Das Ende der Welt ist eine Sackgasse - Louise Kennedy - E-Book

Das Ende der Welt ist eine Sackgasse E-Book

Louise Kennedy

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Beschreibung

Diese Frauen stecken in Schwierigkeiten. Eine wird von ihrem Ehemann sitzengelassen: mittellos, in einer halb verfallenen Siedlung, die er aus dem Boden gestampft hat, und mit einer moralischen Schuld, die niemals zu tilgen sein wird. Eine andere wird von der Erinnerung an einen Fremden verfolgt, den ihr Bruder während der nordirischen Troubles getötet hat. Weil der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, überredet eine werdende Mutter ihren Mann dazu, für einen Drogenboss zu arbeiten. Eine junge Städterin zieht mit ihrem von Selbstversorgung träumenden Freund aufs Land und erlebt das brutale Ende ihrer romantischen Illusionen. In diesen Geschichten riecht es nicht nur nach Erde und Torffeuer, nach Holz und Heidekraut, sondern auch nach Blut und Tod. Louise Kennedys präzise Momentaufnahmen aus dem Leben irischer Frauen und Männer erzählen von enttäuschten Erwartungen, von Verrat und teuer bezahlter Loyalität, von Sprachlosigkeit und männlicher Dominanz. Sie erzählen aber auch von der Kraft der Mythologie, der unbeirrbaren Schönheit der Natur und dem heldenhaften Durchhaltevermögen von Menschen, denen nichts anderes übrigbleibt, als aus den wenigen Möglichkeiten, die ihnen vergönnt sind, das Beste zu machen.

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Seitenzahl: 348

Veröffentlichungsjahr: 2025

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LOUISE KENNEDY

DAS ENDE DER WELT IST EINE SACKGASSE

Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser

ERZÄHLUNGEN

STEIDL

Für meinen Vater und meine Mutter

INHALT

DAS ENDE DER WELT IST EINE SACKGASSE

IM GEGENLICHT

JÄGER UND SAMMLER

WOLF POINT

BELLADONNA

IMBOLC

HINTER KARTHAGO

WAS DIE VÖGEL HÖRTEN

GIBRALTAR

PULVER

HÄNDE

ES WAR EINMAL EIN AUTO

BRÜCHIGES

SCHONGEBIET

GARLAND SUNDAY

DAS ENDE DER WELT IST EINE SACKGASSE

Der Verfall wirkte geradezu schön, die Häuser dunkel vor dem violetten Morgenhimmel, gelbbraune Wasserlachen, die, wenn ein Auto um die letzte Kurve vor der Stadt bog, kurz aufglitzerten. Inzwischen sah das Haus Nummer 7 fast schon so aus wie die anderen Wohneinheiten, der spärliche Rasen war von braunem Unkraut überwuchert. Der Gehweg endete im Nichts, und als Sarah sich über zerbrochenes Mauerwerk und herumliegende Kabelschlingen einen Weg zum Ende der Sackgasse bahnte, landete sie in einer Pfütze. Der Lärm kam aus dem Musterhaus. Drinnen sah es noch schlimmer aus als draußen. Der Travertinfußboden war mit Kothaufen übersät. Sämtliche Türen, einschließlich der Eingangstür, waren ausgebaut worden, und ohne sie wirkten die Räume noch kleiner. Der Esel stand im Wohnzimmer, vor der Lücke im Kaminvorsprung, wo sich die mit Granit ausgekleidete Feuerstelle befunden hatte. Er war verängstigt, in seinen Augenwinkeln klebten Batzen Schlafdreck. Sarah wisperte, schmeichelte, flehte. Sie versuchte, ihn hinauszuscheuchen, breitete die Arme aus, um ihn in die Diele zu treiben. Der Esel scharrte mit den Hufen und klapperte mit den Zähnen, und gegen die Wand hinter ihm prasselte ein Strahl Scheiße. Sie würde ihren Nachbarn holen müssen.

Sie ließ die Siedlung hinter sich und ging den steilen Feldweg hinauf zu Mattie Feeneys Hof. Davy und sie waren schon einmal dort gewesen, als die Frau des alten Mannes gestorben war. Abseits der Hauptstraße herrschte ein anderes Licht. Sie konnte kaum etwas erkennen. Die Dornen der Brombeersträucher, die sich über die Trockenmauern rankten, zerkratzten ihr die Hände. Sie ging schneller, verfiel fast in Laufschritt, auf dem Grasstreifen in der Mitte des Wegs quietschten die Sohlen ihrer Gummistiefel, und kleine Steinchen spritzten auf. Als sie den Hof erreichte, atmete sie schwer. In den Ställen brannte Licht. Jemand mistete aus, Metallzinken schrappten über den Boden. Dann verstummte das Geräusch. Sie hörte die Schritte erst, als sie ganz nah bei ihr waren.

Sie sind aber früh auf den Beinen, sagte eine Stimme in ihrem Rücken. Eine Männerstimme, dem Tonfall nach aus der Gegend, aus der Stadt.

Ich kann Sie nicht sehen, sagte sie und drehte sich schnell um.

Die Stimme gehörte zu einem Mann Anfang dreißig, mit gestutztem Bart und zur Seite gekämmtem Haar. Im schwachen Schein der Stallbeleuchtung sah er abgehärmt aus.

Hab ich Sie erschreckt?, fragte er mit einem Blick auf ihre Hände. Sie sah auf sie hinab. Sie zitterten.

Einer der Esel ist ausgebüxt. Sie war es nicht gewohnt, sich sprechen zu hören, und ihre Stimme klang dünn und unbedeutend.

Wo ist er?

Im Musterhaus.

Verstehe, sagte er. Seine Augen lachten sie an.

Soll ich Mattie Bescheid sagen?

Der liegt im Krankenhaus.

Was fehlt ihm denn?

Schlaganfall, vor drei Wochen.

Oh, das wusste ich nicht. Wie geht es ihm?

Sein Sprachvermögen ist nicht betroffen. Sobald er mit der Physio durch ist, kommt er zurück.

Er befestigte einen Pferdeanhänger an einem alten Jeep, stieg ein und öffnete die Beifahrertür. Sie können mir ja zeigen, wo der Esel ist, sagte er. Sie setzte sich neben ihn. Am Rückspiegel baumelte ein Duftbäumchen, trotzdem hing der süße, würzige Geruch von Tieren im Jeep. Sie fuhren den Feldweg hinunter, und als sie an der Straße waren, schaute er erst nach rechts, dann nach links, wobei sein Blick einen Moment auf ihr verweilte.

Ich heiße Ryan, sagte er.

Sarah.

Ich weiß, sagte er. Sie sind die Gangsterbraut, die unten am Hügel wohnt.

Nennt man mich so?

Ist mir gerade wieder eingefallen.

An der Einfahrt zur Siedlung stieg sie aus, entfernte die Kette vom Tor und stieß es weit auf, damit der Jeep hindurchfahren konnte. Ryan parkte neben einem großen gerundeten Granitblock, in den mittels Sandstrahltechnik die Worte HAWTHORN CLOSE eingraviert waren. In Celtic, einer Schriftart, die womöglich geeignet war, das Schicksal herauszufordern, hatte Sarah damals gedacht. Nicht, dass sie Davy davon erzählt hätte.

Der Tag war angebrochen. Unter den niedrigen Wolken sah das Sonnenblumengelb der Häuser giftig aus. Ich fand das Ganze hier schon von weitem scheußlich, sagte er. Sie folgte ihm ins Musterhaus. Er wich den Kothaufen aus und ging in die Küche. Viel war nicht mehr von ihr übrig. Ein schimmelfleckiger Anstrich in French Grey, herabhängende Kabel. Verzogene Fußleisten und abgesägte Rohre. Ein paar Tage, bevor Davy sich abgesetzt hatte, war ein Typ von der Baufirma bei ihnen aufgetaucht und hatte ihn beschuldigt, in den Häusern selbst alles demoliert und die Armaturen heimlich verhökert zu haben. Sarah hatte den Mann abgewimmelt; mittlerweile war sie versucht, ihm zu glauben.

Ryan ging ins Wohnzimmer. Er zauste dem Esel die Mähne. Alles gut, Kumpel, sagte er.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, sagte Sarah. Ich glaube, ich habe ihm nur noch mehr Angst eingejagt.

Er gab dem Esel einen Klaps aufs Hinterteil. Das Tier zitterte und stampfte mit den Hufen, dann setzte es sich in Bewegung, stieß gegen Wände und Türrahmen, wich taumelnd zurück, bevor Ryan es schließlich durch die Eingangstür hinausbugsieren konnte. Mit viel Zureden schob er den Esel über den Schotter. Um ihn in den Pferdeanhänger zu bekommen, musste er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Tier stemmen. Er verriegelte die Klappe und stützte die Hände in die Hüften. Verdammte Scheiße, sagte er, und die Worte entwichen seinem Mund wie Dampf.

Ich kann das Tor hinter Ihnen zumachen und zu Fuß nach Hause gehen.

Ich hab doch gesagt, dass ich Sie nach Hause fahre, sagte er und stieg in den Jeep. Sarah wusste, warum. Er bot ihr eine Mitfahrgelegenheit an, weil er das Haus sehen wollte. Alle wollten das Haus sehen. Fremde klingelten unter fadenscheinigen Vorwänden an der Tür. Boten Kalender feil. Fragten nach dem Weg. Verrenkten die Hälse, um einen Blick in die Diele zu werfen, wenn Sarah die Tür öffnete. Gingen um das Haus herum, damit sie sich die Siedlung anschauen konnten, die ihr Ehemann aus dem Boden gestampft und mit der er sie sitzen gelassen hatte.

Ryan wartete, während sie das Tor abschloss. Sie setzte sich wieder auf den Beifahrersitz, und er sah zu, wie sie den Sicherheitsgurt anlegte. Sie hatten keine zweihundert Meter zu fahren, aber so fühlte sie sich gestützt, gehalten. Ihre Einfahrt führte in einem Bogen hinauf, der die Linie der schwebenden Fassade aufnahm. Der Anhänger schlingerte, und Ryan musste stark bremsen, um ihn zum Halten zu bringen.

Sie öffnete die Eingangstür. In der ganzen Diele lagen Rechnungen und Flyer verstreut. Die Kunstwerke waren verschwunden, nach einem Hinweis der Architektin hatte der Galerist sie abgehängt. Davy hatte das Büffelfell mitgenommen, das er gekauft hatte, als er beim Super Bowl gewesen war. Mehr nicht.

Das ist ja mal ein Haus, sagte Ryan.

In dem hohen, leeren Raum hallte seine Stimme noch nach, als sie schon in der Küche waren.

Kaffee?, fragte sie.

Ja, gern.

Sie ließ Wasser in den Kessel laufen und holte Becher und ein Glas Instantkaffee aus dem Schrank. Er ging durch den Raum, nahm alles in Augenschein. Zwölf geschwungene weiße Stühle umstanden einen Esstisch aus Glas und Chrom. Darüber hingen kugelförmige Leuchten aus Metall, die so zusammengenietet wirkten wie der erste TV-Satellit. Es gab nur Unterschränke, hochglänzend weiß, mit Arbeitsflächen aus Walnussholz. Mit der Einrichtung hatte Sarah nichts zu tun gehabt. Davy hatte gesagt, darum kümmere sich die Architektin.

Hinter der Längsseite des Tisches gab es eine riesige Terrassentür, die Fensterscheibe war so staubig, dass man kaum hindurchsehen konnte. Ryan machte sich am Griff zu schaffen. Drehen Sie ihn nach oben, bis er einrastet, sagte Sarah. Er öffnete die Tür und schob sie auf, bis sie ganz in der Wand verschwunden war. Der Raum füllte sich mit Herbst. Dem modrigen Geruch verrottenden Laubs, den Klagen der Rotkehlchen. Man konnte zu Matties Farm hinübersehen und zum Berg auf der anderen Seite des Tals. Es war, als stünde man im Freien.

Er lehnte sich an den Türrahmen und zündete sich eine Zigarette an. Seine Schultern waren zusammengezogen, als versuche er, schmaler zu erscheinen. Der Bart stand ihm, zugleich aber ließ er ihn irgendwie durchschnittlich wirken. Sarah reichte ihm den Kaffee. Er führte den Becher zum Mund und nahm einen Schluck. Er verzog das Gesicht und deutete mit dem Kopf auf die angeschlossene Kaffeemaschine neben der Spüle. Und wieso kriege ich den billigen Scheiß?

Man kann die Kapseln nur online kaufen.

Dann kaufen Sie sie online.

Meine Karten sind gesperrt.

Er trat auf die Terrasse, und Sarah folgte ihm auf die Westseite des Hauses. Sie stand hinter ihm, als er auf den Garten hinabblickte. Bis hinunter zum Maschendrahtzaun war das terrassierte Gelände dicht mit Büschen bewachsen; aus den Buchsbaumkugeln, vom Gärtner einst sorgsam zurechtgestutzt, waren neue Triebe gewuchert, der silbrig glänzende Lavendel war verholzt. Hinter dem Garten lag Hawthorn Close, geformt wie ein Lolli: eine Straße, gesäumt von zwölf Doppelhaushälften, endete in einer kreisförmigen Wendeschleife, um die fünf Einfamilienhäuser angeordnet waren. Eine Sackgasse. Von hier oben konnte man Dinge sehen, die einem von der Straße aus verborgen blieben. Dass eine der Wohneinheiten bezogen worden war, dass jemand versucht hatte, einen Garten anzulegen und sich ein Zuhause zu schaffen. Dass der Granitblock mit der Inschrift HAWTHORN CLOSE auf dem Erdwall einer Feenburg errichtet worden war. Dass neben dem Stein ein Baum ausgerissen worden war und seine Wurzeln tiefe samtene Furchen hinterlassen hatten, die, wenn das Licht auf sie fiel, anzuschwellen schienen.

Stellen Sie sich vor, da zu wohnen, sagte er und drehte sich zu ihr um. Sarah ging zurück in die Küche.

Er folgte ihr und öffnete den Kühlschrank. Der war leer bis auf ein Fläschchen Rouge Noir-Nagellack, fettarme Milch und einen Pflaumenjoghurt. Er schloss den Kühlschrank. Wollen Sie später noch raus? Was trinken oder so?, fragte er.

Weiß nicht.

Ich komme um sieben wieder. Er goss seinen Kaffee in die Spüle und ging durch die Diele. An der Eingangstür verabschiedete sie ihn. Im Auto kurbelte er das Fenster hinunter und justierte seinen Außenspiegel. Bevor er davonfuhr, warf er ihr einen Blick zu.

Als er fort war, band sie ihr Haar hoch. Sie fegte den Fußboden. In der Küche fuhr sie mit einem Lappen über sämtliche Oberflächen, spülte das Geschirr und trocknete es ab. Sie schob die Terrassentür zu und besprühte einen Teil der Fensterscheibe mit der grünen Flüssigkeit, die sie im Hauswirtschaftsraum gefunden hatte. Sie bearbeitete die Scheibe mit Zeitungspapier und trat dann einen Schritt zurück. Es sah schlimmer aus als vorher. Sie besprühte auch den Esstisch und polierte ihn, rieb und rieb, bis das Papier zerfiel. Sie putzte die Spüle mit Chlorreiniger und wischte die Fliesen.

Dann ging sie mit dem Pflaumenjoghurt und einem Teelöffel in den Garten. Sie setzte sich in einen metallenen Liegestuhl und aß. Nach jedem Mundvoll leckte sie den Löffel ab. Am Tor der Siedlung hielt ein Auto. Der Fahrer stieg aus. Er hatte rotes, zurückgegeltes Haar und trug einen Anzug von der Stange. Er streckte sein Handy durch die Gitterstäbe, um Fotos zu machen. Bevor er wieder wegfuhr, telefonierte er mit jemandem, aber sie konnte nicht hören, was er sagte. Wahrscheinlich war er von der Bank oder von einer Anwaltskanzlei, die eine der Baufirmen vertrat, denen sie noch Geld schuldeten. Reporter kamen keine mehr vorbei, aber sie fürchtete, das würde sich nach der gerichtlichen Untersuchung ändern.

Mit dem Ringfinger fuhr sie die Innenseite des Bechers entlang und leckte ihn ab. Ihre Ringe saßen locker. Ihre Haut schmeckte nach saurer Milch, nach Chlor und grünen Äpfeln. Immerhin war das Haus jetzt sauber. Vielleicht sollte sie jetzt auch sich selbst säubern, falls Ryan tatsächlich zurückkam. Sie ging wieder ins Haus. Seit einer Weile schlief sie in der Stiefelkammer, die Davy neben der Küche eingerichtet hatte, für ihre Söhne, wenn sie vom Fußballtraining kämen. Was ihr jetzt als beispiellose Anmaßung erschien; sie hatten keine Söhne, auch keine Töchter. An dem Morgen, als sie den Leichnam fanden, war Sarah aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, hatte eine Matratze nach unten geschleift. Jetzt lag sie jede Nacht unter dem schmalen Oberlichtfenster mit dem weißen Rollo. Der Boden war mit grauen Steinplatten gefliest. An einer Wand ein leeres Regalsystem. Der Raum ähnelte einer Klinik, wie man sie aus dem Fernsehen kannte, einer Klinik, in die reiche Frauen gingen, um abzunehmen oder um verrückt zu werden.

Sie wusch sich die Haare und schmierte den Inhalt einer Probe Conditioner in die Spitzen, dann flocht sie die nassen Strähnen zu einem Dutt. Sie rasierte sich die Beine und die Unterarme. Sie zögerte kurz, dann schäumte sie sich auch zwischen den Beinen ein, ließ den Rasierer von vorn nach hinten wandern, bis ihre Schamhaare in krausen Büscheln im Ausguss lagen. Sie wickelte sich in ein Handtuch, setzte sich mit einem Vergrößerungsspiegel und einer Pinzette auf den Klodeckel, zupfte sich die Augenbrauen und entfernte die schwarzen Härchen über ihrer Oberlippe. Auf den Make-up-Tuben und -Fläschchen im Badezimmerschrank stand, dass sie innerhalb von sechs Monaten verbraucht werden sollten. Sie hatten ihr Verfallsdatum überschritten, wie der Pflaumenjoghurt. Sie nahm die Make-up-Pinsel aus dem Schränkchen, die sie nach einem feuchtfröhlichen Mittagessen für 314 Dollar bei Saks in der Fifth Avenue gekauft hatte, und trug Fluids, Gele und Puder auf. Als sie fertig war, sah ihre Haut gebräunt und taufrisch aus, ihre Augen waren groß und dunkel. Sie föhnte sich die Haare und drehte sie auf elektrische Wickler. Als sie angezogen war, brühte sie eine Tasse Tee und nahm sie mit nach draußen. Einen Missoni-Schal um die Lockenwickler geschlungen, setzte sie sich wieder in den metallenen Liegestuhl und wartete.

Um sieben klopfte Ryan an die Stelle der Terrassentür, die sie zu reinigen versucht hatte. Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr Make-up war nicht mehr ganz so taufrisch, aber es war nicht zu übersehen, dass sie sich viel Mühe gegeben hatte. Sie ließ ihn ein. Er roch nach Deodorant, trug ein Jackett aus feiner Wolle und teure Lederschuhe. Vielleicht hatte auch er sich Mühe gegeben. Er wies auf die verschmierte Fensterscheibe.

War Ihnen alles ein bisschen viel, was?

Ha, sagte sie.

Haben Sie Hunger?

Nicht so richtig. Ihr Magen gab ein hohles Grummeln von sich, das sie verriet.

Kommen Sie. Ich lade Sie zu einem kleinen Abendessen ein.

Er war in einem silbernen Cabrio mit Ledersitzen vorgefahren. Ganz schön protzig, sagte sie. Wo das Faltdach auf die Fensterscheibe traf, gab es einen kleinen Pelzbesatz aus Moos.

Sie nennen mich protzig?, sagte er. Sarah drehte sich lächelnd zu ihm um. Er lächelte nicht zurück.

Sie erschrak über ihre eigene Dummheit. Sie kannte ihn doch gar nicht. Davon abgesehen, wem wollte sie etwas vormachen? In dieser Stadt konnte sie unmöglich mit einem Mann an einem Tisch sitzen. Seit Davy sich abgesetzt hatte, konnte sie sich in der High Street nicht mehr blicken lassen. Wenn die Stadt schlief, kaufte sie mit dem dahinschwindenden Bündel Banknoten, das sie in Davys Kleiderschrank gefunden hatte, Milch und preisreduzierten Schinken in der 24-Stunden-Tankstelle. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, sagte sie.

Entspannen Sie sich, sagte er. Er hatte das Stadtzentrum umfahren und folgte den Schildern Richtung Dublin.

Wohin fahren wir?

Wir machen eine kleine Spritztour. Vor Mitternacht sind Sie wieder zu Hause.

Das kurze Stück Schnellstraße verengte sich zu einer Landstraße ohne Seitenstreifen. Sie kamen an Holzkreuzen vorbei, die, bald einzeln, bald in Zweier- oder Dreiergruppen, Stellen markierten, an denen es zu tödlichen Unfällen gekommen war. Er fuhr schnell, selbst in Haarnadelkurven, in denen die meisten Autofahrer abgebremst hätten, die Linke auf dem Schaltknüppel, die Finger in steter Bewegung und Anspannung, als würde das rasende Tempo auf sie überspringen. An einer verfallenen Tankstelle bog er links ab und fuhr ein paar Kilometer einen sanften Hügel hinunter. Er parkte hinter einer Reihe von Autos vor einem Pub am Seeufer. Ein Absauggebläse rülpste den Geruch von Gebratenem in die Nachtluft. Sarah ging über die Straße zu einem Steg, der in den See ragte wie ein Sprungbrett. Auf einem Streifen Wasser lag weiß das Mondlicht, kleine Boote schaukelten auf den Wellen und stießen gegeneinander.

Sie wurden an einen Tisch neben einem Gaskamin geführt, bestückt mit Imitaten, die wie glühende Kohlen aussehen sollten. Eine junge Kellnerin brachte die Speisekarten und zählte die Tagesgerichte auf. Ryan bestellte ein Shandy und einen Prosecco für Sarah. Sie hätte einen Gin Tonic vorgezogen, sagte aber nichts.

Seit wann arbeiten Sie schon für Mattie?

Er ist mein Großvater.

Das wusste ich nicht, sagte sie. Es gab da eine Geschichte über einen von Matties Enkeln, Davy hatte ihr davon erzählt. Sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Die Kellnerin stellte ihnen die Getränke hin, Ryans zuerst.

Er bestellte für sie beide, die teuersten Gerichte auf der Karte. In Butter geschwenkte Dublin Bay Garnelen mit Schnittknoblauch. Bio-Filetsteak, durchgebraten. Sarah fragte die Bedienung, ob sie ihres medium rare bekommen könne.

Warum nicht?, fragte Ryan. Vielleicht war er es nicht gewohnt, in Restaurants zu essen. Mattie war ein bisschen hinterwäldlerisch und sein Enkel trotz seines städtischen Akzents und seiner spitzen Schuhe wahrscheinlich auch nicht viel besser. Wer lud eine Frau zum Abendessen ein und suchte dann die Gerichte, die Getränke für sie aus? Es war nicht so, dass Sarah nicht zusagte, was er bestellt hatte. Am Nachbartisch wurden gerade zwei Steaks serviert, die köstlich dufteten und aussahen. Aber schon seltsam, nicht nach den eigenen Wünschen gefragt zu werden.

Die Kellnerin brachte ihnen die Vorspeise. Sie aßen schweigend. Sarah nahm die Finger zu Hilfe und war so schnell fertig, dass sie sich schämte. Hunger ließ sich nur schlecht verhehlen, wenn Essen vor einem stand. Der Hauptgang kam: zwei Schichten verkohltes Fleisch, ein Portobello-Champignon, gegrillte Ochsenherztomaten und Zwiebelringe, serviert auf Holzbrettern, die man nur beidhändig tragen konnte. Ryans Brett wurde von der Restaurantleiterin persönlich gebracht.

Sie nimmt ein Glas Rotwein zum Steak, sagte er. Sarah versuchte, das Gefühl zu verdrängen, dass er sie bevormundete. Das Essen war gut, auch der Wein nicht übel. Es war schön, an einem Tisch in einem Restaurant zu sitzen. Sie hatte schon schlechtere Abende erlebt. Als sie aufgegessen hatten, lehnte Sarah sich zurück und lächelte. Zum ersten Mal seit Wochen gab ihr Magen Ruhe.

Bin gleich zurück, sagte sie und schnappte sich ihre Handtasche. Ryan streckte den Arm aus und nahm ihre freie Hand. Sie wusste, was er ihr in die Hand gedrückt hatte, noch bevor sie die Finger darum schloss. Sie ging quer durch den Raum zur Damentoilette und schloss sich in der größten Kabine ein. Mit einer ihrer gesperrten Bankkarten legte sie sich eine Line zurecht. Auch einen Fünfzig-Euro-Schein hatte er ihr gegeben. Sie rollte ihn zusammen und beugte sich über den Spülkasten.

Als sie aus der Kabine trat, schaute sie in den Spiegel. Das Licht in den Toilettenräumen wurde durch einen roten Lampenschirm gefiltert und hätte schmeichelhaft sein sollen. Ihr Gesicht ähnelte einem Totenschädel. Sie hatte violette Ringe unter den Augen, und von ihrer Nase zogen sich tiefe Furchen bis zu den Mundwinkeln. Sie trug mehr Concealer und Eyeliner auf und lockerte mit den Fingern ihre Haare. Sie legte die Hand auf die Klinke, um zu gehen. Dann machte sie kehrt und ging zurück in die Kabine. Noch eine Line, und sie hätte vielleicht sogar Spaß.

Sie saß ganz sittsam da und lächelte Ryan an, berührte ihn unter dem Tisch leicht am Knie, damit er das Tütchen und den Geldschein entgegennahm.

Abwehrend breitete er die Hände aus. Das ist für Sie, sagte er. Er winkte die Kellnerin heran und bestellte ihr noch ein Glas Rotwein.

Oh, danke, sagte Sarah, als das Getränk kam.

Was ist das für eine Geschichte mit Ihrem Haus?, fragte er.

Die Bank versucht, es zu verkaufen.

Und wie läuft’s?

Was glauben Sie?

Warum haben Sie die Siedlung so nah an Ihrem eigenen Haus gebaut?

Davy war in Schwierigkeiten. Er hat gedacht, er könnte das Bauprojekt schnell voranbringen, Geld lockermachen.

Ryan lachte kurz auf. In Schwierigkeiten, kann man wohl sagen. Und was haben Sie gedacht?

Ich hab gedacht, die Siedlung würde hässlich aussehen. Dass sie ein irres Risiko ist. Aber mich hat er nicht gefragt.

Und Sie haben auch nichts gesagt?

Ich bin die Art Frau, für die Männer das Abendessen bestellen, sagte sie. Connaughts Antwort auf Lauren Bacall, oder was? Scheiß drauf. Sie war in der Stimmung für ein bisschen craic. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein und wartete auf seine Reaktion.

Es scheint Ihnen gefallen zu haben, sagte er, und in seiner Antwort blitzte etwas auf, das sie schweigen ließ. Sie nahm noch einen Schluck und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Farmer und Anwälte. Aufgetakelte junge Paare. Die übliche Ansammlung steifer Leute, wie man sie an einem Freitagabend in einem Restaurant überall auf dem Land antraf. Noch dazu neugierig – die Hälfte von ihnen gaffte und tuschelte. Als Ryan wieder sprach, schien er sich gefasst zu haben. Was ist denn nun mit der Siedlung?, fragte er.

Der Konkursverwalter bietet sie für hunderttausend an.

Wo ist Ihr Mann?

Der ist zuletzt in Malaga gesichtet worden. Angeblich.

Die Kellnerin brachte ihnen die Dessertkarten. Ich bin satt, sagte Sarah. Ryan bestellte ihr eine Crème brûlée. Als sie kam, klopfte sie mit der Rückseite des Teelöffels so lange auf die Karamellkruste, bis sie in Splitter zerbrach, die wie Schildpatt schimmerten. Sie schob die Dessertschale von sich.

Ryan ging zur Theke, um zu bezahlen. Die Restaurantleiterin schien sich bei ihm zu entschuldigen und unterstrich ihre Worte gestenreich. Sie rief die junge Kellnerin herbei. Die Frau war klein, und Ryan musste sich hinabbeugen, um mit ihr zu sprechen. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, dann legte er etwas in ihre Handfläche und schloss ihre Finger darum, so wie er es zuvor bei Sarah mit dem Koks getan hatte. Sie machte einen kleinen Hüpfer und küsste ihn auf die Wange bevor sie in die Küche entfloh. Ryan kam mit einer Tragetasche zurück, in der Flaschen klirrten.

Worum ging’s da?

Die blöde Kuh wollte nicht, dass ich dem Mädchen Trinkgeld gebe. Sagt, die Belegschaft käme mit dem Bedienungsaufschlag prima zurecht.

Sarah stand auf, um sich die Jacke anzuziehen. Alle im Raum sahen sie an. Man erkannte sie. Deswegen ging sie ja nicht mehr aus dem Haus. Den Leuten war ihr Gesicht aus der Zeitung bekannt. Von dem Foto, auf dem sie und Davy zu sehen waren, beim Pferderennen in Galway, als sie den Preis für die bestgekleidete Person bekommen hatte. Oder schlimmer noch, von dem Foto, das an dem Tag aufgenommen worden war, als Eoin und Lizzie nach Hawthorn Close zogen. In der Mitte sie und Lizzie, lachend, in Lizzies Armen das Baby, das sich nach vorne beugte. Flankiert von Davy und Eoin. Der gelbe Anstrich, der fröhlich im Sonnenschein leuchtete. Aber starrten die Gäste sie deshalb an? Ryan hatte etwas an sich, nichts, was offensichtlich gewesen wäre, das aber trotzdem vorhanden war, sich in dem Respekt äußerte, den ihm die Restaurantleiterin entgegenbrachte, im Erröten der Kellnerin, als hätte sie es mit einer Berühmtheit zu tun. Sorgte allein die Tatsache, dass Sarah zusammen mit ihm hier war, für Aufsehen? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie es satt hatte, von irgendwelchen Moortrotteln angestiert zu werden. Sie stellte ihren Kragen auf und ging zur Tür. Als Ryan aus dem Lokal trat, stand sie bereits am Steg. Er legte die Tasche mit den Flaschen ins Auto, trat zu ihr und drehte sie zu sich um.

Was ist?, fragte er.

Die haben uns alle angestarrt.

Warum sollten sie das tun?

Verdammt, weiß ich doch nicht.

Eine Vermutung werden Sie doch wohl haben?

Was soll das denn heißen?

Er lachte. Sie sind echt witzig, sagte er.

Sie setzte sich ins Auto, öffnete das Handschuhfach und zog eine Line von der Mappe mit der Bedienungsanleitung. In einer kleinen Stofftasche waren CDs. Sie fand einen Sampler mit Funk der Siebziger und schob ihn in den CD-Player. Auf der Rückfahrt in die Stadt bewegte sie ihre Schultern im Rhythmus der Musik. Als sie am Haus ankamen, bat sie ihn hinein. Für den Wodka nahm sie Murano-Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit Eis. Er schrieb mit Koks ihren Namen auf den Tisch. Wenn man genauer hinsah, wies die Glasplatte hauchdünne Kratzer auf, wie Scheuerspuren. Sie haben das H vergessen, sagte sie, als alles Kokain geschnupft war. Sarah schreibt sich mit H.

Haben Sie je davon gehört, dass man sein Zimmer aufräumen kann?

Das ist nicht mehr mein Zimmer. Ich schlafe in dem Raum neben der Küche.

Wollen Sie lieber nach unten gehen?

Nein. Die Stiefelkammer hatte etwas Keusches. Sie wollte nicht mit einem Mann dort sein, schon gar nicht mit diesem Mann, der sich durchs Haus bewegte, als gehöre es ihm. Aber er war nun einmal da, und sie fand die Art, wie er mit seinem Bart und seinem knurrenden Akzent raubtiergleich umherschlich, nicht gänzlich abstoßend. Sie zog ihr Oberteil aus. Sie legte sich aufs Bett, sodass er ihr die Jeans ausziehen, den BH aufhaken und den Slip abstreifen musste, Spielchen, die sie sich ausgedacht hatte, um Davy bei Laune zu halten, besonders als er dieses Miststück von Architektin fickte. Seit Davy sich abgesetzt hatte, hatte sie die Laken noch nicht gewechselt. Sie fragte sich, ob sie wohl noch nach dem Aftershave mit der holzigen Duftnote rochen, das sie immer für ihn gekauft hatte, aber sie rochen nur nach kaltem Staub, so wie das ganze Haus.

Ryan ließ seinen Finger um ihren Bauchnabel kreisen. Wo er sie berührte, fühlte die Haut sich an, als würde sie sich ablösen.

Du erinnerst dich nicht an mich, oder?, fragte er.

Ehrlich gesagt, nein.

Ich bin ein paarmal vorbeigekommen.

Gehörst du zu einer Baufirma?

Er lachte. Ich bin im Verkauf tätig, könnte man sagen, antwortete er, und plötzlich war ihr alles klar. Sie erinnerte sich an die Geschichte über Matties Enkel. An einem Sonntag hatte Davy ihr aus einem der Boulevardblätter vorgelesen, die sie sich normalerweise nicht kauften. Ein Drogenboss, nichts weniger, hatte er gesagt, als er die Zeitung zusammenfaltete. Der kleine Drecksack ist ein Drogenboss.

Davy schuldet dir das Geld, sagte sie. Ich hab mir noch nie im Leben Drogen gekauft.

Hab ich mir gedacht. Aber du saugst sie weg wie ’n Staubsauger, Liebes. Er drehte sie um und drückte ihr Gesicht in die Matratze. Jetzt konnte sie Davy riechen.

Hinterher gab Ryan ihr eine Valium. Bevor die Wirkung einsetzen konnte, erzählte sie ihm alles. Sie hatte Lizzie, ihre Schwester, überredet, die Nummer 7 zu kaufen. Davy sagte, wenn erst einmal eine Familie eingezogen wäre, würde er die anderen Häuser im Handumdrehen loswerden, das sei auch bei anderen Bauprojekten so gewesen. Er gewährte ihnen zehntausend Euro Preisnachlass, dazu gab’s eine Erdwärmeheizung, die allerdings nie funktionierte; die Bohrung war gerade mal so tief gewesen, dass sie ein Rattennest aufscheuchte.

Am Ende hatte Sarah kaum noch geschlafen. Davy hatte, den geöffneten Laptop vor sich, neben ihr im Bett gesessen und im Rhythmus eines Morsecodes auf dem Nachttisch Schnee zurechtgehackt. Manchmal sah er sich Pornos an und wandte sich dann ihr zu – ruppiger, fahriger Sex, bei dem keiner von beiden zum Orgasmus kam. In der Nummer 7 brannte jede Nacht das Licht im Wohnzimmer, und jede Nacht wollte Sarah an die Tür klopfen und sagen, wie leid es ihr tue. Eines Nachts wurde das Licht um kurz nach drei gelöscht. Als im Morgengrauen die Silhouette im Weißdorn, dem Feenbaum, zu sehen war, wusste sie sofort, dass es Eoin war – selbst im Tod ein Muster an Beständigkeit, wie er so gleichmäßig hin und her schwang. Am Tag der Beerdigung riss Davy den Feenbaum aus der Erde. Er sagte, das Unglück habe doch ohnehin längst Einzug gehalten. Sarah sah ihm zu, wie er den kleinen Bagger bediente, und besann sich darauf, wer sie waren.

Um sieben zog Ryan sich an. Er war zärtlich zu ihr, deckte sie bis zum Kinn mit dem Laken zu und küsste sie lange auf den Mund.

Ich komme nachher wieder, sagte er.

Sie ging ins Badezimmer, wischte sich mit einem Handtuch den Hintern ab und zog einen Morgenmantel über, der an einem Haken an der Tür hing. Er war weiß, aus gebürsteter Baumwolle. Unten schob sie die Terrassentür auf. Sie ließ sich in den metallenen Liegestuhl sinken, es machte ihr nichts aus, dass ihr Morgenmantel vom Tau feucht wurde. Im gelben Verputz der Häuser zeigten sich erste Risse; der Fahrweg wirkte abgesunken, selbst dort, wo er asphaltiert war, die Gärten ebenso. Über Hawthorn Close brach ein neuer Tag an.

IM GEGENLICHT

Zu den Plateauschuhen sehen die Hotpants nuttig aus, lieber ziehst du die gelbe Schlaghose an. Du steckst Kippen, ein Puderdöschen und eine kleine Dose mit Vaseline in deine Clutch. Sie ist zu schlabberig, also stopfst du sie mit Papiertüchern aus. Die Tasche gab’s gratis zu dem Charlie Parfüm, das du in der Apotheke und Drogerie gekauft hast, in die du eigentlich keinen Fuß setzen darfst, weil ihr Besitzer, Mr Crawford, Mitglied der Democratic Unionist Party ist. Ein letzter Blick in den Spiegel. Die Bordüre deines Tops aus Broderie Anglaise lässt einen Streifen Haut über deinem Hosenbund frei. Dein Bauch ist flach, was dir gefällt, und blass, was dir weniger gefällt. Du gehst die Treppe hinunter und steckst den Kopf ins Wohnzimmer. In der Seaside Special Show treten gerade Showaddywaddy auf, ihre Anzüge sind so gelb wie deine Hose. Cheerio, rufst du. Zur Antwort zieht deine Mutter ihre Strickjacke fester um sich. Du gehst die Einfahrt hinunter. Die Kleinen sind am Bach, bauen oder zerstören einen Damm, ihr Gekreisch weht über die Wiesen bis zu dir. Im Verlauf des Tages hat die Hitze weiter zugenommen. Der Asphalt unter deinen Füßen ist aufgeweicht, aus der zähen Masse haben sich die Steinchen gelöst, und als du beim Halfway Inn ankommst, sehen die Korksohlen deiner Schuhe ölig aus, und deine Haare kleben dir feucht im Nacken.

Die Eingangstür wird von einem Ziegelstein offen gehalten. Die Mädels sind schon da, sitzen an einem Ecktisch bei der Jukebox und nuckeln an mit Fruchtsirup gemixten, leuchtend bunten Drinks. Gin mit Orange. Pernod mit schwarzer Johannisbeere. Wodka mit Limette. Du klemmst dir die Clutch unter den Arm und gehst zum Tresen.

Gib mir einen aus, Thady, sagst du. Dein Bruder tut so, als hätte er dich nicht bemerkt, also musst du dich vorbeugen und dich zwischen ihn und Ciaran McCann zwängen. Dabei rutscht dein Top hoch, und um deinen Bauch besser sehen zu können, verrenkt sich Ciaran fast den Hals. Im Profil sieht er fast umwerfend aus, doch dann dreht er sich auf dem Barhocker zu dir um, und dein Blick fällt auf das Auge mit dem herabhängenden Lid, das immer geschlossen ist. Du bildest dir ein, dass er dich anhimmelt, bis er loskichert. Du kannst dir’s nun echt nicht erlauben, dich über andere lustig zu machen, Winky, sagst du, und er beugt sich wieder über sein Pint. Mach schon, Thady, ich hab keine Kohle. Das tut Thady manchmal, lässt dich betteln. Du bist dir nicht mal sicher, ob er dir überhaupt zuhört, denn er hat sich zur Eingangstür umgedreht. Alle starren zur Eingangstür. Es ist wie eine Szene in einem Western: im gelben Licht die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes, das Gesicht im Schatten, dunkel. Eine athletische Gestalt, die durch den Raum zum Tresen geht.

Thady muss das Gleiche gedacht haben, denn er sagt: Howdy, Fremder.

Der Mann lächelt in die Runde. Er trägt ein sportliches Tweedsakko, zu dick für einen Sommerabend, und auf seinem Schnurrbart stehen kleine Schweißperlen. Genau der richtige Abend für ’n paar kalte Bierchen, sagt er. Dem Akzent nach könnte er aus jeder der vier Provinzen Irlands stammen.

Thady legt dir die Hand auf den Arm. Shandy, ja?

Du rückst die Tasche zurecht und gehst zu den Mädels. Kaum hast du dich gesetzt, beugen sie sich vor, und alle reden auf einmal. Dein Glas ist schnell leer, und sie stacheln dich an, noch eins zu erbetteln. Wieder klemmst du dir die Clutch unter den Arm und gehst zum Tresen, diesmal langsamer.

Gib mir noch eins aus, bittest du Thady.

Du kostest mich ein Vermögen.

Darf ich das übernehmen?, fragt der Mann.

Nur zu, sagt Thady.

Als dir das Glas über den Tresen zugeschoben wird, hältst du es dem Mann entgegen, um dich zu bedanken. Slàinte, sagt er, und du fragst dich, ob er Schotte ist. Er hebt sein Glas an den Mund. Er hat so volle Lippen, dass er sie kaum schließen kann.

Von dem kleinen Stapel Wechselgeld, der vor deinem Bruder auf dem Tresen liegt, schnappst du dir ein paar Münzen. Dann gehst du zurück zu den Mädels und stellst dein Glas auf dem Tisch ab. Drei Songs, kündigst du an und wendest dich der Jukebox zu. Du wählst: einen zum Spaß, einen zum Tanzen, einen für die Jungs. Als der letzte Song zu Ende ist, kommt Thady auf dich zu und flüstert dir etwas ins Ohr. Geh nach Hause, sagt er. Du beschwerst dich, drehst dich zu ihm um, willst dich widersetzen, doch als du seinen Gesichtsausdruck siehst, hältst du den Mund. Gute Nacht, gute Nacht, sagt er zu den Mädels, und sie klappern vor dir zur Tür hinaus. Thady geht zurück zum Tresen. Von der Tür aus wirfst du einen letzten Blick auf den Mann. Jetzt hebst du dich als Silhouette ab und hoffst, dass die Broderie Anglaise im Gegenlicht durchsichtig und unbefleckt ist und er durch sie hindurch dich sehen kann. Er prostet dir zu. Er sieht dich.

Um das Werbegeschenk zu erhalten, müsse sie zwei Produkte erstehen, erklärst du, eins davon Hautpflege. Du empfiehlst die Handcreme, weil die am preiswertesten ist. Als sie dich reden hört, huscht Argwohn über ihr Gesicht, aber neuerdings kaschierst du deinen Akzent, und sie ist sich nicht ganz sicher. Sie zieht ab zu den Handtaschen, und du befüllst weitere zehn rosafarbene Samttäschchen mit Gratisproben: einem kurzen English Rose Lippenstift (Farbton 1981), einem Creme Rouge Stick, einem Sprühfläschchen Thermalwasser. Du spritzt Parfüm auf Handgelenke, stylst eine junge Frau aus der Dessous-Abteilung, reinigst die Glasregale. In der Mittagspause gehst du über die Hintertreppe in den Aufenthaltsraum für die Belegschaft. Deine Tasche hast du auf der Fensterbank stehen lassen, im vollen Sonnenlicht. Der geräucherte Käse in deinem Sandwich hat bernsteinfarbenes Öl auf deinen Brief von zuhause getropft, doch hier wirst du ihn ohnehin nicht öffnen. Stattdessen liest du die Zeitung von gestern, die auf dem Tisch liegt. In Port Stanley hat ein Kriegsschiff angelegt. Auf dem Leicester Square ein Pearly King und eine Pearly Queen. Eine festlich geschmückte Straße, von Laternenmast zu Laternenmast schwingen Wimpelgirlanden. Ein Rezept für Coronation Chicken. Angesagt sind Puffärmel und schräge Ponys. Ein Foto des Mannes im Gegenlicht in goldbetresster roter Uniform, das dichte Haar flachgedrückt. Seine Schwester wird zitiert: Für meine Eltern ist es unerträglich. Du reißt die Seite heraus und steckst sie in deine Tasche.

Einer der Wachmänner kommt herein. Das ist der Mann, der den Laden nach herrenlosen Taschen absucht, nach Akzenten wie deinem. Er füllt eine Tasse mit Wasser aus dem Kessel. Am Tisch sind vier Stühle frei, aber er setzt sich auf den dir gegenüber. Er schüttet ein Päckchen Suppenpulver in das heiße Wasser und rührt um, dann holt er eine Papiertüte aus der Jackentasche. Sein Sandwich ist flach und feucht und ebenfalls selbstgemacht. Er lächelt dich an, und du hoffst, dass das Zucken in deinem Gesicht als Ausdruck von Höflichkeit durchgeht. Sie sind Irin, sagt er. Du bereitest eine Antwort vor, zerlegst die Worte in deinem Mund und setzt sie neu zusammen, um die nöligen Vokale des Ortes, aus dem du stammst, zu entfernen, aber er redet schon weiter. Sein Name sei Sean, er spricht ihn aus wie shown. Seine Mutter sei aus Carlow, weshalb er berechtigt sei, für die Nationalmannschaft der Republik Irland Fußball zu spielen. Er lacht, um zu unterstreichen, dass er einen Witz gemacht hat.

Am Nachmittag wirst du sechs Geschenktäschchen los und verkaufst einer Frau, die eine Burka trägt und wunderschöne Füße hat, eine Tube Hals- und Dekolleté-Creme. Als du Feierabend machst, steht der Wachmann an der Drehtür und hat sein Funkgerät und seine Schulterklappen aus Polyester gegen ein gestreiftes Kurzarmhemd mit Button-Down-Kragen getauscht. Er tut überrascht, dich zu sehen, sagt, ihr habt den gleichen Weg. Er fragt, ob du Zeit für einen Quickie hast – für einen Drink, versteht sich. Wieder dieses Lachen. Ihr geht in den Pub gegenüber der U-Bahn-Station. Du sitzt unter einem riesigen Fenster, das fast blind ist von Dieselruß und Fliegenspray. Er fragt, ob du ein Pimm’s möchtest. O ja, sagst du, als wüsstest du, was das ist. Das Getränk wird in einem Bierglas mit Noppen serviert, in dem Gurken- und Apfelstückchen schwimmen. Ich weiß nicht, ob ich das trinken oder essen soll, sagst du, und die Frau am Nachbartisch starrt zu dir herüber und flüstert ihrem Mann etwas ins Ohr. Sie trägt wie du eine Lady Di-Bluse.

Seine Fragen klingen, als würde er sie von einer Liste ablesen.

Kommen Sie aus einer großen Familie?

Ich habe einen älteren Bruder und drei kleine Schwestern.

Was macht Ihr Bruder beruflich?

Er wartet darauf, dass sich was ergibt.

Bei deiner Antwort würde Thady grinsen. Noch drei Tote, und er tritt in den Hungerstreik.

Sean leert sein Glas in einem Zug und geht über den versifften geblümten Teppichboden zur Herrentoilette. Die Frau am Nachbartisch beugt sich zu ihrem Mann und deutet auf den Fußboden, wo du deine weiße Lackledertasche abgestellt hast. Du hebst sie auf und kramst in ihr herum. Deine Finger ertasten den fettigen Brief. Der Block, in dem Thady einsitzt, ist abgeriegelt, und deine Mutter hat Thady seit Monaten nicht mehr gesehen. Du versuchst, dir deinen Bruder in eine Decke eingewickelt vorzustellen, das Haar mit Exkrementen verklebt, aber es gelingt dir nicht. Du holst einen Lippenstift hervor, fährst mit ihm langsam über den Mund. Als du fertig bist, presst du die Lippen aufeinander. Dann benutzt du ihn, um auf die Seite deiner Handtasche fünf Großbuchstaben zu malen.

Sean taucht wieder auf und rückt seinen Hosenbund zurecht. Im Licht der Wandlampe über ihm sieht sein glänzendes Gesicht grau aus. Mit schnellen, federnden Schritten geht er zum Münztelefon und nimmt den Hörer ab, vermutlich, um die Frau anzurufen, die ihm das Sandwich zubereitet hat. Du drehst deine Handtasche so, dass das Paar am Nachbartisch lesen kann, was du geschrieben hast.

BOMBE

Mit English Rose, Farbton 1981.

Es ist nicht mal zehn, es ist Samstagabend, und du bist wie ein kleines Kind nach Hause geschickt worden. In deinen Schuhen findest du keinen richtigen Halt. Als du zu Hause bist und sie in der Diele abstreifst, weisen deine Füße rosafarbene Druckstellen auf. Du gehst nach oben und streckst auf jeder Stufe die Zehen aus. Die Kleinen sind in der Badewanne, wehren sich gegen den ziependen Kamm, gegen den rauen Waschlappen, mit dem sie eingeseift werden. In deinen Kleidern legst du dich aufs Bett, kannst die Beine nicht stillhalten. Du schließt die Augen und stellst dir den Mann im Gegenlicht vor. Der Tisch, an dem die Mädels gesessen haben, ist leer. Kein Winky, kein Thady, keiner der Mallon-Jungs aus Aughnacloy, nur du auf einem Barhocker, mit übereinandergeschlagenen Beinen und einer Silk Cut zwischen den Fingern. Du beobachtest ihn, lässt ihn so lange, wie du es ertragen kannst, in der Tür stehen, dann durch den Raum auf dich zukommen.

Thady rüttelt dich wach. Sein Gesicht ist ganz nah an deinem, er stinkt nach Alkohol. Aber da ist auch noch ein anderer Geruch, nach Fleisch oder Kupfer. Du folgst ihm auf den Flur. Im fahlen Licht sieht alles trübe aus, nur seine Augen glänzen. Er hat keine Schuhe an. Er zieht sich aus, rollt jedes Kleidungsstück zusammen und legt es auf deine ausgestreckten Arme. Du gehst ins Bad und kniest dich vor die Wanne. Du hast früher schon Blut aus seinen Sachen gewaschen, die glitschigen Reste der Nachgeburt beim Ablammen, das helle Blut von Geflügel. Spült man das Blut mit heißem Wasser aus, gerinnt es und hinterlässt eine Art Soßenfleck, also drehst du den Kaltwasserhahn auf. Unter dem fließenden Wasser schwenkst du die Jeans, das Hemd, den Pullover hin und her, bis sie triefend nass sind, drückst sie zusammen und spülst noch einmal nach. Es dauert lange, bis das Wasser klar bleibt.

Du wringst die Sachen aus, so gut es geht, und trägst sie in der Plastikbabywanne hinaus. Thady huscht an dir vorbei, seine weiße Haut leuchtet geradezu. Warte, sagt er. Er geht ins Badezimmer und schließt die Tür, öffnet sie dann aber einen Spaltbreit und schleudert seine Unterhose auf den Flur. Mit spitzen Fingern hebst du sie hoch und gehst nach unten. Dort stopfst du die nassen Kleider in die Waschtrommel und stellst die Maschine an. Thadys gute Schuhe lehnen am Messingkamingitter im Wohnzimmer. Du willst ein Feuer machen. Du stellst dich nicht gerade geschickt an und verbrauchst sämtliche Anzündwürfel und ein ganzes Häufchen Anmachholz, bis es endlich in Gang kommt. Du wirfst die Unterhose ins Feuer, und der Nylonstoff lodert in einer ölig-blauen Flamme auf. Du stocherst so lange, bis sie in der Glut zusammenschrumpft. Noch immer riecht es nach Scheiße. Dein neues Top hat einen Fleck abbekommen. Es ist Blut, eine kleine rostbraune Linie knapp über dem Saum, wie eine Feder.

Winky steht am Fuß der Treppe. Er hat sein Augenlid richten lassen. Wenn man auf Naturburschen steht, ist er durchaus attraktiv. Vielleicht stehst du ja auf Naturburschen. Du legst die Hand aufs Geländer. Ich geh mit dir nach oben, sagt er. Thady ist in seinem alten Bett aufgebahrt. Jemand hat ihm einen Rosenkranz mit rosafarbenen Perlen um die Finger gewunden. Neben dem Leichnam sitzt deine Mutter, die