Das Erbe der Alterna
Miral Faye
Impressum © 2024 Miral Faye
© 2024 Miral Faye1. AuflageAutor: Miral FayeUmschlagsgestaltung, Illustration: Miral FayeLektrorat: R. M. LorettVerlagsmarke: bookWyvern-Imprinthttps://bookwyvern-imprint.wordpress.com/Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, DeutschlandISBNPaperback 978-3-384-15730-0Hardcover 978-3-384-15731-7e-Book 978-3-384-15732-4Alle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Inhalt
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Danksagung
Autorenvita
Empfehlung
Imprint
Content Notes
Prolog
Die Geburt eines Vampirs
Stille. Dunkelheit. Finsternis. Wo war ich? Wer war ich? Wieso war es dunkel? Es wurde kalt, so kalt. Warum wurde es kalt? War ich allein?Warum war ich allein? Warum half mir niemand? Hilfe. Warum half mir niemand? Ich konnte nichts hören, nichts sehen, nichts riechen. Alles war in Finsternis gehüllt. Warum war alles so schwarz um mich herum? HILFE!
Langsam drangen dumpfe Stimmen zu mir durch. Ich hörte etwas. Endlich. Sie wurden immer klarer. Ich wurde bewegt. Ich spürte etwas. Endlich. Ich merkte, dass mich etwas berührte. Es war weich und warm. Es lag ein völlig neuartiger Geruch in der Luft. Ich konnte riechen. Was war das? Es war gut. Ich wollte es haben. Was war es, dass so gut roch? Ein Schmerz. Was war das? Es tat weh. Doch der Geruch. Er war so gut. Ich wollte es haben, das, was so gut roch. Hunger. Ich hatte Hunger, so großen und unsagbaren Hunger.
Weiß. Alles war weiß. Es blendete. Was war das?
Nach und nach verblasste es und ich begann endlich zu sehen. Das Weiß wurde weniger. Ich sah etwas. Ich spürte, dass ich die Gewalt über meinen Körper bekam.
Ich schaute in zwei warmherzige grüne Augen. Sie strahlten pures Glück aus, und das Wesen, dem diese Augen gehörten, lächelte mich sanft an. Ich drehte den Kopf etwas zur Seite, um zu erkennen, was um mich herum war.
Es war ein kleiner Raum. Ein einzelnes Bett stand hier nur, gleich gegenüber von mir. Dort lag jemand. Es war jemand wie ich, nur groß. Die Person lag dort regungslos. Blass war sie, mit dunkelbraunem Haar. Sie blickte mich an. Sah mir direkt in die Augen. Wer war sie, die sie mich mit ihren goldenen Augen ansah? Ich wollte zu ihr. Warum wollte ich zu ihr?
Die Person, die mich in den Armen hielt, trug mich zum Bett.
»Schau ihn dir an, Felicia.« Sie sprachen über mich. Ich verstand nicht, was sie sagten. Wieso konnte ich sie denn nicht verstehen?
»So bezaubernd! Die Augen hat er von dir, Ovidio.« Die Worte drangen an meine Ohren, doch sie ergaben für mich noch keinen Sinn.
»Wie willst du ihn nennen?« Sie sprachen sicher über mich, beide sahen mich an. Worum ging es? Ich streckte eine Hand nach der anderen Person aus.
Die mich tragende Person legte mich neben die andere auf das Bett. Ich versuchte nach ihr zu greifen. Nach ihren dunkelbraunen Locken, doch ich kam nicht ran. Ich war klein. Zu klein.
»Willkommen, Lucas!«, sprach die braunhaarige Person mich an und küsste mich auf die Stirn. Wieso tat sie das? Ich verstand nicht. Was war Willkommen? Was war Lucas?
Was ich aber wusste, ich gehörte zu ihr. Ich wollte zu ihr.
»Lucas«, sagte die andere Person mit den grünen Augen und nahm meine Hand in seine.
Dieses Wort. Was sagte es? War ich Lucas?
»Ein schöner Name«, sagte der Grünäugige. »Wie bist du darauf gekommen?«
»Sein ganzes Wesen strahlt von innen. Ich kann sehen, dass er gut ist. Er leuchtet hell, Ovidio. So hell, wie ich es noch bei keinem anderen sehen durfte.« Sie blickte mich liebevoll an und ich hörte ihnen zu.
Ihre Worte veränderten sich. Sie wurden klarer für mich, doch der Sinn noch nicht. Was war hell? War ein Lucas hell?
»Du hast gut gewählt, meine Geliebte.«
Lärm drang an meine Ohren.
Was war das? Wer war das? Was geschah hier?
Die Tür zu dem kleinen Raum flog auf und krachte gegen die Wand. Ich erschrak und stieß ein leises Wimmern aus.
Personen kamen rein. Viele, sehr viele. Es waren zu viele für diesen kleinen Raum. Sie standen an der Tür.
Die Braunhaarige sprang anmutig aus dem Bett, nahm mich in ihre schützenden Arme und legte mich, samt Decke, unter das Bett. Was geschah hier? Ich konnte nichts sehen. Nur die Füße von vielen Personen. Es wurde heiß und stickig im Raum. Ich bekam immer weniger Luft.
»Was wollt ihr von uns?«, fragte der Grünäugige. Worum ging es hier? Wer waren diese Personen? Was wollten sie von uns? Wieso durfte ich nicht bei dem Grünäugigen sein?
»Wir wollen, dass ihr in die Hölle zurückgeht, wo ihr hingehört.« Ein seltsames Knurren kam von dem Grünäugigen, der zuvor gesprochen hatte, und ich konnte sehen, wie er sich vor die Braunhaarige stellte. Dann ein leises Klicken und ein dumpfer Schlag erklang. Die Braunhaarige war zu Boden gesackt. Der Mann hatte sie eben noch rechtzeitig fangen können und lag mit ihr am Boden. Die Frau regte sich nicht mehr, sondern lag verkrampft in seinen Armen. Der Mann wurde von den anderen mit seltsamen Geräten bedrängt, dass er sich weder wehren noch fliehen konnte. Die Männer fingen an zu jubeln und brachen in wilder Freude aus. Eine dunkle Stimme durchschnitt den Lärm der anderen: »Los! Verbrennt sie. Sonst können wir es nicht zu Ende bringen.« Das Letzte, was ich mitbekam, waren die leisen Worte der Braunhaarigen.
»Wir lieben dich, Lucas. Vergiss das nie!« Dann wurde es heiß. So heiß, dass ich nicht wusste, wie lange ich es aushalten würde. Am Boden waren der Grünäugige und die Braunhaarige von etwas Gelborangenem erhellt. Es überzog ihre beiden Körper. Ich versuchte mich zu bewegen, doch die Decke hielt mich fest. Ich strampelte so stark, wie ich konnte, doch kam ich nicht weiter. Ich versuchte es lange. Die Männer waren bereits fort und dann war es auf einmal dunkel. Auch die Braunhaarige und der Grünäugige waren fort. Ich war allein. Das Knistern im Hintergrund erstarb und nur ein beißender Geruch umgab mich. Ansonsten war da nur Stille.
Warum war es so heiß hier? Wo waren die Beiden? Es stank um mich herum. Wo waren die anderen Personen hin? Und wieso hatten sie es hier so heiß werden lassen? Was war das gewesen? Ich hatte so unglaublichen Hunger. Warum kamen sie nicht, um mich von dieser Dunkelheit zu befreien? Die Zeit verging, doch keiner kam. Vor Erschöpfung schloss ich die Augen.
Ein Knacken ließ mich aufschrecken. Ich hörte, wie jemand kam. Waren es die Personen, die zurückkamen? Ich hoffte, dass dem nicht so wäre. Sie machten mir Angst.
Dann hörte ich, wie jemand leise und erschrocken aufatmete.
»Felicia! Ovidio! Wo seid ihr?« Das Knacken der Holzdielen kam näher und verstummte jäh, als sie den kleinen Raum betraten. Unter dem Bett hervor konnte ich eine Person ausmachen, die an der Tür stand. Eine andere Person kam nah an mir vorbei. Ich wollte mich bewegen, um auf mich aufmerksam zu machen. Konnten sie mir helfen? Was wenn nicht? Sollte ich lieber auf die Beiden von vorhin warten? Sie würden bestimmt bald kommen, um mich zu holen. Ich verstand noch immer nicht, was sie sagten, und jetzt klang es auch ganz anders.
»Benedict! Komm schnell zu mir! Ich habe sie gefunden!«, rief die Stimme neben mir.
»Oh mein Gott. Wie konnte das nur passieren?«, entgegnete die andere Stimme, die urplötzlich neben der Person neben dem Bett war.
»Nelium!«, meinte eine sachliche dritte Stimme, die noch immer in der Tür stand. »Ein Wunder, dass das Feuer nicht auf das Haus übergegriffen hat.« Ich verstand nicht, worüber sie sprachen. Was war hier los? Ich verstand das alles nicht. Wer waren die? Wer waren die anderen? Zu wem gehörte ich?
»Riecht ihr das? Hier ist noch jemand!« Der eine Mann, ganz nah bei mir, hatte mich entdeckt. Er kniete sich hin, hob mich unter dem Bett hervor und nahm mich in seinen Arm. Das Bett war über mir in sich zusammengesackt und hatte die Sicht versperrt. Endlich konnte ich wieder alles sehen. Doch der Raum war zur Hälfte weg. Schwarze Spuren waren überall an den übrig gebliebenen Wänden. Irgendwas hatte hier alles um mich zerstört. Der beißende Geruch stand noch immer in der Luft. Was war das?
»Sie konnten ihr Neugeborenes retten«, flüsterte der zweite Mann neben uns hoffnungsvoll.
»Wie schön«, sagte die kalte dritte Stimme ohne jede Spur von Freude.
»Wir müssen ihn mitnehmen. Wir können ihn hier nicht allein zurücklassen«, meinte der Mann, der mich entdeckt hatte. Beide mir nahen Männer sahen mich an. Sie hatten eine blasse Haut und eine ähnliche Gesichtsform.
»Natürlich nicht«, bestätigte der Zweite. »Aber seht nur, Brüder. Er ist ganz schwach. Wir müssen schnell handeln.« Plötzlich war der andere Geruch wieder da. So gut und köstlich. Was war es? Wo kam es auf einmal her? Der zweite Mann hielt mir seinen Arm hin. Etwas rann daran herab und tropfte zu Boden. Der Geruch wurde immer stärker. Ich hatte solchen Hunger. Was war das, was er mir da zeigte? Duftete das so gut? Ich reckte mich vor und der Duft wurde immer intensiver. Lockte mich zu sich. Der Hunger war so groß. Was sollte ich machen? Der Mann zog den Arm ein wenig weg. Was sollte ich nur tun? Dann führte er ihn sich zum Mund und biss hinein. Erneut lief das Rot seinen Arm hinab, den er mir wieder hinhielt. Sollte ich auch da reinbeißen? Funktionierte das so? Würde das meinen Hunger stillen? Ohne weiter darüber nachzudenken, biss ich in seinen Arm. Das Rot floss in meinen Mund. Es war gut, so unbeschreiblich gut. Ich trank und trank, konnte nicht mehr aufhören. Die Gier ergriff mich. Lange trank ich immer weiter, bis ich merkte, wie der Hunger verebbte. Ich löste mich von dem Mann und kuschelte mich zurück in die Decke, in die ich gewickelt war.
»Was für einen Hunger der Kleine gehabt haben muss«, meinte der Mann, der mich immer noch hielt.
»Wir müssen hier weg, bevor wir entdeckt werden«, entschied der Dritte und war schon halb zur Tür hinaus. Die anderen Beiden folgten ihm mit mir auf dem Arm. Würde ich den Grünäugigen und die Braunhaarige je wiedersehen?
Kapitel 1
Ein unnormaler Alltag
Wie Lärm stach das Rascheln aus der Ruhe hervor. Es war das Gras unter meinen Füßen, dass dieses Geräusch verursachte und in der mich umgebenden Stille war es unnatürlich.
Die Dunkelheit der Nacht wurde lediglich von dem sanften Schein des Mondes und einigen entfernten Laternen erhellt. Mir machte die Finsternis nichts aus. Meine Augen waren in der Lage, auch dabei kleinste Details sehen zu können. Das war ein Vorteil. Menschen waren da klar im Nachteil, denn sie waren in der Schwärze hilflos und verirrt.
Hier hatte ich meine Ruhe, die ich über die vielen Jahre hinweg zu schätzen gelernt hatte. Vielleicht lag das auch vor allem daran, dass ich mitten in der Nacht hier allein war.
Das Rascheln und Knistern war jetzt etwas leiser geworden, als ich in die Nähe der Bäume kam. Mit meinem Blick folgte ich dem gewaltigen Stamm einer Kiefer hinauf zu ihrer Spitze. Zahlreiche Äste verbargen diese aber vor mir.
Es war nur eine kleine und klägliche Ansammlung von Bäumen, die kaum als Wald zu bezeichnen war. Sie standen in einigem Abstand zueinander, dass man sich hier bei Bedarf vor ungewollten Blicken verbergen konnte. Es war zwar nicht häufig notwendig, doch auch ich hatte mich bereits das ein oder andere Mal in dem Dunkel hinter einem Stamm oder im Geäst einer der Kiefern verborgen. Jetzt aber stand ich nur dort und sah auf den Park hinaus.
Eilig schaute ich auf meine Armbanduhr. Ich durfte die Uhrzeit nicht aus den Augen verlieren. Noch war es aber früh genug und ich beschloss ein wenig mehr Zeit hier im Park zu verbringen.
Der Park selbst lag etwas außerhalb der kleinen italienischen Stadt, die mein Zuhause war. Lange Jahre hatte ich in London gelebt, doch irgendwann war der Tag gekommen, da zog es mich in mein Geburtsland zurück. Es war damals ein Gefühl gewesen, das eine bedeutsame und einschneidende Entscheidung mit sich brachte. Diesen Schritt bereute ich nicht, auch wenn seitdem vieles anders war. Ich war anders.
Den Schutz der Bäume verlassend, schlenderte ich einen schmalen Kiesweg entlang, in Richtung des kleinen Sees, der etwa mittig im Park zu finden war. Ein seichter Wind wehte und ich genoss die Stille, die mich zur Ruhe kommen ließ.
Nur der Schein der Laternen, die alle paar Meter am Rand des Weges standen, spendete etwas Licht. Nicht, dass ich es brauchte. Ganz im Gegenteil. In der Dunkelheit ergriff mich ein Gefühl von innerem Frieden. Als wäre ich erst da in der Lage, wirklich tief durchatmen und ich selbst sein zu können.
Um mich für die nächsten Stunden zu wappnen, hatte ich kurzum beschlossen, so viel dieses Gefühls wie möglich in mir aufzunehmen. Es würde anstrengend werden.
Ich seufzte kaum vernehmlich. Es hatte sich einiges mit meinem Umzug geändert, aber leider nicht alles, was ich mir gewünscht hatte. Am Ende jeder Woche wurde von mir verlangt, nach London zurückzukehren. Zurück zu meiner Familie und vor allem zurück zu meinen Herrschern. Wobei das Wort Familie meine Zugehörigkeit zu einem Clan in viel zu liebevoller Art umschrieb. Alterna war der Name meiner Familie. Wir waren eine von insgesamt sechs. Was die Alterna so besonders machte, war die Nähe zu den Herrschern. Es war demnach eine Ehre, der Familie der Alterna zugehörig zu sein. Nicht, dass ich mich darüber beschweren wollte, doch es war für mich mehr ein Arbeitgeber als eine Familie. Beklagen sollte ich mich definitiv nicht. Es war sehr undankbar von mir und ich wusste ebenso, dass wir Alterna-Mitglieder von allen anderen stets beneidet wurden.
Gabriel Alterna war vor vielen Äonen als erster alleiniger Herrscher von allen Vampiren anerkannt worden. Über die Jahrhunderte hinweg waren es nur seine Nachkommen, die einen Anspruch auf den Thron innehatten.
Mir persönlich konnte dieser Umstand egal sein. Zwar war ich als Vampir geboren, gehörte aber keiner namhaften Blutlinie an. Meine Eltern hatte ich auch nie kennengelernt, sondern war im Schutz der Alterna aufgewachsen. Allein deshalb sollte ich niemals undankbar sein. Die Herrscher höchstpersönlich hatten mich in ihrer ehrwürdigen Familie aufgenommen und mich wie ihr eigenes Kind behandelt. Dieses Privileg hatte ich meinen Eltern zu verdanken. Sie waren eng mit unseren Herrschern befreundet gewesen. Nach deren Tod nahmen es sich die drei Brüder Benedict, Darius und Samuel zur Aufgabe, mir ein Leben und ein Heim zu schenken.
Ein Zuhause, aus dem ich ausgebrochen war. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie deshalb darauf bestanden, mich jede Woche zu sich zu beordern. Offiziell war es, damit ich ihnen über die aktuelle Lage in meinem Schutzbezirk berichten konnte. Bei meinem Umzug nach Italien ernannten mich die Brüder zum Kundschafter dieser Stadt. Es war meine Aufgabe ein Auge auf die hier ansässigen Vampire zu haben und diesen auch für Anliegen und Fragen zur Verfügung zu stehen. Es war ein recht simpler Auftrag, der aber stets seine Herausforderungen mit sich brachte. Dennoch hatte ich es damals akzeptiert. Andernfalls hätten sie vielleicht darauf bestanden, dass ich in London zu bleiben hatte.
So war es nun also. Ein endgültiges Entkommen war nicht möglich. Ich musste regelmäßig nach London fliegen. Das ein oder andere Mal hatte ich bereits versucht einen Vorstoß in Richtung von Telefon, E-Mail und Videochat gewagt. Vergeblich. Es lag nicht daran, dass sie diese Dinge nicht kannten. Keineswegs. Samuel selbst war ein Technikfanatiker. Er wurde aber von seinen Brüdern dahingehend etwas zurückgehalten, denn Darius war eher traditio-neller. In diesem Sinne waren Briefe in Kombination mit Brieftauben und Postreitern zu verstehen, dachte ich mir zynisch. Dabei ärgerte mich vielmehr, dass nur mir allein diese regelmäßige Pflicht auferlegt worden war. Kundschafter der Familie Alterna gab es über die gesamte Welt verstreut. Jedes Gebiet war aufgeteilt, manchmal sogar doppelt, um das Leben der Vampire unter den Sterblichen in ihrer Unauffälligkeit zu unterstützen und auch das Zusammenleben zwischen den Clans zu koordinieren.
Langsam schlenderte ich zum nahegelegenen Ufer des Sees. Inmitten des Gewässers war eine Insel mit einem alten Pavillon und tagsüber befanden sich hier immer einige Menschen, die spazieren gingen.
Leise raschelte das Gras unter meinen Füßen. Wie ein dunkler Spiegel lag der kleine See vor mir. Er strahlte in der Dunkelheit eine unvergleichliche Ruhe aus, was mich fast jede Nacht erneut hier hin und in seinen Bann zog.
Die wenigen Momente, die ich noch für mich hatte, nutzte ich daher und setzte mich an das Ufer. In Gedanken versunken starrte ich in das klare stille Wasser.
Ich sah die Umrisse meiner Gestalt als Spiegelbild. Der Mond spendete mir genug Licht, um nach und nach mehrere Details in meinem Gesicht erkennen zu können. Dunkelblaue Augen blickten mir aus einem blassen Gesicht entgegen. Der seichte Wind wehte mir die zurückgestrichenen mittelblonden Haare nach vorne. Ich sah aus wie ein herkömmlicher Mensch, wären da nicht die Augen. Sie hatten die Fähigkeit, mich zu verraten und meine harmlose Gestalt Lügen zu strafen.
Leider konnte ich den Anblick des friedvollen Gewässers vor meinen Füßen nicht lange genießen. Die Zeit verstrich stets rasant, wenn ich mich hier eingefunden hatte.
Seufzend blickte ich erneut auf meine Armbanduhr. Es war jetzt so weit, dass ich aufbrechen musste. In bereits vier Stunden wurde ich in London erwartet. Widerstrebt stand ich vom Ufer auf und setzte meinen Weg fort. Dabei steuerte ich zielgerichtet auf den Ausgang des Parks zu. Vorausschauend war ich heute nicht zu Fuß gegangen. Mein Wagen parkte am Straßenrand, der zur Parkanlage führte. Ich stieg ein und machte mich auf den Weg zum Flughafen.
Es dauerte keine drei Stunden, da war ich schon in London und stand vor den hohen Toren des gewaltigen Schlosses, in dem die obersten Herrscher residierten.
Das Schloss stand weit abseits der Stadt und grenzte an einen Wald, in dem ich früher oftmals unterwegs gewesen war. Das majestätische, graue Gemäuer erhob sich aus dem umliegenden Grün empor. Hier draußen waren wir vor der Anwesenheit der restlichen Menschen geschützt und blieben weitestgehend unbeobachtet. Nicht ohne Grund war der Hauptsitz unserer Herrscherfamilie hier.
Wie immer öffneten sich die Tore von allein, wenn jemand näherkam. Nicht, dass es jemanden wie uns aufgehalten hätte, wären sie geschlossen geblieben.
Ich folgte dem langen Korridor in das Innere des Schlosses. Die hohen Wände ragten neben mir auf und meine Schritte hallten mir voraus. Dieses Schloss war im Zeitalter der Romanik gebaut worden und hatte dementsprechende Gestaltungselemente der Wände, Türen und vor allem der Decken. Alles war in hellem Stein gebaut und der Boden war aus weißem Marmor. Von dem langen Flur gingen in gleichmäßigen Abständen weitere, hinter Türen verschlossene Gänge und Räume ab. Am Ende gelangte ich in die weite Eingangshalle. An der linken Seite führte eine breite Marmortreppe in einem linksseitigen Verlauf in die anderen Stockwerke, in dem jedes Mitglied der Familie ein eigenes Zimmer besaß. Geradeaus waren die großen Türen zum Hauptsaal und rechts daneben ging ein weiterer Korridor ab, der tiefer in das Schlossinnere führte.
Vor mir waren die massiven Flügeltüren, auf die ich direkt zuging. Die aus Eichenholz gemachten Türen, die in den Hauptsaal führten, waren mit einem Greif-Ornament aus Silber beschlagen. Es war das Wappentier der Alterna, welches dort den Eingang zum Thronsaal dekorierte.
»Schön dich hier zu sehen, Lucas!« Eine Frau mit schwarzem, schulterlangem Haar und goldenen Augen trat aus dem Schatten einer Säule. In meine Gedanken versunken, hatte ich nicht bemerkt, dass sie anwesend war.
Ich stoppte und blickte ihr entgegen. Sie neigte dezent den Kopf und schien mich zu mustern. Als Erwiderung ihrer Begrüßung, nickte ich ihr lediglich zu. Elena war, wie jeder andere Alterna, mit einem Talent beehrt, das bei ihr normalerweise eine Aufgabe als Kundschafterin gerechtfertigt hätte. Dennoch schien sie hier zufrieden zu sein, auch wenn es weit unter ihrem Potenzial lag. Doch wer war ich darüber zu urteilen?
»Sind die Herrscher im Saal anzutreffen?«, fragte ich sie geradewegs. Als deren Bedienstete war es ihre Aufgabe, über das Kommen und Gehen der Herrscher informiert zu sein. Sie hatte sich um deren Wünsche zu kümmern und war auch dafür da, Gäste zu empfangen, ehe sie vor die Herrscher traten. Es war also nichts Verwunderliches, dass ich hier auf sie oder eine der beiden anderen Damen traf.
»Ja, geh nur rein. Sie warten schon auf dich.« Sie schmunzelte und zog sich mit diesen Worten wieder in den Schatten hinter der Säule zurück. Ich ging durch die Halle zum Saal, klopfte kurz und öffnete dann auf ein Zeichen die Tür.
Im Hauptsaal war es still.
Der Saal war komplett aus weißem Marmor und bildete einen halbrunden Raum. Am äußeren Rand säumten hohe Säulen die Wände, die weit hinauf ragten. Dort oben waren ringsherum halbhohe Fenster eingelassen, die als einzige natürliche Lichtquelle dienten. Daher lag der Raum stets im Halbdunkel und musste von zahlreichen Kerzen in ihren Wandhalterungen beleuchtet werden. Oberhalb der Fenster setzte eine hohe Dachkuppel an.
Meine Schritte hallten bis in die hohe Kuppel wider. Auch wenn ich hier aufgewachsen war, durchdrang mich jedes Mal ein Gefühl von Ehrfurcht, wenn ich in diesem Saal war. Der Blick hinauf in die hohe Kuppel erinnerte mich daran, welche Position ich innehatte und wem ich hier gegenübertrat. Im Vergleich zu dem Saal hatte ich das Gefühl jung, klein und unbedeutend zu sein.
Den Saal zu durchqueren, bedurfte mehrerer Meter, ehe man auf eine Anhöhe zukam. Es war eine Art marmornes Podest, das aus drei Stufen bestand, die nach außen hin eine kurze Treppe ergaben. Diese Anhöhe war fast zehn Meter breit, dass dort die drei Throne in angemessenen Abständen zueinander Platz fanden.
Während ich vor die drei obersten Herrscher trat, beobachteten mich Benedict, Darius und Samuel von deren Thronen aus. Die Blicke von allen Dreien lagen auf mir.
Ich blieb vor ihnen stehen und verneigte mich tief. Meine Natur brachte mich von ganz allein dazu, ihnen die nötige Ehrerbietung entgegenzubringen.
»Berichte uns! Gab es Probleme in dieser Woche?« Benedict war aufgestanden und eine Strähne seines kurzen schwarzen Haars, fiel ihm nach vorn, als er auf mich herabblickte. Seine Augen hatten einen dunklen Braunton, der mir in all der Zeit so vertraut geworden war. Auch wenn die drei Brüder meine Herrscher waren, waren sie auch meine engste Familie. Sie hatten mich vor vielen Jahren bei sich aufgenommen und aufgezogen. Benedict war mir immer wie ein Vater gewesen. Dennoch hatte mein Aufwachsen dazu geführt, dass sie mich irgendwann nicht mehr anders als ein anderes Mitglied der Alterna behandeln konnten. So war auch ich zu den offiziellen Verhaltensnormen ihnen gegenüber verpflichtet.
»Nein, Meister. Keiner aus der mir zugewiesenen Teilfamilie hat es gewagt die Regeln zu brechen. Jedoch hat mich eine junge Dame gefragt, ob es erlaubt für sie sei tagsüber rauszugehen. Ich sagte ihr bereits, dass sie es dürfe, aber sie bestand darauf, dass ich die Frage weiterleite. Sie ist immer sehr vorsichtig und hält sich an alle Regeln. Sie ist zwar noch recht jung, aber ist nie auffällig geworden«, berichtete ich und hatte sofort Samuels Aufmerksamkeit, denn er schaute auf und grinste mich verschmitzt an.
»Luc, du alter Herzensbrecher! Hast‘ dir doch endlich eine Kandidatin rausgepickt. Da werden die anderen Mädels aber enttäuscht sein, dass du jetzt vom Markt bist.« Ich blickte ihn grimmig an, während er vor Lachen fast vom Thron fiel. Wie er aus meinem Satz solch eine Feststellung ziehen konnte, erschloss sich mir nicht. Samuel liebte es aber, mich zu necken. Er fand es unverständlich, dass ich Einzelgänger bleiben wollte. Seine Reaktion hatte ich bereits vorausgeahnt, ehe ich mich überwand, diese Frage weiterzugeben. Es war lächerlich. Warum sollten sich Vampire tagsüber verstecken? Immerhin gingen wir im Tageslicht nicht in Flammen auf. Dennoch tat ich meine Pflicht und erfüllte ihre Bitte.
»Es ist gut zu hören, dass es keine Komplikationen gibt. Der Frau kannst du ausrichten, dass es keine Regel gibt, die es ihr verbietet am Tag nach draußen zugehen. Sie soll nur aufpassen und kein Aufsehen erregen«, sagte Darius geradewegs, ohne auf Samuel zu achten. Darius‘ Blick lag ausdruckslos auf mir und er verzog keine Miene. Ohne ein weiteres Wort erhob er sich und drehte sich weg. Die Bewegung war so schnell und schwungvoll, dass dabei seine mittellangen schwarzen Haare mit der einen silbernen Strähne und sein Umhang um ihn herumwirbelten. Eiligen Schrittes verließ er den Saal durch die Tür hinter ihren Thronen.
Samuel, der bis gerade gelacht hatte, schaute ihm nur verdutzt hinterher und schüttelte den Kopf, als ob er irgendetwas aus seinem Kopf vertreiben wollte. Benedict schenkte ihm einen bedeutsamen Blick und Samuel nickte. Auch er verschwand mit einem letzten knappen Zwinkern zu mir durch die Hintertür aus dem Saal. Nur Benedict blieb dort. Es war so, als wüssten die beiden, dass Benedict allein mit mir sprechen wollte. Anders konnte ich dieses fluchtartige Verlassen des Saals von beiden nicht deuten.
Im Saal war es wieder still und Benedict sah mich an. Er kam nun zu mir, legte mir eine Hand auf die Schulter und seine Stimme war sanfter. Er stand mir gegenüber, als würden wir dieses eine Gespräch auf Augenhöhe führen müssen.
»Samuel hat in gewisser Hinsicht Recht. Du solltest dir langsam mal eine Gefährtin suchen. Es kann nicht gut sein so lang allein zu sein. Du weißt genau, was die Regeln besagen. Jeder gebürtige Vampir hat nach seinem Entwicklungsstillstand 25 Jahre Zeit, sich einen Gefährten zu suchen und das ist definitiv lange genug. Ich rate dir als Freund es zu tun. Du hast die Frist schon viel zu lange überzogen und ich weiß nicht, wie ich Darius noch hinhalten kann. Du kannst hören, dass meine Absichten ehrenwert sind. Du kannst nicht ewig allein bleiben. Die Regel gibt es nun mal auch zu einem gewissen Zweck. Wir haben dir schon so viel Aufschub gegeben, aber ich kann nicht mehr viel länger für dich eine Ausnahme machen. Und wenn es nur jemand ist, mit dem du gut auskommst. Du weißt, wie wichtig es ist unsere reinblütigen Linien zu erhalten.« Benedict sah mich eindringlich an. Diese eine Vorschrift hatte mich nicht einen Tag lang in Ruhe gelassen. Der Schutz der Vampirspezies und auch die Absicherung der adeligen Blutlinien waren essenziell. Das konnte ich verstehen. Doch warum war es gerade bei mir wichtig? Ich war ein niemand und nicht wichtig. Die drei Brüder Benedict, Darius und Samuel mussten natürlich deren Abstammungslinie weiterführen, damit die Herrschaft der Alterna unangefochten blieb und dass diese Gesellschaftsform weiterhin Bestand haben würde. Doch was hatte das mit mir zu tun? Zwar war ich so geboren worden, entstammte aber keiner der Urfamilien, soweit es mir bewusst war. Mir war nicht viel über meine Herkunft bekannt, aber Benedict und Samuel hatten meine Eltern viele Jahre lang gekannt. Sie hätten es mir mitgeteilt, wenn ich ein Nachkomme einer der sechs Urfamilien gewesen wäre.
»Verzeiht mir, Meister. Mir liegt nichts daran unsere altehrwürdigen Regeln zu hinterfragen, doch ihr wisst genau, dass ich mich dem nicht beugen werde. Soweit es mich betrifft, sehe ich keinen Nutzen für mich und auch keinen Verlust für unsere Gesellschaft.« Ich sah zu ihm. Ein Lächeln huschte über seine Lippen.
»Mein lieber Lucas. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Eines Tages wirst du verstehen. Erst eine Partnerschaft mit einem anderen unserer Art, macht uns vollständig.« Er seufzte und es war mir, als würde ich eine Art Trauer in seinem Blick sehen. Sein Blick war einen Augenblick lang zu Boden gerichtet und seine Mundwinkel entgleisten ihm kurz. Sein ausdrucksloses Gesicht machte mir Sorgen. Mein Unwille konnte niemals so schwerwiegend für ihn sein, dass es ihn so trübsinnig stimmte. Es war eine Erfahrung, die ich nicht machen würde. Das war aber nicht tragisch. Ich hatte auch keine Ahnung, wie es war betrunken zu sein oder wie sich Schlaf anfühlte. Benedicts Blick ruhte dennoch weiter auf mir, bis es an der Tür klopfte.
Mit einem einfachem »Ja, bitte?«, bat er denjenigen herein und Elena betrat daraufhin den Saal.
»Meister. Javier ist eben eingetroffen und bittet um eine Audienz bei Euch.« Sie lächelte mich wie immer freundschaftlich an. Sie war eine der wenigen Frauen, die nicht sofort nervig wurden, sobald sie in meiner Nähe war. Sie war eine der wenigen Frauen, mit der ich befreundet sein konnte, ohne bei ihr irgendwelche Hintergedanken zu bemerken.
Benedict sah Elenas Blick und beobachtete meine Reaktion. Als ich jedoch nur zurücksah und ihr kurz zunickte, seufzte er und schaute wieder zu ihr.
»Lass ihn eintreten«, entschied er. Er gab mir ein Zeichen, woraufhin ich mich vor ihm verbeugte und zusammen mit Elena den Saal verließ.
Draußen vor den Türen kam uns direkt Javier entgegen. Er war etwas kleiner als ich und hatte kurze braune Haare, die er locker nach hinten gegelt trug. Er machte den gleichen Job, wie ich, nur in Sevilla. Wir kannten uns schon einige Jahre.
»Du kannst eintreten«, gab Elena Javier weiter, der sich kurz bedankte und den Saal betrat. Die Tür schloss sich hinter ihm mit einem dumpfen Knall.
Elena stellte sich zurück an die Wand, wo nun auch Coraline und Vincent bei ihr waren. Coras Blick war an Vincent gerichtet und sie spielte mit einer ihrer roten lockigen Haarsträhnen, während sie sich unterhielten. Vincent stand dort mit den Händen in den Hosentaschen, sah aber direkt zu mir herüber, als ich aus dem Saal kam.
»Hey, Lucas! Wie geht’s?« Vincent kam mit halb erhobener Hand auf mich zu. Wie immer klatschte ich ihn ab. Das war so etwas wie ein Begrüßungsritual. Regelmäßig ließ er sich ein Neues einfallen, damit wir im Trend blieben, wie er es ausdrückte. In den 80ern war er sogar so weit gegangen, dass er, immer wenn er mich sah, auf mich zu gerannt kam, mich umarmt und während er sich drehte, mich um ihn herumgeschleudert hatte. In dieser Zeit war ich ihm hauptsächlich aus dem Weg gegangen. Ich hatte aber das und noch viele andere Arten, an die ich mich gar nicht erinnern wollte, über mich ergehen lassen, denn eigentlich war er ansonsten ein sehr netter Zeitgenosse und wir hatten uns über viele Jahre hinweg miteinander angefreundet. Er war insgesamt unheimlich gesprächig und hatte viel Humor. Vor Jahren hatte ich gegen ihn bei einer Wette verloren, sodass er jetzt sogar eine kleine Ampulle mit meinem Blut besaß. Er wollte sie als Wertanlage behalten. Anders als ich war Vincent nicht als Vampir geboren worden, sondern wurde dazu gemacht. Seine Blutlinie war also alles andere als rein.
Die Reinheit im Blut wurde daran gemessen, wie viel Menschenblut in einem steckte. Je weniger Menschenblut in einem Stammbaum vorkam, desto reiner war das Blut der genetischen Familie. Wegen dieser Blutreglung stand die biologische Familie Alterna auch ganz oben in der Rangliste. Es wurde erzählt, dass sie sich bis zur 9. Generation nach Gabriel nur untereinander fortgepflanzt hatten, um diese Reinheit zu erhalten. Das mochte sich für einen Menschen unvorstellbar anhören, aber so etwas war nicht selten unter meinesgleichen.
Deswegen erhoffte sich Vincent vielleicht mein Blut für einen lukrativen Gegenwert verkaufen zu können. Viele der verwandelten Vampire waren bereit, ein Vermögen zu zahlen, wenn es um den Erwerb von Blut eines geborenen Vampirs ging. Was sie damit taten, wollte ich mir nicht vorstellen müssen. Ich hoffte, dass sie es nur für den Geschmack tranken.
Insgesamt war Vincent das komplette Gegenteil von mir. Er war es, der hauptsächlich immer am Reden war und ich hörte zu. Es war angenehm, ihm bei seiner Plapperei zuzuhören, und es machte mir Freude, dass er fortwährend so positiv gelaunt war. Wahrscheinlich hatte ich ihn deswegen so gerne in meiner Nähe, da ich selbst eher weniger Amüsantes in meinem Leben zu verzeichnen hatte. Er lenkte mich meist wirkungsvoll ab. Er war auch der Einzige in meinem Umfeld, den es nie gestört hatte, dass ich ein Einzelgänger war. Auch er hatte keine Gefährtin. In diesem Sinne waren wir zurzeit also in einer ähnlichen Situation, bis auf die Tatsache, dass er als verwandelter Vampir nicht dazu genötigt werden würde. Vincent tolerierte aber offenbar als Einziger, dass ich nicht permanent damit gestört werden wollte, mir eine Gefährtin suchen zu müssen. Er akzeptierte das.
»Gut. Und selbst?«, erwiderte ich. Er grinste mich an. Das konnte nichts Gutes heißen.
»Ach, auch ganz gut! Warst du schon mal in Las Vegas?! Du musst unbedingt mal dahin. Die Stadt ist unglaublich! Alles leuchtet in bunten, grellen Farben, sodass man selbst nachts denkt es sei helllichter Tag«, fing er an zu plaudern. Vincent war hier in London Kundschafter. Unsere Hauptaufgabe war es sicherzustellen, dass in den Gebieten, die uns zugewiesen wurden, keiner gegen die herrschenden Regeln verstieß. Benedict bezeichnete uns beschönigend als Kundschafter, doch wir kannten alle die dahinter verborgene Wahrheit. Wir waren deren Spione. Die Augen und Ohren der Herrscher, die Polizei unserer Art. Wenn doch etwas vorfiel, waren wir dafür verantwortlich, über diejenigen zu richten. Er machte also dieselbe Arbeit hier in der Stadt, wie ich bei mir zu Hause, doch es war weitaus anspruchsloser, wie er immer wieder berichtete. Da sich der Hauptsitz unserer Familie in der Stadt befand, waren die Vampire praktisch handzahm und keiner wagte auch nur ein Vergehen zu begehen.
Jeder Kundschafter war eigens für diese Aufgabe ausgewählt worden und nicht jeder Vampir war geeignet dazu. Es waren nur Vampire, deren spezielle Fähigkeiten einen Vorteil dabei brachten. Dies war unentbehrlich. Die Kundschafter durften bei der Ausübung ihrer Aufgabe nicht einem anderen Vampir unterlegen sein. Vincent konnte zum Beispiel bei Blickkontakt Gedanken lesen. Es waren zum Glück nicht alle Gedanken. Nur die, die einem in dem Moment durch den Kopf gingen. Er konnte nicht das gesamte Wesen einer Person erfassen. Dazu war er nicht in der Lage. Meine Fähigkeit hingegen, war kaum der Rede wert. Ich war mir auch nicht sicher, was mich zum Kundschafter qualifizierte, doch Benedict hatte darauf bestanden, als ich nach Italien zog. Meine Vermutung war, dass er mich eher unter seiner ständigen Kontrolle haben wollte, nachdem ich versucht hatte, mich ihm zu entziehen.
Meine Fähigkeit war eher ein Gespür. Ich konnte die wahren Absichten einer Person erahnen. Darius behauptete zumindest, dies sei meine Fähigkeit. Mir kam es vielmehr wie ein sehr stark ausgeprägtes Einschätzungsvermögen vor. Es konnte mich also niemand täuschen, jedoch versuchten sie es trotzdem immer wieder. Vor allem die Neulinge. Dennoch hatte dieses Gespür als Entscheidungsgrundlage gedient, mir die Aufgabe eines Kundschafters anzuvertrauen, die ich wohl auch nicht allzu miserabel erledigte, wenn sich noch keiner beschwert hatte.
Cora arbeitete zusammen mit Elena hier im Schloss. Beide hatten die Aufgabe, sich als persönliche Assistentinnen und Sekretärinnen der Herrscher um deren Wünsche zu kümmern. Dazu gehörte auch die offizielle Ankündigung von Gästen und das Aufhalten von Türen. Es war eher schlichter und doch hatte sich Coraline für diese Aufgabe entschieden, obwohl auch sie eine einzigartige Fähigkeit hatte. Sie konnte die Gedanken von anderen verändern und konnte somit immer vorher verhindern, dass jemand etwas Unüberlegtes tat. Um ehrlich zu sein, hatte ich einen gesunden Respekt vor ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit. Genaugenommen konnte man nie wissen, wann sie ihre Fähigkeit anwandte, aber bisher hatte sie mir noch keinen ihrer Gedanken aufgezwängt… soweit ich wusste.
Ich ließ die Drei allein zurück und lief zum Flughafen. Es war zeitaufwendig jede Woche nach London fliegen zu müssen, dennoch hatte es etwas Gutes. Deshalb hatte ich inzwischen meinen eigenen Privatjet. Sich jede Woche an dem Tag, an dem meine Toleranz gegenüber Blut am geringsten war, sich mit Menschen innerhalb eines engen Passagierflugzeugs zu befinden, war auf Dauer sehr riskant. Ich hatte mich zwar genug im Griff, doch es musste mir auch nur einmal eine Sekunde lang misslingen, mich zurückzuhalten und der Schaden wäre nicht wieder gutzumachen. Natürlich war auch die dadurch vermiedene Selbstfolter damals ein schlagkräftiges Argument für die Investition gewesen.
Es war nachts, daher konnte ich mich etwas freier fortbewegen. Schnell hatte ich also den Flughafen erreicht und trat auf den Jet zu.
Die weiße Farbe war gleichmäßig vom Heck bis zum sich leicht verjüngtem Bug aufgetragen und stand somit im Kontrast zu den tiefschwarz gefärbten Front- und Fensterscheiben. Unterbrochen wurde die Farbe nur einmal, nämlich am Heck, wo groß und gut sichtbar das Vampirwappen in der Darstellung eines Pentagramms prangte.
Geschwind lief ich die Treppe zum Einstieg hoch. Innen ließ ich die Treppe per Knopfdruck einfahren und klopfte dreimal kurz an die Kabinentür des Cockpits.
Das Flugzeug war innen sehr hell eingerichtet, darauf hatte ich bei dem Kauf besonderen Wert gelegt. Es sollte offen und ansprechend aussehen.
Ich zog meine Lederjacke aus, warf sie auf einen der Sitze gegenüber und setzte mich selbst auf einen der anderen Sitze. Kurz darauf hoben wir auch schon ab.
Die Stunden gingen ineinander über, während ich ausdruckslos aus dem Fenster blickte.
Zuhause angekommen schloss ich die Tür auf und ging ins Wohnzimmer. Die Jacke legte ich über die Sofalehne und ging dann die Treppe hinauf in die zweite Etage. Dort lag am Ende eines schmalen Flurs mein Schlafzimmer. Es war ein behagliches Zimmer. Nicht zu klein, aber auch nicht zu groß und es hatte einen Balkon, von dem aus man auf die drei Meter tiefer gelegene Straße, die zu diesem Haus führte, springen konnte. Innen stand ein langes Sofa, ein Bett, das ich nie genutzt hatte, ein Kleiderschrank, Bücherregale und ein Fernseher mit Stereoanlage. Im eigentlichen Sinne nichts allzu Besonderes, doch trotzdem fand ich es recht gemütlich. Natürlich hätte ich mir eine eigene Villa kaufen können, sowie es einige meiner Art machten, denn Geld war bei uns kein Problem. Doch die Vorstellung, in einem riesigen Haus ganz allein zu wohnen, fand ich überhaupt nicht angenehm. Dieses Haus war vergleichsweise klein und doch fühlte ich mich in Momenten wie diesen einsam. Vielleicht hatte Benedict Recht, doch was sollte ich denn mit einer Frau anfangen, für die ich mich überhaupt nicht erwärmte? Da blieb ich eher allein.
Viele rieten mir, dass ich mir eine Gefährtin suchen sollte und wie großartig doch die Liebe sei, doch ich spürte sie nicht. Natürlich war da dieses Freundschaftsgefühl zu Vincent, Samuel und auch zu der ein oder anderen Frau, wenn sie es nicht gerade zerstörte, indem sie mir zu nahetrat. Aber ansonsten, war da nichts. Kein Verlangen mehr Zeit mit einer bestimmten Frau zu verbringen. Kein Bedürfnis jemanden näher an mich heran und an meinem Leben, meinen Gedanken und Gefühlen teilhabenzulassen.
In solchen Momenten fragte ich mich: Was tat man, wenn man unsterblich war, aber dieses Leben dennoch keinen Sinn ergab?! Ich seufzte, als ich die Antwort fand. Man lebte einfach weiter. Egal ob es etwas brachte oder nicht. Es könnte sich immerhin noch ändern. Doch darauf vertraute ich nicht. Es war immer so gewesen seit… damals.
»Stopp mit diesen Gedanken«, mahnte ich mich selbst lautlos. Es war Zeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zügig ging ich zur Kommode und suchte mir einen Satz alter Kleidung raus, um sie anzuziehen. Danach verließ ich mein Zimmer, legte noch Portemonnaie und andere Wertsachen in die Kommode an der Haustür, schnappte mir meinen Hausschlüssel und ging nach draußen.
Ich musste mich beeilen. Die Nacht war bald vorbei, denn die Reise nach London hatte viel Zeit in Anspruch genommen.
In dem Wald hinter meinem Haus wartete, wie jeden Sonntag, meine Mahlzeit auf mich, dass ich mich schnellstmöglich auf den Weg dorthin machte.
Warum gerade im Wald mein Jagdgebiet zu finden war, lag daran, dass ich mit mir selbst im Krieg war. Meine Vernunft kämpfte gegen mein Verlangen, das ich immer als das Monster in mir bezeichnete. Etwa 200 Jahre lang hatte ich Menschen erbarmungslos gemordet, nur um meinen Durst zu stillen. Um die Gedanken daran zu vertreiben, hatte ich daraufhin beschlossen, nur noch Tiere zu töten. Es war ein kleiner Schritt, aber damit konnte ich existieren.
Die ersten Jahre waren verdammt hart gewesen. Nicht immer hatte ich Fortschritte gemacht. Ich erinnerte mich an die vielen Nächte, in denen das Licht im Haus ausgeschaltet gewesen war, ich allein in der Dunkelheit gesessen hatte und daran verzweifelt war. Mein Durst war gestillt, aber mein Verlangen nicht befriedigt. Es zehrte an meinen Nerven, dass mein Appetit niemals aufhörte. So verharrte ich manchmal tagelang unbewegt und im Dunkeln, bis es wieder Zeit war zu trinken.
Als Nächstes musste ich meine Selbstbeherrschung trainieren und dafür fortwährend unter Menschen sein. Nach Italien war ich gezogen, um einen klaren Neuanfang zu gestalten. Um keine Ausrede mehr zu haben. Eine klare Linie, bei der es kein Zurück gab. Es war das Land der Vorväter der Alterna. Gabriel selbst sollte laut einer Überlieferung aus diesem Teil des Landes stammen.
Der stetige Verzicht auf Menschenblut war nicht natürlich für meinen Körper. Noch immer sehnte ich mich danach und es brachte mir auch heute noch, nach all der langen Zeit der Abstinenz, viel Unzufriedenheit, Unsicherheit und Frustration diesem Willen standzuhalten.
Ich schloss die Augen und horchte auf die Geräusche mehrerer Tiere, die im Nordosten von mir grasten. Gleichzeitig fing ich den wunderbaren Geruch auf, den der sanfte Wind mit sich trug. Der Geruch war so himmlisch. Jetzt in diesem Moment nahm ich ihn doppelt so intensiv wie normalerweise auf. So wie es immer war, wenn ich Durst hatte. Das kratzende Gefühl in meiner ausgetrockneten Kehle nahm jetzt noch schneller zu. Für einen kleinen Moment ließ ich mir noch den köstlichen Duft um die Nase wehen, dann öffnete ich die Augen und schoss in gebückter Angriffshaltung nach Nordosten. Ich merkte kaum, wie ich lief. Viel zu sehr auf den Geruch konzentriert, folgte ich diesem, der mich jetzt immer schneller in die Richtung meiner nichts ahnenden Beute führte.
Dort angekommen konzentrierte ich mich. Es war einfach, sich von seinen Instinkten führen zu lassen, doch wenn ich angriff, hatte ich es nicht gerne, wenn mich meine Instinkte leiteten. Sie würden mich dazu zwingen, mich wie eine Bestie zu benehmen. Ich konzentrierte mich meist auf ein Tier, doch mein inneres Monster hätte sich gleich auf alle gestürzt. Um die zehn Tiere hätte es getötet, obwohl ich nur höchstens zwei brauchte. Mit zwei Rehen würde ich problemlos durch die Woche kommen, ehe mich der Durst wieder ereilen würde.
Ich duckte mich hinter einem umgefallenen und fast komplett verfaulten Baum, der meinen Geruch überdecken würde, und beobachtete die Herde von zwölf Rehen eine Weile. Es lagen nur noch ungefähr fünfzehn Meter zwischen mir und meiner Beute. Der Wind hatte sich gelegt und jetzt war es still. Nur noch die Rehe waren für mich zu hören. Das kaum vernehmliche Pochen ihrer Herzen, das Stapfen der Hufe auf dem feuchten Waldboden, das rupfende Geräusch, wenn sie einen Grasbüschel abrissen. Blutlüstern konzentrierte ich mich auf ein Reh, das weiter abseits von den anderen stand. Das dezente Pulsieren des immerwährenden Blutstroms unter seinem dünnen Fell war für mich jetzt deutlich zu sehen und ich konzentrierte mich auf die Stelle, an der das Pulsieren am stärksten war. Ich spannte meine Muskeln an, fixierte das Reh und sprang.
Bis ich bei dem Reh landete, es packte und meine, sich in Reißzähne verwandelnden Eckzähne in den Hals schlug, hatte der Rest der Herde nichts bemerkt. Nun jedoch brachen sie in Panik aus und ergriffen hektisch die Flucht. Meistens brauchte ich nicht weiter jagen, denn mindestens ein weiteres wurden bei der so entstehenden Panik schwer verletzt, sodass es nicht mehr fliehen konnten. Doch heute war es anders. Sie flohen alle gleichzeitig in eine Richtung, sodass keines überrannt wurde.
Das Poltern der vielen dumpfen Tritte von Hufen auf dem feuchten Waldboden ging im Hintergrund unter. Alle meine Sinne waren auf das frische und heiße Blut gerichtet, dass meinen Hals hinabrann. Es war so unvergleichlich köstlich und ich spürte die Erleichterung, die in mir einsetzte. Gierig trank ich Schluck um Schluck. Meine Augenlider waren jetzt halb geschlossen und ich fühlte mich wie in Trance versetzt. Der Blutgeruch vernebelte meine anderen Sinne und ich gab mich meinem Verlangen hin. Ich war vorsichtig, um keinen Spritzer Blut auf mein Hemd zu bekommen. Dies geschah aber mehr halbherzig. Das Reh wehrte sich einige Male und gab sich nicht kampflos seinem Ende hin. Bei einem kräftigen Ruck kam mir der Körper des Tiers näher. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass jetzt ein tiefroter Fleck an meinem Oberteil war. Ich spürte das nasse, heiße Blut auf meiner Brust, wie es von dem Stoff aufgesogen wurde. Meinen Griff verstärkend und so den letzten Widerstand unterbindend, hörte ich die Knochen des Tiers brechen. Es war ein ekelhaftes Geräusch. Ein dumpfes Knacken und Krachen vermischt mit dem folgenden leisen Schmatzen, als sich die Knochensplitter in das umliegende Fleisch des Tiers bohrten.
Ich sog den letzten Tropfen aus dem Reh. Unter meinem kräftigen Griff spürte ich, wie der Herzschlag verebbte und der Körper immer kälter wurde. Ich zog meine Zähne aus dem leblosen Kadaver und ließ ihn zu Boden fallen. Mit meinem Feuerzeug, das ich aus einer Hosentasche fischte, steckte ich den leeren Körper in Brand. Die trockenen Blätter und Zweige darum taten ihr übriges. Alles brannte lichterloh und der beißende Gestank war für mich widerlich. Wahrscheinlich war es nicht mal so schlimm, aber durch den sehr feinen Geruchssinn eines Vampirs war es extrem Übelkeit erregend. Doch es musste sein. Sonst würde der Körper vielleicht von einem Menschen gefunden werden. Kurz darauf würden sie Jagd auf irgendein Tier machen, das sich scheinbar nur über das Blut hermachte und der eine oder andere würde sich vielleicht an einen Spielfilm erinnern, in dem auch Vampire mitspielten. Es war erstaunlich, dass es Filme über uns gab, obwohl niemand von unserer Existenz Kenntnis hatte und, dass diese immer mit Knoblauch, Kreuzen, Pflöcken und Weihwasser als angebliche Wunderwaffen ausgeschmückt waren. Als ob das einen richtigen Vampir etwas anhaben würde. Wahrscheinlich machten sie das, um zu zeigen, dass ein Mensch doch eine gewisse Chance gegen einen Vampir hatte. Was aber in Wirklichkeit nicht so war. Ein Mensch hatte keine Kraft sich gegen einen von uns zu wehren. Es gab diese eine Wahrheit: Wir waren die Jäger, der Mensch unsere Beute.
Prüfend sah ich durch einige wenige Lücken im Blätterdach zum Himmel hinauf. Während ich den Flammen dabei zugesehen hatte, wie sie das Fleisch verschlungen und nur Asche zurückgelassen hatten, begann sich der Morgen bereits anzukündigen. Die Sonne würde bald schon aufgehen. Das Verbrennen des Körpers hatte viel Zeit in Anspruch genommen. Ich würde mich beeilen müssen.
Nachdem das Feuer seine Aufgabe erledigt und ich es hatte ersticken können, machte ich mich schleunigst wieder auf die Suche. Das eine Reh reichte bei weitem nicht aus, um meinen Durst langfristig zu stillen. Um satt zu werden, musste ich weiter jagen, tiefer in den Wald hinein gehen, um ungesehen zu bleiben.
Unter meinen schnellen Füßen flogen die Meter nur so dahin und ich genoss den Wind, der mir durch die Haare wehte. Wenn ich rannte, fühlte ich mich immer frei. Als ob es nur mich auf dieser Welt geben würde. Ich konnte kilometerweit laufen, durchquerte dabei manchmal ganze Landschaften. Ohne Ziel lief ich immer weiter geradeaus.
Im letzten Schutz der Dunkelheit eilte ich über ein kleines Feld zu einem weiteren Waldstück. Mein Kopf wurde frei von allen lästigen Gedanken.
Als ich die umgefallenen Bäume erspähte, sprang ich ab und schnellte durch die Luft. Gut zwanzig Meter weiter beendete ich meinen Sprung abrupt, indem ich mich an einem Ast festhielt und mit einem Salto auf dem Waldboden landete.
Ein herrlicher Duft lag in der Luft. Er zog mich in seinen Bann.
Mit geschlossenen Augen ließ ich mich von ihm verführen. Nur ganz sanft war er zu wittern, doch er war von einer mir ungeahnten Intensität. Ich nahm den Geruch von frischem Blut wahr. Der Wind drehte und der Geruch war weg. Ratlos blickte ich mich um. Sollte ich nachschauen, wo er hergekommen war?
Plötzlich schlug der Wind um und trieb mir das gesamte Ausmaß des Duftes in die Nase. Meine Reißzähne fuhren aus. Es war frisch und warm und ganz in meiner Nähe.
Ich wusste, dass ich dem nicht nachgeben durfte, auch wenn es so köstlich roch, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief.
Nur eines hatte diese unsagbare Macht mich zu überwältigen...
Menschenblut.
Kapitel 2
Begegnung im finsteren Wald
Ich riss die Augen auf. Dort wie angewurzelt stehend, atmete ich den Geruch des Blutes ein, als hätte ein Gourmet einen exquisiten Wein dekantiert.
Ich durfte das nicht.
Demonstrativ drehte ich mich weg und wollte mich eben nach einer Alternative umsehen, als Schreie und das wilde Bellen eines Hundes an mein Ohr drangen.
Ohne nachzudenken, stürmte ich in die Richtung des Geruchs los, darauf bedacht möglichst wenig Geräusche zu machen. Das Schreien wurde von einem wilden Brüllen durchbrochen und ich erhöhte mein Tempo noch einmal.
Rasch traf ich auf eine weite Lichtung, wo im Schein des Mondes eine Frau am Boden kauerte. Vorsichtig verbarg ich mich hinter einem Baum, dass sie mich nicht bemerken konnte. Von dort aus spähte ich zu ihr herüber. Ihr schwarzes Haar war von Erde und Blättern verdreckt. Angst stand in ihrem Gesicht, den Ausdruck kannte ich nur zu gut. Schon zu oft hatte ich ihn bei einem Menschen gesehen.
Vor ihr stand ein großer, wolfsähnlicher Hund. Er bleckte die Zähne und knurrte drohend. Doch deswegen hatte sie nicht geschrien. Der Hund bellte und knurrte bedrohlich. Er versuchte die Frau zu beschützen. Der Hund befand sich zwischen ihr und einem Bären, der auf den Hinterbeinen stand und gefährlich nah mit seinen Tatzen war. Er brüllte auf und kam der Frau näher. Sie saß am Boden und versuchte sich in Sicherheit zu bringen, indem sie sich mit ihren Händen rückwärts über den Waldboden schob. Sie hatte ein Bein ausgestreckt. Der Ursprung des Blutgeruchs. Sie war verletzt worden. Scheinbar so sehr, dass sie nicht aufstehen und fliehen konnte.
Gedankenlos schritt ich zügig auf die Lichtung, ging an der Frau vorbei und stellte mich vor den Hund in den Schein des Mondes. Zum Glück konnte sie nur meinen Rücken sehen und nicht das bleiche, um den Mund leicht mit Blut verschmierte Gesicht.
»NEIN! Verschwinden Sie! Bringen Sie sich in Sicherheit. Der Bär wird Sie töten!«, schrie sie zu mir herüber. Ihre Stimme war kräftiger, als ich es in ihrem Zustand vermutet hatte. Ich beachtete sie aber nicht. Stattdessen stand ich einfach da, starrte dem Bären in die Augen und fletschte die Zähne.
Nach all den Jahrzehnten des Verzichts auf menschliches Blut, hatte sich meine Persönlichkeit zu spalten begonnen. Nicht, dass ich mit mir selbst redete. So weit war ich dann doch nicht. In meinem Innersten hatte ich einen Teil von mir sorgsam verschlossen. Ich bezeichnete es als mein inneres Monster, wobei ich diesem alle vampirischen Merkmale, aber vor allem das Verlangen nach Menschenblut zuschrieb. Diese Abspaltung half mir und ich hatte mich nach der langen Zeit besser denn je unter Kontrolle. Der Verstand oblag den Trieben. Durch diese zwei Wesen in mir, hatte ich gelernt, stets beherrscht zu bleiben. Es gab aber auch einen Haken daran. Bei all der Ruhe und der Kontrolle gab es da noch immer diesen Abgrund in meinem Innern. Es gab kaum Auslöser, die mich aus der Ruhe brachten, doch wenn es so weit war, dann übernahm die andere Seite in mir die Führung. Ein Schalter in meinem Kopf legte sich um und das Monster kam raus. Es übernahm die Führung meines Körpers und ich wurde zu einer Gefahr für jeden in meiner Umgebung. Es war, als trüge ich Scheuklappen. Ich wurde aggressiv und konnte nicht mehr zwischen schuldig und unschuldig oder Freund und Feind unterscheiden. Dabei geriet ich in einen Blutrausch und wenn es so weit war… Mein Verstand setzte aus. Ich war unkontrollierbar und dank der in mir freigesetzten Kräfte auch kaum zu bändigen, bis sich das Monster ausgetobt und ein blutiges Massaker hinterlassen hatte. Zum Glück passierte so etwas sehr selten. Es gab kaum etwas, dass mich interessierte, also war es genauso schwer mich in diesen Zustand zu versetzen. Ich spürte kaum Emotionen, die mich in dieses grausame Ding verwandeln ließen.
Hier und jetzt verlangte mein inneres Monster auszubrechen. Schuld war die Frau. Der Geruch ihres Blutes waberte um mich herum. Mein soeben nur geringfügig gestillter Durst begehrte wieder auf und mein Appetit war angeregter denn je. Allein das Wissen, dass diese Frau wehrlos und wie auf dem Servierteller hinter mir an den Baum gelehnt saß, ließ mein gieriges Monster aufbegehren. Zwanghaft konzentrierte ich mich auf das Tier vor mir. Den Erfolg der letzten Jahre würde ich nicht einfach wegwerfen. Nicht hier und nicht heute.
Mit meinen Augen fixierte ich den Bären genau. Er musste mich als Gefahr einschätzen, damit er sich zurückzog. Er musste instinktiv wissen, dass es sich nicht lohnen würde, sich mit mir einzulassen.
Der Bär, unsicher was geschah, ließ sich jetzt wieder auf alle viere fallen und blickte mich wütend an, hieb mit einer Tatze nach mir. Den Bären mit meinem Blick fixierend, knurrte ich kaum hörbar. Die Frau würde das Knurren ihrem Hund zuschreiben und nicht mir. Menschen waren gut darin, Dinge, die nicht in ihr Weltbild passten, zu übersehen oder sich andere Erklärungen zu schaffen.
Der Bär wankte hin und her, von einem auf das andere Bein. Tiere wussten instinktiv, wo sie in der Nahrungskette standen und das war ganz weit unter mir. Er spürte, dass er mir nicht gewachsen wäre. Allerdings gab ein Bär nicht so leichtfertig auf. Vor allem wenn man ihm wohl in seinem Winterschlaf gestört hatte.
Noch einmal schlug er nach mir aus. Das kaum vernehmliche und schmerzvolle Schluchzen der Frau ging in meinem Knurren unter.
Langsam, Schritt für Schritt, zog sich der Bär zurück bis zum Rand der Lichtung. Dort wandte er sich um und hastete so eilig wie möglich davon.
Tief durchatmend wartete ich einen Augenblick, bis meine Reißzähne wieder zu Eckzähnen wurden. Ich musste mich auch erst an den Geruch ihres Blutes gewöhnen. So sanft es vorhin an mich herangetragen worden war, hatte es jetzt eine Gewalt an sich, die mich überfordern konnte.
Das Blut von meinem Mund abwischend drehte ich mich daraufhin zu dem Menschen um. Sie saß noch immer auf dem Boden und schien offenkundig kraftlos zu sein. Tränen standen ihr in den Augen und hatten auch Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Ob nun wegen der Angst oder des Schmerzes war mir nicht bewusst.
Einen Moment lang zögerte ich. Eigentlich hätte ich sie hier zurücklassen müssen. Ich hatte mich bereits zu viel eingemischt. Den Bären verscheucht zu haben, würde bestimmt Fragen aufwerfen, die ich nicht beantworten konnte und wollte.
Trotzdem brachte ich es nicht übers Herz. Sie war hilflos. Ließe ich sie jetzt allein, würde sie sterben. Tief im Wald, wo niemand nach ihr suchen würde. Das Pochen in meinem Schädel wurde stärker, als mir dieser Gedanke kam.
»Alles in Ordnung? Ist Ihnen auch nichts passiert?«, fragte ich sie kurzentschlossen und ging einen Schritt auf sie zu. Der Hund sprang sofort vor und knurrte mich an. Ich hätte ihn einfach am Kragen packen können, wenn mir danach wäre, doch ich respektierte seinen Mut. Auch er musste meine Macht spüren und trotzdem beschützte er seine Herrin.
Ich blieb also stehen, wo ich war, und schaute wieder zu dem Menschen.
»Ist schon in Ordnung, Chester. Es ist alles gut«, beruhigte die Frau ihren Hund. Dass ein Hund ihre Worte begreifen würde, glaubte ich jedoch nicht. Zu meiner Verwunderung wandte er sich aber von mir ab und legte sich dann, mich beobachtend, neben den Menschen. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke.
»Warum sind Sie nicht weggelaufen?«, fragte ich dann und sah zu dem Menschen herüber. Musternd betrachtete ich sie dort am Boden. Selten war ich in der Situation, von mir aus das Gespräch zu suchen. Weder mit meinen Artgenossen und gerade nicht mit Menschen. Ich war es meist, der dann angesprochen wurde und auch nur auf die entsprechenden Fragen antwortete. Nicht mehr. Mir fiel es dementsprechend schwer, den richtigen Anfang zu finden.
Die Frau blickte mich lange an, sodass ich glaubte, sie hätte meine Frage nicht verstanden. Ich wollte die Frage gerade noch einmal wiederholen, als sie mir zuvorkam.
»Das hatte ich vor, aber mein Bein...«, antwortete sie jetzt. Ihr Atem ging schwer, ihr Herz schlug rasend. Der Blutgeruch war intensiv und ich sah die tiefen Wunden. Sie blutete stark und ich zwang mich, es bewusst einzuatmen. Ich musste mich daran gewöhnen, denn ich wusste auf einmal, was ich zu tun hatte.
»Darf ich mir das ansehen?«, bat ich sie. Die Frau zögerte zwar einen Augenblick lang, aber nickte dann kurz darauf. Vorsichtig trat ich auf sie zu und hockte mich zu Boden.
Sie hatte vier tiefe Fleischwunden, die nicht aufhörten zu bluten. Ihre Hose darüber war von ihrem Blut durchtränkt und auch auf dem Boden unter ihr waren die Blätter schon rot gefärbt. Ich konnte sie hier unmöglich zurücklassen. Nicht nur wegen des Bären, sondern auch weil sie womöglich wirklich verblutete. Sie musste umgehend in ein Krankenhaus und genäht werden. Doch wie sollte sie dorthin gelangen? Wir waren mitten im Wald. Es würde zu lange dauern ein Auto hierher zu holen und laufen konnte sie bestimmt nicht. Seufzend erkannte ich, welche Möglichkeit übrigblieb. Doch konnte ich das? Würde ich mich genug unter Kontrolle haben? Würde ich es schaffen, ihr zu widerstehen? Es gab nur eine Antwort. Ich musste es.
Langsam und behutsam kniete ich mich hin. Ihr Bein musste verbunden werden, sonst verblutete sie mir schon auf dem Weg. Ohne lange nachzudenken, riss ich mir mehrere Streifen Stoff von meinem Hemdsaum. Die Frau wirkte benommen, sie sprach kaum noch und ihre Augen fielen immer wieder zu. Provisorisch legte ich ihr mit meinen Hemdstreifen einen Druckverband an. Ich musste sie hier wegbringen, deswegen schob ich meine eiskalten Hände unter ihren Körper. Ich hoffte, sie war warm genug angezogen, um es nichts zu bemerken.
Der Hund knurrte warnend. Der Geruch ihres Blutes war jetzt so intensiv, dass er mich wie ein Schlag traf. Es gab keine Worte, die grausam genug waren, um die Qual, der ich den nächsten Minuten ausgesetzt sein sollte, beschreiben zu können. In dem Moment verspürte ich den lockenden Ruf des menschlichen Blutes so deutlich, wie noch nie in meiner gesamten enthaltsamen Zeit meiner Existenz. Ich war der Jäger. Sie war meine Beute. Es gab nichts in der Welt, was so exakt der Wahrheit entsprach, wie diese Tatsache. Dennoch wehrte ich mich permanent dagegen und so sagte ich mir, dass ich es schaffen konnte. Es war der ultimative Härtetest. Dann hob ich sie hoch und stand auf.
»Hey! Was soll das? Was fäll …«, beschwerte sie sich. Als sie in meine Augen schaute, verstummte sie sofort. Meine Hoffnung war, dass ich mich noch genug im Griff hatte und meine Augen nicht pechschwarz vor Durst waren. Doch darum konnte ich mich nicht auch noch kümmern. Später würde ich es wohl auf die miserabelen Sichtverhältnisse schieben müssen.
»Sie müssen sofort in ein Krankenhaus und da Sie nicht laufen können und ich Sie hier nicht einfach liegen lassen kann, muss ich Sie wohl oder übel tragen.« Sie wich meinem Blick aus.
Langsam ging ich los, immer darauf bedacht nicht zu hasten.
Während ich weiter durch den Wald lief, folgte uns der Hund. Er sah hilflos aus, was ich auch verstehen konnte. Jemand entführte seine Herrin, doch sie hatte ihm verboten, sie zu verteidigen.