Tagen sprachen wir ab und an über verschiedene Möglichkeiten, Kabul zu verlassen. Meistens endete das Gespräch über dieses Thema in einer angespannten Atmosphäre. Manchmal bedauerten wir die nicht genutzten Möglichkeiten der Vergangenheit. Ich goss Tee in die Tassen ein und warf einen Blick auf die finsteren und verwirrten Gesichter. Der eine beschäftigte sich mit seinem Handy, der andere verfolgte aufgeregt und traurig die Nachrichten der noch aktiven TV-Sender. Ich stöberte in den sozialen Medien, die voller widersprüchlicher Nachrichten waren. Jemand hatte auf seiner Facebook-Seite einen Film hochgeladen, der zeigte, wie die Taliban das Haus einer Anwältin gestürmt, ihre Personenschützer entwaffnet und alle ihre Autos mitgenommen hatten. Eine andere Person berichtete über die Auspeitschung von drei jungen Frauen in Dasht-e-Barchi, weil sie kurze Kleider trugen. Die Nachrichten und Gerüchte gewannen stündlich an Umfang, und unsere Sorge stieg ebenfalls. Es war schon Abend. Mein Telefon klingelte. Es war ein Anruf von unserer WhatsApp-Gruppe (fünf Personen). Seit dem Einmarsch der Taliban war diese kleine Gruppe der einzige Ort, an dem wir über unsere Sorgen berichten konnten. Wir erzählten und weinten. Manchmal sprachen wir uns ab und wollten uns am nächsten oder übernächsten Tag treffen. Es ging aber nicht und wir sagten das Treffen ab. Nichts ging richtig voran.

Es war Abend, und wir saßen alle zuhause. Jede und jeder hat sich in eine Ecke verkrochen. Das Abendessen war immer die einzige gemeinsame Mahlzeit unserer Familie. Aber es fehlten die Ausgelassenheit und die endlosen Diskussionen zwischen dem Bruder und der Schwester darüber, wer die Teller wegträgt und wer das Geschirr spült und … Keiner sagte etwas. Ich nahm die Hand, um den ersten Bissen in den Mund zu nehmen, als es an der Tür klopfte. Meine Mutter sagte: »Oh Gott, hoffentlich geht es gut aus.« Ich sah auf die Uhr. Es war 20:30 Uhr. Wir waren alle bestürzt. Keiner traute sich, die Tür zu öffnen. Mein Vater stand auf. Ich hinderte ihn daran, stand selbst auf und ging unsicher zur Tür. Ich guckte durch den kleinen Türspion, sah aber nur den Wächter Kaka Abbas. Erfolglos versuchte ich mehr zu sehen. Sobald ich die Tür öffnete, sagte er mit zitternder Stimme: »Die Taliban sind da.« Ich fragte ihn, was sie wollten, und ob sie den Grund erwähnt hätten. Kaka Abbas sagte; »Sie haben gesagt, sie durchsuchen das Haus.« Das versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich rannte überall im Haus herum und versuchte einen Platz zu finden, wo wie unsere Dokumente hätten verstecken können, fand aber keinen. Kaka Abbas sagte: »Ich muss die Tür öffnen, sonst werden sie misstrauisch.« Ich bat ihn, die Tür nicht zu öffnen. »Was, wenn sie etwas Böses im Schilde führen?« Ich hatte Angst und wusste nicht, was ich sagte!

Meine Mutter saß stumm und fassungslos. Um unsere Angst zu lindern, sagte mein Vater, dass nichts passieren werde. Sie waren sowieso vor der Tür, und wir hätten sie nicht daran hindern können, hineinzutreten. Mein Vater ging mit dem Nachbar runter. Ich schaute aus dem Küchenfenster nach unten und sah sechs Personen mit einem Auto der kanadischen Marke Corolla. Ich ging zurück, trug einen großen Tschador, ging die Treppen runter zu der Garage, deren Tür offen war. Von der Umgebung nahm ich nichts wahr, vielleicht kann ich mich auch nicht mehr daran erinnern. Zum ersten Mal sah ich aus nächster Nähe die Mörder unschuldiger Menschen. Sie waren wie wilde Tiere, die um ihre Beute herumkreisten. Ich versuchte, Herr meiner Sinne zu werden und meine Angst zu überwinden, was alles andere als einfach war. Ich sah sie mir genauer an. Ihre Gesichter waren maskiert, und sie hatten schmutzige und unordentliche Kleider an. Alle waren bewaffnet und bei einem war auf der Jackentasche eine weiße Flagge mit einem Text in Schwarz zu sehen. Zwei von ihnen hielten draußen Wache. Mein Herz blieb jedes Mal stehen, wenn ich vor Angst erschrak und dachte, sie könnten jeden Augenblick an den Abzug greifen und uns alle der Reihe nach töten. Ich drehte mich um und suchte einen Gegenstand, um mich damit verteidigen zu können, fand aber nichts. Ich beobachtete sie aus meinem Versteck, verstand aber nicht, was sie sagten. Die Zeit ging vorbei, und es war unerträglich für mich. Einer von ihnen versuchte einige Male, mit dem Ende seines Gewehrlaufs die Entfernung zu meinem Vater zu vergrößern. Mein Vater versuchte aber weiterhin, sie sanftmütig davon zu überzeugen, dass es bei uns nichts gab, was für sie eine Drohung hätte sein können. Ich wusste nicht, was sie meinem Vater sagten. Vermutlich waren sie wegen meines Bruders gekommen, der bei einer wichtigen staatlichen Stelle arbeitete. In der gleichen Nacht beratschlagten wir die Lage mit meinem Vater und entschieden alle gemeinsam, dass mein Bruder das Haus verlassen und an einen unbekannten Ort gehen sollte.

In dieser Nacht verbrannte ich meine gesamten Dokumente, außer die Schul- und Universitätszeugnisse. Damals dachte ich, das wäre der einzige Weg, mich und meine Familie zu beschützen. Nach dieser Nacht fühlten wir uns zuhause nicht mehr sicher und entschieden uns ernsthaft, aus Afghanistan auszureisen. Dafür müssten wir aber erst das Haus verlassen, das die Taliban schon kannten. Wir dachten nur noch daran, in Häusern Schutz zu suchen, in denen uns die Taliban nicht finden konnten. Sie hatten angefangen, ein Haus nach dem anderen zu durchsuchen. Wir waren ihnen aber einen Schritt voraus und hatten den Ort verlassen, an dem wir Schutz gesucht hatten. Wir nahmen Kontakt mit allen Freundinnen und Freunden und Bekannten auf, die im Ausland lebten, und auch mit denen, die in den jeweiligen Abteilungen für die Evakuierung gefährdeter Menschen arbeiteten. In der Regel erhielten wir abschlägige Antworten. Manchmal gaben sie uns grundlose Hoffnung und sagten, wir müssten warten. Ein Grund, weswegen ich in dieser schlimmen Lage durchhielt und stark blieb, waren meine Freundinnen und Freunde, die uns nach dem Sturz Kabuls ab und zu Nachrichten zukommen ließen oder mit uns sprachen. Sie versuchten uns trotz der schlimmen Lage Hoffnung und Mut zu machen. Immer, wenn ich über dieses Thema schrieb, wünschte ich weiterhin, ich schriebe über einen Albtraum und das wäre nicht unser Ende. Ich musste Geduld haben und ausharren. An den letzten Tagen hatte ich meine ganze Lebenskraft verloren. Ich ließ es mir aber nicht anmerken, weil ich meine Familie mit meiner Hoffnungslosigkeit nicht traurig machen wollte. Wir alle – afghanische Männer und afghanische Frauen – erlitten den gleichen Schmerz, denn wir hatten auf einmal die Errungenschaften einer gemeinsamen Erfahrung verloren, die wir alle zusammen und gleichzeitig erreicht hatten. Die Frucht unserer Träume und unseres Engagements verbrannte in dem Feuer der Unwissenheit und Grausamkeit eines Anderen. Wir konnten uns gegenseitig nicht daran hindern, besorgt zu sein, konnten uns nicht Lügen vortäuschen, dass nichts Schlimmes passieren würde, während wir davon überzeugt waren, dass uns schlimme Tage bevorstanden.

Ich telefonierte mit der Gruppe stundenlang. Ich und alle meine Freundinnen weinten gemeinsam und dachten an die schlimme Zeit, die vor uns lag. Wir weinten um die unklare Zukunft, die uns allen bevorstand. Wir waren alle innerhalb einer Nacht in die dunkle Vergangenheit katapultiert worden, um die Last der Primitivität und Rückständigkeit einiger Mörder auf unseren Schultern tragen zu müssen, dissoziale Persönlichkeitsstörung hatten und frauenfeindlich waren.

Viele Tage und Nächte versuchten wir es, bis eine Antwort eintraf. Ich bekam ein Familienvisum und nutzte die Gelegenheit, um aus Kabul zu flüchten, wo keine fröhlichen und fleißigen jungen Frauen mehr zu sehen waren. Ich prägte mir Kabul mit dem ganzen Schmerz in meinen Erinnerungen ein und versprach mir, eines Tages mit den gleichen Menschen, die heute mit einem Rucksack voller Hoffnungslosigkeit von diesem Land Abschied nahmen, zurückzukommen und Afghanistan wieder aufzubauen. Ein System brach zusammen, ein Volk wurde vernichtet: Weder blieben wir beim Volk, noch hielt Gott zum Volk! Jeder Mensch musste mit seinem Schmerz allein fertig werden.

PS: Ich schreibe diese Zeilen am 28. August 2021, um 12:38 Uhr. Es sind genau 13 Tage seit dem gnadenlosen Sturz Kabuls vergangen. Ich atme seit drei Nächten hier in einem Zelt (Camp in Deutschland) unter vielleicht mehr als 500 Menschen.

Hadia Armaghan

Wir gingen fort mit dem Koffer, den wir nicht hatten

Vor mehr als einem Monat wurde ich von Masar-e Scharif nach Kabul ins Exil geschickt. Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Exil dazu führen würde, meine Heimatstadt und meine geliebte Mutter nicht mehr wieder zu sehen. Seit einem Monat sahen wir, wie jeden Tag verschiedene Provinzen in Afghanistan eine nach der anderen in die Hände der Taliban fielen. Die Sicherheitslage in meinem Wohnort Masar-e Scharif wurde immer bedrohlicher. Ich war Leiterin der Frauenabteilung in der Menschenrechtskommission im Norden Afghanistans. Zu meinem Leidwesen gehörte der Widersacher in einem Fall, den wir unterstützt hatten, zu den Taliban, und er hatte mir das Leben in den letzten Monaten zur Hölle gemacht. Als Folge seiner massiven Drohungen musste ich Masar-e Scharif verlassen und meine Arbeit vorerst von Kabul aus erledigen. Ich hatte nur noch die Hoffnung, am Leben zu bleiben und für meine Kinder da zu sein. Wie es mir in dem einen Monat in Kabul erging, ist noch in meinem Inneren verborgen und nicht bereit erzählt zu werden. Das wird noch warten müssen, bis sie zu einem Kloß im Hals wird und auf das Papier herab platzt.

In dieser Nacht eroberten die Taliban Masar-e Scharif. Die Nachricht brachte mich zum Beben, als wäre meine Kehle zugeschnürt. Ich krümmte und wälzte mich, um meinen Körper für einen Augenblick zu beruhigen. Ich konnte nicht glauben, dass mein Geburtsort so einfach in die finstere Zeit zurückfallen würde, die vor zwei Dekaden herrschte. Meine düstere Kindheit ist verbunden mit abgetrennten und seinerzeit neben den Straßen aufgehängten Händen, den Peitschen jener Unwissenden des Jahrhunderts (Taliban) und dem Erleben, wie sie bei der Durchsuchung der Häuser Stoffpuppen aufschnitten.

Diese Nacht verbrachte ich mit den Albträumen vorheriger Jahre, ohne zu wissen, dass der nächste Tag mit einem weiteren Albtraum beginnen würde.

Am folgenden Tag, dem 15. August, war das Bild Kabuls ein anderes. Die Menschen waren aufgeregt und ängstlich und standen in den Banken Schlange. Die Geschäfte waren geschlossen. Alle kehrten von der Arbeit nach Hause zurück. Mein Ehemann Mustafa Muheb und ich waren bei Freunden in Kart-e Char und mussten zu jemand anderem aus dem Freundeskreis in Shahrak-Aria[2] gehen. Die Straßen waren unglaublich voll. Die Stadt wurde immer angsterfüllter. Wir waren stets bemüht, dass unsere Kinder nicht erfuhren, was los war, damit ihren Seelen kein Schaden zugefügt würde. Mein Sohn Arshan fragte aber immer wieder, wer die Taliban seien und warum alle so ängstlich von deren Rückkehr sprachen. Er sagte, er habe auch Angst. Ich nahm ihn fest in den Arm. Voller Trauer und ohne jegliche Hoffnung verbrachten wir mehrere Tage und Nächte in Shahrak-Aria.

Aus dem Fenster sah ich, wie die Zombies in Shahrak-Aria Patrouille fuhren. Aus lauter Angst, sie könnten Hausdurchsuchungen vornehmen, waren wir dabei, unsere Dokumente und Handys zu verstecken. Wir hatten Angst, dass sie durch unsere Handys an wichtige Kontaktdaten und Dokumente gelangen könnten. Die Dokumente über meine Arbeit als Journalistin sowie meine Menschenrechtsaktivitäten und die meines Mannes versteckte ich im Ofenrohr. Die Freundinnen und Freunde außerhalb von Afghanistan waren um uns besorgt. Eine befreundete Dichterin hinterließ mir eine Nachricht und teilte mit, dass der in Frankreich lebende afghanische Autor und Filmemacher Atiq Rahimi zusammen mit ausländischen Künstlerinnen und Künstlern die Vorbereitungen für die Evakuierung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Dichterinnen und Dichtern, Journalistinnen und Journalisten und Filmemacherinnen und Filmemachern treffe, und dass mein Name ebenfalls auf dieser Liste stehe.

Je mehr ich versuchte, daran zu denken, in meiner Heimat zu bleiben, desto mehr hatte ich meine Kinder vor Augen. Ich hatte alles getan, damit meine Kinder glücklich aufwachsen. In den düsteren Taliban-Jahren blieb mir selbst als Mädchen das Recht auf Bildung verwehrt und es fiel mir schwer daran zu denken, dass meiner Tochter Arshida das gleiche Schicksal widerfahren könnte.

Einige Tage später kontaktierte mich eine französische Künstlerin und sagte, ich solle zum Tor am Flughafen in Kabul gehen, französische Soldatinnen und Soldaten aufsuchen und ihnen das Passwort sagen. Von Traurigkeit erfüllt gingen wir zum Flughafen. Eine große Menschenmenge hielt auf die Tore des Flughafens zu. Es war vor allem für die Kinder ein unüberwindbares Hindernis, in den Flughafen zu gelangen, was mich an die Überwindung der sieben Hürden durch Rostam, den legendären Helden der persischen Mythologie im Epos der Könige erinnerte. Wir waren nicht allein. Andere befreundete Künstlerinnen und Künstler wollten ebenfalls zu den französischen Streitkräften gelangen. Sie haben uns netterweise geholfen, die Kinder zu tragen, daher waren wir ihnen sehr dankbar. Wir gingen diesen Weg mehrmals. Die französischen Soldatinnen und Soldaten schenkten dem Passwort, das wir in der Hand hielten, keine Beachtung. Ich hatte als Journalistin mehrere Jahre mit Deutschen gearbeitet und meine Kolleginnen und Kollegen hatten alle in Deutschland Asyl beantragt. Ich zeigte einem deutschen Soldaten meinen Presseausweis. Er sagte, er könne mich zu dem anderen Bereich des Flughafens bringen, damit mir die Ausreise ermöglicht werde. Ich stellte aber fest, dass Mustafa und die anderen außerhalb des Flughafengeländes geblieben waren. Meine Tochter Arshida hatte ich am Arm. Ich sagte, mein Ehemann und mein Sohn seien zurückgeblieben, und sie müssten auch mit. Auf der anderen Seite wurde mit Tränengas geschossen, weswegen meine Angst größer wurde, ihnen könnte etwas zugestoßen sein. So ging ich durch das Tor hinaus. In den zwei Tagen, als wir diese Route passierten, hatte sich die Stadt in ein Massengrab verwandelt. Auch wir waren lebendige Leichen, die mit blassen Gesichtern und ohne jegliches Blut in den Adern aneinander vorbei trotteten.

Wir kehrten zurück zur Aria Town und entschieden uns, keinen weiteren Versuch zu unternehmen. Unsere Kinder hatten miterlebt, wie Schüsse fielen und wollten die ganze Zeit im Arm gehalten werden. Den Koffer, in dem unsere Zeugnisse über Bildung und Arbeit sowie die Kinderkleidung waren, hatten wir verloren. Am letzten Tag kam eine E-Mail vom Menschenrechtsbüro, und dieses Mal hatten sie für mich eine Reisegenehmigung nach Belgien organisiert. Außerdem hatte ich von der belgischen Botschaft in Islamabad eine E-Mail bekommen. Also durften wir legal reisen. Es war aber weiterhin schwierig, in den Flughafen zu gelangen. Meinem Mann habe ich gesagt, wir sollten es ein letztes Mal versuchen, obwohl wir beide Angst hatten, weil die Gefahr in der Nähe des Flughafens mit jedem Moment größer wurde. Dieses Mal nahmen wir den Weg über Camp Baran. Auf dieser Route mussten wir durch einen Sumpf voller Schlamm gehen und erreichten anschließend belgische Soldatinnen und Soldaten. Sie brachten uns in den Flughafen. Nach einigen Stunden Wartezeit am Flughafen verließen wir Kabul mit einem Koffer, den wir nicht hatten. In ihm der Abschied, den wir nicht hatten nehmen können, die Fremdheit, die uns erwartete, der Gedanke, der darauf fixiert war, was mit den Kakteen zuhause passieren würde. So ließen wir alles zurück.

Kobra Rezaei



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