Das Erbe von Samara und New York - Erik Eriksson - E-Book

Das Erbe von Samara und New York E-Book

Erik Eriksson

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Beschreibung

Erik Erikssons persönliche Familiengeschichte handelt von Heimatsuche und Heimatverlust, von der Einsamkeit im Miteinander und den Tücken menschlicher Kommunikation. Während seine Großeltern mütterlicherseits in den Wirren der russischen Oktoberrevolution von Samara an der Wolga nach Schweden fliehen müssen, versuchen die Eltern seines Vaters im verheißungsvollen Amerika einen Lebensstandard zu finden, den sie im ärmlichen Schweden niemals erreichen könnten - scheitern aber. So lernen sich Erikssons Eltern eher unfreiwillig in Schweden kennen, wo beide ihrer Meinung nach nicht hingehören. Erik Eriksson hat sich intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinandergesetzt, er beschönigt und verklärt nichts und lässt gerade dadurch zu, dass der Leser sich sehr eindrücklich in der Mitte dieser Familie wiederfindet.

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Eriksson Das Erbe von Samara und New York

Erik Eriksson

Das Erbe von Samara und New York

Meine Familiengeschichte

Übersetzt aus dem Schwedischen von Else Ebel

© 2013 Oktober Verlag, Münster Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münsterwww.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten Originaltitel: Vårt hjärta dog i New York Satz: Henrike Knopp Umschlag: Lena Hericks unter Verwendung von Fotos von vlad_g/fotolia.com, Rhoberazzi/istockphoto.com und Sean Gladwell/fotolia.com Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-944369-09-9

Hedvig, die Mutter meines Vaters

Es gibt mehr Sterne, als ich je gesehen habe

Der Entschluss zu reisen, ohne jemandem etwas zu sagen

Vielleicht hatte Hedvig gerade an diesem Nachmittag ihren Entschluss gefasst. Sie hatte lange darüber nachgedacht, sich gefragt, wie es sein würde. Ob es wirklich so etwas Besonderes sein könne. Aber es waren meistens Träumereien gewesen.

Sie ging über den Steg unten am Rande des Feldes, sie sah die Umrisse der Hütte, die Apfelbäume standen in Blüte, es war Anfang Juni. Sie hatte auf dem Rückweg von Södra Gården Schwalben gesehen, es war gegen neun Uhr abends.

An all das dachte sie später, als sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es früher gewesen war.

An jenem Morgen hatte sie den Brief ihrer Tante Clara gelesen. Darin stand, dass die jungen Leute herüberkommen und ihr Glück versuchen sollten; diejenigen, die arbeiten wollten und kräftig genug waren, würden ihren Weg schon machen. Es gab genug Arbeit, gute Verdienstmöglichkeiten, wohnen konnte man in der ersten Zeit bei Clara. Sie habe eine eigene Bäckerei eröffnet, die Geschäfte liefen ausgezeichnet. Das schrieb sie. Ja, sie betonte, dass es ihr außerordentlich gut gehe.

Als Hedvig fünf Jahre alt war, war Clara nach Kanada gefahren; jetzt war Hedvig vierzehn. Die Tante hatte also neun Jahre gebraucht, um in Amerika Erfolg zu haben. Es handelte sich zwar um Kanada, um die Stadt Montreal, in der Clara ihre Bäckerei eröffnet hatte, wenn Hedvig jedoch an die Größe und Weite dort drüben dachte, dann war es Amerika.

Als Hedvig auf den Hof zurückkam, vor die Kate, hatte sie sich wohl entschlossen. Das glaubte sie jedenfalls, ja sie hatte sich entschlossen. Aber sie sagte nichts. Weder zu ihrer Mutter noch zu ihrer Zwillingsschwester Hulda. Die beiden teilten sich das niedrige Dachstübchen der Kate. Die übrigen fünf Geschwister lebten zusammen mit den Eltern unten in der Küche und im Wohnzimmer. Der ältere Bruder Carl war ebenfalls ausgewandert, im April war er weggefahren. Ein Brief war gekommen, aber Carl hatte nicht sehr viel geschrieben, nur dass es ihm gut gehe und dass er gesund sei. Der Brief war in Boston abgeschickt worden. Hedvig wusste nicht, wo dieser Ort lag.

Hedvigs Zuhause, eine rote Kate, befand sich in der Nähe eines Gehölzes im Dorf Råberga in der Gemeinde Täby in Närke. Auf der einen Seite des Gehölzes breitete sich die Ebene aus. In der anderen Richtung lag der Hof Södra Gården, zu dem das Land im gesamten Umkreis gehörte, auch die Hütte, in der Hedvig lebte. Sie arbeitete in diesem Sommer auf dem großen Hof.

Hedvig Eriksson hatte braune Augen, ausgeprägte Wangenknochen, dunkles Haar. Sie war klein und zartgliedrig, aber ungewöhnlich kräftig für ihr Alter. Vor allem verfügte sie über eine erstaunliche Ausdauer. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, außer an den Sonntagen. Sie ging zu dem großen Hof hinüber, nahm etwas zu essen mit, und ihre Arbeit bestand darin, Unkraut zu jäten, Hackfrüchte zu lesen, manchmal blieb sie auch abends einige Stunden länger, um bei den Knechten sauber zu machen.

Etwas von ihrem Verdienst lieferte sie zuhause ab. Den Rest verwahrte sie in einer Blechdose unter einem losen Brett in einer Ecke des Dachbodens. Manchmal stieß Hedvig mit dem Fuß leicht gegen das Brett und horchte auf das schwache Knarren, das dadurch entstand. Dieses Geräusch würde sie niemals vergessen. Es gehörte auf eine eigenartige Weise zu einem Gefühl von Sehnsucht. Und jetzt wusste sie, wonach sie sich sehnte.

Im Sommer 1889 las Hedvig immer wieder die Briefe aus Amerika. Vielleicht könnte auch sie ihr Glück dort drüben finden? Sie hoffte es. Und abends, wenn sie mit geschlossenen Augen im Bett lag und noch nicht einschlafen konnte, sah sie seltsame Bilder, ein Blumenmeer, wogende Gärten mit bunten Früchten, Gesichter, Muster, die sich veränderten, auflösten, mit dem Himmel und dem Meer zusammenflossen. Hedvig fragte Hulda einmal, ob sie auch Bilder sehe, ehe der Schlaf kam. Hulda verstand sie nicht. Hedvig fragte niemanden mehr. Aber ihr ganzes Leben lang sollte sie Bilder sehen, ehe sie einschlief. In diesem Sommer und Herbst glaubte Hedvig, dass die Bilder aus Amerika kamen. Sie war schon unterwegs.

Es würde jedoch noch einige Jahre dauern. Auch das wusste Hedvig. Im November hatte sie vier Kronen und zwanzig Öre zusammengespart.

Der Winter kam zeitig. Im Januar wurde ihr Vater krank.

Noch wird es einige Jahre dauern

Es schneite den ganzen Januar über. Die Schneewehen türmten sich an der Nordseite der Kate, deckten das kleine Fenster zu. Hedvigs Vater war einige Male draußen gewesen, um den Schnee wegzuschaufeln, aber er hatte es nicht geschafft, alles frei zu bekommen. Er war bleich, kam in die Küche, um sich auszuruhen, und blieb dort sitzen. Hedvig und Hulda übernahmen die Arbeit und wechselten sich mit der Holzschaufel ab.

Der Vater der Mädchen hieß Erik Larsson. Er war groß und blond, der Bart ging ins Rötliche über, das Haar begann grau zu werden. Erik war Kätner und Zimmermann. Als Pacht für die Kate fällte er Holz für das Gut Södra Gården, beteiligte sich am Zurechtschneiden von Brettern und Bauholz. Für sich selbst nutzte er einige kleine Ackerstücke zwischen dem Weg und dem Moor. Dort war der Boden schlecht, fast nur Sumpfland, er hatte versucht, Entwässerungsgräben anzulegen, aber das Wasser wollte nicht abfließen.

Erik Larsson war, als er krank wurde, gerade fünfzig Jahre alt. Es begann mit Schmerzen in der Seite, Husten, dann kam der Schwindel. Er arbeitete, solange es ging, er glaubte, die Krankheit würde sich geben. Er hatte einige Male Blut gespuckt, jedoch nichts gesagt. Er wollte seine Frau nicht beunruhigen, die Mutter der Mädchen, Matilda Nilsdotter. Sie redeten nicht gerne über Dinge, die beunruhigen konnten.

Matilda war klein und dunkel. In ihrer Familie gab es wallonische Schmiede, die vor langer Zeit eingewandert waren. Jetzt arbeiteten deren Nachkommen in Fabriken und Werkstätten. Sie waren häufig kleinwüchsig und dunkelhaarig, hatten hohe Wangenknochen, die Augen waren braun und lagen etwas tiefer in den Höhlen.

Matilda war ein schwedisches Wallonenmädchen. Hedvig hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt. Die beiden waren einander sehr ähnlich. Auch vom Naturell her glich Hedvig ihrer Mutter. Keine der beiden redete viel, aber sie lasen alles nur Erreichbare. Wenn nötig, waren sie scharfzüngig. Und beide hatten mit der Zeit gelernt, sich durchzusetzen. Sie waren stolz geworden und stark und manchmal unnahbar.

Hedvig hatte Achtung vor ihrer Mutter, sie sah ja, dass sie einander ähnelten, und hörte, dass auch andere dies hervorhoben. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass sie sich von ihrer Mutter zurückzog. Hedvig war der Meinung, dass die Schwestern besser dran waren. Sie waren blond, sommersprossig, kamen auf den Vater. Sogar die Zwillingsschwester Hulda war blond.

Fühlte sich Hedvig von ihren Geschwistern ausgeschlossen, wurde sie von ihren Schulkameraden als anders angesehen? Auf jeden Fall wurde sie sehr früh selbständig, lernte auch, Abstand zu halten von allem Gefühlsmäßigen, von aller Hätschelei.

Als Erik Larsson krank wurde, redete man zuhause nicht darüber. Die Kinder hatten es auch so verstanden. Sie hatten die Eltern niemals über Probleme reden hören. Aber sie hatten begriffen, dass etwas Ernstes bevorstand.

Einmal fragte der jüngste Bruder Gustaf, ob Hedvig glaube, dass der Vater sterben müsse.

»Was redest du da«, antwortete Hedvig, »woher hast du das denn?«

»Ich habe gesehen, dass er zu Gott gebetet hat«, erwiderte Gustaf.

»Davon kann man wohl nicht sterben.«

»Sonst betet er doch nie.«

»Was meinst du denn?«

»Er hat zu Gott gebetet, als Großvater gestorben ist.«

»Großvater war alt.«

»Sofia ist doch gestorben, als sie erst einen Monat alt war.«

»Ja, aber Papa wird nicht sterben.«

Gustaf war sechs Jahre alt. Es war das einzige Mal, dass Hedvig mit jemandem über die Krankheit des Vaters sprach.

Erik Larsson versuchte, nach dem Dreikönigstag wieder arbeiten zu gehen, aber er fiel um, wurde von einigen Sägewerkarbeitern nach Hause gebracht. Es war ein kalter Tag, die jungen Männer, die den Zimmermann stützten, hatten rote Wangen, Erik war bleich.

Maria lud die Burschen ein, hereinzukommen und sich einen Moment auszuruhen, aber sie machten eine Verbeugung und sagten, dass sie zurück müssten. Sie hatten die Erlaubnis erhalten, sich von der Arbeit zu entfernen, aber sie wollten nicht, dass es hieß, sie würden die Gelegenheit wahrnehmen, um zu faulenzen.

Nachdem sie gegangen waren, blieb Erik auf einem Schemel in der Küche sitzen. Er hustete, Matilda fragte, ob er etwas Warmes haben wolle, sie könne etwas Suppe aufwärmen, die sie für das Mittagessen zubereitet hatte. Aber Erik lehnte ab, er wollte sich nur hinlegen, er war so schrecklich müde.

Sobald er im Bett lag, schlief er ein. Er schlief in der Küche, auf einer Bettcouch. Die Katze sprang auf das Bett und rollte sich in der Kuhle hinter Eriks angezogenen Knien zusammen.

Es war eine silbergraue Katze, sie hieß Siliam. Hedvig hatte sie so genannt. Wie sie auf diesen Namen gekommen war, wusste niemand. Hedvig hatte Phantasie, vielleicht hatte sie den Namen irgendwo gelesen. Niemand fragte sie danach. Hätte es jemand getan, so hätte Hedvig vielleicht mit den Schultern gezuckt, wie sie es zu tun pflegte, und geantwortet, das könne sie wohl nicht wissen. Vielleicht hätte sie auch gemurmelt:

»Siliam, wie Siams Lamm, wie seidener Bettstaub, dort am Ende des Weges, wohin die Sonne Strahlen sandte, wohin die Wasserkatze sich wandte.«

»Was?«

»Ach, nichts.«

»Aber du hast etwas von Siams Staub gesagt?«

»Das war nur etwas, was ich gelesen habe.«

Vielleicht hatte sie es in einer Zeitung gelesen, in der sie auf dem Gut Södra Gården hatte blättern dürfen, oder in einem Buch, das ihr die Schullehrerin geliehen hatte. Vielleicht hatte sie die Wörter und Reime auch erfunden. Es ging ihr hier vielleicht genauso wie mit den seltsamen Bildern, die sie vor dem Einschlafen sah.

Sie kamen einfach zu ihr.

Ende Februar wurde das Wetter etwas milder. Gleichzeitig fühlte sich Erik Larsson ein wenig besser. Er war aufgestanden, saß mit am Tisch und aß, hustete nicht mehr ganz so lange und anhaltend. Vielleicht ließ die Krankheit nach?

Hedvig hatte gehört, dass man in einer Fabrik in Eskilstuna Arbeiter suchte. Ein Vorarbeiter auf dem Hof Södra Gården hatte in der Pause laut vorgelesen: »Geschickte Arbeiter und Arbeiterinnen können für kürzere oder längere Dauer eingestellt werden bei Hadar Hallströms Messerfabrik AG.«

Am Abend redete Hedvig mit Hulda. Sie sollten sich vielleicht in Eskilstuna bewerben, sie konnten sicher bei dem jüngsten Bruder ihres Vaters wohnen, der dort am Rande der Stadt eine Kate hatte. Direkt neben der Kate standen eine Scheune und Ställe, dort konnten sie sicher vorübergehend unterkommen.

»Können wir Mutter mit den Kleinen allein lassen?«, überlegte Hulda.

»Vater geht es jetzt besser«, antwortete Hedvig, »wir können Ende des Sommers zurückkommen und mithelfen, wenn es nötig sein sollte.«

»Ja, Vater wird sicher bald wieder arbeiten können.«

»Wir reden morgen mit Mutter.«

Es war ihre Mutter Matilda, die zuhause das Sagen hatte, sie mussten die Mädchen um Erlaubnis fragen. Auch als der Vater noch gesund gewesen war, hatten sie nichts Wichtiges unternehmen können, ohne vorher Matilda zu fragen.

Es war Hedvig, die fragte.

Matilda antwortete nicht, sie nickte nur, so wie sie es immer tat, wenn sie über etwas nachdenken wollte. Es bedeutete, dass sie es gehört und verstanden hatte und dass bald ein Bescheid kommen würde.

Am nächsten Tag sprach Matilda mit den Mädchen. Sie konnten fahren, sie sollten selbst für ihre Unterkunft sorgen, sie waren ja jetzt fünfzehn Jahre alt.

Sie warteten, die Kälte hielt sich bis in den März hinein. Der Frühling brach auch in diesem Jahr plötzlich herein. Anfang April begann es zu tauen, das Eis brach zu Ostern auf. Da verließen Hedvig und Hulda ihr Elternhaus. Sie gaben Vater und Mutter die Hand, machten einen Knicks und sagten Auf Wiedersehen. Der jüngste Bruder Oskar Natanael war drei Monate alt. Hedvig streichelte ihm die Wange, ehe sie ging. Dies war der einzige Ausbruch von Zärtlichkeit, der beim Abschied vorkam.

Die Schwestern gingen zu Fuß nach Örebro, blieben über Nacht bei Verwandten. Am nächsten Tag machten sie sich wieder auf die achtzig Kilometer lange Wanderung nach Eskilstuna. Sie schafften es bis Arboga, suchten Unterschlupf in einer Scheune, saßen dort zusammengekauert und froren die ganze Nacht, schliefen ein, erwachten von der Kälte, gingen weiter, ehe es richtig hell wurde.

Hedvig und Hulda wurden in der Messerfabrik angestellt. Ihre Arbeit begann an einem Montag. Sie schliffen Scheren von sieben Uhr früh bis sechs Uhr abends. Ihr Tagesverdienst überstieg selten fünfzig Öre.

Die Mädchen standen nebeneinander an der langen Arbeitsbank, wo Schleifscheiben mit Hilfe von Lederriemen von einer mächtigen rotierenden Welle angetrieben wurden. Man konnte sich nicht unterhalten, die Funken sprühten von den Stahlscheren, der Schleifstaub machte das Atmen schwer, der Lärm war durchdringend und betäubend.

Etwas weiter entfernt an der Bank stand ein junger Bursche. Er war in Hedvigs Alter. Sie hatten einander schon einige Male gegrüßt.

Der Junge hieß Karl Gustaf Eriksson.

Er und Hedvig trugen denselben Nachnamen. Das sollte in Zukunft sowohl zu einer Verwirrung als auch zu einer Vereinfachung führen.

Sie waren immer noch Brüder und Schwestern

Der Sommer wurde feucht und warm. Nachts regnete es, am Tage schien die Sonne, die Natur nahm alles in sich auf, gab zurück wie selten zuvor. Der Saft lief aus den Birken, die Grabenränder waren voll von Walderdbeeren, die Weidenzweige berührten das Wasser an den Ufern des Eskilstuna-Flusses zwischen Entenküken und schaukelnden Schwanenfedern.

Hedvig und Hulda gingen oft am Fluss entlang, der außerhalb der Stadt an der Kate des Onkels vorbeifloss. Sie wohnten über dem Stall, er hatte ihnen geholfen, Schlafstellen auf dem Heuboden einzurichten. Sie schliefen eingerollt in ihre Decken.

Es waren diese Spaziergänge zwischen ihrem derzeitigen Zuhause und der Fabrik, die das Beste von allem waren. Es gab so viel Neues zu betrachten, Villen, in denen die Beamten wohnten, riesige Fabrikhallen, hohe Schornsteine mit qualmendem Rauch und dampfende Schmelzöfen, wo die Mädchen aus sicherer Entfernung sehen konnten, wie sich das flüssige Eisen wie zischende Schlangen im grauen Sand hervorschlängelte.

Das hier war Schwedens Schmiede. Hedvig hatte die Leute zuhause Eskilstuna so nennen hören, sie hatte ein wenig über die Geschichte der Stadt gelesen, sie wusste, wer Rademacher war, sie würde gerne mehr darüber erfahren, wenn sie nur an Bücher käme.

Eines Sonntags gingen die Mädchen zusammen mit Karl Gustaf und dessen jüngerem Bruder Fredrik, der auch begonnen hatte, in der Messerfabrik zu arbeiten, spazieren. Fredrik war erst dreizehn Jahre alt, aber er war derjenige, der am meisten redete. Er fragte, wollte wissen, wie Hedvig die Arbeit gefiel, die Menschen, denen sie begegneten, deren Kleidung. Glaubte Hedvig an Gott? Niemand hatte das bisher gefragt. Aber natürlich glaubte man wohl an Gott? War das so selbstverständlich? Hedvig wollte auf Fredriks Frage nicht antworten. Sie hatte ein wenig darüber nachgedacht, es gab so viel, was nicht stimmte. Warum ließ der gute Gott Menschen leiden, wenn er so allmächtig war? Später sollte sie lesen, dass Gelehrte diese Frage gestellt hatten, dass Gottes Existenz von anderer Seite, als sie selbst gedacht hatte, angezweifelt werden könne. Das bestärkte sie in ihrer Überzeugung, dass sie Recht hatte. Aber jetzt war sie erst fünfzehn Jahre alt und ging an einem schönen Sommerabend zusammen mit ihrer Schwester und zwei netten Jungen am Eskilstuna-Fluss spazieren.

Sie setzten sich auf den Boden, um auszuruhen. Karl Gustaf setzte sich direkt neben Hedvig. Sie spürte seine Hand im Gras. Er berührte ihre Hand ganz leicht. Als sie aufstanden, um weiterzugehen, hielt Karl Gustaf Hedvigs Hand fest. Aber er sagte nichts.

Den ganzen Sommer über hielten sie an ihren Spaziergängen fest. Meist an Sonntagen, aber auch an warmen Wochentagen. Manchmal kühlten sie ihre Füße im Fluss, ehe sie wieder weitergingen. An ihrem Weg lag ein Café, aber sie konnten es sich nicht leisten, dort einzukehren. Sie gingen vorbei, betrachteten die Paare, die dort mit ihren Kaffeetassen und ihrem Kuchen saßen, meist fein angezogene Damen und Herren, aber auch der ein oder andere Arbeiter.

Im Mai und im Juni machten sie alle vier ihre Spaziergänge gemeinsam. Im August gingen Hedvig und Karl Gustaf meist alleine.

Eines Abends legte Karl Gustaf seinen Arm um Hedvigs Schulter. Ihr gefiel es.

Ende des Monats schrieb Hedvig einen Brief nach Hause an ihre Mutter in Råberga. Sie berichtete, dass es ihr und der Schwester gut gehe, dass sie etwas besser als zuhause verdienten, dass aber trotzdem nicht viel übrig blieb, nachdem sie bei ihrem Onkel für Kost und Logis bezahlt hatten. Wie ging es der Familie? Waren alle gesund? Hatte man etwas von ihrem Bruder Carl aus Amerika gehört?

Der Brief war nicht lang geworden. Hedvig schrieb hauptsächlich aus Pflichtgefühl. Sie hatte nicht oft an ihre Familie gedacht, das Neue war so anders, füllte sie aus. Und dann dachte sie ständig an Amerika. Sie hatte eine Anzeige in einem Schaufenster gesehen. Die billigste Fahrkarte kostete fünfundsiebzig Kronen.

Wie sollte sie diese enorme Summe jemals zusammenbekommen?

Eines Abends sprach sie mit Karl Gustaf über Amerika. Hatte er nicht auch einmal daran gedacht hinüberzufahren? Hier zuhause konnte man ja nichts verdienen, man bekam gerade genug Geld für das Essen zusammen, darüber hinaus blieb nichts übrig. Aber in Amerika würde man sich genug zusammensparen können für ein Haus und eine gesicherte Zukunft.

Karl Gustaf hatte wohl auch darüber nachgedacht, aber er war nicht bereit, sich festzulegen. Wollte er denn arm bleiben, niemals irgendetwas erreichen?

»Ich weiß es noch nicht genau«, antwortete er.

»Ich selbst habe mich entschlossen«, sagte Hedvig.

»Aber da drüben kann es wohl gefährlich werden.«

»Ja, aber es kann auch richtig gut werden.«

»Ja, sicher.«

Mehr wurde nicht gesagt. Hedvig fand, dass Karl Gustaf ziemlich ängstlich war. Er war sicherlich ein guter Kamerad, ein netter und anständiger Junge. Sie mochte ihn wirklich, aber es wäre schön gewesen, wenn er auch ihre Sehnsucht nach Abenteuer verspürt hätte.

Fredrik verstand sie besser. Er konnte über die große neue Welt phantasieren. Er war neugierig auf das Unbekannte, er war mehr wie Hedvig.

Aber sie hatte sich nun einmal mit Karl Gustaf zusammengetan. Es wurde ein milder Herbst. Selten hatte man in Eskilstuna so viele Äpfel gesehen. Gärten und Wiesen waren gelb und rot von den verschiedenen Apfelsorten. Die reifen Früchte drückten die Äste nieder, lagen zuhauf auf dem Boden oder warteten darauf, gepflückt zu werden. Hedvig und Hulda aßen viele, alle schenkten ihnen Äpfel, die Preise auf dem Markt waren niedrig wie selten zuvor. Aber warum sollte man kaufen, wenn man sie umsonst bekommen konnte? Im Oktober regnete es häufig, aber das milde Wetter hielt an. Die Leute hatten fast vergessen, was Kälte bedeutete. Das war der Apfelherbst nach dem warmen Sommer.

Hedvig erhielt einen Brief von zuhause. Er war kurz. Ihre Mutter berichtete, dass Carl geschrieben habe, aber sie schrieb nichts darüber, was in seinem Brief stand. Sie schrieb auch nichts über Vaters Krankheit.

Hedvig dachte, dass das vielleicht bedeuten könne, dass es dem Vater besser ging. Sie wusste jedoch auch, dass es das Gegenteil bedeuten konnte.

»Wenn wir nur Geld hätten, könnten wir ihnen etwas schicken«, sagte Hedvig.

»Wie schickt man Geld?«, fragte Hulda.

»Im Brief, glaube ich.«

»Aber wenn es unterwegs wegkommt?«

»Wir haben ja doch nichts, was wir schicken könnten.«

»Aber wenn wir es hätten.«

Sie redeten nicht über die Krankheit ihres Vaters. Sie waren beunruhigt, wollten jedoch nichts sagen. Sie sprachen stattdessen darüber, dass sie Geld schicken könnten, Geld, das sie nicht besaßen.

In der ersten Novemberwoche schrieb Hedvig ihrem Bruder nach Boston. Sie berichtete, dass sie in Eskilstuna arbeite und dass sie sich nun entschlossen habe, nach Amerika zu fahren. Wenn sie mehr Geld zusammengespart habe, würde sie es ihren Bruder wissen lassen. Sie bat ihn, die Angelegenheit ihren Eltern gegenüber nicht zu erwähnen, wenn er schrieb. Sie wollte es ihnen selbst sagen. Als sie den Brief abgeschickt hatte, erzählte sie es Hulda.

»Ich fahre, sobald ich kann«, sagte sie, »aber das kann noch lange dauern, ich habe ja das Geld für die Fahrkarte nicht.«

»Bist du sicher, dass du das Richtige tust?«

»Ich werde es nicht bereuen, wie immer es auch ausgehen mag.«

»Wie kannst du so sicher sein?«

»Es ist in mir gereift, jetzt weiß ich, dass es gehen wird, das ist wie eine große Gewissheit.«

»Hast du das Karl Gustaf erzählt?«

»Nein, noch nicht, aber ich werde es ihm sagen.«

»Glaubst du, dass er mitkommen will?«

»Ich hoffe es, aber er muss diesen Entschluss selbst fassen.«

Karl Gustaf wurde an einem Sonntag sechzehn Jahre alt. Hedvig hatte eine hübsche Karte mit einem bunten Blumenboot gekauft. Sie schrieb einen Glückwunsch auf die Rückseite, band eine rote Schleife um die Karte und überreichte sie Karl Gustaf, als sie wie üblich an diesem Sonntagnachmittag spazieren gingen. Weil es ein Festtag war, gingen sie in das Café, tranken Kaffee und aßen je ein Stück Zuckerkuchen. Sie hielten einander unter dem Tisch an den Händen. Danach gingen sie noch ein Stück am Fluss entlang, wo die Weiden vor Feuchtigkeit trieften und kahl dastanden. Hedvig erzählte von ihren Amerikaplänen. Karl Gustaf sagte, er wolle noch warten, bis er sich endgültig entschließen könne.

»Aber ich möchte, dass wir uns als verlobt betrachten«, sagte er.

Sie standen ganz dicht beieinander, blickten einander in die Augen, ohne zunächst etwas zu sagen.

»Als Verlobte?«, fragte Hedvig.

»Ja, dass wir zusammengehören.«

»Das möchte ich gerne.«

Karl Gustaf ergriff wieder Hedvigs Hand. Sie gingen schweigend weiter.

Zu spät, um Abschied zu nehmen

Hedvig erzählte Hulda, dass Karl Gustaf sie gebeten habe, seine Verlobte zu werden. Die Schwester war zunächst froh, dann stellten sich Zweifel ein. Das macht man wohl erst, wenn man dann auch heiraten wollte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Hedvig, »aber er ist sehr ernsthaft.«

»Dann will er dich also heiraten?«

»Er sagt nichts.«

»Nein, er spricht nicht viel, glaube ich.«

»Ja, er ist so, aber in diesem Falle hätte ich schon gerne, dass er mir sagt, was er denkt.«

»Du musst abwarten, jetzt hast du jedenfalls einen Verlobten.«

Ja, so war das wohl. Sie waren Verlobte. Aber Hedvig hatte sich insgeheim vorgestellt, dass dies etwas feierlicher hätte geschehen können. Trotzdem war sie froh, sie mochte Karl Gustaf ja. Er war freundlich, ein sanfter und liebenswerter Junge, so ähnlich wie ihr Vater. Einer, der nie laut wurde und sich nicht betrank.

Nein, Karl Gustaf trank wohl keinen Schnaps. Sie hatte ihn noch nie auch nur im Geringsten angeheitert gesehen, und er hatte gesagt, dass er gegen alkoholische Getränke sei, die würden die Menschen ins Verderben führen, hatte er gesagt.

Hedvig war davon überzeugt, dass Karl Gustaf ein anständiger junger Mann war. Das Einzige, was sie ein wenig störte, war seine Schweigsamkeit. Hedvig meinte zwar, dass redselige Menschen ziemlich anstrengend seien, aber sie selbst gab immer Auskunft, wenn es nötig war. Karl Gustaf schien immer alles, was er eigentlich sagen wollte, für sich zu behalten. Seine Schweigsamkeit war von anderer Art als die ihre.

Der Winter ging vorbei. Hedvig schrieb noch einen Brief an die Familie in Råberga. Die Antwort ließ auf sich warten. Hedvig und Hulda sprachen recht oft über die Familie zuhause. Was machten die jüngeren Geschwister, ging es dem Vater gut?

Hedvig hatte ihre Befürchtungen, aber sie sagte der Schwester nichts davon. Sie hatte geträumt, dass ihr Vater wieder schwer krank sei.

Jetzt wohnten die Mädchen bei ihrem Onkel in der Küche. Als die Kälte anbrach, waren sie aus dem Stall in die Kate umgezogen. Sie lagen zusammen mit einer Cousine auf der ausgezogenen Küchenbank. In der Küche schliefen außerdem ihre Tante und noch zwei kleine Cousinen.

Als Hedvig und Hulda nach Eskilstuna übergesiedelt waren, war zuhause in Råberga die Dachkammer frei geworden. Erik Larsson war zunächst dort eingezogen, doch war es ihm dann wieder schlechter gegangen, und er hatte sich gezwungen gesehen, wegen der Wärme in das Bett in der Küche zurückzukehren.

Er hatte schon lange nicht mehr arbeiten können. Als die Mädchen von zuhause fortgegangen waren, hatte er es versucht, aber nach zwei Wochen ging es nicht mehr länger. Seitdem hatte er meist im Bett gelegen. Er magerte ab. Matilda besorgte Pferd und Wagen, sie fuhren zum Arzt nach Vintrosa, der meinte, dass Erik etwas Bösartiges im Magen habe, was vielleicht auch nicht weggehen würde.

Es wurde ein harter Winter mit ständigen Schmerzen. Das Frühjahr brachte keine Besserung. Matilda kochte für Erik eine Suppe aus den ersten Brennesselsprossen, die neben dem Abtritt wuchsen. Das pflegte bei den meisten Übeln zu helfen. Aber Eriks Krankheit war unheilbar.

Am zwanzigsten Mai wurden die Schmerzen stärker. Er versuchte sich zusammenzunehmen und sich nichts anmerken zu lassen, aber es ging nicht. Er wimmerte die ganze Nacht hindurch, sein Atem kam stoßweise.

Matilda wusste, dass es Medizin gegen starke Schmerzen gab. Man konnte sie in der Apotheke in Örebro kaufen. Aber diese Medizin war teuer. Früh am Morgen brach sie von zuhause auf. Sie sagte zu Erik, dass sie den ganzen Tag über fortbleiben würde, und bat den siebenjährigen Gustav, sich um den Vater zu kümmern. Matilda hatte ihren Brautschleier mitgenommen, eingewickelt in ein kleines Päckchen, und sie trug ihren Ehering am Finger. Zunächst hatte sie überlegt, ob sie Eriks Ring auch mitnehmen sollte, aber dann hätte er wohl gefragt, und sie hätte nichts darauf antworten können.

Matilda ging nach Örebro, es waren dreizehn Kilometer. Sie brachte den Ring und den Schleier zum Pfandleiher und erhielt acht Kronen dafür. Für das Geld kaufte sie starke Medizin gegen Schmerzen, eine große Flasche, sowie Hustentropfen.

Spät am Nachmittag kam sie nach Råberga zurück. Vier Tage später war Erik Larsson tot. Seine Schmerzen hatten etwas nachgelassen, vielleicht hatte die Medizin geholfen. Er war einundfünfzig Jahre alt geworden. Er starb frühmorgens an einem Freitag.

Matilda ließ die Kinder ihren toten Vater sehen. Sie hatte ihm die Hände auf der Brust gefaltet. Die kleinen Mädchen weinten. Gustaf stand eine Weile regungslos mit versteinertem Gesicht neben dem Bett. Als er auf den Hof hinausging, hatte er die Fäuste geballt.

Die Beerdigung sollte in der Woche darauf in der Kirche von Täby stattfinden. Derselbe Nachbar, der Erik zum Arzt gefahren hatte, wollte Pferd und Wagen stellen, um den Toten in die Kirche zu bringen.

Am Tag vor der Beerdigung fiel Matilda ein, dass sie vergessen hatte, den Töchtern in Eskilstuna den Tod des Vaters mitzuteilen. Sie schrieb sofort einen Brief. Als Hedvig und Hulda die traurige Nachricht erhielten, lag ihr Vater schon seit drei Tagen unter der Erde.

Eiskalter ferner Vogelgesang

Die Mädchen blieben in Eskilstuna. Hedvig traf sich immer häufiger mit Karl Gustaf. Sie waren jetzt ein Paar, hatten es einigen Freunden gesagt, Karl Gustaf hatte es seinen Eltern erzählt.

Hedvig schrieb ihrer Mutter einen Brief. Sie erwähnte ihren Verlobten nur beiläufig, fragte jedoch ganz genau nach, ob Carl Weiteres aus Amerika geschrieben habe. Auf den Tod ihres Vaters kam sie nur mit wenigen Worten zu sprechen.

Dann wollte Karl Gustaf Hedvig zuhause vorstellen, in Tallstugan, außerhalb von Eskilstuna. Sie wurde zum Kaffee eingeladen, es war an einem Sonntag. Sie saßen in der fliederumrankten Gartenlaube außerhalb der Hütte. Karl Gustafs Mutter Katarina hatte Plunderteigschnecken gebacken. Vater Erik Eriksson hatte ein weißes Hemd und eine schwarze Weste angelegt. Er war Zimmermann und Waldarbeiter, er war ein ungewöhnlich großer Mann.

Hedvig sagte guten Tag, als sie kam, knickste und gab die Hand, dann aßen und tranken sie schweigend. Auch Karl Gustafs Bruder Fredrik war dabei. Er war gewachsen, jetzt war er genauso groß wie sein älterer Bruder.

Es war Fredrik, der schließlich das Schweigen brach; er erzählte, dass er das Buch Gullivers Reisen gelesen habe. Besonders lustig hatte er gefunden, dass die Liliputaner Gulliver auf dem Boden festgebunden hatten. Sie waren klein, aber da sie so viele waren, verfügten sie über Kraft.

Keiner der Übrigen hatte das Buch gelesen. Hedvig merkte sich den Titel. Sie erzählte, dass ihr Bruder Carl in Amerika sei.

»Wie geht es dem Bruder dort?«, wollte Erik wissen.

»Er scheint es gut getroffen zu haben«, antwortete Hedvig.

»Viele reisen hinüber.«

»Ja, mehrere aus meiner Familie sind gefahren, die Schwester meiner Mutter ist auch dort, und es folgen wohl noch einige.«

Hier entstand eine Pause in der Unterhaltung. Katarina schenkte Kaffee nach und bot Hedvig noch eine Schnecke an. Sie lehnte ab, aber als Katarina drängte, nahm sie die Schnecke. Sie war frisch gebacken, mit Hagelzucker und etwas Zimt.

»Ja, viele fahren hinüber«, sagte Erik nach einer Weile.

»Ich trage mich ebenfalls mit dem Gedanken«, sagte Hedvig.

»Ja, tatsächlich, Hedvig, tust du das?«

Mehr wurde dieses Mal nicht über Amerika gesagt. Später dachte Hedvig, dass hauptsächlich sie und Erik geredet hatten. Fredrik hatte auch an der Unterhaltung teilgenommen, auch dann, wenn er nichts gesagt hatte, hatte er sich mit Gesten und Mienenspiel beteiligt.

In diesem Herbst hörte Karl Gustaf in der Fabrik auf und begann eine Lehre bei einem Schuhmacher. Er sagte, er wolle einen richtigen Beruf erlernen, Messer zu schleifen brachte zwar Geld ein, aber es hatte keine Zukunft.

Hedvig gab ihm Recht. Es war eine gute Wahl.

Sie hatte jetzt fast fünfundvierzig Kronen zusammengespart. An den Abenden hatte sie Mehrarbeit in der Fabrik übernommen und einmal die Woche bei einer Ingenieursfamilie geputzt.

Aber immer noch fehlten für die Fahrkarte mindestens dreißig Kronen, außerdem benötigte sie ja auch Geld für Essen und Unterkunft.

Da traf ein Brief von Carl ein. Er schrieb, dass er der Meinung sei, Hedvig solle schnell herüberkommen. Falls sie Geld für die Reise brauche, könne er aushelfen.

Hedvig antwortete innerhalb einer Woche. Ja, sie hätte sich entschlossen. Sie hatte Geld gespart, aber es fehlte noch etwas.

Carl schrieb noch einen Brief. Er wusste, dass Hedvig bei Tante Clara unterkommen könne, und das Geld für die Überfahrt dürfte kein Problem sein. Er konnte ihr leihen, was noch fehlte, sie würde schnell gut verdienen und könne es dann zurückzahlen.

Hedvig schrieb: »Ich erwäge jetzt, dein Angebot anzunehmen, und ich werde es sobald wie möglich Mutter erzählen.«

Dann wurden Hedvig und Hulda sechzehn Jahre alt. Die Zwillinge feierten den Geburtstag in der Küche des Onkels, mit Kaffee und frischgebackenen Haferkeksen. Abends, als sie aus der Fabrik nach Hause kamen, bekamen sie auch ein gutes Essen.

Karl Gustaf schenkte Hedvig ein hübsches kleines Notizbuch mit linierten Seiten. Hier konnte sie ihre Gedanken niederschreiben. Er wusste, dass sie abreisen wollte. Er hatte sich entschlossen, nicht mitzukommen, endlich sagte er Hedvig Bescheid. Das machte er an ihrem Geburtstag. Sie fand, er hätte sich einen besseren Tag aussuchen können. Aber sie war froh, dass er sich endlich entschieden hatte.

»Ich fahre, wie du weißt«, sagte Hedvig, »aber wir werden einander schreiben, und du wirst wohl bald nachkommen?«

»Zuerst will ich meinen Beruf haben, dann werden wir an eine gemeinsame Zukunft denken können.«

»In Amerika?«

»Oder hier zuhause.«

Sie nickten einander zu. Es war nicht viel gesagt worden, trotzdem hatten sie eine Vereinbarung getroffen.

Hedvig sparte weiterhin ihr Geld. Hulda fuhr im Oktober zurück nach Råberga, Hedvig blieb in der Messerfabrik und traf Karl Gustaf weiterhin wie vorher auch.

Es wurde ein langer Winter, der Frühling kam spät, bis in den April hinein hielt sich das Eis.

Hedvig wurde siebzehn, ehe das versprochene Geld von Carl eintraf. Im August bekam sie einen eingeschriebenen Brief, der hundert schwedische Kronen enthielt, zehn Zehnkronenscheine. Hedvig hatte noch nie so viel Geld besessen.

Sie fuhr nach Hause nach Råberga, um auf Wiedersehen zu sagen. Ihre Mutter war mager geworden, sie lächelte nicht, als Hedvig kam, und sagte nicht viel, als ihre Tochter nach drei Wochen wieder abreiste.

Dann begab sich Hedvig auf die lange Reise nach Amerika. Zuerst mit dem Zug nach Göteborg, dann mit dem Schiff, mit dem Zug, wieder mit dem Schiff. Sie schrieb es in das Büchlein, das sie von Karl Gustaf geschenkt bekommen hatte. Jeden Tag schrieb sie etwas hinein.

3. Oktober 1892

Eine gute Reise nach Göteborg. Übernachtung in einem Hotel am Hafen. Ich habe mehrere große Schiffe anlegen sehen. Ich bin in einem Zimmer zusammen mit zwei Mädchen aus Småland und einem Mädchen aus Värmland.

6. Oktober 1892

Abreise bei leichtem Nebel. Bald sind wir in Hull, und von dort fahren wir mit der Eisenbahn nach Liverpool.

17. Oktober 1892

Das Schiff ist ungeheuer groß. Ich schlafe ganz unten im Schiff in einem Raum zusammen mit den Mädchen, die ich in Göteborg kennengelernt habe, und vielen Frauen aus anderen Ländern. Wir sind jetzt auf See, hoffentlich wird die Reise nicht allzu mühselig. Aber der Himmel ist nachts so mächtig, es gibt mehr Sterne, als ich jemals zuvor gesehen habe, wie glitzernde kleine Augen über dem schwarzen Ozean, auch erinnern sie an eiskalten, fernen Vogelgesang.

Alvine, die Mutter meiner Mutter

Als sich der Schnee in Samara rot färbte

Der Schwarze im Keller

Das Wasser der Wolga war grau, in Ufernähe schwammen Holzstücke und Gras, mehrere kleine Fischerboote lagen etwas weiter draußen, die Männer in den Booten waren mit den Netzen beschäftigt, einer von ihnen rief den Leuten, die an Land warteten, etwas zu. Es war weit bis zum anderen Flussufer, vielleicht tausend Meter. Es kam vor, dass gelegentlich große Schiffe vorbeifuhren. Jetzt war das Wasser weit draußen zu sehen, graues, düsteres Wasser, das die Wolken am Himmel nicht widerspiegelte.

Alvine fragte ihre Mutter, ob sie eine Weile aus dem Wagen steigen dürfe, aber die Mutter erlaubte es nicht. Es war hier allzu schmutzig.

»Warum möchtest du das denn, wir wollen jetzt weiterfahren«, sagte die Mutter, die Ida hieß.

»Ich möchte die Boote betrachten«, sagte Alvine.

»Die kannst du genauso gut vom Wagen aus sehen, oder nicht?«

»Du hast Recht, Mama, es war nur so eine Idee.«

»Natürlich, meine Liebe, du hast so deine kleinen Ideen.«

Alvines Mutter befahl dem Kutscher weiterzufahren. Er schlug mit den Zügeln auf den schwarzen Pferderücken, schnalzte ein paarmal mit der Zunge, schlug wieder zu, dieses Mal ein wenig fester, murmelte irgendetwas Unhörbares. Alvine lachte auf, sie fand den mürrischen Kommandoton des Kutschers lustig. Ihre Mutter sagte nichts. Der Wagen rollte weiter hinauf in das Stadtzentrum. Sie hatten den Umweg zum Fluss hinunter nehmen müssen, weil einige grölende Männer den Weg in die Stadt versperrt hatten, sie hatten klappernde Pferdehufe gehört, der Kutscher war in eine Seitenstraße eingebogen, hatte das Pferd angetrieben, das hinunter zum Wolgastrand trabte.

Es war nicht weit bis nach Hause. Wenn Alvine auf den Balkon im obersten Stockwerk des Elternhauses trat, konnte sie den Fluss sehen. Sie stand dort bisweilen und folgte den Booten mit den Blicken, den Dampfern, die nach Süden fuhren, nach Saratov und Astrachan, oder nach Norden, nach Kazan und Novgorod. Sie wäre gerne mit einem der Schiffe gefahren, am liebsten mit dem, welches Peter hieß, es war etwas größer als die anderen. Auf dem Schiff gab es ein schönes Restaurant, das hatte ihr Bruder Kolja erzählt.

Alvine hatte sich zum Geburtstag eine Dampferfahrt auf der Wolga gewünscht. Sie würde im Sommer sechzehn Jahre alt werden. Jetzt war es Ende April.

Der Kutscher schnalzte wieder, er wollte das Pferd antreiben. Sie hatten eine kleine Steigung vor sich, einen mit Kopfsteinen gepflasterten Buckel auf dem Weg, der hinauf zur Hauptverkehrsstraße von Samara, der Alexanderstraße mit ihren Büros, Läden und der französischen Konditorei, führte.

Alvines Vater Julius Christensen besaß eines der größten Geschäfte in der Alexanderstraße. Sein Name stand auf dem ovalen Schild über dem Eingang. Es kam vor, dass die Leute das Geschäft »den Laden des Dänen« nannten.

Alvine hatte es oft gehört und sie hatte nichts dagegen.

Ihre Familie war Ende des 18. Jahrhunderts aus Dänemark gekommen, seitdem hatten sie sich mit Deutschen und Russen vermischt. In der ganzen Straße war es ähnlich, fast alle Geschäfte gehörten Leuten, die vor langer Zeit aus anderen Ländern nach Russland gekommen waren. Weiter unten in der Straße gab es ein schwedisches Hutgeschäft, einen deutschen Uhrmacher und die wunderbare Konditorei des Franzosen.

Alvine hatte bereits begonnen zu überlegen, welches Gebäck sie nehmen wollte.

Die Kutsche hielt direkt vor der Konditorei. Alvines Mutter sagte etwas, der Kutscher sprang ab und hielt einen Mann zurück, der auf der Straße gestanden hatte und jetzt zum Wagen vordringen wollte. Er war nicht besonders alt, trug eine zerrissene Jacke, er hielt seine Mütze in der Hand, streckte sie Alvines Mutter entgegen. Der Kutscher stieß den Mann beiseite, sagte jedoch nichts. Alvines Mutter bat den Kutscher, draußen auf sie zu warten.

Als Alvine mit ihrer Mutter hineinging, sah sie, wie der Mann in der zerrissenen Jacke die Straße überquerte. Er blieb nicht stehen, sondern ging weiter mit der Mütze in der Hand. Er hinkte ein wenig. Alvine nahm an, dass der Mann vermutlich nicht älter als fünfundzwanzig Jahre war.

Sie bestellten Schokolade mit Zimtsahne, dazu einige kleine mit Puderzucker bestreute Anistörtchen.

Es war Anfang Mai 1889. Alvine war fünfzehn Jahre alt. Ihre Mutter Ida war gerade sechsundvierzig geworden. Im letzten halben Jahr waren immer mehr zerlumpte Kerle auf den Straßen Samaras aufgetaucht. Alvine hatte gehört, dass die Landbevölkerung nichts zu essen habe. Kolja hatte ihr eine Ausgabe der Samara-Zeitung gezeigt, in der stand, dass viele Menschen in ihrem Gouvernement verhungert seien. Unter den Verhungerten befand sich auch eine Lehrerin.

Aber sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Ihr Vater hatte gesagt, dass es sich meist um Übertreibungen handele. Es gab Leute, die das Land ins Verderben stürzen wollten. Solche Leute verbreiteten Lügen.

Die Familie Christensen wohnte in einer Straße, die parallel zur Alexanderstraße mit den Geschäften verlief. Ihr dreistöckiges Wohnhaus war von Ulmen und Apfelbäumen umgeben. Vor dem Wohnhaus befand sich ein gepflasterter Hof, hinter den Ulmen lagen Ställe und einige graue Gebäude. Dort wohnte die Dienerschaft, abgesehen von einigen Mägden, die in der Küche auf der Ofenbank schliefen.

Alvine hatte ihr Zimmer ganz oben im Wohnhaus. Es lag in der Nähe des kleinen Balkons mit Aussicht über die Wolga. Sie liebte diesen Balkon. Sie saß häufig dort und dachte nach, hier sehnte sie sich nach der großen Welt und nach der Liebe. Diese würde von dorther kommen, dachte sie oft, von der Wolga her. Vielleicht mit einem Schiff, mit dem Wind, mit den großen Wolken, die sich über der Steppe auf der anderen Seite des Flusses auftürmten.

Alvine wusste es nicht, es war etwas, das sie fühlte, für das sie keine Worte hatte. Der Balkon war der Ort, an dem sie die größte Sehnsucht empfand.

Jeden Samstag suchte Alvine den Laden ihres Vaters auf. Sie schaute in seinen Kontorraum im Erdgeschoss hinein, ehe sie sich hinaus zwischen die Ladentische und Waren begab.

Es war ein sehr großes Geschäft auf drei Stockwerken, eher ein kleines Kaufhaus. Auf jedem Stockwerk befanden sich ein paar große Räume, sowie einige kleinere Räume für Nähzeug und Schreibwaren. Vor allem jedoch wurden Kleider und Haushaltswaren verkauft.

An den Samstagen war das Geschäft immer gut besucht, die meisten Kunden wohnten in Samara, aber es kamen auch Bauern vom Lande in die Stadt. Im letzten Jahr allerdings war das nicht allzu oft vorgekommen. Zur Straße hin hatten die Räume große Fenster. Auf dem Fußboden darunter befanden sich Schlitze, aus denen warme Luft kam. Nur wenige Häuser in Samara verfügten über eine solche Wärmeanlage. Die Luft wurde durch lange Rohre aus dem Keller heraufgeführt, dort befand sich ein großer Heizkessel. Alvines ältester Bruder Alfred hatte es ihr erklärt. Er half oft im Kontor mit, es war beabsichtigt, dass er die Firma später von seinem Vater übernehmen solle.

An einem Samstag in diesem Frühjahr sah Alvine durch einen Zufall etwas mehr von dem Heizkessel und den Rohren. Sie hatte ihren Besuch beendet und wollte nach Hause gehen. Dem Vater hatte sie schon Auf Wiedersehen gesagt. Er ließ sie nur zu Fuß gehen, wenn sie eine Begleitung hatte, dann brauchte sie nicht auf den Kutscher zu warten.

An diesem Samstag brauchte sich der Vater keine Gedanken zu machen. Alvine sollte von einer Freundin begleitet werden, sie hatten denselben Weg. Sie hatten sich auf der Straße verabredet.

Alvine wartete am Eingang, es dauerte. Hatten sie einander falsch verstanden? Wartete die Freundin vor dem Hintereingang? Kam sie vielleicht aus dieser Richtung?

Nach einer Weile ging Alvine durch das Haus zum hinteren Eingang, der nur von den Angestellten und Lieferanten benutzt wurde. Hinten war ein Hof mit Lagerhäusern und Ställen. Dort lag auch ein großer Holzstoß.

Hier war die Freundin jedoch auch nicht. Alvine ging zu dem Holzstoß. Dahinter befand sich ein Kellereingang. Sie fragte sich, wie es da unten wohl aussehen mochte. Es war dunkel, aber weiter hinten im Dunkel flackerte ein kleines gelbes Licht.

Alvine ging die Kellertreppe hinunter. Sie gelangte in einen länglichen Kellerraum. Es roch nach Rauch und Ruß. Sie ging weiter auf das Licht zu. Da erblickte sie einen Mann. Er war schwarz angezogen, sein Gesicht war dunkel vom Ruß. Alvine zuckte zusammen. Der Mann nahm die Mütze ab und verbeugte sich.

»Hier haben Sie nichts zu fürchten, liebes Fräulein«, sagte er mit sanfter Stimme.

»Entschuldigung, ich wollte nur einmal gucken«, murmelte Alvine.

»Hier kann man schwer etwas erkennen«, sagte der Mann.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin derjenige, der dafür sorgt, dass es im Haus warm ist.«

»Die warme Luft dort oben?«

»Genau die, liebes Fräulein.«

»Wo wohnen Sie denn?«

»Hier unten wohne ich.«

»Aber wo ist Ihre Familie?«

»Anderswo, liebes Fräulein.«

»Aber wo essen Sie denn zusammen zu Abend?«

»Das tun wir nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich bin immer hier.«

Alvine wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Mann war freundlich, aber etwas seltsam. Sie wollte jetzt wieder zurück ans Tageslicht, hier unten fiel ihr inzwischen das Atmen etwas schwer.

Sie murmelte etwas zum Abschied und begann, die Treppe wieder hinaufzugehen. Als sie sich umwandte, war der Mann verschwunden. Vielleicht stand er auch dort im Dunkeln, eingehüllt in die Schwärze.

Nachdem Alvine nach Hause gekommen war, wusch sie sich gründlich. Am Abend fragte sie ihren Vater, wer der Mann im Keller sei. Wie hieß er?

Ihr Vater Julius antwortete, dass der Mann »der Schwarze« genannt würde. Seinen richtigen Namen kannte er nicht.

»Er ist schon immer dort«, sagte Julius.

»Immer?«

»Ja, und er wird wohl auch dort bleiben, weil er dort hingehört. Es ist das einzige Leben, das er hat, und er ist ja nützlich.«

An diesem Abend konnte man ein ungewöhnlich schönes Licht über der Wolga beobachten. Schwach lila gefärbte Wolken lagen über den waldigen Anhöhen am gegenüberliegenden Ufer des Flusses, die letzten Sonnenstrahlen funkelten an den Wolkenrändern.

Alvine stand lange auf dem Balkon und schaute. Ein Schiff glitt vorbei, das Achterdeck wurde von Lampen erleuchtet.

Der Richtige kommt mit dem Schiff

Alvine kannte die Namen von mehreren großen Schiffen auf dem Fluss. Einigen gab sie selbst Namen: Silberschwall, Morgensonne, Amadeus. Das kleine schwarze Schiff mit dem großen Schornstein nannte Alvine Zakarina.

Sie verriet ihrer kleinen Schwester Toni die Namen, da sie wusste, dass Toni es den anderen Geschwistern niemals erzählen würde. Toni war ernsthaft, lachte nicht oft, freute sich sehr über das in sie gesetzte Vertrauen.

Toni sagte, sie wolle ebenfalls Schiffe taufen. Alvine verbot es ihr.

»Ich bin es, zu der sie auf der Wolga kommen«, sagte Alvine, »du musst dir deine Freunde anderswo suchen.«

»Freunde?«, wollte Toni wissen.

»Ja, sie kommen auf dem Fluss, aber ich werde nur einen Einzigen empfangen und ihm meine Hand geben, verstehst du?«

Toni sagte, sie würde es schon verstehen, und jetzt war das Geheimnis noch größer. Jemand würde zu ihrer Schwester kommen. Ein Mann?

In dem Jahr, in dem Alvine siebzehn wurde, war noch kein Mann gekommen. Sie sollte achtzehn Jahre alt werden, ehe ein Mann sie mit wirklichem Interesse ansehen würde. Das war der junge Hauslehrer, der für Toni eingestellt worden war. Er war liebenswürdig, sah gut aus, kleidete sich elegant, sprach ausgezeichnet französisch. Als jedoch Alvines Mutter bemerkte, dass er Alvine richtiggehend den Hof machte, erklärte sie ihrer Tochter, dass sie ihr schon sagen würde, wenn der Richtige gekommen sei, der Hauslehrer war nicht passend. Sein Vater war Dorfschullehrer, Bahnwärter oder etwas Ähnliches. Sicher hatte der Junge studiert, aber man konnte von dem, was in den Büchern steht, nicht leben. Das sah Alvine doch wohl ein?

Ja, das sah sie ein.

Alvine wartete weiter. Sie stand nicht mehr ganz so oft auf dem Balkon. Stattdessen las sie Romane über die Liebe und über das Reisen. Sie las sogar zwei Bücher von Leo Tolstoj.

Ihr Vater sah diese Bücher. Er lehnte Tolstoj ab, den er verwirrend fand. Er wollte seiner Tochter nicht verbieten, die Bücher des phantasiebegabten Grafen zu lesen, aber es gab doch so viel anderes zur Auswahl, Bücher, an denen man Freude hatte.

Alvine tat, was ihr Vater wünschte. Sie hörte auf, Tolstoj zu lesen. Sie wandte sich wieder den Romanen über die Liebe zu, die an Orten spielten, die weit weg lagen – in der Südsee, in Arabien, in Paris.

Sie wurde zwanzig, dann einundzwanzig, und er, der kommen sollte, hatte sie noch nicht gefunden.

Im Frühjahr 1895 dann passierte es. Alvine lernte Oscar Peterson auf der Schlittschuhbahn in Samara kennen. Er hielt nach dreimonatiger Bekanntschaft um ihre Hand an. Alvines Mutter meinte, dass Oscar der Richtige sei. Er war Geschäftsmann, hatte schwedische Vorfahren, sah gut aus und konnte sich angeregt unterhalten.

Oscar war mit dem Schiff auf dem Fluss gekommen, aus der großen Stadt Saratov im Süden, um Haushaltswaren zu verkaufen, aber das wusste Alvine nicht. Für sie war Oscar derjenige, auf den sie gewartet hatte. Er war doch auf einem ihrer Traumschiffe gekommen, nicht wahr?

Alvine und Oscar heirateten in der lutherschen Kirche in Samara. Oscars Mutter und seine vier Schwestern waren mit dem Dampfer aus Saratov angereist. Sie wohnten im Hotel. Das Hochzeitsessen wurde im Hause der Christensens eingenommen. Alvines Vater hielt eine lange und sehr gefühlvolle Rede.

Er erzählte von den Vorfahren aus dem fernen Norden, die Familien stammten ja von dort, sprach über das große Russland, das ewige russische Zarenreich.

Julius Christensen war von seinen Worten selbst gerührt. Nach dem Essen spielte eine Musikkapelle verschiedene Stücke russischer und nordischer Komponisten.

Oscar fand, dass die nordische Musik wie ein Wiener Walzer klang. Er konnte wirklich tanzen. Alvine hatte keine Übung, aber sie hatte Unterricht von einer Lehrerin erhalten. Alle lächelten dem Brautpaar zu, dem großen eleganten Oscar im gut sitzenden Frack, und der kleinen zarten Alvine in Spitzen, Schleier und Seide. An diesem Abend war sie eine bezaubernde kleine Braut.

Die Nacht wurde schlimm. Sie wusste nicht, was ihr bevorstand, dass der Mann in ihrem Leben so fordernd sein würde, so hart und schwer. Sie wusste nichts, und es war sehr schmerzhaft, als er in sie eindrang und immer weitermachte, gar nicht aufhören wollte.

Lange lag sie noch wach und horchte auf Oscars schwere Atemzüge, die allmählich in Schnarchen übergingen.

Jemand hatte ihr gesagt, dass man sich mit der Zeit daran gewöhne, ja sogar Gefallen daran finden konnte.

Das jedoch war bei Alvine niemals der Fall. Sie war gezwungen, Oscar seinen Willen zu lassen, wann immer er wollte, und sie verabscheute ihn für das, was er tat, aus ganzem Herzen.

Die Brände kommen näher

Oscars Vater Johan Peterson war ein schwedischer Schiffsmaschinist gewesen. Er stammte aus Schonen, war mehrere Jahre auf Dampfschiffen zur See gefahren, war in Odessa in Südrussland an Land gegangen. Johan war ins Landesinnere gefahren, hatte Emilie Goldbach aus Astrachan, der großen Stadt im Wolgadelta am Kaspischen Meer kennengelernt.

Sie hatten geheiratet und sich in Sarajewo siebenhundert Kilometer flussaufwärts niedergelassen. Johan Peterson arbeitete weiterhin auf Dampfschiffen. Er wurde Maschinenaufseher auf einem Wolgaschiff, dessen Kapitän Däne war. Wenn das Schiff vertäut war, tranken sie zusammen Wodka. In einer kalten Winternacht rutschte Johan am Kai aus, fiel ins Wasser, zog sich eine Lungenentzündung zu und starb nach zwei Wochen.

Oscar war drei Jahre alt gewesen, als er seinen Vater verloren hatte. In der Familie gab es vier Schwestern. Anna war die Älteste. Sie kümmerte sich um Oscar, wurde wie eine Mutter für ihn, wenn Emilie es nicht schaffte.

Anna wurde Oscars Haushälterin, seine Gehilfin, die große Stütze seines Lebens. Sie wachte über ihn, ließ ihn bestimmen, fällte jedoch auch oft Entscheidungen, ohne ihn vorher zu fragen, sie wusste ja, wie er es haben wollte.

Als Oscar Alvine heiratete, wurde Anna ängstlich. Würde Oscar sie im Stich lassen? Nein, er versprach, Anna mitzunehmen. Sie durfte in das Haus einziehen, das er gekauft hatte. Sie betätigte sich weiterhin als seine persönliche Haushälterin. Anna bügelte Oscars Hemden und Kragen, sie bereitete ihm das Frühstück, brachte ihm warmes Waschwasser, packte seinen Koffer, wenn er verreisen musste. Sie blieb immer auf und wartete auf ihn, wenn er von den Abenden in seinem Herrenclub in Samara spät nach Hause kam.

Alvine ließ es geschehen. Sie hatte keine Wahl. Anna und Oscar hatten so viel gemeinsam, ein Urbild alter Abhängigkeiten. Oscar und Alvine waren miteinander verheiratet, aber Anna hatte das Sagen im Hause, sie kommandierte die Dienerschaft, beriet mit Oscar über wirtschaftliche Angelegenheiten, hatte sein Vertrauen.

Oscar ließ seine Schwester nicht im Stich, noch nicht.

Das Haus lag ein Stück vom Fluss entfernt, im nördlichen Außenbezirk von Samara, in der Nähe einer kleinen blauweißen orthodoxen Kirche. Es war eine schöne Gegend, schattig im Sommer, nicht allzu lehmig, wenn im Herbst der Regen fiel, im Frühling dufteten die Lilien.

Aber das Haus war alt. Es war solide gebaut, hielt im Winter die Wärme, aber es hatte kein fließendes Wasser, die Mägde mussten Wasser mit Eimern vom Brunnen auf dem Hof holen. Alvine hatte in ihrem Elternhaus alle Annehmlichkeiten der modernen Technik der damaligen Zeit gehabt. Sie und ihre Schwestern hatten ein eigenes Dienstmädchen zur Verfügung, die Familie hatte eigene Kutscher, die auch für die Kinder den Wagen vorfuhren.

Jetzt war Alvine gezwungen, sich selbst um ihre Kleidung zu kümmern. Sie bekam zwar die Mahlzeiten hingestellt, aber sie musste sich selbst bedienen. Wenn sie in die Stadt fahren wollte, mussten Pferd und Wagen bestellt werden.

Im Spätwinter 1900 gebar Alvine ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, das Erika genannt wurde.

Die Kleine schlief zunächst eine Zeitlang in einem Kinderbettchen neben Alvine. Anna stand immer zur Verfügung, sie nahm Erika auf, wenn Alvine darum bat, ließ das Kind eine Weile neben seiner Mutter liegen, legte es recht bald wieder zurück in das Bettchen. Anna wechselte die Windeln, wusch, brachte Erika in ein anderes Zimmer, wenn Alvine sich ausruhen wollte.

Nach einem Monat war es soweit, dass Anna bestimmte, wie Erika versorgt werden sollte. Nach vier Monaten schlief das Kind nicht länger bei seiner Mutter. Als Erika ein Jahr alt war, aß sie zusammen mit Anna und der Dienerschaft in der Küche. Die jungen Eltern bekamen ihre Mahlzeiten oben in dem kleinen Speisezimmer neben dem Schlafzimmer serviert.

Oscar und seine junge Frau waren der Auffassung, dass es so am besten sei. Alvine wurde beim Essen nicht durch Kindergeschrei gestört, Oscar musste nach einem langen Arbeitstag nicht nach Hause kommen zu übelriechenden Windeln.

Er hatte einen Laden eröffnet, er verkaufte Küchengeräte, meist aus Deutschland importierte Waren. Oscar hatte Alvines Mitgift in den Laden gesteckt, er selbst hatte kein Geld gehabt. Das Geschäft lief jedoch gut, er hatte zwei Angestellte, selbst würde er es bald etwas ruhiger angehen können, vielleicht etwas häufiger zuhause sein können. Das würde Alvine doch wohl gefallen?

Das tat es sicher, ja, natürlich.

Er könne morgens länger im Bett bleiben, das wolle sie wohl gerne?

Sie antwortete ausweichend. Oscar nahm an, dass sie dasselbe wie er wollte, dass sie nur zu schüchtern sei, ihm zu antworten.

Alvine gebar noch ein Mädchen, das Dagmar genannt wurde. Jetzt wusste Anna, was von ihr erwartet wurde. Schon nach zwei Monaten wurde das Kind von seiner Mutter getrennt.

Im Sommer 1904 wurde Alvine zum dritten Mal schwanger.

Die Kälte war um Neujahr herum sehr schneidend. Das Wasser der Wolga war gefroren, die Rauchsäulen aus den tausenden von Schornsteinen in Samara stiegen kerzengerade hinauf in die stillstehende Luft, sie vereinigten sich über der Stadt zu einem weißen Schleier. Das Mondlicht war gedämpft, alles stand still, in der Neujahrsnacht zeigte das Thermometer minus neununddreißig Grad.

Alvine war im siebten Monat. Sie war umfangreicher als die vorigen Male, bewegte sich weniger. Sie las Romane, blieb im Bett liegen. Die Hebamme, die nach ihr sah, bat sie aufzustehen, es sei für das Kind besser, wenn sich die Mutter etwas mehr bewege, auch sei es gut für die Mutter.

Widerwillig stand Alvine auf und zog sich an. Die Hebamme ließ absichtlich eine Dose mit Knöpfen auf den Boden fallen, schlug vor, dass Alvine sie als ein kleines Training aufsammeln sollte. Als Alvine sich weigerte, änderte die Hebamme ihre Taktik, fand, dass sie gemeinsam die Knöpfe auflesen sollten.

Alvine ließ sie liegen. Sie stellte sich ans Fenster, die Scheibe war von Frostblumen überzogen, sie konnte nicht hinaussehen. Sie überlegte, was sie am Neujahrstag anziehen sollte, wenn sie, Oscar und die Kinder zu Alvines Eltern zum Essen fahren würden.

Am ersten Tag des Jahres war es nicht ganz so kalt. Die Leute gingen ohne einen Wollschal vor dem Gesicht nach draußen.

Der Schlitten holte sie um ein Uhr ab. Es war ein überdachter Schlitten, sie saßen in Decken eingewickelt, Oscar hielt seinen Arm um Erika, die kleine Dagmar saß neben Alvine.

Die beiden Pferde hatten Schellen um den Hals. Sie zogen den Schlitten langsam auf dem Weg an der Kirche vorbei, hinauf bis zur Salzsiederei, über das Feld, auf dem der verharschte Schnee in kleinen harten Wehen lag, die Kufen knarrten auf dem verkrusteten Schnee.

Dann ging es etwas schneller, sie befanden sich auf der geraden Strecke, die an dem Stall der Kosaken vorbeiführte, an den Gebäuden der Wachmannschaften, vorbei an dem Platz, auf dem die Wagen und Geräte standen, die den Soldaten gehörten. Alvine nahm flüchtig einige Soldaten auf dem Hof wahr, sowie ein paar Reiter. Sie schienen irgendwohin aufzubrechen, sie ritten sehr schnell weg.

Jetzt war der Schlitten nur noch ein kleines Stück von der Katarinastraße, auf der sich der Palast des Gouverneurs befand, entfernt. Sie würden gleich an dem großen gelben Gebäude vorbeifahren und dann abbiegen hinunter in Richtung Innenstadt.

Da verlangsamte sich die Fahrt plötzlich. Der Kutscher rief den Pferden etwas zu, es schien so, als ob er sie zurückhielt.

Oscar steckte den Kopf auf der Seite hinaus und rief dem Kutscher zu, die Fahrt fortzusetzen.

»Du sollst uns zu der Adresse, die du erhalten hast, bringen, ohne zu trödeln«, schrie Oscar.

»Mein Herr, mein Herr«, rief der Kutscher zurück, »sehen Sie nicht, was wir vor uns haben?«

Jetzt verlangsamte er die Fahrt noch mehr. Oscar sah wieder hinaus, er sagte nichts, der Schlitten hielt an.

»Eine Schar Krawallmacher«, murmelte Oscar.

»Was für Leute?«, fragte Alvine.

»Ein Haufen Menschen auf dem Weg dort hinten.«

»Was sind das für Leute?«

Oscar antwortete nicht. Er rief dem Kutscher zu, einen anderen Weg zu nehmen.

Der Kutscher sprang vom Schlitten herunter, zog die Zügel an, versuchte, die Pferde ein Stück zurückzuführen, damit er den Schlitten wenden konnte. Es ging sehr langsam, eine große Schneewehe war im Weg.

»Beeil dich, du fauler Kerl«, schrie Oscar.

Der Kutscher riss an den Zügeln, sprach auf die Pferde ein, führte sie ein Stück zurück, dann wieder vor. Jetzt hatte er es fast geschafft, den Schlitten zu wenden. Die dunkle Schar vor ihnen kam näher. Die vordersten der Männer trugen eine große Prozessionsfahne, ein Bild der Jungfrau Maria, einige der anderen an der Spitze hielten brennende Kerzen in den Händen. Jetzt konnte man Gesang hören. Sie sangen einen Psalm, eine Neujahrshuldigung an den Erlöser.

Als sich die Schar noch etwa hundert Meter vom Schlitten entfernt befand, bog die Spitze ab. Die Männer, die die Standarte trugen, begannen, über das Feld hinauf zum Gouverneurspalast zu gehen. Sie stapften durch den Schnee, die anderen folgten, bald hatte der ganze Zug den Weg verlassen. Die Volksmenge bewegte sich hinauf auf den offenen Platz vor dem Palast zu. Dort machte die Spitze halt, die anderen blieben ebenfalls stehen.

Jetzt konnte Alvine sehen, wie viele Leute in dem Zug waren. Es waren fast nur Männer, sicher mehrere hundert, einige hielten Bilder von Maria, Josef und dem Jesuskind in den Händen.

Dann begann jemand zu sprechen, es klang laut und eintönig. Alvine konnte zunächst nur einzelne Wörter verstehen, dann Teile von Sätzen: »Als Diener des Zaren … bringen wir unsere Huldigung … seine guten … rechtgläubigen Kinder. Jesu Leiden … Huldigung.«

Hier wurde der Redner von dem Psalmengesang unterbrochen. Die Männer hielten die angezündeten Kerzen hoch, der Gesang tönte über das Feld, hinauf gegen die Wände des Palastes. Jetzt verstummte der Gesang wieder. Neue Worte erreichten Alvine: »Hungernde Kinder … treue … hungernde … hör uns … Jesu Gnade … hungern … Kinder hungern … sei gnädig.«

Wieder Psalmengesang. Wieder Hunderte erhobener Hände mit brennenden Kerzen, donnernder Gesang über das Feld.

Dann hörte man andere Geräusche, zuerst schwach, dann lauter werdend. Es waren Pferdehufe, dumpf im Schnee, viele galoppierende Pferde. Alvine wandte den Kopf, blickte in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Da kamen Pferde heran, eine Reitertruppe, die Kosaken. Der Schnee stob um die Hufe der Pferde.

Sie waren unterwegs über das Feld, hin zu den singenden Menschen. Sie machten vor den Männern mit den Kerzen nicht Halt. Die Reiter ritten direkt in die Schar auf dem Feld hinein. Einige Menschen wurden umgestoßen, andere versuchten wegzulaufen, wieder andere fielen mit gefalteten Händen auf die Knie.

Einer der Reiter schwang seinen Säbel und schlug zu, andere machten es ihm nach, sie schlugen ununterbrochen auf die Wehrlosen ein, die Säbel trafen Gesichter und Hälse, der Schnee färbte sich rot. Viele lagen schon am Boden, andere liefen davon, die Reiter nahmen die Verfolgung auf, und auch diese wurden niedergehauen.

Dann war der schonungslose Angriff plötzlich vorbei. Vielleicht hatte ein Offizier den Befehl erteilt, vielleicht war der Auftrag erfüllt. Die Reiter formierten sich in Reihen und entfernten sich langsam. Überall lagen tote und verletzte Menschen, einige versuchten, in Sicherheit zu kriechen, ein junger Mann saß mit hängendem Kopf im Schnee.

In weiter Entfernung war eine Kirchenglocke zu vernehmen. Vielleicht war es die Kirche in der Nähe von Oscars und Alvines Haus. Der Ton kam aus der Richtung.

Der Kutscher hatte die ganze Zeit über bewegungslos neben den Pferden gestanden. Jetzt kletterte er wieder auf den Schlitten, zog die Zügel leicht an. Die Pferde setzten sich in Bewegung und zogen den Schlitten hinunter auf die Alexanderstraße.

Die Kälte hielt an. Es war mitten im Winter, eine schwere, stille Zeit. Samaras Zeitung schrieb über die Ereignisse am Palast, aber als Alvine die Zeitung las, fand sie, dass die Beschreibung nicht mit dem übereinstimmte, was sie gesehen hatte.

In den folgenden Wochen standen in der Zeitung Berichte von ähnlichen Vorkommnissen überall in Russland, wo sich Menschen versammelt hatten und vom Militär auseinandergetrieben worden waren. Offenbar war irgendetwas Bemerkenswertes in St. Petersburg geschehen, aber es wurde nicht klar, was wirklich vorgefallen war. Viel später würden Oscar und Alvine von dem blutigen Sonntag im Januar vor dem Winterpalais des Zaren erzählen hören. Sie nahmen jetzt an, dass es sich hauptsächlich um Übertreibungen handelte oder dass böse umstürzlerische Mächte zu Recht zurückgeschlagen worden waren.

Im Februar gebar Alvine ihre dritte Tochter. Sie wurde Irma genannt. In diesen Tagen gingen in Samara Gerüchte um über Ereignisse, die sich auf dem Land am gegenüberliegenden Ufer zugetragen hatten. Einige große Güter waren von hungernden Bauern geplündert und in Brand gesetzt worden.

An stillen Tagen konnte man weit hinten die Rauchsäulen erkennen. Die Brandherde rückten immer näher. Eines Nachts loderten die Flammen aus einem großen brennenden Hof direkt vor der Stadt.

Niemand sah Erika je weinen

Die Jahre vergingen. Oscars Geschäft lief gut. Er war oft unterwegs, hatte eine Filiale in Kazan eröffnet und mit einem Händler in Novgorod eine Vereinbarung über den Verkauf von Waren getroffen, die er aus Deutschland importierte.

Oft war er über lange Zeit nicht zuhause, einen ganzen Monat lang, oder auch mehrere Monate. Einmal im Jahr fuhr er nach Deutschland, um neue Artikel für seinen Import auszusuchen. Diese Reisen beanspruchten viel Zeit. Oscar nahm sich die nötige Zeit, zwei, manchmal drei Monate. Er nutzte die Gelegenheit, alte Geschäftspartner zu besuchen oder neue Bekanntschaften zu knüpfen.

War er sehr lange von zuhause weg, dann schrieb er der Familie: Alvine würde ihn bestimmt vermissen, er würde bald zurück sein, mit Geschenken für all seine kleinen Mädchen in Samara.