Übertretung - Louise Kennedy - E-Book
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Übertretung E-Book

Louise Kennedy

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Beschreibung

Jeden Tag, während Cushla Lavery ihrer alkoholkranken Mutter das Frühstück macht, sich im Garten mit dem Nachbarn unterhält, ihre Grundschüler unterrichtet oder in der Bar ihrer Familie aushilft, werden die Toten und die Verletzten gezählt. Es ist 1975, und in Belfast eskaliert der Bürgerkrieg. Die katholischen Laverys betreiben ihren Pub in einer überwiegend protestantischen Vorstadt. Sie müssen vorsichtig sein – ein falsches Wort, schon findet man sich auf einer Todesliste wieder. In diesem »Höllenloch« gibt es vieles, was man besser nicht tut. Sich in einen verheirateten Mann verlieben, der nicht nur ein wohlhabender, angesehener Prozessanwalt ist, sondern auch noch Protestant. Sich einmischen, wenn ein Schüler schikaniert und sein Vater fast totgeprügelt wird. Gegen jede Vernunft beginnt Cushla eine leidenschaftliche Affäre mit dem deutlich älteren Michael Agnew, gegen jede Vernunft setzt sie sich für den kleinen Davy ein – und bezahlt einen hohen Preis. Louise Kennedys international gefeierter Roman erzählt von einer tief gespaltenen Gesellschaft, von einem Konflikt, dessen Wunden bis heute nicht geheilt sind, von Menschen, die versuchen, inmitten täglich stattfindender Gewalt ein normales Leben zu führen. Ein herzzerreißendes, bittersüßes, unvergessliches Buch.

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Beliebtheit




Für Stephen, Tom und Anna

Ein schwermütiger Schwall Diesel, ein Wölkchen Rauch, ob schwarz oder auch weiß,

Dann entschwebt der Hafen in gefahrvolle Meere, denn Dinge bleiben ungelöst; wir lauschen

dem Ex cathedra des Nebelhorns und trinken, kehr’n der Welt den Rücken, ungesehen –

Ciaran Carson, »Das irische Wort für nein«

Ah! Jene erste Affäre, wie gut man sich an sie erinnert!

Stanley Kubrick, Barry Lyndon

Inhalt

2015

DAS IRISCHE WORT FÜR NEIN

1

2

3

4

5

6

DÚIL

7

8

9

10

11

12

CHIAROSCURO

13

14

15

16

17

18

IN CALVARY’S FLOW

19

20

21

22

23

24

WHEN I MOVE TO THE SKY

25

26

27

28

29

30

2015

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Impressum

2015

Sie folgen der Museumsführerin, einer dünnen, blassen jungen Frau. Sie trägt ein moosgrünes Etuikleid aus Leinen, und um ihren rechten Arm windet sich eine filigrane Tätowierung, die aussieht wie Stacheldraht. Cushla bewegt sich zum Rand der Gruppe, weg von den italienischen und französischen Touristen in teurer Regenkleidung; sie sind in ihrem Alter, für sie noch immer eine überraschende Erkenntnis. Weg von dem Mann zu ihrer Linken, Ende vierzig, schätzt sie, mit stahlgrauem, zurückgegeltem Haar, kleiner Brille und dunkelblauer Cabanjacke.

Die Museumsführerin steht neben dem nächsten Ausstellungsstück, kaum einen Meter von Cushla entfernt. So aus der Nähe kann sie das stachelige Muster auf der Haut der jungen Frau genauer sehen. Es ist Stechginster, rankende dornige Zweige mit goldenen Blüten. Was Cushla für die junge Frau einnimmt, weil sie sich für den Strauch entschieden hat, der jeden Hügel in dieser Gegend überwuchert, und nicht für Rosen, Schmetterlinge oder Sterne.

Es ist eine Skulptur aus Harz, Stoff und Glasfaser. Eine weiße Figur auf einem Sockel, gipsartig, wie ein Sarkophag, das Gesicht wirkt wie verschleiert, die Züge sind nicht auszumachen. Der Körper ist seltsam geschlechtslos, obwohl es sich um einen Mann handelt: der Rumpf breit, die Brust muskulös. Bis hinunter zur Taille wirkt er friedlich, der Kopf des Schlafenden ruht nahe der Armbeuge. Trotzdem stimmt etwas an der Körperhaltung nicht; die Beine passen nicht zur Pose, sind merkwürdig abgespreizt.

Die junge Frau fängt an zu sprechen. »Das Werk stammt aus den siebziger Jahren«, sagt sie. »Die Künstlerin hat es geschaffen, nachdem ihr Freund ermordet wurde. Während die geradezu klassische Komposition eine geläufige Darstellung des Todes ist, schockiert uns die regelwidrige Anordnung der Gliedmaßen, sie verweist auf den Augenblick der Gewalt, der Ermordung des dargestellten Menschen, und auf das Chaos der darauffolgenden Stunden. Sie präsentiert uns ihren Freund als Jedermann, doch seine eher verquere Körperhaltung macht ihn zu einem Individuum.«

Die anderen rücken zum nächsten Kunstwerk vor: eine Art Tardis, gebildet aus sechs Türen des Gefängnisses von Armagh. Cushla bleibt zurück und tritt näher an die Skulptur heran. Die junge Frau mit dem Stechginstertattoo hat sich geirrt. Die Künstlerin zeigt keinen Jedermann. Jedes Detail ist vertraut, stimmt genau, fast so, als hätte sie die Gipsform von seinem Leichnam abgenommen. Der kleine Wulst Bauchfett in der Mitte. Die leicht angehobene rechte Schulter. Das teigige Kinn. Sie betrachtet sein Gesicht und fürchtet, Angst oder Schmerz darin zu entdecken, aber er sieht genauso aus wie immer, wenn er schlief.

Jemand berührt ihren Arm. Es ist der Mann mit der kleinen Brille.

»Miss Lavery«, sagt er. »Erinnern Sie sich an mich?«

DAS IRISCHE WORT FÜR NEIN

1

Cushla wickelte ihre Handtasche in ihren Mantel und stopfte ihn in die Lücke zwischen Bierkühlung und Kasse. Ihr Bruder Eamonn lehnte, eine Warenliste in der Hand, über dem Tresen. Er sah zu ihr auf, und seine Augen verengten sich. Mit dem Kopf deutete er auf den langen Spiegel an der Wand hinter der Theke. Cushla drehte sich um und prüfte ihr Spiegelbild. Father Slattery hatte ihre Stirn mit einem dicken Kreuz gezeichnet, fast drei Zentimeter breit und sechs Zentimeter lang. Als sie mit dem Finger an der Kreuzform rieb und sie zu einem rußigen Fleck verschmierte, stieg ihr der harzige Duft irgendeiner gesegneten Salbe, mit der die Asche vermischt war, in die Nase.

Eamonn drückte ihr eine nasse Serviette in die Hand. »Beeil dich«, zischte er.

Die meisten Männer, die im Pub ihr Bier tranken, ließen sich am Aschermittwoch kein Aschekreuz verpassen, feierten am Karfreitag keine Kreuzwegandacht und gingen sonntags nicht zur Messe. Es war eine Sache, in einer von Katholiken betriebenen Bar zu trinken, eine andere, das Bier von einer Frau mit papistischer Kriegsbemalung gezapft zu bekommen. Cushla wischte so lange, bis die Haut auf ihrer Stirn sich rötete und die Serviette sich schwärzte und zerfledderte. Sie warf sie in den Abfalleimer.

Eamonn brummelte irgendetwas vor sich hin. Das einzige Wort, das sie ausmachen konnte, war »Idiotin«.

Die Stammgäste saßen aufgereiht am Tresen. Jimmy O’Kane, die Brusttasche ausgebeult von dem Ei, das er sich zum Abendessen gekauft hatte. Minty, der Hausmeister der Schule, der so viel Carlsberg Special Brew in sich hineinschüttete, dass der Pub eine Auszeichnung für die höchsten Verkaufszahlen in ganz Nordirland erhielt; dabei war er der einzige Gast, der das Zeug anrührte. Fidel, mit der khakifarbenen Mütze und der getönten Brille. Tagsüber zählte er im Süßwarenladen seiner Mutter Pfefferminzdragees und Nelkenbonbons ab; nachts kommandierte er den örtlichen Zweig der Ulster Defence Association. Ein Maschinenschlosser von der Werft namens Leslie, der den Mund nur aufbekam, wenn er betrunken war, und der Cushla eines Abends eröffnet hatte, dass er sie liebend gerne baden würde. Ein weiterer Mann. Mittleres Alter, vor sich einen Whiskey. Dunkle Augen, leichte Hängebacken. Er trug einen schwarzen Anzug und ein gestärktes weißes Hemd ohne den abnehmbaren Kragen: Kleidung, die unter all den Overalls und bügelfreien Stoffen ins Auge fiel. Über den Ohren waren seine Haare platt gedrückt, im Nacken wellten sie sich, als hätte er unter einem Hut geschwitzt. Oder unter einer Perücke.

Cushla stellte sich auf einen Barhocker, um die Lautstärke des Fernsehers aufzudrehen. Als sie wieder herunterstieg, schnippte der Mann mit dem Whiskey mit dem Daumen gegen den Filter seiner Zigarette, als habe er gerade erst den Blick abgewandt.

Die Nachrichten begannen wie immer, mit einem Zusammenschnitt kurzer Szenen. Irgendwelche Ausschreitungen. Ein sechs- oder siebenjähriger Junge, der auf einen Saracen, einen gepanzerten Mannschaftstransporter, klettert und einen Stein in einen der Schlitze steckt, aus denen die Soldaten mit ihren Gewehren zielen. Ein Protestmarsch zum Regierungssitz Stormont, Tausende von Menschen, die sich über die lange Chaussee auf das Parlamentsgebäude zubewegen. Eine neue Szene war hinzugefügt worden. Ein einzelnes Auto, geparkt in einer leeren Straße. Die Szene wirkte wie eine Fotografie, bis sich die Karosserie plötzlich nach außen wölbte, in einem riesigen Ball aus Rauch und Feuer explodierte und die Türen kreiselnd davonflogen. Aus den umgebenden Gebäuden fielen Glassplitter auf den Asphalt wie Hagelkörner. Wie immer endete der Vorspann der Nachrichtensendung mit einer Aufnahme von Mary Peters, die ihre olympische Medaille hochhielt.

»Die hat sie vor drei Jahren gewonnen«, sagte Eamonn.

»Das Letzte, was hier passiert ist, worauf wir stolz sein können«, sagte der Mann. Seine Stimme klang tief, fast rau, trotz seines kultivierten Akzents.

»Wohl wahr, Michael«, sagte Eamonn.

Woher wusste Eamonn seinen Namen?

Fidel wies mit dem Kopf auf den Nachrichtensprecher. »Barry hat sich den Bart stutzen lassen«, sagte er, wickelte den eigenen Bart um den Daumen und zwirbelte ihn zu einer langen Spitze.

Die Nachrichten. Eine Landstraße, quer zu den weißen Markierungen ein Land Rover der Polizei, mit einem Tuch bedeckte Beine, die aus einer kahlen Weißdornhecke ragen. Hinter einem Resopaltisch Männer mit Sturmhauben, die wollenen Gesichter dicht an eine Reihe von Mikrofonen gepresst, hin und wieder grell ausgeleuchtet von Kamerablitzen. Ein Pub ohne Fenster, feuchter Rauch, der mit pfeifendem Geräusch durch ein ins Dach gerissenes Loch entweicht.

Bei der letzten Meldung ging es immer um Menschlich-Allzumenschliches. Dieser Nachrichtenteil war allseits beliebt, handelte es sich doch meist um ein neutrales Thema, das man kommentieren konnte. Ein Reporter war in die Innenstadt geschickt worden und hatte Leute auf der Straße gefragt, was sie von Flitzern hielten. »Völlig albern«, meinte eine Frau mit Strickmütze, »ist doch viel zu kalt.« Gefeixe bei den Barbesuchern. Ein winziger Mann mit Brillantine im Haar meinte, für gute Bezahlung würd er’s wohl machen. Der nächste Mann blaffte: »Das ist obszön«, und eilte davon. Dann sprach der Reporter ein Mädchen mit langen dunklen Haaren und großen Augen an. Sie trug einen Afghanenmantel, der Fellkragen umwehte ihr Gesicht. »Ich find’s toll«, sagte sie, »mal was anderes.« Sie wirkte völlig bekifft.

»Die sieht ja aus wie du, Cushla«, sagte Minty. »Hättste nicht Lust, ’n bisschen zu flitzen?«

»Lass meine Schwester in Ruh, du Perversling«, sagte Eamonn grinsend. Normalerweise hätte sie die passende Antwort parat gehabt, um ihnen allen das Maul zu stopfen, aber sie war sich der Anwesenheit des Mannes bewusst, der seinen Whiskey pur trank und saubere Fingernägel hatte.

Eamonn bat Cushla, die leeren Gläser einzusammeln. Sie ging in den Gastraum, wo drei Männer mit Bürstenschnitt an einem Ecktisch voller Gläser saßen, in denen sich die Bierreste abgesetzt hatten wie Seifenschaum. Gerade wollte sie nach dem letzten Glas greifen, als einer der drei ihr zuvorkam und es auf den Teppichboden stellte. »Eins hast du vergessen«, sagte er. Sein Adamsapfel hüpfte. Sie bückte sich, um das Glas aufzuheben, und er legte ihr die Hände auf die Hüften, knapp über ihrem Hintern. Cushla machte sich los und kehrte, begleitet von ihrem Gelächter, zum Tresen zurück.

»Hast du gesehen, was der Soldat da gemacht hat?«, fragte sie Eamonn, als sie die Gläser in die Spüle stellte.

»Nein.« Er wich ihrem Blick aus, und sie wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte.

»Er hat mich angegrapscht, verdammt noch mal.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?« Es war keine wirkliche Frage. Er konnte nichts tun.

Sie lebten in einer Garnisonsstadt, auch wenn es sich bis 1969, als die britischen Truppen einmarschierten, nicht so angefühlt hatte. Nicht, dass die Soldaten hier in der Gegend jemals durch die Straßen patrouillieren würden; die Laverys begegneten ihnen, wenn sie sich auf der anderen Seite des Tresens einfanden, in Zivil. Die ersten Regimenter waren ja noch in Ordnung gewesen. Dann kamen die Fallschirmjäger. Die ließen gern Andenken zurück. Auf dem Teppichboden ausgetretene Zigaretten, aus der Wand herausgebrochene Kacheln, deren Scherben auf dem Boden der Herrentoilette lagen. Am Tag nach dem Bloody Sunday war eine Gruppe von ihnen in den Pub gekommen. Selbst Fidel und die anderen Jungs fühlten sich in ihrer Gegenwart unwohl, und bald waren Gina und Cushla mit den Soldaten allein; ihr Vater war zu krank, um arbeiten zu können. Gina saß auf dem Barhocker, hielt ihr Glas unter einen der Schnapsspender und beobachtete die Männer. Es gelang ihr, den Soldaten keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken, bis einer von ihnen, angefeuert von den anderen, in sein Bierglas biss und Splitter und Blut in den Aschenbecher spuckte. Cushla kam das Ganze wie ein Horrorfilm vor. Ihre Mutter ging hinüber zu den Soldaten. »Welcher englische Knast hat euch denn ausgekotzt?«, sagte sie, bevor sie in der Kaserne anrief. Sie hatte schon so oft angerufen, um sich zu beschweren, dass sie den befehlshabenden Offizier mit Namen kannte. Mit ihrer Telefonstimme sagte sie, er solle seine Leute fortschaffen, sie seien nicht länger willkommen. Die Militärpolizei kam und holte sie ab, aber Cushla fühlte sich auch weiter unbehaglich, wenn Soldaten im Pub waren. Gina hatte zu viel preisgegeben.

Als sie es ertragen konnte, wieder aufzuschauen, lächelte der Mann sie an. Seine Augen waren freundlich. Er hatte alles gehört, und weil sie sich schämte, mehr für Eamonn als für sich selbst, machte sie sich daran, die Regale mit dem Flaschenbier aufzuräumen.

»Netter Anblick«, sagte eine englische Stimme. Cushla sah in den Spiegel. Der Grapscher stand an der Theke, einen Geldschein in der Hand. Hinter ihr das Keuchen des Bierhahns, als Eamonn Pints für ihn zapfte.

»Sie tut so, als wenn sie mich nicht hört«, sagte der Grapscher.

»Vielleicht, weil Sie sie demütigen wollen«, sagte Michael. Cushla wandte sich um. Michael hatte sich auf seinem Barhocker zu dem Soldaten hingedreht, seinen Whiskey balancierte er auf dem linken Handteller.

»Ach, komm schon, Kumpel, ich mach doch nur Spaß«, sagte der Soldat, seine Stimme so schrill wie die eines greinenden Kindes.

»Humor funktioniert am besten, wenn beide Seiten was zu lachen haben«, sagte Michael.

Der Grapscher beugte sich vor, hielt inne und zog den Hals wieder zurück, als hätte er sich eines Besseren besonnen. Unbeholfen griff er sich die drei Gläser, und als er zum Tisch zurückging, tropfte Bier auf den Boden. Eamonn starrte eisern auf den Fernseher, aber sein Kiefer verriet, dass er sich seiner Männlichkeit beraubt fühlte. Fidel und die anderen taten so, als sei nichts passiert. Wer war dieser Mann?

Sie machte sich hinter dem Tresen zu schaffen, wischte, räumte, versuchte, ihn nicht anzusehen. Die Tür schlug zu. Der Tisch der Soldaten war leer, in jedem der Gläser stand noch ein kleiner Rest Lagerbier.

Die Stammgäste machten sich allmählich auf den Heimweg. »Du solltest für eine Stunde raus«, sagte Cushla zu Eamonn. »Die Kinder sehen, bevor sie ins Bett müssen.«

»Ich möchte dich ungern allein lassen.«

»Ich schaff das jetzt schon.«

»Na schön. Ruf mich an, wenn’s ein Problem gibt«, sagte er und war aus der Tür.

Michael zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Noch einen, bitte«, sagte er und schob ihr sein Glas hin.

Sie sah in den Spiegel, als sie seinen Drink einschenkte. Er beobachtete sie. Mit dem Rücken zu ihm war sie mutiger und schaffte es, den Blick nicht abzuwenden.

Sie stellte den Whiskey auf den Tresen. »Cushla, stimmt’s? Ich bin Michael. Möchten Sie auch einen?«, fragte er, als sich seine Finger um das Glas schlossen. Mit ihm darin sah der Raum besser aus. Die schäbigen Wandlampen hinter ihm warfen Kreise aus warmem Licht auf die Teakholztische, und die jadegrünen Tweedbezüge der Sitzbänke und Hocker verströmten eine Art ärmlicher Opulenz.

»Danke, aber ich hab morgen früh Unterricht«, sagte sie.

»Wo unterrichten Sie?«, wollte er wissen. Eine jener Fragen, die Leute stellten, wenn sie wissen wollten, welcher Seite man angehört. Wie ist dein Vorname? Wie ist dein Nachname? Wo bist du zur Schule gegangen? Wo wohnst du?

»Ich unterrichte Drittklässler in St. Dallan’s.«

»Dann sind die Kinder sieben oder acht? Ein schönes Alter.«

»Ja«, sagte sie. »In den ersten beiden Jahren hatte ich Erstklässler. Die meiste Zeit hab ich damit verbracht, sie zum Klo zu begleiten.«

»Heute Morgen haben Sie sich mit den Kindern ein Aschekreuz auf die Stirn zeichnen lassen«, sagte er.

Er musste mitbekommen haben, wie sie es abgewischt hatte. Wie gereizt Eamonn gewesen war. »Hab ich«, sagte sie.

»Ich habe meine Jugend in Dublin verbracht«, teilte er ihr mit. »Da unten wimmelt’s nur so von Katholiken.« Er sagte das leichthin, sah sie dabei aber so prüfend an, dass sie erleichtert war, als er seinen Blick abwandte und einen Schluck trank.

»Ich hab mir heut Morgen auch ’n Aschekreuz geholt«, sagte Jimmy O’Kane in lautem Flüsterton.

»Und dich geschickter dabei angestellt, es wieder loszuwerden, als ich.«

»’n klein bisschen Seife auf ’nem Geschirrtuch«, sagte der alte Mann.

Cushla warf Michael einen Blick zu. Um seine Augen hatten sich Lachfältchen gebildet.

Sie machte sich eine Tasse Tee und rückte den Barhocker so herum, dass sie dem Fernseher gegenübersaß. Gerade lief ein Film. Helen Mirren lag auf einem Sofa und streichelte eine weiße Katze. Unterdessen stellte ihr Ehemann Malcolm McDowell zur Rede, weil der mit ihr geschlafen hatte. Cushla konnte sich nicht erklären, weshalb sich die Frau auf McDowell eingelassen hatte, einen dürren Mann in einem spießigen blauen Pullover und mit grausamen Gesichtszügen, wo sie doch mit dem stämmigen und grüblerischen Alan Bates verheiratet war. Helen Mirren stand auf und ging im Zimmer umher. Sie trug ein weißes Hemdblusenkleid und sah elegant aus. Cushla hatte eine rosafarbene Musselinbluse an, und eine der Gesäßtaschen ihrer Jeans zierte ein aufgenähter Flicken, auf dem stand: »Drück meinen Panikknopf.«

Jimmy leerte sein Bierglas, streifte mit der Unterlippe den Rand ab, um auch noch den letzten Tropfen zu erwischen, dann klopfte er sanft auf die Brusttasche seines Hemds und schlurfte zur Tür hinaus.

Michael bestellte noch einen Drink. Er erzählte ihr, das Stück, auf dem der Film beruhe, sei 1960 »Theaterstück des Jahres« gewesen. Helen Mirren könne sich in der Rolle nicht entfalten, fand er, und McDowell werde seit Uhrwerk Orange ständig in eine Schublade gesteckt. Cushla sagte, sie habe nicht einmal das Buch zu Ende lesen können, geschweige denn sich den Film ansehen. Aber der Film sei doch wunderbar, sagte er, selbst die Gewalt darin sei exquisit. Den Mann aus Armagh, der den Krüppel gespielt habe, kenne er persönlich. Er schreibe selbst ein wenig. Dokumentarisches, ein paar kurze Stücke. »Prozessanwälte sind frustrierte Schauspieler«, sagte er. Er sprach, als sei er es gewohnt, dass man ihm zuhörte.

Als Eamonn zurückkam, kniff er Cushla in die Wange wie einem Kleinkind. »Danke fürs Babysitten«, sagte er zu Michael.

»Ich bin vierundzwanzig«, sagte Cushla. Eamonn sah sie mit der gewohnten Mischung aus Geringschätzung und Nachsicht an, Michael mit einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.

Als sie ging, ging auch er, hielt ihr die Tür auf, damit sie vor ihm hindurchtreten konnte. Dabei streifte ihr Arm den seinen. Er fühlte sich fest an und kräftig.

Der Pub befand sich an einem Abzweig am Ende der Hauptstraße, hinten im Blickfeld des Glockenturms auf dem Grundstück des verfallenen Klosters, vorne in dem eines niedrigen Häuserblocks mit Sozialwohnungen. Sie ging über den kaum beleuchteten Parkplatz zu ihrem kleinen roten Renault, den sie in der Nähe der Unterführung der neuen vierspurigen Schnellstraße entlang des Belfast Lough abgestellt hatte. In dem Betontunnel hallten Stimmen wider, Zigaretten glommen im Dunkel auf. Vom Wasser kam ein beißender Geruch nach Öl und Schlamm, das Rauschen der einsetzenden Flut.

»Gute Nacht, Cushla«, rief Michael ihr nach. Er stand neben einem großen braunen Wagen nahe dem Eingang zum Pub.

»Bis dann«, rief sie zurück. Als sie die Scheinwerfer ihres Autos einschaltete, stand er noch immer da. Er sah aus, als trage er eine schwere Last auf den Schultern, und wirkte älter als vorher am Tresen.

Die Polizei hatte die High Street zur Kontrollzone erklärt, sie war menschenleer. Als sie sich dem Ufer näherte, taumelten aus einer anderen Bar drei Männer auf den Gehsteig. Die Soldaten von zuvor. Der Grapscher stolperte vor ihr auf die Straße, und Cushla musste eine Vollbremsung machen, um ihn nicht anzufahren. Er stützte sich mit den Händen auf der Motorhaube ab und spähte durch die Windschutzscheibe. Als er sie erkannte, streckte er die Zunge heraus und ließ sie hin und her schnellen, eine obszöne Geste, die bei einem Kerl, der noch ein halbes Kind war, einfach nur lächerlich wirkte. Von hinten leuchteten Scheinwerfer in ihr Auto, und sie sah in den Rückspiegel. Es war Michael. Er hob zwei Finger zum Gruß und wartete mit laufendem Motor, bis die Freunde den Jungen weggezerrt hatten. Als Cushla langsam anfuhr, hockten sie lachend am Bordstein. Michael folgte ihr bis nach Hause, dann blendete er kurz auf, und fuhr weiter in Richtung der Hügel.

Zwischen den dunklen Fassaden der anderen Häuser leuchtete das Erkerfenster im Erdgeschoss der Laverys aufreizend hell. Cushla trat ins Haus und zog die goldfarbenen Samtvorhänge im Wohnzimmer zu. Die Kohlen im Kamin waren zu einem Pelz aus weißer Asche heruntergebrannt, der zu Staub zerfiel, als sie den Messingaschenbecher, der neben dem Sessel ihrer Mutter stand, auf dem Rost ausleerte.

Sie stellte das Kamingitter an seinen Platz, löschte die Lichter und ging die Treppe hinauf.

»Bist du’s?«, fragte ihre Mutter.

»Wer sollte es sonst sein?«, gab Cushla zurück und stieß die Schlafzimmertür auf. Gina Lavery lag, von drei Kissen gestützt, in ihrem Bett, einen Schlüpfer über den Lockenwicklern. Das Radio spielte leise. Sie ließ es jede Nacht an; um Gesellschaft zu haben, sagte sie. Manchmal erzählte sie Cushla morgens von ihren Träumen, die von George Best, Segelregatten rund um die Welt und dem US-Raumfahrtprogramm handelten, nur um später, wenn die Zeitung zugestellt wurde, herauszufinden, dass alles real war. All die Informationen, die sie unbewusst aufnahm.

»Du hast schon wieder die Vorhänge offen gelassen«, sagte Cushla.

»Wer würde an mich schon ’ne Kugel verschwenden?«, fragte Gina. Sie versuchte, souverän zu klingen, aber ihre Stimme war belegt. Sie hatte eine Schlaftablette genommen. »Hattet ihr viel zu tun?«

»Stammgäste. Und drei Soldaten.«

»Abschaum.«

»Hab Eamonn kurz nach Hause geschickt.«

»Ich möchte nicht, dass du allein hinterm Tresen stehst.«

»Es ist gut gelaufen. Ein Mann namens Michael hat mir Gesellschaft geleistet. Mitte vierzig. Dunkle Haare. Schrecklich vornehm. Hat gesagt, er ist Prozessanwalt.«

»Michael Agnew. Und er ist schon über fünfzig«, sagte Gina.

»Sieht jünger aus.«

»Ist er immer noch so attraktiv?«, fragte Gina. »In jungen Jahren war er ein richtiger Frauenheld. Mein Gott, den hab ich seit ’ner halben Ewigkeit nicht gesehen. Er hat sich gut mit deinem Daddy verstanden.«

Eamonn war zweiunddreißig und arbeitete seit seinem sechzehnten Lebensjahr im Pub. Er musste Michael von früher wiedererkannt haben. »Wo wohnt er?«, fragte Cushla.

»In einem großen Haus in den Hügeln. Hat auch ’ne Wohnung in der Stadt. Seiner Frau geht’s nicht so gut«, sagte Gina. Dann tat sie das, was alle Frauen in ihrer Familie taten, wenn sie jemanden bedauerten: verzog eine Wange und formte aus dem Mundwinkel das Wort »helfihr«. Eine Kurzform für »Gott helfe ihr«.

»Was ist mit seiner Frau?«

Gina führte die Hand zum Mund, als stürze sie einen Drink hinunter. »Stammt aus Dublin«, sagte sie, als genüge das als Erklärung.

»Oh? Ist sie Katholikin?«

»Nein, sie stammt aus irgendeiner wohlhabenden protestantischen Familie.«

»Haben sie Kinder?«

»Einen Sohn. Der müsste jetzt so siebzehn oder achtzehn sein.«

Cushla beugte sich zu ihrer Mutter herunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange, atmete ihren traurigen Geruch ein. Je reviens und Zigaretten. Haarfestiger und Gin. Michael Agnews Frau war nicht die Einzige, die gerne zur Flasche griff.

In ihrem Zimmer legte Cushla die Sachen bereit, die sie am nächsten Morgen zur Arbeit anziehen würde. Ausgestellter karierter Rock, dunkelblauer Lambswool-Pullover, graue Bluse. Wie eine Schuluniform. Sie hatte sich nie viel Gedanken darüber gemacht, wie sie hinter dem Tresen aussah, hatte sich Sachen übergeworfen, bei denen es ihr nichts ausmachte, wenn sie sie mit Chlorreiniger bespritzte, hatte sich die Haare hochgebunden, damit sie ihr nicht in die Augen fielen. Bis jetzt.

2

Sie wurde vom Husten ihrer Mutter geweckt, einem rasselnden Gebell, das Cushla Übelkeit verursachte. Sie stand auf und öffnete einen Spaltbreit die Vorhänge. Das Morgenlicht kämpfte sich durch einen Saum aus niedrigen grauen Wolken. Aus dem Haus gegenüber trat ein Mann und ließ sich zu Boden fallen, als wollte er ein paar Liegestütze machen. Es war Alistair Patterson, ein Gefängnisaufseher, der sich immer als Verwaltungsangestellter ausgab. Unter seinem Auto suchte er nach einer Bombe. Seine Frau, noch im türkisen Nachthemd, sah ihm von der Haustür aus zu und hielt den Hund fest.

Der Heizkörper unter dem Fenster hatte gegen die Kälte im Zimmer nicht viel ausrichten können, und Cushla kleidete sich rasch an. Der Badezimmerspiegel beschlug von ihrem Atem, als sie sich wusch und flüchtig schminkte. Unten schaltete sie den Kessel an und steckte eine Scheibe Brot in den Toaster. Dann öffnete sie die Hintertür und wedelte sie hin und her, um kalten Rauch und Kochdünste zu vertreiben. Es hatte angefangen zu regnen, langsame, schwere Tropfen, die auf den Deckel der Mülltonne klatschten. Bald stürzten sie so schnell herab, dass sie von den schwarzen und weißen Fußbodenfliesen spritzten. Cushla machte die Tür wieder zu, bereitete das Frühstück für ihre Mutter und trug es auf einem Tablett nach oben.

Gina lag noch genauso da, wie Cushla sie am Abend zuvor verlassen hatte, nur jetzt mit brennender Zigarette. Der Schlüpfer war ihr auf die Stirn gerutscht.

»Eines Tages werde ich nach Hause kommen und nur noch deine verkohlten Überreste finden«, sagte Cushla, konfiszierte die Zigarette und stieß sie in den Aschenbecher aus geschliffenem Glas, der auf dem Nachttisch stand.

Gina hievte sich in eine aufrechte Position und ließ sich das Tablett reichen. Sie nahm eine halbe Toastscheibe, biss in der Mitte ein Stück ab, kaute es und verzog angewidert den Mund. »Könnte mehr Butter drauf sein«, sagte sie.

»Butter ist nicht gut für dich«, sagte Cushla.

»Das ist so trocken, dass ich eher ersticke, als einen Schlaganfall zu kriegen«, sagte sie und warf den Toast auf den Teller zurück. »Und komm bloß nicht auf die Idee, mir Margarine draufzutun.« Bei »Ma-« stockte sie kurz, als hätte sie »Maggarine« sagen wollen und sich erst im letzten Augenblick anders besonnen. Gina duldete keine gebackenen Bohnen, kein Corned Beef, keine eingelegte Rote Bete im Haus. Sie hatte eine Abneigung gegen Relishes, weil sie im Krieg in einer Piccalilli-Fabrik gearbeitet hatte und beim Tanzen Handschuhe anziehen musste, damit die GIs nicht ihre gelb verfärbten Finger sahen. Diese Art von Dünkel hatte Cushlas Vater geduldet. »Gina hat als Kind Hunger gelitten«, sagte er, »da tut’s ihr eben gut, wählerisch zu sein.«

Cushla ging nach unten, schnappte sich ihren Korb vom Garderobentisch und machte sich auf den Weg zur Schule. Die Laverys wohnten in einer Reihe von roten edwardianischen Backsteinhäusern. Die Häuser gegenüber aus derselben Zeit waren mit weißem Stuck verziert. Je weiter man in Richtung Stadt fuhr, desto kleiner und bescheidener wurden die Gebäude, und der letzte Straßenabschnitt war von einfachen Reihenhäusern aus den fünfziger Jahren gesäumt. Im Sommer wehten überall Union Jacks aus den Fenstern; ohne sie wirkten die kastenförmigen Häuser spartanisch. Eine kleine Gestalt bog um die Ecke in die schmale Straße, die zur Schule führte: Davy McGeown, ein Kind aus ihrer Klasse. Er war ohne Mantel unterwegs. Sie versuchte, der Pfütze auszuweichen, die sich an Regentagen vor dem Fish & Chips-Laden bildete, aber ein anderes Auto kam ihr entgegen. Es rauschte, als ihre Reifen das Wasser verdrängten. Sie blickte zurück und sah, wie Davy, die Arme von sich gestreckt, an sich herunterschaute. Er war von oben bis unten durchweicht.

Cushla fuhr durch das Tor auf der Rückseite der Schule, stellte rasch ihren Wagen ab und ging hinein. Gegen den Strom der eintreffenden Kinder eilte sie den Korridor entlang zum Haupteingang. Ein triefnasser Davy trat durch die Tür, die Haut rot vor Kälte.

»Ich hab dich total nassgespritzt«, sagte sie.

Er schüttelte sich wie ein Welpe, und sie bekam eine ganze Ladung Regentropfen ab. »Es geht mir gut«, sagte er mit klappernden Zähnen. Sie brachte ihn zur Personaltoilette und rubbelte ihm Gesicht und Haare mit Papierhandtüchern ab. Sie waren so rau, dass er zusammenzuckte.

Es klingelte zum Unterricht. »Das muss erst mal reichen«, sagte sie.

Mr Bradley, der Direktor, wartete im Korridor, als sie aus der Toilette kamen. Er baute sich bedrohlich vor Davy auf und fragte: »Wo ist dein Mantel?«

»Vergessen, Sir.«

»So«, sagte er, und es klang, als dächte er über eine angemessene Bestrafung nach. Bei Konferenzen fiel hin und wieder Davys Name. Sein Vater war Dachdecker, schien aber selten Arbeit zu haben, seine Mutter eine Protestantin, die, obwohl die Kinder katholisch erzogen wurden, nicht übergetreten war. Wenn es nach Bradley ging, hätten sie ebenso gut zur Manson Family gehören können.

»War doch nur ein Versehen«, sagte Cushla, legte die Hände auf Davys Schultern und lenkte ihn aus der Gefahrenzone.

Einige der anderen Lehrerinnen erwarteten, dass die Kinder aufstanden, sobald sie das Klassenzimmer betraten, aber Cushla schlüpfte lieber unbemerkt hinein und lauschte ihrem Geplapper. Davy ging zu seinem Platz in der ersten Reihe, direkt vor Cushlas Nase, wo er nicht etwa saß, weil er unartig war, sondern weil die anderen ihn quälten. Cushla packte ihren Korb aus und hängte ihren Mantel über die Stuhllehne. Die Kinder wurden still und nahmen die Haltung ein, die sie für die Erstkommunion geübt hatten. Die Hände aneinandergelegt, die Fingerspitzen gen Himmel gerichtet. Sie betete mit ihnen das Ave Maria. Ihre Münder waren das Aufsagen so gewohnt, dass die Worte verschwammen, nur noch Klang und Rhythmus waren, wie eine Hymne, die bei einem Fußballspiel angestimmt wird.

Vor dem Unterricht waren Die Nachrichten an der Reihe. Cushla hasste diesen Teil, der Direktor bestand jedoch darauf. Er meinte, so würden die Kinder dazu angespornt, mehr von der Welt um sie herum wahrzunehmen. Cushla dachte, sie wüssten ohnehin zu viel von der Welt um sie herum. Davy stand auf, wie immer der Erste, der sich freiwillig meldete. An den Schultern und am Ausschnitt war sein roter Pullover ganz dunkel vor Feuchtigkeit.

»In Belfast ist eine Bombe hochgegangen«, sagte er.

»Das sagt er jeden Tag«, rief Jonathan, der neben ihm saß.

»Nun ja, heute stimmt es. Danke, Davy«, sagte Cushla.

Jonathan stand auf. »Das war nicht in Belfast«, sagte er. »In der Nähe der Grenze ist eine für eine Fußpatrouille der britischen Armee bestimmte Sprengfalle zu früh explodiert und hat zwei Jungen getötet. Sie waren sofort tot.«

Sprengfalle. Brandsatz. Plastiksprengstoff. Nitroglyzerin. Molotowcocktail. Gummigeschoss. Saracen. Internierung. Special Powers Act. Vortrupp. Was heutzutage zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes gehört.

»Gut gemacht, Jonathan«, sagte Cushla.

Ein anderer Junge stand auf. »In Scene Around Six gab’s was über Flitzer.«

Cushla dachte an den gestrigen Abend in der Bar, an Michael Agnew, der seinen Whiskey schwenkte, während Eamonn und die anderen sie aufzogen. An sein Lächeln. Sie spürte, wie sie errötete.

»Genug davon jetzt. Hat jemand auch gute Nachrichten?«

Erneut stand Davy auf. »Mein Da hat ’n Job«, sagte er. Er blickte sich um, hoffte auf Anerkennung, aber die anderen hörten gar nicht zu. »Die laufen rum und haben nichts an«, sagte einer der Jungs. »Ganz nackig.«

Cushla zog den Stapel mit ihren Übungsheften zu sich heran und rief die Kinder alphabetisch nach Vornamen auf. Sie hatte ihnen aufgegeben, ein Gedicht zu verfassen und sich dabei von Wordsworths »Narzissen« anregen zu lassen. Davy hatte geschrieben: »Narzissen sind wie Speere, schnell schwingen sie hin und her«; aus den Worten bildete sich der Stiel einer einzigen Blume, die er am rechten Rand der Seite gezeichnet hatte. »Das ist großartig, Davy«, sagte Cushla leise. Er legte den Kopf schief, als würde er seine Leistung überdenken, und kehrte auf seinen Platz zurück.

Als Letztes trat Zoe Francetti vor, eines der Kinder aus der Armeekaserne. Es gab dort zwar eine Grundschule, aber manchmal schickte man die katholischen Kinder hierher. Zoe kam aus London und hatte in Deutschland und Hongkong gelebt. Den anderen Kindern kam sie welterfahren und exotisch vor, und es schien ihnen egal zu sein, dass Zoes Vater britischer Soldat war. Sie hatte eine Sindy-Puppe in einem langen rosafarbenen Abendkleid gemalt. »Das entspricht zwar nicht der Aufgabe«, sagte Cushla, »aber es ist wirklich gut.«

Ein Stuhl kratzte über den Boden. Als sie den Blick hob, sah sie, wie Davys Faust auf Jonathans Oberarm landete. »Was geht hier vor?«

»Er hat gesagt, ich stinke«, sagte Davy.

Er stank nicht, aber in seinen Kleidern hing immer Essensgeruch. »Statt ihn zu schlagen, hättest du mir das sagen sollen, Davy«, sagte Cushla.

»Ich verpfeife niemand«, entgegnete er und hielt ihr seine rote Handfläche hin. Sie hätte ihn mit dem Rohrstock bestrafen müssen. Wenn das nichts nutzte, war sie angewiesen, den Direktor zu verständigen.

»Steh auf, Jonathan«, sagte sie. Der Junge stand so würdevoll auf, als wollte er eine Rede halten. »Was du gesagt hast, war verletzend. Entschuldige dich bei Davy.«

Jonathan machte den Mund auf und schloss ihn wieder. »Ich habe dich nicht gehört«, sagte sie.

»’tschuldigung.«

»Davy, entschuldige dich bei Jonathan dafür, dass du ihn geschlagen hast.«

»Tut mir sehr leid«, sagte er und reichte dem anderen Jungen die Hand, der sie kaum berührte, seine Geste eher eine Bestrafung als ein Friedensangebot. Sie ließ sie einander gegenüber in der Ecke stehen. Dort standen sie noch, als der Direktor mit dem Gemeindepfarrer eintrat.

Father Slattery trug ein schwarzes Samtjackett über dem Priesterhemd mit dem Kollar. Sein langes Gesicht war so gespenstisch weiß, als hätte er keinen Tropfen Blut mehr im Leib. Wie die Kirche und das Pfarrhaus stand die Schule auf dem Grundstück der Gemeinde. Slattery hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den Spielplatz und die Schulkorridore zu patrouillieren und unangemeldet in den Klassenräumen aufzutauchen, um seine furchterregenden Glaubenssätze zu verbreiten. Cushla hatte sich bei Bradley darüber beschwert, dass seine Besuche die Kinder verstörten. Er sei der Priester, ließ man sie wissen. Ihre Abneigung hatte noch einen anderen Grund: Als ihr Vater im Krankenhaus lag und durch das Morphium schon ziemlich weggetreten war, hatte Slattery mit ihm gebetet und ihn schließlich überzeugt, einen Scheck für einen Farbfernseher auszustellen.

»Zwei schlimme Früchtchen«, sagte Slattery, als er die beiden in Ungnade gefallenen Gestalten in den Ecken bemerkte.

Davy sandte Cushla einen flehentlichen Blick zu. Jonathan starrte auf die Schlaufe des Lederriemens, die aus Bradleys Tasche hing. Cushla wandte sich zu Bradley um, wollte ihn bitten, dem Ganzen ein Ende zu setzen, doch der hatte den Rückzug angetreten und war schon fast aus der Tür.

Mit leisen Schritten durchquerte Slattery das Klassenzimmer. Er blieb hinter Davy stehen, dann drehte er sich um, ging weiter und baute sich schließlich vor Cushlas Tisch auf. Sie schnippte mit den Fingern, und die Jungen wieselten zurück auf ihre Plätze. Father Slattery begann, das Reuegebet zu sprechen. Die Kinder stimmten nicht mit ein; sie hatten zu viel Angst, einen Fehler zu machen, vermutete sie.

»Sie kennen ihre Gebete nicht«, sagte er mit einem lauernden Blick auf Cushla. »Was wissen sie sonst nicht?« Ihr entschlüpfte ein missbilligendes »Ts!«, und mit verschränkten Armen lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück.

»Wie lautet die erste Zeile des Schuldbekenntnisses?«, fragte Slattery. Niemand antwortete. »Die Geheimnisse des Rosenkranzes?« Noch immer flog kein Arm in die Höhe. Mit seiner langsamen, traurigen Stimme zählte er sie auf. Freudenreich. Schmerzhaft. Glorreich. Wunderschöne Worte, die sie in Angst und Schrecken versetzen sollten. Er ging zu Davy und zielte mit seinem dünnen Finger auf sein Gesicht. »Wie alt bist du?«, fragte er. Davy sah verwirrt aus, als wäre ihm eine Fangfrage gestellt worden. »Du wirst doch wohl wissen, wie alt du bist«, sagte Slattery.

»Sieben.«

»Sieben. Ich möchte dir eine Geschichte über ein kleines Mädchen erzählen, nicht viel älter als du«, sagte er und legte die Hände vor der Brust zusammen. »Es wurde von seiner Mutter losgeschickt, eine Besorgung zu machen«, fuhr er fort, wobei er, wie er es bei der Messe immer tat, die Hände hob, mit den Handflächen nach oben, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. »Ist einer von euch schon einmal von der Mutter losgeschickt worden, um eine kleine Besorgung zu machen?« Einige der Kinder nickten. »Eine Gruppe von Männern folgte ihr bis nach Hause«, sagte er. »Sie zerrten sie in einen Hauseingang. Erwachsene Männer. Sie taten mit ihr, was sie wollten, und als sie fertig waren, ritzten sie ihr mit einer zerbrochenen Flasche die Buchstaben UVF auf die Brust.«

»War das kleine Mädchen sieben?«, fragte Davy. Er bearbeitete seinen Bleistift, knibbelte den Lack vom abgekauten Ende.

»Wie alt sie war, ist nicht von Bedeutung. Von Bedeutung ist, dass die Protestanten uns hassen«, sagte Slattery und schlug mit den flachen Händen auf Davys Tisch. Der Junge fuhr vor Schreck zusammen. »Du bist einer von den McGeowns, oder?«

»Ja.«

»Du wohnst in dieser Siedlung, musst also besser zuhören als alle anderen.«

Die Pausenglocke ertönte. Wenn sie losplärrte, schoben die Kinder normalerweise ihre Stühle zurück und holten ihr Pausenbrot hervor, jetzt aber blieben sie still sitzen. Von draußen hörten sie Gelächter und Geschrei, als die anderen Klassen auf den Hof strömten. Ein Fußball prallte auf die Asphaltfläche unter dem Fenster, und Slattery war für einen kurzen Moment abgelenkt.

Cushla ging zur Tür und riss sie auf. »Okay, Klasse, raus mit euch«, sagte sie, aber sie rührten sich nicht. »Raus!«, rief sie, und die Kinder stürmten an ihr vorbei.

»Wie geht es Ihrer Mutter?«, fragte Slattery.

»Gut«, sagte Cushla. Mit steifen Schritten ging sie hinaus in den dämmrigen Korridor und ließ den Priester allein im leeren Klassenzimmer zurück.

Gerry Devlin, der die andere dritte Klasse unterrichtete, stand neben dem Wasserkessel. Er gehörte erst seit September zum Kollegium, leitete aber bereits den Schulchor, schrieb Friedensgedichte und vertonte sie – sein Enthusiasmus ließ Cushla schlecht aussehen. »Wenn man auf etwas wartet«, sagte er.

»Tja«, sagte Cushla.

»Wie war dein Vormittag bisher?«, fragte er und strich mit seinem Finger über die Kragenkante seines Hemds. Es war lila, der große Kragen hatte abgerundeten Ecken.

»Slattery war da. Er hat die Kinder über den Katechismus ausgequetscht und ihnen eine schreckliche Geschichte erzählt.«

»Wenn ich den kommen sehe, schnapp ich mir immer meine Gitarre. Übertöne den Scheißkerl.«

Sie musste lachen. »Das hat nicht mal er verdient«, sagte sie.

Gerry blickte auf einmal hektisch um sich, als hätte er etwas vergessen. »Ich geh auf ’ne Party«, sagte er schließlich. Sein eines Bein zappelte so heftig, dass seine Hose wie ein Segel flatterte.

»Wie schön.«

»Magst du mitkommen?«

Seit der Weihnachtsfeier mit dem Kollegium war Cushla nicht mehr ausgegangen. Ihr Sozialleben beschränkte sich darauf, ihre Mutter zur Messe zu fahren und gelegentlich Eamonn im Pub zur Hand zu gehen. Es wäre schön, mal wieder auszugehen. Selbst mit Gerry Devlin. »Okay«, sagte sie.

»Was?«

»Ich komme mit.«

»Super.« Die Glocke ertönte, und er schüttete den Rest seines Kaffees in die Spüle.

»Wann steigt sie?«

»Oh. Samstagabend.«

Die beiden Lehrerinnen der vierten Klasse saßen in der Nähe der Tür, und als Cushla hinausging, blinzelte eine von ihnen ihr zu. Für den Rest der Woche würde sie im Lehrerzimmer schiefe Blicke ertragen müssen. Gerry Devlin, der beim Wasserkessel lauerte, ihr Fragen stellte, die er sich eindeutig vorher zurechtgelegt hatte, das Beingezappel. Sie hätte ihm sagen sollen, dass sie keine Zeit hatte.

Als sie wieder im Klassenzimmer war, teilte Cushla die Schulmilch aus – seltsamerweise stellte Paddy, der Hausmeister, den Kasten mit den Glasflaschen jeden Morgen vor dem Heizkörper ab – und ließ den Kindern noch ein paar Minuten Zeit. Sie standen um ihren Tisch herum, rissen die silbernen Folienverschlüsse ab und tauchten die Zungen in den Fingerbreit Sahne, der sich auf der Milch abgesetzt hatte.

»Was ist die UVF, Miss?«, fragte Zoe.

»Ulster Volunteer Force«, sagte Jonathan.

»Jonathan, du solltest bei Mastermind mitmachen. Spezialgebiet ›Akronyme der Troubles‹«, sagte Cushla.

»Aber war das ’ne wahre Geschichte, Miss?«, fragte Lucia, als sie die leeren Flaschen wieder in den Kasten gestellt hatten.

»Father Slattery ist schon sehr alt«, sagte Cushla – eine Lüge, der Mann war gerade mal sechzig –, »manchmal kommt er durcheinander.«

Lucia und Zoe sahen nicht sehr überzeugt aus, so als hätten sie auf irgendeine Weise verstanden, was dem Mädchen zugestoßen war. Die Kinder hier wussten einfach zu viel.

Den Rest des Tages war die Klasse unruhig. Sie erlaubte ihnen, ihre Sachen ein paar Minuten früher einzupacken, und noch vor dem Klingeln stoben sie hinaus.

Dunkle Regenwolken waren aufgezogen. Als sie durch den Haupteingang fuhr, fing es an zu schütten. Draußen warteten Dutzende Mütter, Regenschirm an Regenschirm wie ein nachlässig zusammengenähter Quilt. Auf der anderen Seite der Straße war die Sekundarschule, in der Minty als Hausmeister arbeitete. Sie wurde von Protestanten besucht, die die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium nicht geschafft hatten. Bradleys Gegenpart hatte sich damit einverstanden erklärt, Schulbeginn, Schulende und Mittagspause auf unterschiedliche Zeiten zu legen, weil seine Schüler und Schülerinnen ihren antikatholischen Gefühlen gern mit Gesängen, Reimen und Wurfgeschossen Ausdruck verliehen.

Etwa hundert Meter die Straße hinunter ging Davy. Cushla bremste und hupte, dann stieß sie die Beifahrertür auf. »Soll ich dich mitnehmen?«, fragte sie.

»Ich darf nicht zu Fremden ins Auto steigen.«

»Ich bin ja wohl kaum eine Fremde. Ich werd’s deiner Mummy erklären.«

Er stieg ein und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sein Pullover roch nach Rindswurst; da sie aber wusste, wie verletzt er am Morgen gewesen war, verkniff sie es sich, das Fenster hinunterzukurbeln. Auf dem Weg zu der Sozialsiedlung, in der Davy wohnte, kamen sie am Haus der Laverys vorbei. Eamonn war nur selten zu Hause, wenn die Mädchen noch wach waren, und Cushla hatte versprochen, früh da zu sein. Sie könnte sich schnell umziehen und gleich, nachdem sie Davy abgesetzt hatte, zum Pub fahren. Gerade wollte sie ihm sagen, er solle kurz im Auto warten, da war er auch schon halb aus der Tür.

Gina saß in ihrem Morgenmantel, einer gesteppten Scheußlichkeit mit lila und orangem Paisleymuster, am Küchentisch. Vor ihr stand eine Flasche Gordon’s Gin, deren grünes Glas unangemessen festlich wirkte. Sie blinzelte langsam, wie eine Porzellanpuppe. »Bin noch nicht lange auf«, lallte sie.

Cushla beugte sich zu ihrem Ohr. »Bitte. Steh einfach auf.«

Gina stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab und stemmte sich hoch. Sie machte einen Schritt zur Tür, blieb aber mit dem Fuß am Tischbein hängen und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.

»Mein Gott«, sagte Cushla, hakte Gina unter und zog sie auf die Füße.

Davy trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. »Stimmt was nicht mit deiner Mummy?«, fragte er.

»Sie ist nur müde. Nimm dir einen Keks aus der kleinen Dose neben dem Wasserkessel. Bin in einer Minute wieder da.«

Stufe für Stufe hievte Cushla ihre Mutter die Treppe hinauf, bis zum Flur im ersten Stock. Sie brachte sie ins Bad und ließ sie im Angesicht ihres Spiegelbilds zurück. Cushla ging in ihr Zimmer, um sich für die Arbeit umzuziehen, griff nach den alten Sachen, die sie normalerweise trug. Sie zögerte. Es konnte ja sein, dass Michael Agnew noch einmal vorbeischaute. Sie zog sich Jeans an – ein neueres Paar, ohne Aufnäher – und ihren schwarzen Nickipullover mit dem runden Ausschnitt, das erwachsenste Oberteil, das sie besaß. Ihre Brüste sahen riesig darin aus, was nicht unbedingt von Vorteil war; sie konnte sich nicht vorstellen, dass Michael sabbernd auf die Nackte von Seite 3 stierte, so wie Minty.

»Mummy«, rief sie, als sie über den Flur ging. Im gleichen Moment kam ihr in den Sinn, wie lächerlich es war, wenn eine erwachsene Frau ihre betrunkene Mutter so ansprach. Als Gina nicht antwortete, stieß sie die Badezimmertür auf. Gina saß auf der Toilette, ihr Kopf hing leicht herunter. Cushla rüttelte sie an der Schulter, woraufhin ihre Mutter erst gegen das Waschbecken kippte und dann mit der Wange am Porzellan herabrutschte. Ruckartig setzte sie sich auf und beäugte ihre Tochter misstrauisch. »Bring dich in Ordnung«, sagte Cushla und wandte den Blick ab, als ihre Mutter nach ihrem Schlüpfer griff.

Cushla manövrierte sie über den Flur und bis zu ihrem Bett. »Du bist furchtbar sauer auf mich«, sagte Gina.

»Hör auf, dir leidzutun«, sagte Cushla. Sie nahm die Zigaretten und das Feuerzeug vom Nachttisch und lief nach unten zu Davy.

Er hatte einen Vanillecremekeks in der Mitte geteilt und schabte mit den unteren Schneidezähnen die Füllung ab. »Ist deine Mummy krank?«, fragte er.

»So was in der Art.«

Er stopfte sich die eine trockene Kekshälfte in den Mund. Cushla goss ihm ein Glas Milch ein, und er tunkte die andere Hälfte in die Milch. »Wie die andere Hälfte lebt.« Weil er sie damit zum Lachen brachte, sagte er es gleich noch einmal.

Etwa hundert Meter von Cushlas Haus entfernt bog sich die Straße zu einer Kurve – um die Michael Agnew in der Nacht zuvor verschwunden war – und mündete dann in eine andere Straße, die in die Hügel oberhalb der Stadt führte. Eine halbe Meile fuhr man an stattlicheren Häusern auf parkähnlichen Grundstücken vorbei, dann stiegen zur Linken Rasenflächen an, die Fairways des Golfklubs. Das Theater mit Gina hatte so lange gedauert, dass am Eingang zu der Siedlung, in der Davy wohnte, schon die Teenager in ihren Sekundarschuluniformen herumstanden. Jungs mit Hochwasserhosen und Jeansjacken über den Schulpullovern; Mädchen, die Jahre älter wirkten, mit blau bepinselten Lidern und streifigem Rouge auf den blassen Wangen. Cushla blinkte und wartete, bis eine Kolonne von gepanzerten Fahrzeugen vorbeigefahren war. Sie war auf dem Weg zur Kaserne der britischen Armee weiter unten an der Straße. Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich ein Junge im schwarzen Blazer des katholischen Gymnasiums am Stadtrand von Belfast. Er sah ordentlich aus, gekämmtes Haar, polierte Schuhe. »Da ist unser Tommy«, sagte Davy, als die anderen seinen älteren Bruder schon einzukreisen begannen. Tommy wich ihnen aus, doch einer der Jungs stieß ihn mit den Händen gegen die Brust, sodass er vom Bürgersteig auf die Straße stolperte. Cushla bog um die Ecke, bremste vor ihm ab und kurbelte die Fensterscheibe herunter.

»Willst du mitfahren?«, fragte sie.

Sein Gesicht war knallrot – vor Scham, dachte sie zuerst –, aber er sagte: »Nein.« Sein Blick war finster vor Wut.

Davy beugte sich zu ihr vor. »Das perlt alles an ihm ab«, sagte er.

Sie tat so, als müsste sie den Seitenspiegel verstellen, um einen Blick auf Tommy werfen zu können. Mit hoch erhobenem Kopf ging er langsam den Bürgersteig entlang.

Davy wies ihr den Weg durch die Ansammlung beiger Häuser, vorbei an Bordsteinen, auf denen noch rote, weiße und blaue Farbreste vom letzten Sommer klebten. Das Haus der McGeowns stand ganz hinten, dahinter erhob sich ein mit Stechginster bewachsener Hang. An der Eingangstür hingen drei Kohlensäcke, alle Fenster waren mit Tüllgardinen verhüllt. Auf der niedrigen Mauer, die den Vorgarten begrenzte, stand mit verkleckster Farbe: »TAIGS RAUS!«

Davy bestand darauf, dass sie mit hineinging. Sie warteten vor der Haustür, während ein Schloss nach dem anderen entriegelt wurde. Eine schlanke Frau mit wasserstoffgebleichtem blondem Haar ließ sie ein und beugte sich vor, um Davy einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Sie war jünger, als Cushla erwartet hatte, noch in den Dreißigern, aber der Kasack aus blauorangem Nylon, den sie über ihrer Kleidung trug, ließ sie älter wirken. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst einen Mantel überziehen?«, sagte sie.

»Hab doch ’n Gedächtnis wie ’n Sieb«, sagte Davy. »Aber Miss Lavery hat mich mitgenommen.«

»Betty«, stellte seine Mutter sich vor.

»Zu Fuß wäre er schneller gewesen«, sagte Cushla, »aber nach dem ordentlichen Guss, den er heute Morgen abbekommen hat, war er noch nicht richtig trocken. Ich musste noch bei mir zu Hause vorbeifahren, und es hat länger gedauert, als ich dachte.«

»Ihrer Mummy geht’s gar nicht gut«, sagte Davy.

»Oh?«, machte Betty.

»Sie konnte kaum laufen.«

Bettys Augen weiteten sich. »Rein mit dir, Davy«, sagte sie und suchte mit den Augen die Straße ab. Als sie Tommy den Weg heraufkommen sah, wich die Anspannung in ihrem Gesicht einem Lächeln.

»Wie war dein Tag, Schatz?«, fragte Betty.

»Großartig«, sagte Tommy und reckte das Kinn kurz in Richtung Cushla.

Betty fing an, in der großen Tasche ihres Kasacks herumzukramen. »Du keuchst ja«, sagte sie.

Tommy hatte sich Davy geschnappt und stupste ihn mit den Fingern in die Rippen. »Na, wie geht’s meinem kleinen Satansbraten?«, fragte er.

Davy wand sich kreischend in seinen Armen. »Father Slattery war da.«

»Father Schlächter«, sagte Tommy.

»Pass bloß auf, du«, sagte Betty und reichte ihm ein Asthmaspray.

Er lachte kurz und atmete einen Sprühstoß ein, dann hielt er mit geschlossenen Augen die Luft an, bis seine Hände zu zittern begannen. Der Rest seines Körpers blieb ruhig, fast gelassen. Er atmete langsam aus. »Lass mich raten«, sagte er. »›Du kommst in die Hölle, weil du ein halber Heide bist und in dieser Siedlung wohnst.‹« Er imitierte die Stimme des Priesters und ließ Cushla dabei nicht aus den Augen.

»Gut getroffen«, sagte Cushla. Sie hatte Mühe, seinem Blick standzuhalten.

»Er hat uns eine Geschichte erzählt, nicht wahr, Miss? Von einem kleinen Mädchen, das mit einer Flasche geritzt wurde.«

»Ach, wirklich?«, sagte Tommy in so höhnischem Ton, dass Cushla das Gefühl hatte, auf Abstand gehen zu müssen.

»Ich muss dann mal los«, sagte sie und ärgerte sich, dass ihre Stimme auf einmal so schrill klang. »Ich komme zu spät zur Arbeit.«

Sie ging den kleinen Weg entlang, hinter ihr wurde die Tür wieder verriegelt. Vom Auto aus warf sie noch einmal einen Blick auf das Haus. Die Tüllgardine am Fenster im Erdgeschoss war beiseitegezogen worden, Tommy ließ sie nicht aus den Augen, und die Botschaft auf der Gartenmauer verstärkte ihre innere Unruhe. Er hatte seiner Mutter nicht erzählt, was auf dem Heimweg vorgefallen war. Auch Davy hatte es nicht erwähnt. Tommy hatte sich zu Recht über sie lustig gemacht. Sie hatte auf ihrem Hintern gesessen und zugelassen, dass Slattery seinen kleinen Bruder terrorisierte, mit Sticheleien, die er im selben Alter auch schon über sich hatte ergehen lassen müssen.

Eamonn erwartete sie um vier. Inzwischen war es Viertel nach. Als sie um die Kurve in ihrer Straße bog, musste sie wieder daran denken, wie ihre Mutter mit herabhängendem Unterkiefer auf der Toilette gesessen hatte. Sie parkte gegenüber der Einfahrt, stürzte ins Haus und die Treppe hinauf. Gina war bewusstlos. Im Kontrast zu ihrem vom Alkohol aufgedunsenen Gesicht wirkte ihr rechter Arm, den sie theatralisch über die Kissen auf der Betthälfte von Cushlas Vater gestreckt hatte, besorgniserregend dünn. Ihr Atem ging in röchelnden, unregelmäßigen Seufzern. Cushla würde bei ihr bleiben müssen. Sie ging nach unten und wählte die Nummer des Pubs.

Eamonn war stinksauer. »Ich hab dich nicht darum gebeten, zu arbeiten, du hast es von dir aus angeboten«, sagte er. »Leonardo ist hier und kann für dich einspringen. Ich werde ihn dabehalten müssen, obwohl er nichts taugt.«

Leonardo hieß eigentlich Terry. Er war ein arbeitsloser Maler und Tapezierer. Echtes Interesse brachte er nur an einem Aspekt seiner Arbeit auf: die Vorräte aufzufüllen, denn dabei konnte er, wenn niemand hinsah, immer ein paar Flaschen Cider mitgehen lassen.

Normalerweise spielte Cushla Ginas Alkoholkonsum herunter. Nicht, um Eamonn zu schützen – denn ihre Mutter hatte, so lange sie zurückdenken konnte, zu Anfällen trunkener Melancholie geneigt –, sondern aus einem Gefühl des Scheiterns heraus; es war ihre Aufgabe, sich um Gina zu kümmern, aber sie schaffte es nicht, dafür zu sorgen, dass sie nüchtern blieb. Dieses Mal berichtete sie ihm alles haarklein: Gina trank direkt aus der Flasche; der überquellende Aschenbecher war von Ascheskeletten ausgebrannter Silk Cuts umgeben; der Lippenstift, den sie irgendwann versucht hatte aufzutragen, klebte größtenteils an ihren Zähnen. Cushla erinnerte sich an Bettys Gesichtsausdruck, als Davy gesagt hatte, dass Gina kaum laufen konnte. Sie hatte nicht besonders überrascht ausgesehen. Denn trotz aller Anstrengungen, die Gina unternahm, um zu verheimlichen, dass sie trank – sich von der Bar fernzuhalten, das Haus nie ohne Make-up und Pelzmantel zu verlassen –, wussten die Leute Bescheid. Sie musste nach Alkohol gerochen haben: beim Friseur, beim Fleischer. Vor dem Altar, wenn sie den Mund öffnete, um die heilige Kommunion zu empfangen.

»Du übertreibst«, sagte Eamonn.

»Sie ist in einem furchtbaren Zustand«, sagte Cushla, »ich kann sie nicht allein lassen.«

»Hör zu, ich muss auflegen. Es sind schon ein paar Leute da.«

»Wer?«

»Minty ist da. Und Jimmy. Und dein Babysitter von gestern Abend.«

Cushla legte auf und sah in den Flurspiegel. Die Frau, die sie für Michael Agnew sein wollte, blickte sie an. Wütend.

3

Gerry holte sie ab. Er trug einen dreiviertellangen orangebraunen Ledermantel und so viel Moschusparfüm, das Cushla es fast sehen konnte.

»Schön hast du’s hier«, sagte er, als er die schweren Möbel und die Velourstapeten in Augenschein nahm. Cushla musste lachen. Es war offensichtlich, dass hier ein älterer Mensch wohnte.

»Das Haus gehört meiner Mutter.«

»Ach so. Ist sie da?«