Das Erbe der Sterne - James P. Hogan - E-Book + Hörbuch

Das Erbe der Sterne Hörbuch

James P. Hogan

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Beschreibung

Ein toter Raumfahrer

In einer felsigen Höhle auf dem Mond wird eine Leiche in einem roten Raumanzug entdeckt. Niemand weiß, wer der Mann ist. Niemand weiß, woher er kam. Niemand weiß, wer oder was ihn umgebracht haben könnte. Als Wissenschaftler die Leiche daraufhin genauer untersuchen, stellen sie fest, dass der verblichene Raumfahrer 50.000 Jahre alt ist. Er wurde also zu einer Zeit geboren, als es weder die Raumfahrt noch größere menschliche Aktivitäten auf der Erde gab. Es ist das größte Rätsel in der Geschichte des Universums...

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Zeit:9 Std. 6 min

Sprecher:Mark Bremer

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DAS BUCH

In einer felsigen Höhle auf dem Mond wird die Leiche eines Mannes in einem Raumanzug entdeckt. Niemand weiß, wer er ist. Niemand weiß, woher er kam. Niemand weiß, wer oder was ihn umgebracht haben könnte. Die Wissenschaftler, die den Leichnam untersuchen, nennen ihn liebevoll »Charlie«. Und dann machen sie eine sensationelle Entdeckung: Charlie ist 50 000 Jahre alt. Er wurde also zu einer Zeit geboren, als es weder Raumfahrt noch überhaupt größere menschliche Aktivitäten auf der Erde gab. Aber wenn dieser Astronaut nicht von der Erde stammt, woher kam er dann? Die Ausrüstungsgegenstände, die bei Charlie gefunden werden, deuten jedenfalls auf eine hoch entwickelte Zivilisation hin. Als es den Linguisten gelingt, Charlies Tagebuchaufzeichnungen und die Landkarten zu entschlüsseln, machen sie eine atemberaubende Entdeckung. Eine Entdeckung, die die Menschheit vor das größte Rätsel des Universums stellt …

James P. Hogans Meisterwerk Das Erbe der Sterne zählt zu den großen Klassikern der Science-Fiction-Literatur.

DER AUTOR

James P. Hogan (1941–2010) wuchs im Londoner Westen auf. Sein erster Roman Das Erbe der Sterne erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Er wurde oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau Jackie, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, in Florida und Irland. Im Heyne-Verlag sind als E-Books von James P. Hogan lieferbar:

Die Riesen von Ganymed

Stern der Riesen

Mehr über James P. Hogan und seine Romane erfahren Sie auf:

JAMES P. HOGAN

DAS ERBE DER

STERNE

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der OriginalausgabeINHERIT THE STARSAus dem Englischen von Andreas BrandhorstNeu durchgesehen und vollständig überarbeitet von Rainer Michael Rahn
Überarbeitete NeuausgabeCopyright © 1977 by James Patrick HoganCopyright © 2017 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/sdecoretUmsetzung eBook: Greiner & Reichel, KölnISBN 978-3-641-17821-5V004
www.diezukunft.de
www.penguinrandomhouse.de

Prolog

Er spürte, wie sein Bewusstsein zurückkehrte.

Instinktiv prallte sein wiedererwachter Verstand zurück, als bedürfte es nur einer Willensanstrengung, die unablässig dahintropfenden Sekunden anzuhalten und in die Zone zeitlosen Vergessens zurückzukehren, in der die Qual der totalen Erschöpfung verschwunden war.

Das Hämmern, das seine Brust zu sprengen gedroht hatte, war verstummt. Die Ströme von Schweiß, die zusammen mit seiner Kraft aus jeder Pore seines Körpers gequollen waren, versiegten. Seine Glieder waren schwer wie Blei. Das Rasseln der Lunge hatte sich in einen stetigen und gleichmäßigen Rhythmus zurückverwandelt. Er dröhnte laut im geschlossenen Käfig seines Helms.

Er versuchte sich daran zu erinnern, wie viele umgekommen waren. Ihr Schlaf war endgültig, doch für ihn gab es noch keine Ruhe. Wie lange konnte er noch so weitermachen? Hatte in Gorda überhaupt jemand überlebt?

»Gorda …? Gorda …?«

Sein geistiger Widerstand konnte ihn nicht länger von der Wirklichkeit abschirmen.

»Ich muss nach Gorda!«

Er schlug die Augen auf. Milliarden ruhig leuchtender Sterne starrten ihm teilnahmslos entgegen. Der Körper gehorchte ihm nicht, als er sich zu bewegen versuchte; er schien die wertvollen Augenblicke der Entspannung unbedingt bis zum Letzten auskosten zu wollen. Er atmete tief durch und kämpfte sich in die Höhe, in eine sitzende Position, weg vom Felsen. Jäher Schmerz peinigte jede einzelne Faser seines Körpers, und er biss die Zähne zusammen. Sein Kopf kippte nach vorn und prallte gegen die Sichtscheibe des Helms. Die Übelkeit verschwand.

Er stöhnte laut.

»Na, geht’s jetzt besser, Soldat?« Klar drang die Stimme aus dem Lautsprecher in seinem Helm. »Die Sonne geht unter. Wir sollten uns beeilen.«

Er hob den Kopf und betrachtete müde die albtraumhafte Wildnis aus verbrannten Felsen und aschgrauem Staub, die ihn umgab.

»Wo …« Der Laut kratzte in seiner Kehle. Er schluckte, befeuchtete seine Lippen und versuchte es erneut. »Wo bist du?«

»Rechts von dir, auf der Anhöhe, direkt über der kleinen Felswand … die mit den großen Felsblöcken darunter.«

Er wandte den Kopf zur Seite, und nach ein paar Sekunden entdeckte er einen schimmernden blauen Fleck vor dem tintenschwarzen Himmel. Er schien verschwommen und weit entfernt zu sein. Der Soldat zwinkerte, strengte seine Augen erneut an und zwang das Hirn, die optischen Daten zu koordinieren. Der blaue Fleck entpuppte sich als der unermüdliche Koriel, der einen Hochleistungskampfanzug trug.

»Ich sehe dich.« Und nach einer Pause: »Wie steht’s?«

»Auf der anderen Seite der Anhöhe ist es relativ flach. Dort scheint der einfachste Weg zu verlaufen. Weiter drüben wird’s felsiger. Komm rauf und sieh’s dir an.«

Er reckte zentimeterweise die Arme hoch, damit er sich an dem Felsen in seinem Rücken abstützen konnte, und spannte sie dann, um sich auf die Beine zu stemmen. Sein Gesicht verzerrte sich, als er alle ihm verbliebene Energie in die kraftlosen Oberschenkel zu leiten versuchte. Wieder begann das Herz zu hämmern, wieder rasselte die Lunge. Die Anstrengung war umsonst, und er fiel gegen den Felsen zurück. Sein keuchender Atem krächzte aus Koriels Funkempfänger.

»Aus … kann nicht mehr …«

Die blaue Gestalt am Horizont drehte sich um.

»He, sag nicht so was. Es ist nicht mehr weit. Wir sind doch schon fast da, Kumpel … fast da.«

»Nein … nein, mit mir ist’s aus …«

Koriel zögerte ein paar Sekunden.

»Ich komme wieder runter.«

»Nein … geh du allein. Irgendjemand muss durchkommen.«

Keine Antwort.

»Koriel …?«

Er starrte dorthin, wo er die Gestalt gesehen hatte, doch sie war hinter den Felsen, die seine Funksignale absorbierten, verschwunden. Ein oder zwei Minuten später tauchte Koriel neben einigen nahen Felsblöcken wieder auf und eilte ihm mit langen Sprüngen mühelos entgegen. Aus den Sätzen wurden normale Schritte, als Koriel die zusammengekrümmte, in einen roten Anzug gekleidete Gestalt erreichte.

»Komm schon, Soldat, hoch mit dir. Da sind immer noch ein paar Leute, die sich auf uns verlassen.«

Er spürte, wie ihn etwas unter den Armen packte und er, ohne eigenen Antrieb, langsam in die Höhe kam, als würde ein Teil von Koriels unbegrenzten Kraftreserven in ihn strömen. Eine Zeit lang drehte sich alles vor seinen Augen, und er lehnte den Kopf gegen die Schulterinsignien des Riesen neben ihm.

»In Ordnung«, brachte er schließlich hervor. »Geh’n wir.«

Stunde um Stunde wuchs die dünne Schlange aus Fußspuren, deren Kopf in zwei Farbklecksen bestand, nach Westen, durch die Ödnis, in der die Schatten immer länger wurden. Er bewegte sich wie in Trance, spürte keinen Schmerz, keine Erschöpfung – er spürte gar nichts mehr. Der Horizont schien sich niemals zu verändern; bald konnte er seinen Anblick nicht mehr ertragen. Stattdessen betrachtete er die nächste ins Auge fallende Felsnadel oder Klippe und begann die Schritte zu zählen, bis sie sie erreicht hatten. »Zweihundertdreizehn weniger.« Und dann noch einmal … und noch einmal … immer wieder. Wie eine langsame, endlose und gleichgültige Prozession glitten die Felsen an ihnen vorbei. Jeder einzelne Schritt wurde zu einem Sieg des Willens … Es war eine konzentrierte, bewusste Anstrengung, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn er strauchelte, war Koriel da, um ihn festzuhalten. Wenn er fiel, dann war Koriel immer zur Stelle, um ihm wieder in die Höhe zu helfen. Koriel ermüdete nie.

Schließlich hielten sie an. Sie befanden sich in einer Schlucht, die etwa vierhundert Meter breit war, unterhalb einer der niedrigen, zerklüfteten Felswände, die die Schlucht zu beiden Seiten flankierten. Am nächsten Felsblock brach er zusammen. Koriel war ein paar Schritte vorausgelaufen und blickte auf die Landschaft. Die Vorsprünge und Klippen unmittelbar über ihnen wurden von einem Einschnitt unterbrochen. Er markierte jene Stelle, an der sich eine steile, enge Spalte bis ganz hinunter erstreckte, um dann in die Felswand der Hauptschlucht zu münden. Vom Ende der Spalte aus führte ein Hang aus angehäuftem Gesteinsschutt und Felsbrocken nahezu zwanzig Meter bis zum Boden der Schlucht hinunter. Er endete nicht weit von ihnen entfernt. Koriel streckte einen Arm aus und deutete auf einen Punkt jenseits des Risses.

»Dort etwa müsste Gorda liegen«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Der beste Weg dürfte durch die Spalte hindurch und dann den Bergrücken hinaufführen. Wenn wir in der Ebene bleiben und das alles umgehen, dauert es zu lange. Was meinst du?«

Der andere starrte in stummer Verzweiflung hinauf. Die Felslawine, die sich bis zum Anfang der Spalte auftürmte, sah wie ein Gebirge aus. Dahinter, in der Ferne, ragte der zerklüftete Bergrücken empor; weiß und voller Zacken lag er im Licht der Sonne. Es war unmöglich.

Koriel gestattete seinen Zweifeln nicht, sich zu entfalten. Irgendwie – rutschend, kriechend, stolpernd und stürzend – gelangten sie bis dorthinauf, wo die Spalte begann. Dahinter strebten die Felswände aufeinander zu, wandten sich nach links und nahmen ihnen so die Sicht auf die Schlucht unter ihnen, aus der sie gekommen waren. Sie kletterten höher. Um sie herum reflektierten die Geröllmassen das grelle Sonnenlicht, und Schatten, die wie bodenlose Abgründe wirkten, zogen auf Felsen, deren gesplitterte Oberflächen tausend verschiedene Winkel aufwiesen, messerscharfe Grenzen zwischen Hell und Dunkel. Sein Hirn war bald nicht mehr in der Lage, aus der wahnwitzigen, aus Schwarz und Weiß zusammengesetzten Geometrie, die wie ein Kaleidoskop über seine Netzhaut huschte, Gestalt und Form seiner Umgebung zu extrahieren. Die Muster wuchsen und schrumpften und verschmolzen und wirbelten mit der Raserei einer visuellen Kakofonie umher.

Sein Gesicht prallte gegen die Sichtscheibe, als sein Helm dumpf in den Staub schlug. Koriel zerrte ihn wieder auf die Beine.

»Du kannst es schaffen. Vom Bergrücken aus können wir Gorda sehen. Und dann geht es nur noch bergab …«

Aber die in Rot gekleidete Gestalt sank langsam auf die Knie und kippte vornüber. Der Kopf im Innern des Helms baumelte schwach von einer Seite zur anderen. Als Koriel ihn beobachtete, erkannte der bewusste Teil seines Verstandes jene unausweichliche Logik, die sein Unterbewusstsein längst akzeptiert hatte. Er atmete tief durch und sah sich um.

Nicht weit hinter ihnen befand sich eine Höhle, an der sie vorbeimarschiert waren, knapp zwei Meter breit, direkt am Fuße einer der Felswände. Sie wirkte wie das Überbleibsel eines in Vergessenheit geratenen Aushubs – vielleicht die Probegrabung einer Bergbaugruppe. Der Riese bückte sich, packte das Gurtzeug, das den Tornister auf dem Rücken des nun Bewusstlosen hielt, und schleppte den Reglosen den Hang wieder hinunter, zur Höhle hin. Sie war etwa drei Meter tief. Eilig ging Koriel daran, eine Lampe zu installieren, deren Licht von den Wänden trüb reflektiert wurde. Dann holte er die Lebensmittelrationen aus der Vorratstasche seines Kameraden, lehnte den Bewusstlosen so bequem wie möglich an die Wand und platzierte die Lebensmittelbehälter so, dass er sie leicht erreichen konnte. Gerade als er fertig war, öffneten sich hinter der Helmscheibe die Augen.

»Hier kannst du eine Weile ausruhen.« Die übliche Ruppigkeit war aus Koriels Tonfall verschwunden. »Noch bevor du bis drei gezählt hast, bin ich mit einer Rettungsmannschaft von Gorda zurück.«

Der Rotgekleidete hob müde einen Arm. Aus Koriels Helmlautsprecher drang nur ein Wispern.

»Du … du hast versucht … Niemand kann …«

Koriel umfasste mit beiden Händen den ihm entgegengestreckten Handschuh.

»Du darfst nicht aufgeben. Reiß dich zusammen. Du musst hier nur eine Weile aushalten.« Seine granitfarbenen Wangen waren feucht. Er trat zum Ausgang der Höhle zurück und grüßte ein letztes Mal. »Halt die Ohren steif, Soldat.« Und dann war er verschwunden.

Draußen errichtete er eine kleine Steinpyramide, um die Höhle zu markieren. Auf dem ganzen Weg bis nach Gorda würde er solche Pyramiden bauen. Schließlich richtete er sich auf und wandte sein Gesicht herausfordernd der Trostlosigkeit zu, die ihn umgab. Die Felsen schienen ihn mit lautlosem Hohn zu verspotten. Die Sterne über ihm schimmerten unbewegt. Koriel starrte auf die Spalte, die sich bis hin zu den Felszacken und Terrassen erstreckte, die den Zugang zum Bergrücken bewachten, der sich in der Ferne erhob. Er fletschte die Zähne.

»So … jetzt sind nur noch wir beide übrig, nicht wahr?«, knurrte er das Universum an. »In Ordnung, du Missgeburt … wollen mal sehen, wer diese Runde gewinnt!«

Seine Beine bewegten sich wie die Kolben eines Motors, als er den schier endlos ansteigenden Steilhang in Angriff nahm.

1

Begleitet von einem leisen, aber kräftigen Jaulen stieg ein gewaltiger, silberner Torpedo langsam empor, bis er etwa sechshundert Meter über dem würfelförmigen Gewimmel der Londoner City schwebte. Er war über dreihundert Meter lang und verbreiterte sich am Heck zu einem Delta, das mit zwei spitz zulaufenden Leitfinnen besetzt war. Eine Zeit lang kreiste das Schiff, als genieße es seine wiedergefundene Freiheit. Sein Bug schwang anmutig herum, als es sich nach Norden ausrichtete. Dann schließlich begann es Fahrt aufzunehmen und zu steigen, unmerklich erst, aber doch mit ständig wachsender Geschwindigkeit. Das Dröhnen intensivierte sich. In einer Höhe von dreitausend Metern wurden die Triebwerke auf Vollschub gefahren, und sie schleuderten den suborbitalen Skyliner ungeduldig bis an die Grenze zum freien All.

In der Reihe einunddreißig auf dem C-Deck saß Dr. Victor Hunt, Leiter der Abteilung für Theoretische Studien der Metadyne Nucleonic Instrument Company of Reading, Berkshire, einer Tochtergesellschaft der gewaltigen Intercontinental Data and Control Corporation mit Sitz in Portland, Oregon, USA. Geistesabwesend betrachtete er die Bilder vom immer kleiner werdenden Hendon, die über den Wandbildschirm der Kabine flimmerten, und versuchte erneut, so etwas wie eine Erklärung für die Ereignisse der letzten Tage zu finden.

Seine Arbeiten an der Materie-Antimaterie-Partikelauflösung waren gut vorangekommen. Forsyth-Scott hatte Hunts Berichte mit sichtlichem Interesse studiert, und deshalb wusste er, dass die Tests gut vorangekommen waren. Umso eigenartiger war es, dass er Hunt eines Morgens in sein Büro zitiert und ihn einfach gebeten hatte, alles stehen und liegen zu lassen und so bald wie möglich zur IDCC-Zentrale in Portland zu fliegen. Ausdrucksweise und Gebaren des Geschäftsführers hatten deutlich gemacht, dass er sein Ersuchen hauptsächlich der Höflichkeit zuliebe in solch freundliche Worte gekleidet hatte. In Wirklichkeit handelte es sich hier um eine der seltenen Gelegenheiten, in der Hunt keine Wahl blieb.

Auf Hunts Fragen hin hatte Forsyth-Scott freimütig verkündet, dass er keine Ahnung habe, warum Hunts sofortige Anwesenheit in der IDCC-Zentrale so dringend erforderlich sei. Am vorhergehenden Abend hatte Forsyth-Scott eine Videonachricht von Felix Borlan, dem Präsidenten der IDCC, erhalten. Borlan hatte angeordnet, dass der einzige funktionierende Skop-Prototyp für den sofortigen Versand in die USA vorbereitet werden solle. Die Sache habe absolute Priorität. Ein Installationsteam solle ebenfalls nach Portland fliegen. Er hatte auch darauf bestanden, dass Hunt persönlich für unbestimmte Zeit herüberkam, um an irgendeinem Projekt mitzuarbeiten, das keinen Aufschub duldete. Forsyth-Scott hatte Borlans Nachricht auf dem Tischdisplay noch einmal abgespielt, nur um Hunt zu zeigen, dass er tatsächlich im Sinne einer Direktive handelte, deren Hintergrund er nicht verstand. Seltsamer noch, Borlan selbst schien ebenfalls nicht in der Lage gewesen zu sein, präzise zu formulieren, wofür das Instrument und sein Erfinder unbedingt benötigt wurden.

Das Trimagniskop war in der Folge von Hunts zweijährigen Forschungen hinsichtlich bestimmter Aspekte der Neutrino-Physik entwickelt worden und versprach das vielversprechendste Wagnis zu werden, das die IDCC je eingegangen war. Hunt hatte nachgewiesen, dass ein Neutrinostrahl, der durch eine feste Masse geleitet wurde, in der unmittelbaren Nähe von Atomkernen gewissen Wechselwirkungen unterlag, die das Energieniveau des Strahls messbar veränderten. Er hatte eine Möglichkeit entwickelt, durch Rasterabtastung eines Objekts mit drei synchronisierten, sich überkreuzenden Strahlen genügend Daten zu gewinnen, um damit ein 3-D-Farbhologramm zu erzeugen, das vom Original optisch nicht zu unterscheiden war. Und da die Neutrinostrahlen feste Materie vollständig durchdrangen, war es überdies genauso einfach, innere sowie auch äußere Optikanzeigen zu gewinnen. Verbunden mit der Hochleistungsverstärkung, die in diese Technik integriert war, erwuchsen daraus Möglichkeiten, die von nichts, was der Markt derzeit anbot, auch nur annähernd erreicht wurden. Von der Untersuchung des quantitativen Zellstoffwechsels über Bionik, Neurochirurgie und Metallurgie bis hin zur Qualitätskontrolle – die Anzahl der möglichen Anwendungsbereiche war nicht abzuschätzen. Nachfrage und Profit würden enorm sein. Den Prototyp und seinen Schöpfer in die USA zu beordern machte einen Strich durch die sorgfältige Produktionsplanung, ließ den Marketing-Feldzug wirkungslos verpuffen und grenzte an eine Katastrophe. Borlan wusste dies so gut wie jeder andere auch. Je mehr Hunt darüber nachdachte, desto weniger plausibel erschienen ihm die verschiedenen möglichen Erklärungen, die ihm zuerst in den Sinn gekommen waren, und desto sicherer wurde er, dass die Antwort auf seine Fragen, wie auch immer sie aussehen mochte, nicht bei Felix Borlan oder der IDCC zu finden war.

Sein Gedankengang wurde von einer Stimme unterbrochen, die aus dem irgendwo in der Kabinendecke installierten Lautsprecher drang.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Hier spricht Flugkapitän Mason. Im Namen der British Airways möchte ich Sie an Bord dieser Boeing 1017 herzlich willkommen heißen. Wir haben nun unsere normale Flughöhe von achtzig Kilometern und die Standardreisegeschwindigkeit von 5900 Stundenkilometern erreicht. Unser Kurs ist fünfunddreißig Grad West, und die Küste mit Liverpool liegt jetzt steuerbord acht Kilometer entfernt. Sie können nun Ihre Plätze verlassen. Die Bars sind geöffnet; Drinks und Snacks warten auf Sie. Wir werden planmäßig um zehn Uhr achtunddreißig lokaler Zeit in San Francisco eintreffen – also in genau einer Stunde und fünfzig Minuten. Ich möchte Sie an die sicherheitstechnische Vorschrift erinnern, zu Beginn unseres Landeanfluges in einer Stunde und fünfunddreißig Minuten wieder Ihre Plätze einzunehmen. Zehn Minuten vor Beginn des Landeanflugs wird ein akustisches Signal ertönen, das sich nach fünf Minuten noch einmal wiederholt. Wir sind überzeugt, der Flug wird Ihnen gefallen. Vielen Dank.«

Das Klicken, mit dem sich der Flugkapitän ausklinkte, ging im allgemeinen Stimmengewirr unter, als die Passagiere ein Wettrennen zu den Vi-Phon-Nischen veranstalteten.

Im Sessel neben Hunt saß Rob Gray, der Leiter der Metadyne-Abteilung für Experimentelle Technik. Auf seinen Knien lag ein geöffneter Aktenkoffer. Er betrachtete die Informationen, die der in den Deckel integrierte Bildschirm zeigte.

»Fünfzehn Minuten nach unserer Landung in Frisco geht eine Linienmaschine nach Portland«, verkündete er. »Das wird ein bisschen knapp. Der nächste startet erst vier Stunden später. Was meinen Sie?« Er unterstrich seine Frage mit hochgezogenen Augenbrauen und einem kurzen Blick auf seinen Nachbarn.

Hunt verzog das Gesicht. »Ich bin nicht gerade entzückt davon, vier Stunden in Frisco rumzuhängen. Buchen Sie für uns einen Avis-Jet – wir fliegen besser selbst.«

»Daran habe ich auch gedacht.«

Gray ließ seine Finger über die Minitastatur unter dem Bildschirm huschen und rief damit einen Index auf. Er betrachtete ihn kurz und betätigte dann eine andere Taste, die ein Verzeichnis auf dem Bildschirm erscheinen ließ. Er wählte eine der Nummern aus den Zahlenkolonnen und tippte sie ein, leise vor sich hin sprechend. Die eingegebenen Zahlen leuchteten nahe dem unteren Ende des Bildschirms auf, damit er die Nummer bestätigen konnte. Dann tätigte er den Anruf. Für ein paar Sekunden wurde der Bildschirm blind, dann flammte auf der Schirmfläche ein Konglomerat aus durcheinanderwirbelnden Farben auf, aus dem sich unmittelbar darauf die Gesichtszüge einer Platinblonden schälten, die jene Art des Lächelns zur Schau stellte, das normalerweise für die Zahnpastawerbung reserviert ist.

»Guten Morgen. Hier ist Avis San Francisco, City-Zentrale. Mein Name ist Sue Parker. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Gray sprach in das Mikrofongitter, das direkt neben den winzigen Aufnahmeobjektiven über dem Bild angebracht war.

»Hallo Sue. Mein Name ist Gray – R. J. Gray. Bin auf dem Weg nach Frisco, planmäßige Ankunft in zwei Stunden von jetzt an gerechnet. Kann ich ein Aircar reservieren lassen?«

»Aber klar. Reichweite?«

»Oh … na, so siebenhundert …« Er warf Hunt einen Blick zu.

»Besser tausend«, schlug der vor.

»Buchen Sie bitte tausend Kilometer Minimum.«

»Kein Problem, Mr. Gray. Wir haben Skyrover. Mercury Drei, Honigbienen und Gelbvögel. Haben Sie bestimmte Wünsche?«

»Nein, keine.«

»Dann buche ich einen Mercury. Haben Sie eine Vorstellung, wie lange Sie ihn brauchen werden?«

»Nein … äh … auf unbestimmte Zeit.«

»In Ordnung. Automatiknavigation und Computer-Flugkontrolle? Vielleicht einen Senkrechtstarter?«

»Das wäre wünschenswert, und … äh … ja.«

»Sie haben eine gültige Fluglizenz?« Die Blondine betätigte unsichtbare Tasten, während sie sprach.

»Ja.«

»Würden Sie mir bitte Ihre Personalangaben und Kontodaten überspielen?«

Während des Gesprächs hatte Gray die betreffende Karte bereits aus der Brieftasche entnommen. Er schob sie in den Schlitz an der einen Seite des Displays und betätigte einen Knopf.

Die Blondine befragte andere unsichtbare Orakel. »In Ordnung«, verkündete sie. »Noch andere Piloten?«

»Einer. Dr. Victor Hunt.«

»Seine Personalangaben?«

Gray nahm Hunts schon bereitgehaltene Karte und tauschte sie gegen die seine aus. Dann wiederholte sich das Ritual. Das Gesicht verschwand vom Schirm und wurde durch eine Tabelle ersetzt, in deren Spalten bestimmte Stichworte zu lesen waren.

»Würden Sie die Angaben bitte prüfen und dann die Zahlung anweisen?«, sagte die Automatenstimme vom Lautsprechergrill. »Die Gebühren werden rechts angezeigt.«

Grays Blick huschte flink über den Schirm. Dann brummte er und gab mittels eines Tastendrucks für eine bestimmte Datenfrequenz frei, die nicht extra noch einmal auf dem Schirm angezeigt wurde. In der Spalte, die mit »Bestätigung« bezeichnet war, leuchtete das Wort POSITIV auf. Dann erschien erneut das immer noch lächelnde Gesicht der Sekretärin auf dem Schirm.

»Wann holen Sie den Jet ab, Mr. Gray?«, erkundigte sie sich.

Gray wandte sich Hunt zu.

»Essen wir am Flughafen erst noch zu Mittag?«

Hunt schnitt eine Grimasse. »Nicht nach dieser Party letzte Nacht. Ich könnte nichts runterbringen.« Sein Gesicht nahm einen Ausdruck heftigen Abscheus an, als er das Innere des Müllcontainers befeuchtete, der einst sein Mund gewesen war. »Lassen Sie uns heute Abend irgendwas essen.«

»So um elf Uhr dreißig herum«, schlug Gray vor.

»Er wird für Sie bereitstehen.«

»Danke, Sue.«

»Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen.«

»Bye!«

Gray betätigte einen Schalter, zog den Stecker des Aktenkoffers aus der Steckdose, die in die Armlehne seines Sessels eingelassen war, wickelte das Verbindungskabel auf und klemmte es im Deckel fest. Dann schloss er den Koffer und verstaute ihn hinter seinen Füßen.

»Alles erledigt«, stellte er fest.

Das Trimagniskop war das bisher letzte Glied in einer langen Kette von technologischen Triumphen der Metadyne-Produktentwicklung – ins Leben gerufen, überarbeitet und bis zur Vollkommenheit entwickelt durch die erfolgreiche Teamarbeit von Hunt und Gray. Hunt war der Ideenlieferant, hatte in der Firma eine Art freiberuflichen Status und brauchte sich nur mit den Studien und Experimenten zu beschäftigen, die auf seine eigenen Einfälle zurückzuführen waren oder den Erfordernissen seiner Forschungen entsprachen. Der Titel, den man ihm gegeben hatte, war ein wenig irreführend: In Wirklichkeit war er die Abteilung Theoretische Studien. Es war ihm gelungen, eine klare Einordnung seiner Position in die Direktionshierarchie des Unternehmens zu vermeiden. Abgesehen vom Geschäftsführer Sir Francis Forsyth-Scott, unterstand er keinem Vorgesetzten, und er hatte es auch nicht nötig, Untergebenen gegenüber zu prahlen. Im Organisationsdiagramm der Gesellschaft stand das Kästchen »Theoretische Studien« allein und abseits der Verbindungslinien, als wäre es nachträglich hinzugefügt worden. Im Innern des Kästchens stand nur ein einzelner Name: Dr. Victor Hunt. Das war es, was er mochte – eine symbiotische Beziehung, in der Metadyne ihm Geräteausstattung, Anlagen, Service und das Geld, das er für seine Arbeiten brauchte, zur Verfügung stellte. Andererseits überließ er Metadyne erstens das Prestige, eine weltweite Kapazität auf dem Gebiet nuklearer Infrastruktur in den Lohnlisten zu führen, und lieferte zweitens – was aber ganz sicher nicht von zweitrangiger Bedeutung war – einen beständigen Ideenstrom.

Gray war der Ingenieur. Er war das Sieb, das den Ideenstrom filterte. Er hatte die besondere Fähigkeit, jene Prachtstücke unter den noch nicht ganz ausgegorenen Ideen ausfindig zu machen, die ein Verwendungspotenzial besaßen. Er verwandelte die Ideen in entwickelte, getestete, absatzfähige Produkte und Produktverbesserungen. Wie Hunt hatte er die Tücken und Gräben der pubertären Unvernunft unbeschadet überstanden und war als Mittdreißiger, unverheiratet zwar, aber glücklich, wieder zum Vorschein gekommen. Er teilte sich mit Hunt die Begeisterung für die Arbeit – als Gegengewicht dazu einen gesunden Widerwillen den meisten Todsünden gegenüber – und sein Adressbuch. Alles in allem kamen sie gut miteinander aus und waren ein fähiges Team.

Gray nagte an der Unterlippe und rieb sein linkes Ohrläppchen. Er nagte immer an der Unterlippe und rieb das linke Ohrläppchen, wenn er zu fachsimpeln begann.

»Eine Ahnung, was los ist?«, fragte er.

»In dieser Borlan-Sache?«

»Mhm-hm.«

Hunt schüttelte den Kopf, bevor er sich eine Zigarette anzündete. »Keinen blassen Schimmer.«

»Nun … Angenommen, Felix hat ein heißes Ding in Sachen Skop-Verkauf aufgetan … vielleicht hat er einen dieser dicken Yankee-Kunden angespitzt. Und jetzt plant er so ’ne Superdemo oder was in der Art.«

Hunt schüttelte erneut den Kopf. »Nein, Felix würde nicht wegen so etwas Metadynes Kosten in die Höhe treiben. Nun, wie dem auch sei, es ergibt keinen Sinn. Im Normalfall wird der Kaufinteressent dorthin geflogen, wo sich das Skop befindet, und nicht umgekehrt.«

»Mmmm … Ich nehme an, so ähnlich verhält es sich auch mit der anderen Idee, die mir gekommen ist: eine Art Blitz-Teach-in für alle IDCC-Angestellten.«

»Stimmt, da läuft’s genauso.«

»Mmmm …« Als Gray erneut sprach, hatten sie weitere zehn Kilometer zurückgelegt. »Wie ist das überhaupt mit der Überführung? Das ganze Skop ist verdammt groß, und Felix will, dass es in die Staaten geschafft wird.«

Hunt dachte über diese Vermutung nach. »Ich glaube, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Er achtet Francis zu sehr, um eine solche Kraftprobe wirklich durchzuziehen. Er weiß, dass es bei Francis gut aufgehoben ist. Außerdem ist das nicht seine Art, diese Heimlichtuerei, meine ich.« Hunt schwieg, um eine blaue Rauchwolke auszuatmen. »Allerdings glaube ich auch, da tut sich etwas hinter den Kulissen, von dem wir noch nichts ahnen. Ich hatte den Eindruck, dass nicht einmal Felix ganz sicher war, worum es eigentlich geht.«

»Mmmm …« Gray dachte noch etwas länger nach, bevor er seinen Ausflug in die Sphären deduktiver Logik fortsetzte. Er betrachtete den immer weiter anwachsenden Strom von menschlichen Leibern, der in Richtung C-Deck-Bar wogte. »Mein Magen ist auch ein bisschen durcheinander«, bekannte er. »Ich fühle mich, als hätte ich gestern Abend die Bierkiste mit runtergespült. Kommen Sie, lassen Sie uns einen Kaffee trinken.«

In dem sternübersäten, samtenen Schwarz des Alls einige Tausend Kilometer höher beobachtete der Kommunikationssatellit Sirius Vierzehn mit kalten, allwissenden elektronischen Augen den Skyliner, der über die marmorierte Kugel unter ihm dahinraste. Unter den pausenlos durch seine Antennen strömenden binären Daten entdeckte er eine Anfrage des Gamma-Neun-Hauptcomputers der dahinrasenden Boeing, in der um die neueste Wettervorhersage für Nordkalifornien gebeten wurde. Sirius Vierzehn gab die Anfrage an Sirius Zwölf weiter, der hoch über den kanadischen Rocky Mountains hing. Zwölf übermittelte sie an die Verteilerstation bei Edmonton. Von hier aus wurde die Anfrage per Glasfaserkabel an Vancouver Control übertragen und von dort aus per Mikrowellensender an die Wetterstation in Seattle. Einige Tausendstelsekunden später legte die Antwort den Weg in entgegengesetzter Richtung zurück. Gamma Neun verarbeitete die Information, nahm ein oder zwei geringfügige Veränderungen an Kurs und Flugplan vor und sandte eine Aufzeichnung des Dialogs an die Bodenkontrolle in Prestwick.

2

Zehn Tage lang hatte es geregnet.

Die Abteilung für technische Entwicklung des Ministeriums für Raumwissenschaften duckte sich nass in eine Senke im Ural. Gelegentlich wurde ein verirrter Sonnenstrahl von einem Laboratoriumsfenster oder der Aluminiumkuppel des Reaktors reflektiert.

Walerija Petrokowa saß in ihrem Büro in der Analysesektion und wandte sich dem Stapel von Berichten zu, der sich auf der linken Seite des Schreibtisches befand und ihrer routinemäßigen Genehmigung bedurfte. Die ersten zwei beschäftigten sich mit Hochtemperatur-Korosionstests. Sie blätterte flüchtig die Seiten durch, warf einen Blick auf die beigefügten Diagramme und Tabellen, kritzelte ihre Initialen auf die Unterschriftslinie und warf die Berichte dann in den Kasten, der mit der Beschriftung »Ausgang« markiert war. Dann überflog sie die erste Seite von Bericht Nummer drei. Plötzlich hielt sie inne und runzelte verwirrt die Stirn. Sie beugte sich in ihrem Sessel vor und begann erneut zu lesen, diesmal sorgfältiger und jeden einzelnen Satz prüfend. Schließlich nahm sie sich noch mal den Anfang vor und arbeitete sich methodisch durch das ganze Dokument. Sie hielt nur inne, um die Berechnungen mithilfe des Rechners zu überprüfen, der auf der einen Seite ihres Schreibtisches stand.

»So etwas gibt’s doch gar nicht!«, rief sie.

Eine Zeit lang saß sie stocksteif da, und ihre Augen betrachteten nur die Regentropfen, die an der Fensterscheibe herunterliefen. Aber ihre Gedanken beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen, sodass sie die Tropfen gar nicht bewusst wahrnahm. Schließlich rief sie sich wieder zur Ordnung, wandte sich erneut der Tastatur zu und tippte eine bestimmte Nummer ein. Die Ketten aus Tensorgleichungen lösten sich auf und wurden durch die Profilansicht ihres Assistenten ersetzt, der sich in dem Kontrollraum einen Stock tiefer gerade über eine Konsole beugte. Als er sich ihr zuwandte, wurde aus dem Profil ein vollständiges Gesicht.

»Wir können in zwanzig Minuten beginnen«, sagte er, um die Frage vorwegzunehmen. »Das Plasma stabilisiert sich bereits.«

»Nein, damit hat mein Anruf nichts zu tun«, entgegnete sie und sprach dabei ein wenig schneller als gewöhnlich. »Es handelt sich um Ihren Bericht Nummer 2906. Ich habe gerade die Kopie durchgesehen.«

»Oh … ja?« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, deutete nun so etwas wie Besorgnis an.

»Also – eine Niobium-Zirkonium-Legierung«, fuhr sie mit einer Feststellung fort, anstatt eine Frage zu stellen, »mit einer beispiellosen Beständigkeit gegenüber Hochtemperatur-Oxidation und einem Schmelzpunkt, den ich, offen gesagt, für unmöglich halte, bevor ich die Tests nicht selbst durchgeführt habe.«

»Dagegen sind unsere Plasmaabschirmer weich wie Butter«, stimmte Josef zu.

»Und trotz der Beimischung von Niobium weist es eine geringere durchschnittliche Neutronen-Absorption auf als reines Zirkonium?«

»Mikroskopisch, ja – unter einem Millibar pro Quadratzentimeter.«

»Interessant«, grübelte sie, dann fuhr sie etwas lebhafter fort: »Darüber hinaus haben wir Zirkonium in der Alpha-Phase mit Silizium-, Kohlenstoff- und Stickstoffverunreinigungen, und trotzdem weist es eine hervorragende Korrosionsbeständigkeit auf.«

»Heißes Kohlendioxid, Fluoride, organische Säuren, unterchlorigsaure Salze – wir haben es mit allem ausprobiert. Gewöhnlich erfolgt zu Anfang eine Reaktion, aber die findet durch innere Barriereschichten rasch ein Ende. Wahrscheinlich erfolgt eine stärkere Reaktion, wenn man stufenweise vorgeht, verschiedene Reagenzien benutzt, in der richtigen Reihenfolge. Aber dazu wäre ein umfangreiches Instrumentarium erforderlich, das extra für diesen Zweck konstruiert werden müsste.«

»Und die Mikrostruktur«, sagte Walerija und deutete auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch. »Sie haben die Bezeichnung faserig verwendet.«

»Ja. Besser kann man es nicht ausdrücken. Die Legierung scheint sich an … nun, an einer Art mikrokristallinem Gitterwerk zu stabilisieren. Es besteht hauptsächlich aus Silizium und Kohlenstoff, aber auch aus lokalen Konzentrationen einer Titanium-Magnesium-Verbindung, die wir bisher noch nicht quantifizieren konnten. Auf so etwas bin ich noch nie gestoßen. Vorschläge?«

Ihr Blick schweifte für einen Augenblick in die Ferne.

»Offen gesagt, im Augenblick weiß ich auch nicht, was ich davon halten soll«, gab sie zu. »Aber ich glaube, diese Informationen sollten unverzüglich an höhere Dienststellen weitergeleitet werden; sie könnten von größerer Bedeutung sein, als es im Augenblick scheinen mag. Zuerst aber muss ich wirklich sicher sein. Nikolai kann dort unten für eine Weile übernehmen. Kommen Sie in mein Büro, und wir gehen dann alles noch einmal detailliert durch.«

3

Die Zentrale der Intercontinental Data and Control Corporation in Portland lag fast sechzig Kilometer östlich der Stadt – wie ein Wächter vor dem Pass zwischen dem Mount Adams im Norden und dem Mount Hood im Süden. Irgendwann in ferner Vergangenheit hatte sich hier ein kleineres Binnenmeer einen Weg durch das Kaskadengebirge zum Pazifik gegraben. Mit der Zeit war daraus der mächtige Columbiastrom geworden.

Vor fünfzehn Jahren lag hier noch der Sitz des Kernwaffen-Forschungszentrums Bonneville, das der Regierung unterstanden hatte. Hier hatten amerikanische Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit der Bundesforschungsanstalt der Vereinigten Staaten von Europa in Genf die Theorie der Meson-Energetik entwickelt, aus der die Nukleonbombe hervorgegangen war. Die Theorie hatte eine »saubere« Reaktion mit größerer Wirkungskraft als die einer thermonuklearen Fusion postuliert, und die Krater, die in die Sahara gesprengt worden waren, waren dafür Beweis genug.

Während jener Epoche waren die ideologischen und rassischen Spannungen, das Erbe des zwanzigsten Jahrhunderts, durch eine Welle des allgemeinen Wohlstands und der sinkenden Geburtenraten hinweggespült worden. Das war vor allem der fortgeschrittenen Technisierung des Lebens zu verdanken gewesen. Die traditionellen Barrieren, die Argwohn und Hader errichtet hatten, verloren zunehmend an Wirkung, als Rassen, Nationen, Sekten und Parteien in der weltumspannenden, homogenen Gesellschaft miteinander verschmolzen. Als sich die territorialen Irrationalitäten längst überholter politischer Ideen auflösten und die jungen Nationalstaaten ihren Reifeprozess abgeschlossen hatten, wurden die Verteidigungsbudgets der Supermächte Jahr für Jahr reduziert. Das Vorhandensein der Nukleonbombe beschleunigte nur das, was ohnehin geschehen wäre. Infolge allgemeiner Billigung wurde die weltweite Abrüstung Wirklichkeit.

Ein Bereich profitierte gewaltig von dem plötzlichen Überschuss an Geld und Ressourcen, der durch die Abrüstung entstand: das rasch an Umfang zunehmende Sonnensystem-Erforschungsprogramm der Vereinten Nationen. Die Liste der Projekte, die dieses Programm bereits zuwege gebracht hatte, konnte sich sehen lassen. Sie umfasste die Inbetriebnahme aller künstlichen Satelliten in irdischen, lunaren, marsianischen, venusischen und solaren Umlaufbahnen, Konstruktion und Unterhalt aller bemannten Stützpunkte auf dem Mond und dem Mars sowie der Forschungslaboratorien im Venusorbit, den Start von automatischen Tiefraumsonden sowie Planung und Durchführung bemannter Expeditionen zu den äußeren Planeten. Der Umfang des SSEPVN-Programms dehnte sich gerade zur richtigen Zeit im richtigen Maße aus, um all jene Spitzenkräfte aufzunehmen, die freigesetzt worden waren, als die Aufrüstungsvorhaben in der Welt zu den Akten gelegt wurden. Und als der Nationalismus dahinschwand und die meisten regulären Armeen aufgelöst wurden, fand die Jugend der neuen Generation in den uniformierten Abteilungen der UN-Weltraumorganisation ein Ventil für ihre Abenteuerlust. Es war ein Zeitalter der Aufregung und freudiger Erwartung, als die neuen jungen Pioniere quer durch das Sonnensystem von Planet zu Planet eilten.

Durch diese Entwicklung hatte das KWFZ Bonneville seine Bedeutung verloren. Den Direktoren der IDCC entging dies nicht. Sie stellten fest, dass der größte Teil der Ausstattung und Festinstallationen, die dem KWFZ gehörten, für die Forschungsprogramme der Firma verwendet werden konnten. So traten sie mit dem Vorschlag an die Regierung heran, die ganze Anlage zu kaufen. Das Angebot wurde angenommen, der Handel abgeschlossen. Im Laufe der Jahre hatte die IDCC den Gebäudekomplex ausgebaut, das Äußere ästhetischer gestaltet und das Ganze schließlich zu ihrem nukleonischen Forschungszentrum und Firmensitz gemacht.

Die mathematische Theorie der Meson-Energetik postulierte auch die Existenz dreier bis dahin unbekannter transuranischer Elemente. Obgleich sie nur rein hypothetischer Natur waren, wurden sie Hyperium, Bonnevillium und Genevium genannt. Die Theorie behauptete weiter, dass diese Elemente infolge eines »Fehlers« in der sonst konträr wirkenden transuranischen Massenbindungsenergie stabil sein würden, sobald sie erst einmal entstanden waren.

Es war allerdings unwahrscheinlich, in der freien Natur auf sie zu stoßen – ganz sicher jedenfalls nicht auf der Erde. Konnte man den Gleichungen Glauben schenken, dann waren nur zwei Möglichkeiten denkbar, die die richtigen Voraussetzungen für ihre Entstehung schufen: das Hitzezentrum bei der Zündung einer Nukleonbombe oder der Schwerkraftkollaps einer Supernova, die dadurch zu einem Neutronenstern wird.

Untersuchungen an Staubwolken in der Sahara wiesen auf Spuren von Hyperium und Bonnevillium hin; Genevium wurde allerdings nicht gefunden. Dennoch galt damit das erste Postulat der Theorie als hinreichend abgesichert. Ob zukünftige Wissenschaftlergenerationen jemals das zweite Postulat bestätigen konnten, stand auf einem ganz anderen Blatt.

Kurz nach drei gingen Hunt und Gray auf dem Dachlandefeld der IDCC-Verwaltung nieder. Um halb vier saßen sie schon in ledernen Sesseln vor dem Schreibtisch in Borlans luxuriösem Büro im zehnten Stock, während er an der Teakholzbar in der Wand zu ihrer Linken drei großzügig bemessene Scotchportionen einschenkte. Endlich kehrte Borlan zum Schreibtisch zurück, reichte den Engländern ihre Drinks, umrundete den Schreibtisch und ließ sich nieder.

»Dann prost«, sagte er. Sie tranken ihm zu. »Nun«, begann er, »ich freue mich, Sie beide wiederzusehen. Angenehme Reise gehabt? Wie haben Sie es so schnell geschafft – einen Jet gemietet?« Während er sprach, öffnete er eine Zigarrenkiste und schob sie über den Tisch. »Rauchen Sie?«

»Der Flug war in Ordnung, Felix, danke der Nachfrage«, gab Hunt zurück. »Wir sind mit einem Avis-Jet gekommen.« Er beugte sich vor, um aus dem Fenster hinter Borlan zu blicken. Man hatte eine Panorama-Aussicht auf mit Kiefern bewachsene Hügel, die sich bis hinunter ins ferne Columbia erstreckten. »Netter Ausblick.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Berkshire wirkt dagegen ein bisschen wie Sibirien.«

Borlan sah Gray an. »Wie geht’s Ihnen, Rob?«

Gray verzog den Mund. »Mies.«

»Die Fete letzte Nacht war ziemlich wüst«, erklärte Hunt. »In seinen Adern fließt zu wenig Blut im Alkohol.«

»Ja, war’s nett?«, grinste Borlan. »War Francis mit von der Partie?«

»Sie scherzen wohl?«

»Ausschweifungen mit dem gemeinen Volk?« Gray imitierte den gezierten Tonfall der englischen Aristokratie. »Gütiger Himmel! Das ist der Untergang des Empire!«

Sie lachten. Inmitten einer blauen Dunstwolke machte Hunt es sich bequem. »Wie steht’s bei Ihnen, Felix?«, fragte er. »Ist das Leben noch immer so großzügig zu Ihnen?«

Borlan breitete die Arme weit aus. »Ach, das Leben ist großartig.«

»Ist Angie immer noch so hübsch wie das letzte Mal, als ich sie gesehen habe? Die Kinder gesund?«

»Alles in bester Ordnung. Tommy geht nun aufs College – er studiert Physik und Astronautik. Johnny geht an den meisten Wochenenden wandern, und Susie hat unserem Hauszoo ein Paar Wüstenmäuse und ein Bärenjunges hinzugefügt.«

»Also läuft bei Ihnen wie immer alles bestens. Die Verantwortung, die auf Ihren Schultern lastet, hat Sie noch nicht geschafft.«

Borlan zuckte mit den Achseln und zeigte eine Reihe perlweißer Zähne. »Sehe ich vielleicht wie ein krebsleidender Tropf kurz vor dem Herzinfarkt aus?«

Während sich Borlan auf der anderen Seite des Mahagonischreibtischs behaglich räkelte, musterte Hunt das tief gebräunte Gesicht mit den blauen Augen und das kurz geschorene, blonde Haar. Er sah auf unverschämte Weise mindestens zehn Jahre jünger aus, als man das vom Präsidenten eines weltweiten Unternehmens erwartete.

Eine Zeit lang drehte sich ihr Geplauder um den Klatsch bei Metadyne. Nach einer Weile schwiegen sie. Hunt beugte sich mit auf den Knien abgestützten Ellbogen vor und konzentrierte sich auf sein Glas, in dem er den Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit von rechts nach links und dann wieder zurück schwenkte.

»Zum Skop, Felix. Was ist eigentlich los?«

Borlan hatte diese Frage erwartet. Er richtete sich langsam in seinem Sessel auf und schien einen Augenblick nachzudenken. Dann sagte er: »Kennen Sie die Nachricht, die ich Francis übermittelt habe?«

»Klar.«

»Nun …« Borlan schien nicht recht zu wissen, wie er es ausdrücken sollte. »So viel mehr als Sie weiß ich eigentlich auch nicht.« Mit einer Geste, die Offenheit andeuten sollte, legte er die Hände auf den Tisch. Doch sein Seufzen hörte sich an, als erwartete er nicht wirklich, dass man ihm glaubte. Und damit behielt er recht.

»Kommen Sie, Felix. Raus mit der Sprache.« Hunts Gesichtsausdruck war deutlicher als seine Worte.

»Schließlich haben Sie alles arrangiert«, bohrte Gray. »Sie müssen mehr wissen.«

»Richtig.« Borlan sah von einem zum anderen. »Sehen wir die Lage mal im globalen Maßstab: Wer, meinen Sie, ist wohl unser größter Kunde? Es ist kein Geheimnis – die UN-Weltraumorganisation. Wir stellen eine Menge für sie her, von lunaren Messstationen bis hin zu … zu Laser-Endfokussierern und automatischen Sonden. Haben Sie eine Vorstellung davon, welche Einkünfte ich im nächsten Finanzjahr von der UNWO zu erwarten habe? Zweihundert Millionen Mäuse … zweihundert Millionen!«

»Ja und?«

»Ja … Nun, wenn ein solcher Kunde kommt und Hilfe braucht, dann bekommt er sie. Ich werde Ihnen sagen, was geschehen ist. Die UNWO ist ein großer potenzieller Kunde für die Trimagniskope, also haben wir ihnen all die Informationen darüber zukommen lassen, was das Skop zu leisten vermag und welche Fortschritte Francis’ Kästchen macht. Eines Tages – an dem Tag, bevor ich Francis benachrichtigte – kommt also dieser Mann den ganzen Weg von Houston herüber, wo eine der großen UNWO-Einrichtungen ihren Zentralsitz hat, um mit mir zu sprechen. Er ist ein alter Kumpel von mir – und sozusagen ihr Top-Mann. Er will wissen, ob das Skop dies und jenes bewerkstelligen könne, und ich sage ihm, klar könne es das. Dann nennt er einige Beispiele jener Dinge, die ihm im Hinterkopf herumspuken, und fragt mich, ob wir bereits ein einsatzfähiges Modell hätten. Ich sage ihm, wir seien noch nicht so weit, dass Sie aber in England ein funktionstüchtiges Modell haben und wir eine Vorführung arrangieren könnten, wenn er es wünschte. Aber er wollte noch mehr. Er will den Prototyp nach Houston gebracht haben, und er will Leute, die damit umgehen können. Er zahle alles, sagte er – jeden Preis, den wir verlangen. Er will das Instrument unbedingt haben; scheint irgendetwas mit einem Projekt zu tun zu haben, das die ganze UNWO in helle Aufregung versetzt hat. Als ich ihn danach frage, ist sein Mund plötzlich verschlossen, und er sagt nur noch, dass dies im Moment noch streng geheim sei.«

»Hört sich ja nett an«, kommentierte Hunt mit einem Stirnrunzeln. »Und es wird Metadyne einige verdammte Probleme bescheren.«

»Das habe ich ihm auch gesagt.« Borlan streckte die Handflächen aus, um seine Hilflosigkeit zu zeigen. »Ich habe ihm gesagt, was das für Metadynes Produktionspläne und Lieferfristen bedeutet. Aber er meinte nur, dass es wirklich dringend sei und er mir nicht solche Schwierigkeiten machen würde, wenn es nicht tatsächlich erforderlich wäre. Das glaube ich ihm«, fügte Borlan überzeugt hinzu. »Ich kenne ihn schon seit Jahren. Er versprach mir, die UNWO würde uns für alle entstehenden Kosten entschädigen.« Borlan wiederholte seine hilflose Geste. »Was also sollte ich tun? Sollte ich einem alten Kumpel, der zudem noch mein bester Kunde ist, sagen, er könne mich mal?«

Hunt rieb sich das Kinn, leerte sein Glas bis auf den letzten Tropfen und nahm einen langen, nachdenklichen Zug von seiner Zigarre.

»Und das ist alles?«, fragte er schließlich.

»Das ist alles. Nun wissen Sie genauso viel wie ich – außer vielleicht, dass wir während Ihrer Flugreise Anweisung von der UNWO erhalten haben, den Prototyp zu einem Ort in der Nähe von Houston zu schaffen … zu einem biologischen Institut. Die Einzelteile des Skops sollten übermorgen eintreffen. Das Installationsteam ist bereits auf dem Weg, um dort alles vorzubereiten.«

»Houston … Bedeutet das, dass wir auch dorthin sollen?«, erkundigte sich Gray.

»Das ist richtig, Rob.« Borlan legte eine kleine Kunstpause ein und kratzte sich an der Nase. »Ich … äh … frage mich … Die Installateure werden einige Zeit brauchen, Sie könnten also noch ein wenig hierbleiben, sich mit einigen unserer Techniker zusammensetzen und ihnen erzählen, wie das Skop funktioniert … so eine Art Kurzunterweisung. Nun, was halten Sie davon?«

Hunt lachte still in sich hinein. Borlan hatte sich monatelang darüber beklagt, dass all das Skop-Know-how bei Metadyne liege, obwohl der größte potenzielle Absatzmarkt die USA seien. Die amerikanische Abteilung des Unternehmens benötigte einfach mehr Informationen, als sie bisher erhalten hatte.

»Sie lassen auch keinen Trick aus, Felix«, stellte er fest. »In Ordnung, Sie Strolch. Geht in Ordnung.«

Auf Borlans Gesicht machte sich ein feistes Grinsen breit.

»Dieser UNWO-Typ, mit dem Sie gesprochen haben«, sagte Gray und kam damit zum Kern der Sache zurück. »Was waren das für Beispiele?«

»Beispiele?«

»Sie sagten, er hätte Ihnen einige Beispiele genannt, die ihm im Hinterkopf herumspukten.«

»Ach so, ja. Augenblick, lassen Sie mich mal nachdenken … Er schien an Einblicken in das Innere von Körpern interessiert zu sein – Knochen, Gewebe, Arterien, so was eben. Vielleicht will er eine Autopsie durchführen. Er wollte auch wissen, ob wir ihm, ohne das Buch aufzuschlagen, Bilder von Buchseiten zeigen könnten.«

Das war zu viel. Hunt blickte völlig verwirrt von Borlan zu Gray.

»Man braucht kein Trimagniskop, um eine Autopsie durchzuführen«, sagte er mit deutlicher Skepsis in der Stimme.

»Warum macht er das Buch nicht auf, wenn er wissen will, was drinsteht?«, fügte Gray in einem ähnlichen Tonfall hinzu.

Borlan zeigte ihnen seine leeren Handflächen. »Klar. Weiß ich ja. Verdammt komische Sache, nicht?«

»Und dafür zahlt die UNWO Tausende?«

»Hunderttausende.«

Hunt fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schüttelte den Kopf. »Geben Sie mir noch einen Scotch, Felix«, seufzte er.

4

Eine Woche später stand der Mercury Drei startbereit auf dem Dachlandefeld der IDCC-Zentrale. Auf eine Anfrage, die über einen Monitor in der Pilotenkonsole flimmerte, gab Hunt das Ocean Hotel im Zentrum von Houston als Ziel an. Der DEC-Minicomputer vor ihm kontaktierte seinen großen IBM-Bruder, der irgendwo in dem unterirdisch angelegten Verkehrs-, Kontroll- und Überwachungszentrum von Portland seinen Standort hatte, und nach einer kurzen Konsultation entwickelte er eine Flugroute, die über Salt Lake City, Santa Fé und Fort Worth führte. Hunt tippte seine Bestätigung ein. Einige Sekunden später summte das Aircar in Richtung Südosten los und gewann rasch an Höhe, um die vor ihnen aufragenden Blauen Berge zu überfliegen.

Den ersten Teil der Reise verbrachte Hunt damit, per Computerverbindung zu Metadyne einige unerledigte Akten aufzuarbeiten, die er dort zurückgelassen hatte. Als der Große Salzsee glitzernd vor ihnen auftauchte, war er gerade mit den Kalkulationen für die Berichte über seine letzten Experimente fertig und fügte nun seine Schlussfolgerungen hinzu. Eine Stunde später, sechstausend Meter über dem Colorado River, loggte er sich in das Datennetz des MIT, des Massachusetts Institute of Technology, ein und studierte einige der neuesten Veröffentlichungen. Nachdem sie in Santa Fé aufgetankt hatten, kreuzten sie im Manuellflug einige Zeit über der Stadt, bis sie ein geeignetes Plätzchen für das Mittagessen gefunden hatten. Später, im Luftraum über New Mexico, erreichte sie ein Anruf der IDCC, und die folgenden zwei Stunden berieten sie sich mit einigen von Borlans Technikern über technische Details des Trimagniskops. Als Fort Worth hinter ihnen lag und die Sonne tief im Westen stand, entspannte sich Hunt und sah sich einen Krimi an. Gray schlief währenddessen im Sessel neben ihm – ziemlich geräuschvoll.

Hunt sah mit mäßigem Interesse zu, wie der Bösewicht entlarvt, der Held die Schöne, die er zuvor noch vor einem Schicksal schlimmer als der Tod errettet hatte, in die Arme schließen durfte und endlich der Epilog die moralische Botschaft der Geschichte verkündete. Er gähnte und betätigte die Taste am Monitor, die den Bildschirm abschaltete und den Soundtrack zu diesem Film mittendrin verstummen ließ. Dann streckte sich Hunt, drückte seine Zigarette aus und setzte sich aufrecht, um festzustellen, wie es um den Rest des Universums stand.

Weit rechts von ihnen schlängelte sich der Brazos River dem Golf von Mexiko entgegen, ein goldener Seidenfaden im Blaugrau des Abenddunstes. Voraus konnte Hunt bereits die halbbogenförmige Wolkenkratzerskyline von Houston erkennen, die an die dicht geschlossenen Reihen einer Infanterieabteilung im Feld erinnerte. Im Vordergrund unter ihnen nahm die Bebauung nun sichtlich zu. Hier und da ragten dazwischen nicht näher zu identifizierende Konstruktionen hervor – planlose Konglomerate aus Gebäuden, Kuppeln, Traggerüsten und Lagerhallen, die durch ein Wirrwarr aus Straßen und Pipelines lose miteinander verbunden waren. Zu ihrer Linken, etwas weiter entfernt, erhob sich aus einer Barackenstadt aus Stahl und Beton etwa ein halbes Dutzend schlanker, silberner Türme. Er erkannte sie als die gewaltigen, bereits auf den Startrampen befindlichen Wega-Fähren. Sie erinnerten an Posten, die die Zugänge zu jenem Ort bewachten, der zum Mekka des Raumfahrtzeitalters geworden war.