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Jazz, Partys und Mardi Gras, das ist New Orleans und mittendrin lebt die 17 jährige Hannah mit ihrer Mutter Rachel. Beide umgibt ein Geheimnis, welches Hannah selbst mit sieben Jahren vergessen hat. Bis der mysteriöse Hunter sie mit seinem Bruder Clay in eine Welt voll Dämonen und anderer übernatürlicher Wesen hineinzieht. Dort mit vielen Fragen und Gefahren konfrontiert, versucht Hannah mit ihren neuen Freunden Antworten zu finden...
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für alle, die Träume haben, kämpft für sie und gebt nicht auf, sie zu verwirklichen. Egal was andere sagen, bleibt dran und ihr könnt alles schaffen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Das Ende des Sommers war in Sicht und in der Innenstadt von New Orleans waren die Cafés mehr als voll, doch Hannah und Josh hatten noch einen Platz in ihrem Lieblings-Café in der Decatur Street ergattern können. Die Menschen versuchten, die letzten Tage des Sommers einzufangen und streckten ihre Gesichter den warmen Sonnenstrahlen entgegen, während andere sich angeregt unterhielten. Der Alltag würde sie schon bald einholen, wenn Schule und Arbeit wieder begannen. Weshalb gefühlt gesamt New Orleans draußen unterwegs war.
»Ich finde es schade, dass der Sommer wieder so schnell vergangen ist«, merkte Josh an und leerte seine Kaffeetasse mit einem Schluck.
Hannah konnte deutlich heraushören, wie sehr er es hasste, zurück in die Schule zu müssen, obwohl der Abschluss bald bevorstand und sie alle schon bald getrennte Wege gehen würden.
»Dagegen kann man eben nichts machen.« Hannah stützte mit einem tiefen Seufzer den Kopf auf ihrer Hand ab und spürte schon deutlich, wie sehr allein das Thema an ihren Nerven zehrte. Vor allem Rebecca war ein rotes Tuch für sie. Ihr ewiges Generve und Gelaber, sie wäre etwas Besseres, war die reinste Plage. Ebenso Rebeccas Freunde, die nicht besser waren als ihre Anführerin.
»Wie sieht es eigentlich mit dem Comicwettbewerb aus? Schon was eingereicht?« Hannah warf Josh einen fragenden Blick zu, doch anstelle einer Antwort, starrte er unentwegt in seine Kaffeetasse, als wäre etwas schrecklich Interessantes darin zu finden.
Wahrscheinlich hat er erneut den Schwanz eingezogen.
Aber vielleicht war sie ihm gegenüber zu hart. Sie beide wussten, wie viel Potential in seinen Adern floss, doch die Angst, abgelehnt zu werden, war größer als die Motivation, es zu versuchen.
»Hey, wie sehr freust du dich auf Rebecca?«
Joshs Ablenkungsversuch war offensichtlich.
»Ich bin total gespannt, ob sie wieder anfängt, mit Mr. Williams zu diskutieren«, sprach Josh weiter und Hannah unterdrückte ihr Kopfkino.
Ja, dass Mr. Williams vorgehabt hatte, Hannah in dem geplanten Theaterstück die Rolle der Julia übernehmen zu lassen, war kein großes Geheimnis. Er wollte auch mal andere Schüler in den Hauptrollen sehen und bei dieser Ankündigung war Rebecca dann ausgeflippt.
Aber im Augenblick waren Josh und der Comicwettbewerb wichtiger als diese dummen Streitereien wegen einer Rolle.
»Hör auf, vom Wesentlichen abzulenken Josh!« Hannah sah ihren besten Freund an, der daraufhin seufzte.
»Ich bin mir da nicht ganz sicher«, gab er zu.
»Es ist ein großer Wettbewerb, bei dem nur die Besten mitmachen. Da habe ich doch überhaupt keine Chance zu gewinnen«, fuhr er fort und ließ die Schultern nach vorn fallen.
»Josh!«
Enttäuscht, dass er sich so leicht von seinen Unsicherheiten übermannen ließ, versuchte Hannah, ihn zu ermutigen.
»Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Du packst das! Du wirst es nie mit Sicherheit wissen, wenn du es nicht tust. Also probiere es einfach aus und schau, was passiert.«
Hannah legte ihre Hand auf seine und lächelte ihn aufmunternd an. Sie wollte unbedingt, dass Josh am Ball blieb, weil sie fürchtete, dass er es sonst bereuen würde.
»Wann ist die Deadline?«
Sie könnte ihm bestimmt dabei helfen, eine gute Idee zu finden. Wahrscheinlich war dies einer der Gründe, weshalb Josh noch nicht angefangen hatte, zu zeichnen.
»Am Ende des Monats. Doch mein Problem liegt noch woanders«, antwortete Josh stirnrunzelnd.
»Woran liegt es denn dann genau?«
»Abgesehen davon, dass ich nicht mehr wirklich glaube, dass mein Comic bis zur Deadline fertig sein wird, weiß ich auch einfach nicht, was ich zeichnen soll.«
Hannah allerdings gab nicht so leicht auf. Sie erhob sich, packte gleichzeitig Joshs Hand und zog ihn mit.
»Na komm, du Miesepeter. Wir finden jetzt deinen Comic, der dich ans Ziel bringt.«
Fest entschlossen, ihm zu helfen, bewegte sie sich auf die Jazzmusik zu, die auf der Straße zu hören war. In der Stadt wimmelte es von möglichen Ideen, die man nur umsetzen musste.
»Du glaubst wirklich, wir finden noch einige gute Comicideen?«
Seine Skepsis war kaum zu überhören, aber er ließ sich trotzdem von Hannah mitziehen.
»Klar, warum nicht? Immerhin sind wir in New Orleans und da gibt es bestimmt schon etwas Passendes«, meinte Hannah selbstsicher.
Hannah hatte in der Vergangenheit des Öfteren die Inspiration fürs Fotografieren gefehlt und sie wusste, wenn sie nur in die Stadt ging, dann kamen ihr fast schon wie von selbst die Ideen. Die Musik und der Trubel gaben ihr die nötige kraft und Kreativität.
»Okay. Alles ist besser, als nur rumzusitzen«, stimmte Josh zu und schien seinen Optimismus wiederzufinden.
Jedes Mal aufs Neue merkte Hannah, wie froh Josh darüber war, sie als Freundin zu haben. Im Gegensatz zu seiner Familie unterstützte sie ihn in so gut wie allem, was er machte und wovon er träumte.
In einer weniger belebten Straße verfolgten drei schnelle Schatten die Spur einer vierten Person, die sich auf der Flucht befand.
»Hunter, Clay, hier drüben!«
Dem Ruf ihrer Schwester über den Lärm der Autos folgend stellten sich die beiden an ihre Seite und schauten auf den großen Blutfleck, von dem aus kleine Tropfen in Richtung dreier dunkler Seitenstraßen führten.
»Der Kerl muss in eine der Gassen gelaufen sein«, mutmaßte sie und blickte sich wachsam um.
Während Clay die Gegend nach Auffälligkeiten absuchte, konzentrierte sich Hunter auf die vermeintliche Spur, die sie gefunden hatten.
»Gut, dass dieser Mistkerl so viel Blut verliert«, meinte Hunter, der sich auf die Knie sinken ließ, um einen Hinweis zu finden, in welche Gasse der Flüchtende verschwunden sein könnte.
Clay wusste, es war nicht seine erste Jagd, jedoch die erste bei der das gesuchte Lebewesen kein Tier oder Dämon, sondern eine Person war, die es schnell zu finden galt. Keiner konnte sich einen Fehler leisten, sonst würde der Kerl seiner gerechten Strafe entkommen.
»Wo müssen wir lang, Hunter?«, drängte sein Zwillingsbruder Clay, der vorübergehend die Führung in ihrer Truppe übernommen hatte.
Zuvor hatte sich der Verfolgungstrupp aus etwa zehn Seelenjägern in kleine Gruppen aufgeteilt, um so ein größeres Areal absuchen zu können und den Mörder ihrer Kameraden in die Finger zu bekommen.
»Stress mich nicht«, zischte Hunter seinen Bruder an und hielt weiter Ausschau. Durch die Blutflecken wussten die drei, allen voran Hunter, wie die Aura des Flüchtigen aussah, nun musste er diese bloß noch ausfindig machen.
»Okay, bin ja ruhig«, meinte Clay, der den Bombenleger genauso wenig entkommen lassen wollte.
»Der Type ist gut. Allerdings bin ich besser«, dachte Hunter laut und schnell merkte Clay, dass etwas nicht stimmte. Er trat näher zu Hunter und folgte ebenso den kleinen Blutspuren, die zwar zu den Seitenstraßen führten, sich dort aber verloren.
Es wirkte so, als wäre der Mörder wie vom Erdboden verschluckt, seine gesamte Aura war einfach verschwunden.
Daraufhin richtete sich Hunter wieder auf und blickte zu seiner jüngeren Schwester.
»Sicher, dass er da entlang ist, Maisie?«, hakte er nach, wohlwissend, dass er den Zorn seiner kleinen Schwester riskierte. Sie hasste es, wenn man ihre Fähigkeiten anzweifelte.
»Ja, da ist die Spur am deutlichsten«, meinte Maisie vollkommen überzeugt.
»Warum zweifelst du daran?«, fragte Clay, obwohl er dasselbe gesehen hatte wie sein Bruder.
»Die Blutspur ist eine Sackgasse, der Kerl könnte sonst wo sein.«
»Ganz sicher! Sonst würde ich euch doch nicht herbringen.« Maisie klang skeptisch.
Clay konnte nicht begreifen, wieso seine Geschwister, die die gleiche Fähigkeit besaßen, unterschiedliche Informationen erhielten. Für ihn war klar, da stimmte doch etwas nicht.
»Schwer zu sagen, aber hier endet die Blutspur«, teilte Hunter seine Erkenntnisse mit. Stirnrunzelnd durchforschte er mit seinem Blick die Gassen.
»Verdammt. Das Ganze regt mich auf. Dass ich nicht mal die kleinsten Auraspuren sehen kann.«
Clay beobachtete Hunter, wie dieser verärgert auf der Innenseite seiner Wange herum kaute und wahrscheinlich schon Eisen schmeckte.
»Okay, wie wäre es damit: Maisie, du bringst die anderen auf den neusten Stand«, wandte sich Clay an seine kleine Schwester und deutete bei dem nächsten Satz auf Hunter. »Wir bleiben hier, bis die anderen da sind, sodass wir jede Gasse genauestens untersuchen können.«
Hunter rollte mit den Augen und verschränkte seine Arme vor der Brust. Clay sah ihm an, dass er es nicht leiden konnte, wenn er das Kommando übernahm. Und dass Clay ihm nun Befehle gab, die seinen Bruder daran hinderten, den Kerl zu kriegen, der sie so hinterhältig angegriffen hatte, ärgerte ihn wohl erst recht.
»Keine Chance, Hunter, du bleibst hier!«, stoppte Clay seinen Bruder, als dieser sich in Bewegung setzte.
Genervt drehte sich Hunter zu ihm um, er wollte keinesfalls dem Kerl einen Vorsprung oder sogar die ganze Flucht ermöglichen und das spürte Clay. Er und Maisie sahen ihn verständnisvoll an, sie kannten seine Gefühle gut. Immerhin war unter den Opfern ihr drittältester Bruder, der gerade noch so mit dem Leben davongekommen war, allerdings seit dem Angriff im Koma lag.
»Willst du wirklich, dass dieses Arschloch einfach so verschwindet, einfach so davonkommt?«, fragte Hunter wütend darüber, dass er nicht mehr tun konnte, als hier dumm herumzustehen. Er hatte wohl geglaubt, es wäre leicht, den Kerl zu finden. Mit ihren Fähigkeiten, Auren zu sehen, hätten sie ihn in null Komma nichts finden sollen. Dass der Mörder ihrer Freunde und Kameraden sie alle austricksen konnte, damit hatte niemand gerechnet.
»Nein, aber wir können nicht einfach in eine der Seitenstraßen laufen, ohne zu wissen, ob er dort allein ist oder nicht vielleicht jemanden zur Hilfe gerufen hat«, argumentierte Clay seine Entscheidung, zu warten.
»Fangt bloß nicht an zu streiten! Hunter, du kannst doch noch ein paar Minuten warten!«, ging Maisie dazwischen und sah ihren Bruder herausfordernd an. »Wir lassen schon nicht zu, dass der Kerl abhaut. Einen weiteren Bruder will ich heute nicht verlieren!«
Erst, als Hunter widerwillig nickte, entfernte sich Maisie etwas von den beiden, um den anderen am Telefon Bescheid zu geben.
»Warum können wir nicht schon mal in einer Gasse nachsehen? Wir sind zu dritt und er ist allein«, fragte Hunter. Einfach zu ungeduldig, um länger auf die anderen zu warten.
»Hab ich doch gerade erklärt«, wimmelte Clay ihn ab. Er wollte wohl kein Risiko eingehen.
Je länger Maisie telefonierte, um die anderen zu ihnen zu lotsen, umso unruhiger wurde Hunter. Zwar beherrschte er sich am Anfang noch sehr gut, doch diese ewige Warterei brachte ihn fast zur Weißglut.
»Willst du Maisie nicht helfen, die anderen zu uns zu führen?«, meinte Hunter. Ein Versuch, seinen Bruder von sich abzulenken, um allein weiterzumachen.
Doch Clay schüttelte mit dem Kopf. »Nein, dafür braucht man keine zweite Person. Außerdem -«, entgegnete Clay und warf einen missbilligenden Blick auf seinen ungeduldigen Bruder. »Außerdem muss ich darauf achten, dass du keine deiner Dummheiten machst.«
»Ich brauche erst recht niemanden, der meinen Aufpasser spielt. Ich komme gut allein zurecht«, zischte Hunter ihn an und drehte sich beleidigt um.
»Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das nicht ganz stimmt«, erinnerte ihn Clay.
Kopfschüttelnd stand Hunter da und sah in seinem Buder immer mehr ihren Vater. Das wusste Clay, auch weil es wohl in Hunters Augen so aussah, als täte er alles, damit Daddy wenigstens auf einen Zwilling stolz sein konnte. Aber auch Clay war nicht frei von Fehlern.
»Sei einfach still«, bat Hunter seinen Bruder und heftete seine Augen auf die Straße vor ihm.
Als hätte er es geahnt, ertönte in diesem Moment ein lautes Geräusch hinter einigen Müllcontainern und weckte die Aufmerksamkeit der beiden Jungen.
»Hast du das auch gehört?«, hakte Hunter sicherheitshalber nach und schlich bereits auf die Mülltonnen zu, die in der Seitenstraße standen.
»Also war dort doch noch mehr Blut«, bemerkte Hunter und schien sich selbst zu verfluchen, nicht gleich auf die Idee gekommen zu sein, dass der Kerl sich in der Nähe versteckte, so wie Maisie es mit der Spur angedeutet hatte.
»War wahrscheinlich nur eine Ratte.«
Clay schien nicht mal selbst von seinen Worten überzeugt zu sein.
Nervös beobachtete er seinen Bruder, wie dieser unaufhörlich auf die Gasse zuhielt.
»Hunter, lass es sein!«, befahl Clay nun deutlich.
Er hatte keine Lust, sich auf Hunters impulsive Handlungen einzulassen, doch der hörte nicht.
Dann ging alles ganz schnell. Ein Mann mit blutverschmierten Klamotten sprang hinter den Mülltonnen hervor und rannte, wie von der Tarantel gestochen, tiefer in die dunkle Gasse hinein.
»Clay!«, brüllte Hunter seinem Bruder zu und jagte, ohne auf ihn zu warten, hinter dem Mann her.
Scheiße, dachte Clay beim Anblick des Mannes, der für das Chaos verantwortlich war, und nahm nach kurzem Zögern zusammen mit Hunter die Verfolgung auf.
Erfolglos suchten Hannah und Josh bereits seit einer Stunde nach der zündenden Idee für den Comicwettbewerb und jedes Mal schmetterte Josh Hannahs Vorschläge ab.
»Wie wäre es damit?«, fragte sie beinahe verzweifelt und zeigte auf etwas x-Beliebiges in der Nähe.
Zwar war es ihr gelungen, Josh zu motivieren, doch keiner ihrer Vorschläge schien ihm zu gefallen.
»Abwasserkanäle? Wie soll ich daraus einen Comic machen?«
Josh blickte sie ungläubig und mit hochgezogener Augenbraue an. Hannah zuckte mit den Achseln. »Wieso nicht? Es könnte ein Alligator in der Kanalisation leben. So einen Comic gibt es bestimmt noch nicht.«
»Sorry, dass ich dich da enttäuschen muss. Aber solche Comics habe ich oft genug gesehen«, grummelte Josh.
Dieses Mal ließ Hannah seufzend die Schultern hängen. Allmählich fiel ihr nichts mehr ein. Dass Josh jeden ihrer Einfälle abwies, ging ihr langsam auf den Senkel. Wenn er so weitermachte, konnte er seine Teilnahme an dem Wettbewerb in die Tonne treten.
»Du bist ein schlechter Lügner. Aber na gut, wie du willst, dann eben kein Kanal-Alligator«, gab sich Hannah geschlagen.
Josh lächelte schief.
»Danke, dass du mich erträgst.«
»Wozu hat man Freunde?« Hannah kicherte.
Sie hielten auf eine Seitengasse zu, aus der genau in diesem Moment ein Mann mit blutverschmierten Sachen heraus hinkte und die beiden fast streifte.
»Richtig cooles Make-up. Scheinbar gehört er zu dem Zombie-Walk, der heute hier ganz in der Nähe angefangen hat«, bemerkte Josh. Der Aufzug des Mannes schien ihn wenig zu beeindrucken.
»Zombie-Apokalypse, das ist doch mal was«, überlegte Hannah laut und strahlte, als Josh ihr zustimmte.
Der Einfall mochte nicht neu und einzigartig sein, aber Hannah war davon überzeugt, dass Josh sich eine originelle Story einfallen lassen würde.
»Stehenbleiben!«
Im nächsten Augenblick kamen aus derselben Straße zwei Jungs gelaufen und rannten Hannah dabei um. Unsanft landete sie auf ihrem Hintern und der Inhalt ihrer Tasche verstreute sich auf dem Boden.
»Ah, verdammt!«
Der starke Schmerz, der von ihrem linken Ellenbogen ausging, durchzuckte ihren gesamten Arm und aus der aufgeschürften Wunde trat etwas Blut.
»Könnt ihr nicht aufpassen?«, brüllte Josh den beiden wütend hinterher, die nicht einmal Anstalten machten, sich umzudrehen und sich zu entschuldigen.
»Vollpfosten«, schnaubte Hannah und ließ sich mit Joshs Hilfe wieder auf die Füße ziehen.
»Alles okay? Hast du dir wehgetan?«, wollte Josh mit besorgtem Blick wissen und wandte sich dann noch mal um, doch die beiden Jungs waren bereits über alle Berge.
Hannah klopfte den Dreck von ihrer Hose und sammelte dann fluchend ihre Sachen vom Boden auf.
»Ja, alles noch dran. Lass uns bloß weitergehen, wer weiß, wer da noch alles rauskommt«, murmelte Hannah und nahm ihren Weg wieder auf. Diese extremen Fans konnten einem gehörig auf die Nerven gehen, wenn sie ohne Rücksicht jeden in ihre verblödeten Spiele mit reinzogen. Ihnen war es wohl vollkommen egal, ob man mit dazu gehörte oder einfach einen schönen Tag haben möchte.
»Also, Zombies sollen es werden«, knüpfte sie da an, wo ihre Unterhaltung unterbrochen worden war.
Josh nickte und ließ es sich nicht nehmen, Hannah mit ihrer vorherigen Idee etwas zu necken.
»Besser als der Kanal-Alligator.«
»Wenigstens ist mir noch was eingefallen«, entgegnete Hannah und versetzte ihm einen Schlag mit dem unversehrten Ellenbogen, als ihr Handy klingelte.
»Hey, Mom. Was gibt’s?«, fragte Hannah, nachdem sie den Anruf angenommen hatte.
»Wo steckst du? Ich dachte, um vier wärst du wieder zuhause«, schimpfte ihre Mutter und erinnerte Hannah damit an ihr Versprechen.
»Ich bin auf dem Weg. Josh und ich haben uns kurz mit seinem Comic auseinandergesetzt«, rechtfertigte sich Hannah und gab Josh ein Zeichen, sich auf den Heimweg zu machen.
Hannah konnte ihre Mutter vor sich sehen, wie sie nervös mit den Haaren spielte oder an den Nägeln kaute. Je älter sie wurde, umso besorgter wurde ihre Mutter und verlangte von ihr, immer zu einer bestimmten Zeit wieder daheim zu sein. Hannah versprach es ihr zwar jedes Mal aufs Neue, überschritt die Zeit aber meist deutlich.
Schlimmer geht’s nicht.
»Alles klar, mach aber nicht mehr so lange«, sagte ihre Mutter, sichtlich erleichtert, dass Josh in der Nähe war.
»Wieder Stress?«, hakte Josh nach, als Hannah das Gespräch beendete.
»Nein«, murmelte sie, obwohl es sich nicht so anfühlte.
Ihre Schritte wurden dadurch auch nicht schneller, viel mehr wollte Hannah die Zeit im Freien noch etwas genießen.
Nicht mehr lange und ich bin auf dem College, wo Mom mich nicht ständig beobachtet. Sie konnte die Zeit kaum erwarten.
»Bis morgen. Hoffe ich doch mal«, verabschiedete sich Hannah von Josh, als sie zu Hause ankam, und stand mit einem Fuß bereits auf der Treppe.
»Wie meinst du das denn jetzt?«, wollte er verwirrt wissen. Leichtes Entsetzen, als würden sie sich nie wieder sehen, blitzte in seinen hellen Augen auf.
»Na ja, du kennst doch meine Mom«, meinte Hannah und suchte nach einem Grund, noch länger vor der Tür zu bleiben.
»Ich ruf dich nachher wegen des Comics an«, verabschiedete sich Josh von Hannah; er wirkte eindeutig motivierter als vorher.
»Alles klar, bis nachher.«
Sie war zufrieden mit sich selbst, dass sie ihm ein weiteres Mal hatte weiterhelfen können, und eilte die restlichen Treppenstufen hinauf.
Drinnen schmiss sie ihre Jacke auf die Bank an der Garderobe und kickte die Schuhe lautstark gegen die Wand. Sie machte sich nicht mal die Mühe, leise zu sein und wie sonst die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu vermeiden.
»Wollte Josh nicht mit reinkommen?«, rief ihre Mutter aus der Küche und veranlasste Hannah, kurz innezuhalten.
»Nein, er muss auch nach Hause«, erklärte sie kurz angebunden und wollte am liebsten sofort die Treppe rauf in ihr Zimmer laufen und den Tag ruhig ausklingen lassen.
Doch ihre Mom hatte andere Pläne und verhinderte, dass Hannah nach oben kam.
»Bleib am besten hier, das Essen ist gleich fertig und du kannst mir beim Tischdecken helfen.«
Hannah rollte genervt mit den Augen, wieder einmal war es ihr nicht vergönnt, den Rest des Tages oben zu bleiben. Ihre Mutter konnte sie manchmal echt in den Wahnsinn treiben, wenn Hannah sich nicht mal länger eine Auszeit nahm.
»Mom, ich möchte heute lieber in meinem Zimmer bleiben, als hier unten mit dir und Steve heile Familie zu spielen.« Sie ließ ihrer Mutter nicht mehr die Zeit, zu antworten, sondern stürmte die Treppe nach oben.
Wie immer ein Sturkopf, dachte sich Hannahs Mutter Rachel.
Seufzend wandte sie sich von der Treppe ab und kümmerte sich wieder um das Essen.
Rachel hörte, wie die Türklinge nach unten gedrückt wurde und die Tür kaum wahrnehmbar geöffnet wurde. Ein leises Schleifen zeigte Rachel, dass jemand herein kam. Sie musste sich nicht mal umdrehen, um zu wissen, wer nun ins Haus eintrat.
»Du brauchst nicht so herumzuschleichen, Steve. Hannah ist gerade nach oben und hört mit Sicherheit bis zum Anschlag Musik«, klärte Rachel den Eindringling auf, der hinter ihr in der Küche stand und seine Tasche und die Jacke auf einem der Stühle ablegte.
»Hatte schon fast vergessen, dass du ein Supergehör hast«, sagte Steve und gesellte sich zu ihr.
Sie blickte zu dem Mann, der ihr mit seinem Lächeln ebenfalls eines entlockte.
»Dann hast du wohl auch vergessen, mit wem du es zu tun hast?«
Rachel konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass Steve noch etwas auf der Zunge lag. Seine Frage kannte sie nur allzu gut. Jedes Jahr aufs Neue, wenn Hannah ein Jahr älter geworden war, stellte er sie erneut.
Rachel schloss kurz ihre Augen und atmete tief durch, um sich so wieder zu beruhigen. Doch es gelang ihr nicht und da passierte es: Einer der Teller rutschte ihr aus der Hand, glitt zu Boden, und zerbrach klirrend in zwei Hälften. Schnell hob Rachel die Scherben auf und warf sie in den Müll. Niedergeschlagen blickte sie zu Boden, um Steve nicht in die Augen sehen zu müssen. Wie sollte sie ihm auch erklären, dass sie Hannah immer noch nicht die Wahrheit erzählt hatte?
»Gab es irgendwelche Vorkommnisse?«, stellte er die erwartete Frage und blickte dabei die Treppe rauf.
Er wirkte nicht gerade überrascht, als Rachel ihm auswich:
»Frag sie doch am besten selbst.«
Zögernd trat sie auf die Treppe. Wie gern würde sie die Zeit zurückdrehen und alles ab dem Zeitpunkt ihrer Flucht ändern, jedoch ging das nicht. Es war nicht richtig, das Ganze hätte anders laufen sollen.
»Glaubst du wirklich, Hannah kann − ohne sarkastisch oder gemein zu sein − normal mit mir reden?«, versuchte Steve die Stimmung aufzulockern, obwohl er die Antwort auf diese Frage bereits kennen dürfte.
»Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.« Rachel stieg die Treppen hinauf, bis zum Zimmer ihrer Tochter.
Seit zehn Jahren immer dieselbe Leier. Rachel wusste, Steves Geduld ging gegen null, aber es kostete sie so viel Kraft und Überwindung. Schließlich musste Rachel ihrer Tochter so einiges beichten, vor allem die Tatsache, dass ihr gesamtes Leben eine Lüge war. Ihre Herkunft, und dass ihr Vater überhaupt nicht tot war.
Vier Monate noch. Dann wird der Bann, mit dem Hannah belegt ist, wieder gelöst und ihre Erinnerungen kommen ohne Filter zurück.
Der Tag X, bis dahin müsste die Sache erledigt sein.
»Hannah?«
Laut klopfte Rachel an die Zimmertür ihrer Tochter und wartete einen Moment auf eine Reaktion.
Kein »Herein«, kein »Ja«.
»Hannah, nimmt die Kopfhörer raus und komm essen«, brüllte sie gegen die Musik an und klopfte ein weiteres Mal, dieses Mal etwas lauter.
Die Tür ging auf und eine genervte Hannah blickte ihr entgegen, die Kopfhörer noch immer in den Ohren. Ihre sommerlichen Klamotten schon längst gegen Jogginghose und T-Shirt getauscht.
»Ist ja schon gut, ich komme ja«, grummelte sie und schob sich an ihrer Mutter vorbei nach unten.
Steve saß bereits an seinem Platz und wartete geduldig.
»Hallo, Hannah. Wie war dein Tag?«, erkundigte er sich freundlich und bekam wie immer nur eine finstere Miene als Antwort, ihr Gesichtsausdruck enthielt alles, was sie ihm sagen wollte.
»Sei nett«, flüsterte ihre Mutter ihr ermahnend zu und setzte sich ebenfalls.
Hannah verdrehte die Augen, nahm mit großem Abstand zu Steve Platz und antwortete betont freundlich: »War in Ordnung. Danke, Steve.«
Von da an schenkte sie ihm keine Beachtung mehr. Ihr Augenmerk lag mehr auf dem Essen und was sie danach tun wollte. Kaum einer traute sich, etwas zu sagen und deshalb verlief das Essen schweigend. Das Klingeln an der Tür unterbrach die angespannte Stimmung, sehr zu jedermanns Erleichterung.
»Ich geh schon.«
Steve sprang fast schon auf und trat mit schnellen Schritten zur Tür herüber.
»Oh, Joshua. Was treibt dich denn um diese Zeit noch her?«
»Ist Hannah da?«, fragte Josh, obwohl er wusste, dass alle am Tisch saßen und in Ruhe aßen. Man hörte die Dringlichkeit in seiner Frage, doch Steve blieb unnachgiebig.
»Ja, aber wir essen noch«, erklärte er ihm ruhig. Steve wollte Josh nicht hierhaben, das war deutlich herauszuhören.
»Oh, na klar. Weiß ich doch. Ich kann so lange warten«, meinte Josh, schob sich an dem großen Mann vorbei ins Wohnzimmer und machte es sich auf dem schwarzen Sofa bequem.
»Schön, aber warum bist du hier?«, horchte Steve den Jungen aus, der seine Mappe auf dem Tisch ablegte.
»Ganz ehrlich? Mir ist noch eingefallen, dass ich Hannah etwas zeigen wollte«, erklärte Josh kurz.
Steve hatte nur ein schlichtes »Aha« übrig und kehrte zurück in die Küche. Blitzschnell sprang Hannah von ihrem Platz auf und war dabei, zu ihrem besten Freund zu laufen, doch Steve hinderte sie daran.
»Wo willst du hin, junge Dame?«, fragte er mit strengem Blick und griff nach ihrem Arm.
»Na, zu Josh. Er klang, als würde es ihm nicht so gut gehen.« Geschickt löste sie sich aus seiner Umklammerung.
Vor dem Verlassen der Küche fügte sie lautstark hinzu, damit es auch der Letzte kapierte: »Nenn mich nie wieder ›Junge Dame‹ oder sonst etwas in dieser Art. Du bist nicht mein Vater.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand sie im Wohnzimmer.
Josh hatte bereits einige Papierbögen auf dem Tisch und dem Sofa ausgebreitet. Deprimiert starrte er auf die Entwürfe.
»Wer war das?«
Entsetzt inspizierte Hannah die zerstörten Bilder, nachdem sie neben Josh Platz genommen hatte.
»Na, wer wohl? Der ›tollste‹ Bruder der Welt«, grummelte Josh vor sich hin und ließ seinen Kopf hängen.
»Egal, was Nick dazu gesagt hat, bevor er das getan hat, hör nicht auf ihn! Deine Bilder sind toll und er ist ein talentloser Trottel«, versuchte Hannah, ihren Freund wieder aufzumuntern.
Was ihr jedoch nur mäßig gelang. Josh erhob zwar seinen Kopf, doch in seinen Augen spiegelten sich Zorn und Zweifel an sich und seinem zeichnerischen Talent. Alles, was sie vor Kurzem erreicht hatte, hatte Joshs Bruder damit erneut zunichte gemacht.
»Nick hat sich mit seinen Freunden über die Bilder lustig gemacht und, wie er sagte, noch ›verschönert‹«, erzählte Josh mit einem tiefen Seufzer.
»Nimm dir das nicht so zu Herzen. Nick ist und bleibt ein Riesenarsch«, bemerkte Hannah und packte mit ihm zusammen die ruinierten Bilder wieder weg.
Dann legte sie ihm einen Arm um die Schulter und drückte ihn kurz.
»Ich weiß. Aber mit dieser Aktion ist er wirklich zu weit gegangen«, meinte Josh, beruhigte sich aber allmählich.
Hannah schwieg und stand ihrem Freund einfach bei.
»Kann ich heute hier schlafen? Ich will und kann jetzt nicht wieder nach Hause.«
Hannah seufzte und lehnte sich zurück.
»Wenn es nach mir ginge, natürlich.« Sie rutschte halb vom Sofa runter und überlegte, wie sie ihre Mutter dazu überreden konnte.
»Wo stecken denn alle?«, fragte Josh beim Anblick der menschenleeren Gänge und der unheimlichen Stille, die hier herrschte. Niemand war den beiden bisher begegnet, nicht einmal eine Lehrkraft.
»Kann es sein, dass alle schon längst in den Klassen sind?«, überlegte Hannah und holte aus ihrem Spind die passenden Bücher.
Beide waren nicht gerade pünktlich losgelaufen und hatten sich auf ihrem Schulweg reichlich Zeit gelassen.
»Möglicherweise, aber dass selbst die Kiffer und Gothics nicht mehr hier sind …« Joshs Körper strahlte Alarmbereitschaft aus.
»Josh, jetzt mach dir nicht ins Hemd. Die anderen schwirren bestimmt hier irgendwo rum.« Augenrollend schlug Hannah ihre Spindtür zu.
»Stimmt schon.«
»Lass uns gehen, Josh, bevor wir endgültig zu spät zum Unterricht kommen.« Er sollte endlich mal in die Puschen kommen, ihre Bücher wurden allmählich schwer.
Hannah beobachtete, wie Josh etwas hinter ihr wahrzunehmen schien. Denn er blieb wie angewurzelt stehen und starrte an ihr vorbei.
Josh atmete tief durch.
Sein Gesichtsausdruck jagte Hannah einen leichten Schauer über den Rücken und ließ sie selbst hinter sich blicken.
»Josh, was ist los mit dir?«, wollte sie wissen und drehte ihren Kopf wieder zurück zu ihm.
»Siehst du das? Dahinten war eben noch so ein unheimlicher Schatten«, fragte Josh mit zitternder Stimme.
»Nein Josh, ich habe überhaupt nichts gesehen. Ist alles in Ordnung mit dir?«
Verwirrt drehte sich Hannah um und ließ ihre Augen zu dem Ort wandern, an dem Josh den schwarzen Fleck gesehen hatte.
»Vergiss es einfach, war wohl doch nur Einbildung«, winkte Josh ab.
Die gesamte Situation erinnerte an einen Horrorfilm, kurz bevor jemand ermordet wird.
»Okay … Jetzt komm endlich!«, drängte Hannah und eilte durch den Flur.
Auf halbem Weg wurde es dunkel, nur die spärlichen Lichter der Notausgangsschilder leuchteten.
»Ist nur ein Stromausfall. Bestimmt ist eine Sicherung durchgebrannt, krieg dich wieder ein.«
Hannah schüttelte über den verschreckt aussehenden Josh den Kopf. Doch auch sie musste sich eingestehen, dass es irgendwie unheimlich geworden war. Reiß dich zusammen, Hannah. Alles ist gut. Das hier ist kein Albtraum, rief sie sich zur Vernunft.
»Aber du gibst mir recht, dass es irgendwie gruselig geworden ist?«, entgegnete er und warf gehetzt einen Blick hinter sich.
»Kann es sein, dass Rebecca und ihre Freunde dahinterstecken?«, sprach Hannah ihre Vermutung laut aus und spitzte ihre Ohren, bereit, ihre dämliche Lache zu hören.
»Das glaube ich nicht, dafür müsste sie schon den Hausmeister mit ins Boot holen.«
»Da hast du recht.«
Ein lauter Schrei entfuhr Josh und erschreckte Hannah so sehr, dass ihr Herz für einen kurzen Moment aussetzte und sie sich zu Josh umdrehte, der kreidebleich aussah und auf einen Punkt direkt neben ihr starrte.
»Verfluchte Scheiße Josh! Verpass mir doch nicht so einen Schreck, ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen!«
Josh bekam keinen Ton heraus, stattdessen erhob er seine Hand und deutete mit dem Finger auf eine Stelle hinter ihr. Eigentlich wollte sie gar nicht sehen, was da war, riskierte dennoch einen Blick hinter sich und erstarrte sofort.
Kaum zwei Schritte hinter ihr stand eine Gestalt wie aus einem Horrorfilm. Ein Kapuzenwesen mit einer Sense, von der man meinen könnte, es sei der Tod höchstpersönlich, stand, nein schwebte vor ihnen und beobachtete die beiden mit seinen rot leuchtenden Augen.
»Scheiße, was ist das?«
Die Eiseskälte, die dieser Sensenmann verströmte, kroch in jeden einzelnen ihrer Knochen und versetzte sie in schiere Panik. Sie stand einfach da und konnte keinen Ton von sich geben. Rebecca konnte ohne Hollywood-Experten und ’ner Menge Kohle so etwas unmöglich zustande bringen.
Viel zu spät schien Josh zu erkennen, dass sich dieses Ding nur auf Hannah fixierte, aus welchem Grund auch immer. Panisch rief er ihr zu: »Hannah, verschwinde!«
Hannah konnte alles hören und sehen, nur bewegen konnte sie sich nicht, ihre Beine waren wie aus Blei.
Stattdessen fasste sich Josh ein Herz, lief auf sie zu und blieb erst stehen, als er zwischen den beiden stand. Er hatte gehofft, so das Ding zu verscheuchen.
Der Plan ging nur leider nach hinten los. Dieses Wesen besaß unter der Kapuze kein Gesicht. Maden und Würmer wanderten über den Totenschädel und dennoch lebte es. Josh wurde von ihm so heftig zur Seite gestoßen, dass er quer durch den Flur flog und in der Glasvitrine mit den Pokalen der Schule landete.
Für einen Augenblick schaffte es Hannah, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen und ihren Blick auf Josh zu richten, der blutend im Glashaufen lag.
»Josh!«
Mit angsterfüllten Augen sah sie zu Josh, der sich bewegte und Hannah durch ein leises Stöhnen gefolgt von einem leisen »Mir geht es gut« zeigte, dass er noch am Leben war.
Erleichtert atmete Hannah auf.
Langsam kroch Josh aus dem Scherbenhaufen heraus, seine blutenden Arme ignorierend, und kämpfte sich auf die Beine.
»Hannah, pass auf!«, brüllte er ihr zu.
Der Sensenmann schlang seine Finger fest um ihren Hals und hob sie wie ein Fliegengewicht in die Luft, raubte ihr den Atem, während sie versuchte, die Hand loszubekommen.
»Scheiße, scheiße, scheiße.«
Hannah bekam nur am Rande mit, wie sich Josh abkämpfte und versuchte, ihr irgendwie zu helfen. Hannah konnte sich kaum vorstellen, was für schlimme Schmerzen er durch den Aufprall hatte. Trotzdem hämmerte er vor Wut auf den Boden ein, weil er nicht in der Lage war, mehr zu tun, als nur rumzusitzen und zuzusehen, wie dieses Ding sie umbrachte.
Innerlich schrie sie, als ihr Blick an der Kapuzengestalt hängen blieb. Hannah starrte in ein schwarzes Nichts, das sie zu verschlingen drohte, je länger sie reinschaute.
Sie versuchte weiter, die knochige Hand loszuwerden, doch all das Kratzen und Kneifen brachte nichts. Nicht der kleinste Ton drang aus ihrer staubtrockenen Kehle, selbst ihre Muskeln gehorchten ihr nicht.
Regungslos schaute sie dem Sensenmann ins nicht vorhandene Gesicht, spürte deutlich, wie Kälte in ihr aufstieg, was von einem starken Ziehen in ihrer Brust begleitet wurde.
Dann, ganz plötzlich, landete Hannah auf dem harten Boden, bevor noch Schlimmeres passieren konnte.
Sie hörte Josh etwas Undeutliches schreien. Sein Rufen vermischte sich mit dem Aufschrei des Monsters, das sich jedoch schnell wieder fasste und seine gesamte Aufmerksamkeit wieder auf Hannah richtete. Mit ausgestreckter Hand schwebte der Sensenmann auf sie zu, vermutlich um da weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Doch etwas hielt ihn zurück.
Wie aus dem Nichts tauchte ein junger Mann mit einer Waffe im Anschlag auf und schlug dem Sensenmann mit einer Klinge den ausgestreckten Arm ab.
Benommen schaute Hannah von dem Monster zu dem Fremden vor sich, der sie scheinbar vor dem Ding beschützte und dabei wohl keine solchen Todesängste wie sie zuvor verspürte.
»Bist du okay?«, wollte der Fremde wissen, der sich schützend zwischen die Kapuzengestalt und Hannah platzierte. Seinen Blick wachsam auf das Monster gerichtet, das nicht lange um seinen Arm trauerte oder gar dem Schmerz Beachtung schenkte.
»Ja«, hustete Hannah und kam wieder auf die Beine, eine Hand an ihren Hals gelegt. Er schmerzte immer noch und fühlte sich so an, als würde das Monster sie noch immer fest im Griff haben.
»Wer bist du und was hast du vor?«, fragte Hannah mit heiserer Stimme und hörte nicht auf, am ganzen Körper zu zittern, dabei wanderte ihr Blick zu der leicht krummen Waffe in seiner Hand.
»Wonach sieht es denn aus? Den da auslöschen«, antwortete er und wich geschickt einem Schlag des Wesens aus. Dabei nutzte er die langsamen Bewegungen seines Gegners aus und schnitt ihm, ohne zu zögern, seinen Kopf ab. Der Sensenmann löste sich auf.
»Dieses Ding … Was war das?« Offensichtlich wusste er darüber Bescheid.
Sie bekam jedoch keine Antwort, sondern nur einen kurzen, prüfenden Blick von oben bis unten. Selbst in dem schwachen Licht konnte Hannah seine dunklen Haare erkennen, die mit einer weißen Strähne durchzogen waren.
»Hannah.«
Kurz wandte sie ihr Gesicht von dem anderen Jungen ab und sah zu Josh, der zu ihr herüberkam.
»Geht es dir gut? Hat dieses Teil dir sonst noch etwas getan?«, fragte er Hannah, die sich wieder umdrehte und ihren Retter suchte, der in diesem kurzen Moment spurlos verschwunden war. Einfach weg, kaum dass das Licht wieder angegangen war.
»Wer war dieser Kerl? Und warum hat uns ein Sensenmann angegriffen?«
Hannah war ebenso ratlos, aber aus irgendeinem Grund wusste sie, dass der Junge nicht zufällig hier aufgetaucht war. Vermutlich genau wegen dem Sensenmann.
»Hannah?«
Besorgt blickte Josh sie an, als würde er spüren, dass etwas mit ihr nach dieser Attacke nicht stimmte.
»Alles okay. Mir ist nur etwas schwindelig.« Sie schwankte den Flur entlang und musste sich an der Wand abstützen.
»Wir gehen zur Krankenstation. Nicht, dass du mir hier noch umkippst«, meinte Josh und stützte sie den ganzen Weg über bis zur Krankenschwester.
»Wo hast du gesteckt?«, wollte Clay wissen, kaum dass Hunter wieder in der Academy war.
»Weg, einen verdammten Seelensauger erledigen. Den Alarm hast du wohl nicht gehört?«, erwiderte Hunter nüchtern und zwang sich dazu, stehen zu bleiben.
Skeptisch ließ Clay seinen Blick über seinen Zwilling wandern, ging aber auf dessen Alleingang nicht weiter ein.
»Schon gut. Aber es ändert nichts daran, dass wir wegen gestern noch mit Aria reden müssen.«
»Kann ich mich vorher noch umziehen? So möchte ich ungern hingehen«, machte Hunter ihn auf seine Klamotten, die voller Flecken waren und übel stanken, aufmerksam.
»Nein. Aria wartet schon auf uns.«
»Toll, vielen Dank auch«, knurrte Hunter.
Clay reagierte nicht auf seinen Ärger, sondern legte ihm einen Arm um die Schulter und schob ihn zu Arias Büro. Dort wartete bereits Maisie auf sie, sie hielt einen kleinen Beutel in der Hand.
»Ich kann mich nur bei dir entschuldigen und versprechen, dass wir schnell genug fertig werden, bevor dieser üble Geruch für immer an dir haftet«, neckte Clay Hunter, der ihm eine Reihe zorniger Blicke zuwarf.
»Da seid ihr ja endlich. Ich warte hier schon eine halbe Ewigkeit und − Boah! − was riecht hier so?«
Maisie rümpfte die Nase, als ihre Brüder näherkamen. Sofort machte Hunter auf dem Absatz kehrt. Die Reaktion war zu viel für ihn und veranlasste ihn dazu, dieses Treffen zu schwänzen, damit er den Gestank loswerden konnte.
»Hey, hey, bleib hier. So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, spielte Clay es herunter, doch Hunter blieb skeptisch.
»Lass es uns einfach schnell hinter uns bringen, damit ich unter die Dusche komme«, schnaubte Hunter und schob Clays Arm von seiner Schulter.
Ohne weiter Zeit zu verlieren, klopfte sein Bruder an die massive Eichenholztür, von dessen anderer Seite ein lautes »Herein« ertönte.
Sie betraten das überdimensionale Büro, das durch die großen Fenster und das helle Licht noch imposanter wirkte. Aria, die an einem gigantischen Schreibtisch saß, hatte ihre rotbraunen Haare bis auf zwei dicke Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen, zu einem Knoten zusammengebunden. Sie war in einem Haufen Papierkram vertieft, der sich schon stapelte.
»Da seid ihr ja.« Sie blickte auf, begrüßte sie mit einem zurückhaltenden Lächeln und legte ihren Stift beiseite.
»Gibt es etwas Neues zu eurer gestrigen Mission?«
Sofort trat Maisie an ihren Tisch heran.
»Leider haben wir den Attentäter verloren.«
»Doch in dem Gebäude, in dem wir ihn verloren haben, fanden wir den hier«, fuhr Clay fort, als seine Schwester etwas Rundes, blau Leuchtendes aus dem Beutel holte.
»Diese Fälschung ist wirklich gut.«
Jeder wusste, wie der Seelenopal aussah, doch nur wenige kamen so häufig mit ihm in Berührung wie beispielsweise Aria. Deshalb konnte sie auch genaustens erkennen, dass diese Fälschung zwar gut war, doch nicht ganz perfekt. Etwas ganz Entscheidendes fehlte, was man nicht einfach mal so nachmachen konnte.
Mit großen Augen betrachtete Aria die Kugel und nahm sie zur genaueren Begutachtung in die Hand. Fasziniert von diesem guten Imitat drehte sie die Kugel in der Hand umher und suchte nach Hinweisen, die sie zu dem Hersteller führen könnten − Ein besonderes Merkmal, eine Art Fingerabdruck des Fälschers, so klein, dass man den Gegenstand unter ein Mikroskop halten musste oder etwas, was man erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennen konnte.
»Womöglich wollte der Attentäter das Original gegen diese Fälschung tauschen und dann an den Meistbietenden verkaufen«, sprach Hunter die Vermutung laut aus, an die alle höchstwahrscheinlich dachten.
Hunter sah Aria deutlich an, wie sich ihre Miene in Stein verwandelte und sich ihre Fäuste ballten. Diese Fälschung stellte eine enorme Bedrohung dar.
»Wenn das wirklich so ist, dann ist das ganz und gar nicht gut.«
Knurrend legte Aria den falschen Opal vor sich auf den Tisch. Ihre Anspannung stieg enorm an. Auch sah man ihr an, wie es in ihrem Gehirn ratterte, auf der Suche nach Antworten. »Habt ihr eine Idee, an wen er es verkaufen wollte?«, hakte Aria nach.
Hunter und seine Geschwister hatten keine blasse Ahnung. Leise fluchend stand Aria von ihrem Stuhl auf und lief im Raum auf und ab. »Das ist übel, wer ist dieser ominöse Käufer?«, überlegte Aria laut und die anderen konnten ihr nur zustimmen. »Ab sofort werden die Wachen um den Seelenkristall verdoppelt und keiner kommt ohne ausdrückliche Erlaubnis in seine Nähe«, gab sie bekannt, warf Maisie die blaue Kugel zu und befahl ihnen, während sie es sich wieder in ihrem Stuhl bequem machte: »Vernichtet diese Fälschung und berichtet mir, wenn etwas Ungewöhnliches passiert.«
»Jawohl!«, riefen ihre Jäger und verneigten sich kurz, bevor sie das Büro verließen.
»Endlich kann ich duschen«, freute sich Hunter und wollte schon auf sein Zimmer gehen. Wäre da nicht sein lieber Zwillingsbruder, der ihn aufhielt.
»Hunter.«
Genervt hielt er in seiner Bewegung inne und drehte seinen Kopf zu Clay. »Was?«
Clay trat mit einem bittenden Blick auf ihn zu. »Mach um Maisies Willen bitte nicht wieder einen Alleingang. Dein letzter ging zwar gut, aber der nächste wird es vielleicht nicht mehr«, bat Clay seinen Zwilling.
Hunter blieb für einen Moment still und kaute auf der Innenseite seiner Wange herum. Dann drehte er sich, mit einer Hand winkend, wieder zum Gehen um. »Verstanden. Dass du jedes Mal mit Maisie kommen musst …«, sagte er mit knurrendem Unterton und verschwand in Richtung seines Zimmers, wo er seine wohlverdiente Dusche nahm.
Während das warme Wasser über seine Haut floss, wanderten seine Gedanken immer wieder zu diesem Mädchen, die in ihm verwirrende Gefühle zurückgelassen hatte. Hunter hatte deutlich spüren können, dass er sie von irgendwoher kannte. Doch woher, das war ihm ein Rätsel, und egal wie sehr Hunter grübelte, er kam einfach nicht drauf.
Sie ist anders als normale Menschen. Aber wie kann das sein?, fragte er sich und kam kopfschüttelnd in sein Zimmer zurück, in dem überraschenderweise Maisie sowie Clay auf ihn warteten. »Warum seid ihr hier?«, wollte Hunter von den beiden wissen, trat an seine Kommode und zog sich schnell etwas über.
»Ich habe gemerkt, dass deine Gefühle unruhig sind«, erklärte Maisie.
Mit verschränkten Armen drehte sich Hunter um und machte seinen Geschwistern klar: »Meine Gefühle sind nicht unruhig.«
Offensichtlich glaubten ihm die beiden kein Wort und abwimmeln lassen, wollten sie sich jetzt erst recht nicht mehr. Misstrauisch sah seine Schwester ihn an und setzte sich aufs Bett.
»Du weißt genau, dass es überhaupt nichts bringt, mich anzulügen. Also raus mit der Sprache!«, forderte Maisie.
»Du hältst etwas vor uns zurück«, meldete sich nun auch Clay zu Wort.
»Nein, tue ich nicht«, stellte er klar, seine Hände zu Fäusten geballt.
»Dann verrate uns, was los ist. Wir brauchen dich mit klarem Kopf, wenn es wieder zu so einem Vorfall kommt«, versuchte Clay, ihn zur Vernunft zu bringen.
Hunter schwieg eine ganze Weile, wog ab, ob er ihnen von dem Mädchen erzählen sollte. Allerdings wusste er selbst noch nicht einmal, was das zu bedeuten hatte, ebenso wenig, welche Gefühle er dabei hatte. Immerhin konnte er sich auch irren und wenn das bei ihr der Fall war, wären die Konsequenzen fatal und nicht nur für ihn.
»Na gut, ich verrate es euch«, gab er schließlich nach und stieß sich von der Kommode ab. Er schloss die Tür sicherheitshalber ab, um ungebetene Gäste fernzuhalten. »Als ich die Verfolgung eines Seelensaugers aufgenommen habe, bin ich auf ein Mädchen gestoßen. Keine Ahnung, wieso er sich ausgerechnet sie ausgesucht hatte, aber … Sie war auf jeden Fall anders.«