Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson - E-Book

Herbst der Vergeltung E-Book

Erik Eriksson

0,0

Beschreibung

Ein Selbstmord auf dem Dachboden. Ein Ertrunkener im See. Ein Unfall in der U-Bahn-Station. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus ... Oder haben die Opfer etwas gemeinsam? Ex-Kommissar Verner Lindgren, wegen maßloser Gewalt im Dienst vom selbigen suspendiert, ermittelt auf eigene Faust zusammen mit einer ehemaligen Kollegin in einem Vorort Stockholms. Verner Lindgren ahnt den Zusammenhang, und seine eigene Vergangenheit ist ihm Muster zur Aufklärung der Todesfälle.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 433

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eriksson

Herbst der Vergeltung

Erik Eriksson

Herbst der Vergeltung

Kriminalroman

© 2009 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung

des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Originaltitel: Hämnarnas höst

Übersetzung aus dem Schwedischen: Christine Bode-Wein

Satz: Anh Nguyen

Umschlag: Linna Grage

unter Verwendung eines Fotos von www.istockphoto.com/knape

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net

ISBN: 978-3-938568-88-0

DIE NACHBARN

1.

Die Straße war nach dem Regen wie blank gescheuert, bläulich blank, und dann war da noch der leicht säuerliche Duft von etwas, von dem Birgitta dachte, dass sie es wiedererkannte. Sie kam nicht darauf, was es war.

Etwas Reines auf jeden Fall, etwas, das mit Spanien zu tun hatte oder vielleicht auch mit Irland. Manchmal vermischten sich die Länder in ihrer Erinnerung, nicht weil sie sich so ähnlich waren, sondern weil Birgitta in ihrer Jugend sowohl einige Monate in Malaga als auch in Dublin gelebt und einige Reisen zwischen den beiden Städten gemacht hatte.

Sie blieb stehen, als die Dufterinnerung sie erreichte. Der Duft war schwach, aber ein wenig beunruhigend, er stammte aus der Zeit, die die beste ihres Lebens gewesen war.

Sie hatte Bengt nicht davon erzählt. Er wusste nicht mehr, als dass sie zunächst als Au-pair in England gelebt hatte und dann mit ihrer dortigen Gastfamilie nach Irland gezogen war, denn die Ehefrau war Irin gewesen. Im Sommer hatte sie mit der Familie in den Urlaub nach Spanien fahren dürfen. Daran war nichts Falsches. Aber sie hatte auch einige Reisen auf eigene Faust unternommen, zu dem jungen Mann, den sie in Dublin kennen gelernt hatte. Vor langer Zeit. Der Duft führte sie in diese Zeit zurück, und für einen Augenblick befand sie sich in einer anderen Straße.

Dann war sie wieder in der Klarabergsgata in Stockholm nach dem heftigen Regenschauer, einem von den zahlreichen in diesem merkwürdigen Regensommer.

Birgitta hatte auf dem Heimweg von der Arbeit Schnaps und Starkbier gekauft. Die Tüte aus dem Spirituosengeschäft lag in der Einkaufstasche zusammen mit Schweinefilet, Tomaten und Zwiebeln. Sie warf einen Blick auf die Uhr der Klarakirche, als sie zum Hauptbahnhof eilte: Viertel nach vier, sie würde den Pendelzug um fünf vor halb nach Älvsjö bekommen, dann noch schnell unterwegs Zigaretten und die Abendzeitung holen, viertel nach fünf zu Hause sein und im besten Fall kurz nach sechs das Essen fertig haben.

Bengt wollte, dass das Essen fertig war, wenn er kam. Birgitta wollte ihn nicht enttäuschen.

Er kam von einer mehrtägigen Arbeit in Hallstavik zurück, er war länger dort geblieben und hatte Überstunden gemacht bei irgendetwas, das in einer Papierfabrik dort ausgebessert werden musste, irgendetwas Elektrischem. Er würde sicherlich müde sein, er würde Essen haben wollen und einige Schnäpse und Biere nach all der Arbeit. Birgitta hoffte, dass es gut für ihn gelaufen war und dass er alles geschafft hatte. Das hoffte sie wirklich.

Als sie auf dem Bahnsteig stand, roch sie wieder diesen säuerlichen Geruch. Aber jetzt gab es nichts in der Nähe, das den Ursprung des Geruchs erklären konnte. Sie begriff, dass er aus Irland war, es waren die Bäume, wenn es geregnet hatte, der Dampf von der feuchten Erde. Im Juli, so wie jetzt. Obwohl jetzt nichts so sein konnte, wie es damals war.

Birgitta wusste, dass der Duft eine Erinnerung war, und ihr fehlten die Worte, vielleicht nicht für das Erlebte, aber für den Duft.

Das Aftonbladet war ausverkauft. Birgitta nahm den Expressen, sie hatte nie verstanden, was die beiden Zeitungen unterschied. Und sie kaufte eine Stange Kent mit Filter zum Sonderpreis, statt der grünen Marlboros, die sie und Bengt normalerweise rauchten. So sparte sie dreißig Kronen.

Um viertel nach sechs saßen sie am Tisch. Die Söhne saßen vollkommen still, als Birgitta Bengt von dem Filettopf auftat. Sie sah ihn an, hoffte, er würde etwas sagen. »Reicht das?«, fragte sie. Er nickte leicht, goss sich den ersten Schnaps ein, fragte nicht, ob sie auch wollte, weil er wusste, dass sie Hochprozentiges nicht mochte. Sie begnügte sich mit Bier, hätte Wein vorgezogen, wollte aber keine Umstände machen.

»Ich habe billige Zigaretten gekauft«, sagte sie.

Als er nicht antwortete, wusste sie, dass er schlecht gelaunt war.

»Dabei habe ich einiges gespart.«

Er kippte den Schnaps hinunter.

Birgitta tat den Söhnen Essen auf die Teller, eine große Portion für Ola, der immer hungrig war, und eine etwas kleinere für Per-Erik.

»Nicht so viel«, flüsterte er.

»Das ist doch gar nicht viel«, sagte Birgitta.

Bengt hob den Blick in Richtung des Jungen, der auf den Teller hinunter sah, als er begann, mit der Gabel in der Tomatensoße herumzustochern, die ein einsames Filetstück umgab.

Bengt goss sich den zweiten Schnaps ein.

Birgitta fühlte deutlich, dass ihr Mann missgelaunt war und überlegte, was der Grund sein konnte. Mochte er das Essen nicht, hatten die Jungs ihn geärgert? Sie kam nicht darauf.

Auch die Jungen spürten die gedrückte Stimmung. Sie sprachen nicht miteinander, wie sie es sonst taten, sahen hinunter auf ihre Teller, und nun fingen sie konzentriert an zu essen, als ob das Geräusch von kratzenden Gabeln und mahlenden Zähnen die Worte ersetzen konnte. Bengt erhob sich mit einem Seufzer. Er hatte nicht aufgegessen. Birgitta begriff, dass er ihr Essen nicht mochte, obwohl sie den Filettopf genau wie sonst gekocht hatte.

»Bist du müde?«, versuchte sie es.

»Ich gehe raus und hole Zigaretten«, antwortete er.

Er klang verlegen, und vielleicht gab es da auch einen schwachen Unterton, von dem sie gelernt hatte, ihn wieder zu erkennen: etwas beleidigt, das zurückgehaltene Selbstmitleid des gekränkten Mannes.

Jetzt wusste Birgitta Bescheid, und sie fühlte Unruhe. Trotzdem wurde der Abend ruhig. Bengt trank seine Biere, und sie sahen Fernsehen, eine amerikanische Komödie mit Dolly Parton. Sie gingen vor Mitternacht zu Bett.

Birgitta wusste, wie er es haben wollte. Sie legte sich auf den Rücken, nahm ihn entgegen, half ihm hinein. Als er eingeschlafen war, fühlte sie mit der Hand nach und bemerkte, dass er nicht gekommen war.

Sie lag ziemlich lange wach und hörte, wie er schnarchte. Ihre Unruhe war immer noch da. Sie schlief ein, als es hell wurde. Aber dann schlief sie tief und fest.

Er wachte zuerst auf, hatte einen trockenen Mund und wandte sich zu ihr, hörte ihre tiefen, ruhigen Atemzüge und dachte, dass sie morgens immer so unglaublich tief zu schlafen pflegte.

Nein, vielleicht nicht immer, aber meistens tat sie das.

Er fühlte Zorn in sich aufwallen. Sie war immer so verdammt unbeschwert, so irgendwie unbeteiligt, so unempfänglich für seine Gedanken, sie kümmerte sich nicht darum, was er tun wollte.

Sie hätte ihn fragen können, aber das tat sie nicht.

Sie könnte sich ein wenig bemühen, aber das tat sie nicht, sie könnte ein wenig helfen, es gab Frauen, die das taten, die ihren Männern ein wenig halfen.

Er zog die Decke mit sich, als er aus dem Bett stieg. Ihre Beine lagen weiß und bloß, das Nachthemd war hoch gerutscht, der Schoß war entblößt, das schwarze Haar glänzte ein wenig. Er verstand nicht, warum es glänzte, er empfand es wie blanken Hohn, so als ob sie das bekommen hatte, was er ihr nicht gegeben hatte.

Sie lag auf dem Rücken, die Beine etwas gespreizt, das eine ein wenig angezogen. Nun zog sie es noch etwas mehr an die Seite, fast als würde sie sich jemandem öffnen, im Schlaf. Er zog vorsichtig die ganze Decke von ihr herunter.

Dann ging er hinaus in die Küche. Er schloss leise die Tür hinter sich, ging zur Toilette und pinkelte, kehrte in die Küche zurück und sah, dass die Uhr über dem Herd zwanzig vor sieben anzeigte.

Die Söhne schliefen noch. Er ging in ihr Zimmer, stellte sich ans Fenster und wartete kurz.

Nach zehn Sekunden ließ er das Rollo mit einem Schlag hoch sausen, öffnete das Fenster und wandte sich zu den beiden Betten. Er wartete kurz, gab den Jungen eine Chance ›guten Morgen‹ zu sagen. Als er nichts hörte, ging er zu Per-Eriks Bett und zog die Decke fort. Dann wandte er sich Olas Bett zu und tat dasselbe.

»Auf, auf!«, sagte er.

Die Jungen standen sofort auf. Er nickte ihnen zu, hörte sie ›guten Morgen‹ murmeln. Im Normalfall hätte er eine höflichere Begrüßung verlangt, doch jetzt machte er eine Bewegung in Richtung Küche. Sie folgten ihm durch die Tür.

Dort warteten sie einen Augeblick, er hielt den Finger vor den Mund zum Zeichen, dass sie still sein sollten. Die Söhne nickten. Er nickte zurück. Es war, als ob sie alle zusammen die Mutter der Jungen überraschen sollten, als ob es ihr Geburtstag sei.

Jetzt soll sie etwas erleben, dachte er.

Er öffnete die Tür vorsichtig. Birgitta schlief immer noch, und sie lag immer noch so da mit gespreizten Beinen.

»Kommt rein«, flüsterte er den Jungen zu.

Sie sahen ihre Mutter, standen wie versteinert da und guckten sie an. Dann wandte der zehnjährige Ola den Blick ab und tat einen Schritt rückwärts, sein sechsjähriger Bruder stand noch immer da.

Bengt nahm Ola bei den Schultern, drehte ihn der Mutter im Bett zu.

»Guckt, so sieht sie aus, eure Mutter«, sagte er mit lauter Stimme. »Guckt, wie sie da liegt und sich rekelt.«

Ola versuchte sich abzuwenden. Jetzt lachte Bengt laut, zeigte auf Birgitta und schüttelte den Kopf.

Da wachte Birgitta auf. Sie suchte nach der Decke, fand sie aber nicht, da sie auf dem Boden lag. Sie zog hastig ihr Nachthemd herunter und setzte sich im Bett auf.

»Eure Mutter!«, lachte Bengt und verließ das Schlafzimmer.

Ola folgte seinem Vater. Der Sechsjährige blieb stehen. Birgitta stieg aus dem Bett, ging zu dem Jungen und umarmte ihn.

»Papa macht nur Spaß«, flüsterte sie. »Er meint das nicht böse.«

Aber sie wusste, dass das, was sie ihrem jüngsten Sohn zuflüsterte, nicht stimmte. Trotzdem wiederholte sie ihre Worte, weil sie wusste, dass sie das Einzige waren, das sie sagen konnte.

2.

Es war immer noch Hochsommer, trotzdem waren die Nächte dunkel in dieser Woche. Dicke Regenwolken bedeckten den Himmel, keine Sterne waren zu sehen, es schien kein Mond über Älvsjö.

Alles war ungewöhnlich still. Vielleicht war es die Ruhe vor dem Auguststurm, die Wochen vor dem Schulanfang. Es war die Zeit von zerschlagenen Fensterscheiben, von lauter Musik aus tragbaren CD-Playern an jeder Straßenecke, dem Treffpunkt für die Jugendlichen, die vorübergehend auseinandergetrieben wurden von besorgten Eltern auf der Jagd nach ihren zwölfjährigen Töchtern.

Dann und wann unterbrach das Geräusch von vorbeifahrenden Zügen die Stille, der kreischende Laut von blanken Metallrädern auf glatten Schienen, Älvsjös ewigem Wiegenlied: Ein später Zug aus Nynäshamn, ein Nachtzug auf dem Weg nach Kopenhagen, ein Güterzug aus Malmö. Diese Geräusche störten niemanden, nur wenn sie ausgeblieben wären, wäre vielleicht jemand aufgewacht.

Gegen zwei Uhr in dieser Nacht bellte ein Hund vor einem der Häuser im Törnrosväg, ein kleiner Hund. Jemand hörte das Gebell und sollte es später als durchdringend und ziemlich beharrlich beschreiben. Ganz sicher war das ein sehr kleiner Hund, das hörte man.

Die großen Hunde dominierten hier, aber es gab auch kleine Hunde in mehreren Häusern, einen Zwergpinscher, einen Spitz, einen glatthaarigen Dackel und einen schwarzen Papillon, der einer korpulenten Afrikanerin gehörte. Oder waren es ihre vielen, weiten Röcke, die einen Eindruck von Leibesfülle erweckten? Der Hund war auf jeden Fall sehr klein und zierlich.

Fürchtete sich der bellende Hund vor etwas, witterte er Gefahr?

Der Mann, der die Dachbodentür aufschob, brauchte keinen Schlüssel. Das Schloss war kaputt. Es gab Einbruchsspuren am Türrahmen, aber die waren alt, vielleicht ein Resultat wiederholter Einbruchsversuche.

Er benutzte die linke Hand. In der anderen hielt er ein dünnes Seil, das er in mehreren Schlaufen um das Handgelenk gewickelt hatte. Das andere Ende des Seils war festgeknotet, rund um den Hals eines liegenden Mannes. Der Körper dieses Mannes lag ausgestreckt auf dem Boden. Er hatte beide Hände am Hals, versuchte, einen der gekrümmten Finger unter das eng zugezogene Seil zu schieben, in einem verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen.

Sein Gesicht war zerschunden. Die Nase war gebrochen, Blut rann aus dem Mund, die Vorderzähne im Oberkiefer waren ausgeschlagen. Der Liegende war schwer mitgenommen, er konnte nicht mehr aufstehen. Hätte er das gekonnt, hätte er sich vielleicht losreißen können. Aber er lag auf dem Boden, denn er war fast bewusstlos. Trotzdem wehrte er sich, so gut er noch konnte.

Der Mann, der das Seil hielt, schloss die Tür hinter sich. Dann wechselte er die Hand, hielt das Seil straff in der linken Hand, ergriff dessen Ende mit der rechten und warf es über einen der Dachbalken, zog das Ende wieder zu sich, zog mit beiden Händen daran und lehnte sich zurück.

Der Körper des liegenden Mannes folgte der Bewegung des Seils. Der Mann lag auf den Knien, die Hände am Seil um den Hals, dann erhob er sich, stand auf den Zehenspitzen, tastete dann mit diesen nach dem Boden, als sein Henker für einen kurzen Augenblick den Zug am Seil unterbrach.

»Du weißt, warum«, sagte der Mann, der über sein Leben bestimmte.

Aber der zum Tode Verurteilte antwortete nicht. Ein gurgelnder Laut kam aus seinem Hals.

»Du weißt, warum, du erinnerst dich daran, und du weißt es«, sagte der Mann, der das Seil hielt.

Aber der schwer Mitgenommene hörte es nicht. Er sah nicht mehr, wen er vor sich hatte.

Da spannte sich das Seil langsam. Der Mann, der sich entschieden hatte, keinerlei Mitleid zu zeigen, war schwerer als sein Opfer. Mit strampelnden Beinen wurde der Verurteilte hochgezogen, verlor den Bodenkontakt, zappelte weiter. Und die ganze Zeit spreizten sich die Finger krampfartig um die Halsschlinge. Die Nägel hatten Kratzspuren in der Haut hinterlassen, aber das Seil war stark. Er wurde nicht gehängt, sein Genick wurde ihm nicht gebrochen. Er wurde erdrosselt, langsam, es zuckte noch für einige Minuten schwach in einem seiner Beine, und dann war er tot.

Der Mann, der ihn auf dem Dachboden erdrosselt hatte, knotete das Seilende an eine Gittertür und ließ sein Opfer dort hängen.

Als der Mann fortging, bellte der kleine Hund. Der Mann blieb kurz vor der Tür stehen, bevor er hinausging. Jetzt war es nicht mehr ganz so dunkel.

3.

Ein leichter Nieselregen war über Älvsjö gekommen, früh am Vormittag. Jetzt war der Himmel nur noch teilweise mit Wolken bedeckt. Es würde vielleicht noch völlig aufklaren.

Verner Lindgren hatte das Geräusch eines Lastwagenmotors gehört, er nahm an, dass es wohl der Müllwagen war, der jede Woche an diesen Tagen zu kommen pflegte. Er hatte gerade geduscht, das kleine Fenster über der Badewanne geöffnet und die Abgase gerochen, ohne irgendein Auto zu sehen. Die Wohnung lag im Erdgeschoss, das Auto hatte, für ihn unsichtbar, um die Ecke des Hauses gestanden.

Nachdem er sich abgetrocknet hatte, ließ er das Handtuch auf dem Boden liegen, strich mit beiden Händen durch das feuchte Haar und ging vom Badezimmer in den Flur, hielt jedoch am Wandspiegel inne. Es ist alles weich und es hängt herunter, dachte er, als er sein Spiegelbild sah.

Er hatte das natürlich auch schon vorher gewusst, die Veränderungen waren langsam gekommen in den letzten Jahren, aber erst jetzt formulierte er den Vorgang, erst als Gedanken und dann in Worten.

»Das bin ich«, sagte er halblaut.

Er drehte sich ein wenig zur Seite, um sich besser betrachten zu können, befand, dass das, was er gesagt hatte, nicht stimmte.

»Das bist du«, sagte er und nickte dem Spiegelbild zu.

Aber auch das klang falsch. Er wusste nicht, wie er sich selbst anreden sollte, den Mann im Spiegel, die schwache Gestalt, die er vor sich hatte. Das war aus ihm geworden. Die Arme waren stark, die Schultern standen etwas vor, der Rücken war ein wenig krumm. Aber am Bauch hing alles, an den Hüften und darüber war alles fett und weich. Verner hob leicht den rechten Arm und betrachtete das weiße Fleisch unterhalb der Achsel. Dann folgte die gleiche Prozedur mit dem linken Arm. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber Gedanken machen sollte, wie er aussah. Vielleicht.

Früher hätte er es nie soweit kommen lassen, er hatte täglich trainiert, hatte seine Liegestütze schon morgens zu Hause gemacht und am Training am Arbeitsplatz teilgenommen. Zu jener Zeit war er stark gewesen, hatte 87 Kilo gewogen, nie zugenommen.

Zu jener Zeit, vor drei Jahren, vielleicht auch vor vier. Mittlerweile machte er sich fast gar keine Gedanken mehr über die Zeit, wollte von den Jahren nichts wissen.

Er zog sich an, trank eine Tasse Kaffee, aß ein Butterbrot mit Molkenkäse und nahm seine Medizin.

Eine halbe Stunde später saß er noch immer am Tisch. Die Tasse war leer, das halbe Butterbrot war noch da. Die braune Käsescheibe war hart und hatte muffig geschmeckt.

Verner versuchte den Tag zu planen. Er musste einige Sachen einkaufen, ein wenig spazieren gehen. Weiter kam er nicht. Das musste fürs Erste reichen.

Als er in den Flur ging, um sich eine Jacke anzuziehen, sah er sich wieder im Spiegel. Das Bild, das er jetzt antraf, war weniger abstoßend, aber das Gesicht war grau. Er dachte, dass das wohl an den Bartstoppeln lag. Er würde sich später rasieren.

Es lagen einige Werbeblätter vor der Tür und ein Versandkatalog. Verner hob ihn auf und sah, dass er Angebote für Werkzeug enthielt. Er blätterte darin, setzte sich auf den Stuhl neben dem Spiegel, betrachtete ein Bild von einer Bohrmaschine und versuchte sich zu erinnern, ob er jemals eine besessen hatte.

An diesem Tag rasierte er sich nicht. Als er mit den Supermarkteinkäufen von seinem Spaziergang zurückkam, legte er sich eine Weile aufs Bett.

Am Abend ging er hinaus. Er kam erst weit nach Mitternacht wieder nach Hause, trank ein Glas Wasser, nahm seine Pillen wie gewöhnlich und schlief nach einer Weile ein.

Gegen fünf wachte er mit einem starken Gefühl einer Bedrohung auf. Er konnte nur schwer atmen. Es war, als ob er geträumt hätte, aber er wusste, dass es kein Traum war, wusste, dass es etwas Reales war, das ihn bedrückte, etwas, das ihm neulich passiert und das noch nicht vorbei war. Er versuchte sich zu erinnern, es gelang ihm jedoch nicht, und das Gefühl von Gefahr und Schuld steigerte sich immer weiter.

Dies war eine Nacht, in der Tabletten wohl nicht helfen konnten. Verner hatte seiner medikamentösen Behandlung lange kritisch gegenüber gestanden, aber langsam gelernt, seine eigenen Einwände abzutun.

Es sollte jetzt eigentlich besser geworden sein.

4.

Stig fuhr in der Mittagspause nach Hause, um etwas zu essen. Er parkte das große Müllauto im Kristallväg in Solberga, war schon ausgestiegen und schon fast dabei aufzuschließen, als ihm einfiel, dass er das Handy in der Halterung am Armaturenbrett vergessen hatte. Er hätte es wohl auch dort lassen können, aber zur Sicherheit nahm er es doch mit.

Es konnte immerhin sein, dass er noch einen Anruf bekam, manchmal kam das vor, es gab mitunter Extratouren zu einem Restaurant oder irgendeinem Container, oder er musste einspringen, wenn sich jemand anderes krank gemeldet hatte. An solchen Tagen gehörten für gewöhnlich das Zentrum von Älvsjö, der Bahnhofsplatz und die Häuser um den Törnrosväg und Götalandsväg zu seinem Bezirk, mit Sperrmüll, Altpapier und dem üblichen Kleinkram. Absolut nichts, woran man noch etwas verdienen konnte. Die Sperrmüllhaufen wurden immer gründlich nach Sachen durchsucht, die man noch gebrauchen konnte. Diese neuen Leute nahmen alles, die Einwanderer aus all diesen Ländern, deren Namen man kaum kannte. Und die Ära des Pfandglases war vorbei. Früher hatten Stig und seine Kollegen immer eine eigene Tüte für Leergut im Fond des Wagens hängen gehabt. Das hatte oft ein nettes Zubrot ergeben.

Das gab es jetzt für etwas anderes: Mal einen Hunderter, mal einen Fünfzigkronenschein für einen Sack mit unbekanntem Abfall, einige Fuhren Krimskrams ohne irgendwelche Fragen. In manchen Wochen konnte sich Stig eine beträchtliche Summe schwarz dazu verdienen.

Stig fuhr allein.

Stig Anders Nilsson, geboren 1949 in Solberga. Er war niemals aus diesem Vorort weggezogen. Als er an der Pizzeria vorbeiging, traf er Acke Bergman, einen Jugendfreund, der nur selten nüchtern war. Früher hatten sie zusammen gesoffen, aber Stig lebte jetzt ohne Schnaps. Acke hatte damit nie aufgehört.

»Tag auch«, sagte Stig und hob die Hand.

»Du schuftest also wie üblich«, antwortete Acke. Mehr sagten sie nicht, das war auch nicht nötig. Beide wussten, dass keiner den anderen zu überreden versuchte, auf die eigene Seite zu wechseln.

Stig kochte ein Ei und füllte einen Teller mit Dickmilch, blätterte im Aftonbladet von gestern, im Sportteil, freute sich, dass Hammarby wieder aufsteigen würde, Kennedy hatte Tore geschossen. Stig dachte, dass er vielleicht mal wieder zum Fußball gehen und eins der Heimspiele der Jungs anschauen sollte, wie er es früher getan hatte.

Nach einer halben Stunde ging er wieder hinaus zum Auto. Es hatte angefangen zu regnen, aber nicht stark, er wurde nicht einmal nass auf den Schultern, der Overall schützte doch ganz gut. Aber er spürte einige Regentropfen auf dem Kopf und wurde daran erinnert, dass sein Haar allmählich recht schütter geworden war.

Um zwei war er mit den Geschäften in der Innenstadt von Älvsjö fertig: Der Konsum, das Hotel, der Megagrill, das indische Restaurant, die italienische Bar, Ronjas Salon, das Bürgerbüro. Die meisten Müllplätze am Törnrosväg hatte er schon am Tag zuvor abgefahren, aber sechs, sieben Müllhaufen musste er noch abholen. Er begann am innersten Wendehammer: eine Menge Glassplitter auf dem Betonboden, zerknüllte Verpackungen, Folie, das Übliche, das von neu zugezogenen Familien zurückgelassen wurde, die bei IKEA eingekauft hatten. Das Haus gegenüber: Noch mehr Pappkartons, ein kaputter Tisch, Teile eines Kinderwagens, ein zerschlagener Fernseher, zerschlissene Schuhe, etwas, das vermodert roch und zwischen die Haushaltsabfälle geworfen worden war. Nächstes Haus: Ein übler chemischer Geruch, noch mehr zerbrochenes Glas. Er schmierte sich Öl, oder was es auch immer war, auf die Arbeitshandschuhe, es war jedenfalls etwas Schmieriges, das über den Boden rann, als er eine nasse Matratze anhob.

Blieb noch ein Müllplatz, etwas entfernt bei den großen zugebauten Innenhöfen. Stig hatte gerade die Eisentür aufgestemmt, als er ein Kind etwas rufen hörte. Aber er verstand es nicht, das Kind sprach kein Schwedisch, und so kümmerte er sich nicht darum. Aber das Kind rief wieder und wieder. Die Stimme kam näher, und nun sah er das Kind: ein dunkelhäutiges Mädchen um die sechs Jahre, bekleidet mit einem engen, orangefarbenen Kleid. Sie sah sehr ernst aus, versteinert, aber Stig dachte, dass sie vermutlich einfach so aussah, dass ihre Leute vielleicht eben so waren, die Leute des Landes, aus dem sie kam, er wusste aber nicht, welches es war.

Das Mädchen nahm seine Hand und zog ihn mit sich zu einem Eingang, zehn Meter entfernt von ihnen. Er ließ sich widerwillig mitziehen, denn sie klammerte sich an seiner Hand fest. Stig begriff, dass es um etwas Ernstes ging.

Sie liefen dicht nebeneinander, zur Tür hinein, die Treppe hinauf. Das Mädchen lief nun voran, drei Etagen hoch und auch noch die Speichertreppe. Die Speichertür stand einen Spalt offen. Das Mädchen blieb stehen und zeigte hinein. Stig sah etwas, das dort drinnen hing, einen Rücken, einen Arm. Er befreite sich von der Hand des Mädchens, schob die Tür auf und sah den ganzen Körper und das blutige Gesicht.

Stig wandte sich zu dem Mädchen um, nahm wieder ihre Hand und zog sie mit sich die Treppe hinunter.

»Du gehst jetzt wohl besser nach Hause«, sagte er.

Das Mädchen nickte, als würde sie verstehen, blieb aber wo es war.

»Wohnst du hier?«, fragte Stig.

Das Mädchen zeigte durch das Fenster des Treppenhauses auf das fünfstöckige Haus im Hof gegenüber.

»Geh nach Hause zu deiner Mutter«, sagte Stig, aber das Mädchen hielt seine Hand fest, als ob sie überhaupt nicht daran dächte ihn zu verlassen. Stig verstand nicht, warum, aber er wollte nicht weiter schimpfen.

Sie gingen zusammen hinunter zum Eingang. Dort holte Stig sein Handy aus der Tasche und wählte 112, die Notrufnummer, verlangte die Polizei und fügte hinzu, dass es eilig sei. Man bat ihn, dort zu bleiben und nichts anzufassen. Das Mädchen hatte sich hingesetzt.

Sie saß immer noch auf der Eingangsstufe, als zehn Minuten später die Polizei eintraf. Es waren zwei uniformierte Männer, ein junger und ein älterer.

»Sie hat ihn gefunden«, sagte Stig.

»Kennst du das Mädchen?«, fragte der ältere Polizist.

»Nein«, antwortete Stig.

»Wie heißt du?«, fragte der Polizist das Mädchen und hockte sich zu ihr hin.

»Ich heiße Magdalena Sophie«, antwortete das Mädchen in fehlerfreiem Schwedisch, mit der Andeutung eines värmländischen Zungenschlags.

»Wir gehen rauf. Bleib du bei dem Mädchen«, sagte der ältere Polizist zu seinem jungen Kollegen. So begann Stig, zum zweiten Mal auf den Speicher zu gehen, und erst jetzt fühlte er sich betroffen, und etwas Übelkeit stieg in ihm auf.

5.

Die Wettervorhersage im Radio hatte einzelne Schauer und einige heitere Abschnitte vorausgesagt, aber der Himmel war bleigrau, als Verner früh am Morgen aus dem Küchenfenster schaute. Die Aussicht war zwar begrenzt durch einen Baum und das Ziegeldach der Waschküche, aber wenn er sich dicht vor die Scheibe stellte und den Blick nach oben richtete, konnte er einen breiten Streifen Himmel über der Häuserfront sehen und auch die bepflanzten Höfe gegenüber.

Es war halb acht. Verner hatte schlecht geschlafen. Er hatte lange wach gelegen und war erst eingeschlafen, als das erste Licht das Zimmer zu erhellen begann, um dann kurz darauf wieder vom Zeitungsboten geweckt zu werden, der an den Briefkästen der Nachbarn klapperte. Er selbst hatte keine Zeitung abonniert, er hatte auch keinen Fernseher und bekam nur selten Briefe, dafür aber eine tägliche Dosis unterschiedlicher Reklameprospekte. Er nickte den Nachbarn zu, wenn er sie im Hauseingang traf, sagte aber selten etwas. Rechts unten wohnten Mihailovic und Mehmet, links unten Järvinen und Malmgren; eine Dreizimmerwohnung, drei Zweizimmerwohnungen und Verners Appartment mit Kochnische. Das Haus war Eigentum der Familjebostäder. Verner wohnte hier seit drei Jahren, genauso lange wie er ohne Arbeit war, seine Medizin nahm und vor sich hin lebte.

Er stand im Bad und rasierte sich, als es an der Tür klingelte. Er hatte nicht vor zu öffnen, denn er nahm an, dass es ein Vertreter war oder Schulkinder, die Geld für ihre Klassenfahrt sammelten. Aber das Klingeln hörte nicht auf, wiederholte sich immer schriller in immer kürzeren Intervallen, nervtötendes Klingeln, das minutenlang anhielt.

Verner hatte sich entschieden, nicht zu öffnen. Als es endlich wieder still war, war er sicher, den Störenfried losgeworden zu sein. Er dachte, dass das vielleicht der Ausdruck eines neuen Zeitalters war, nicht aufzugeben, sich festzubeißen, den widerspenstigen Kunden zu überwältigen. Verkaufen, niederreden, verkaufen.

Da hörte er ein Klopfen am einzigen Fenster des Raumes. Er war gerade fertig mit der Rasur, stand mit nacktem Oberkörper vor dem Waschbecken, sah im Spiegel, dass er sich mit der Klinge leicht am Hals geschnitten hatte, denn er blutete. Er wischte das Blut mit dem Handtuch weg, behielt es in der Hand und ging ins Zimmer bis zum Fenster.

Eine Frau stand dort zwischen den Sträuchern. Sie kam näher und hielt etwas in der Hand, das sie dann gegen die Scheibe drückte. Verner konnte sehen, dass es sich um einen Polizeiausweis handelte. Sein Blick traf den ihren und er glaubte, sie wiederzuerkennen. Sie nickte in Richtung Tür und verschwand. Verner zog sich schnell ein Hemd über, bevor er öffnete. Die Frau stand dort, die Hände in den Taschen vergraben. Sie trug lange, dunkle Hosen, eine blaue Sportjacke, hatte kurzes Haar und trug keinerlei Kopfbedeckung.

»Verner?«, fragte sie.

»Mmh«, antwortete er. Sie hatte die Hand bereits auf die Klinke gelegt, und er begriff, dass sie entschlossen war. Er konnte sie bitten einzutreten, aber eigentlich war das unnötig. Und jetzt erinnerte er sich wieder an ihren Namen.

»Margret Mattsson, oder?«, fragte er.

Sie war jetzt im Flur, schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. Sie lächelte ihn an, er erwiderte den Blick, ohne zu lächeln.

»Bist du im Dienst?«, fragte er.

»Sowohl als auch«, antwortete sie.

»Komm rein, kann ich dir etwas anbieten? Eigentlich habe ich nicht wirklich etwas anzubieten, aber du kannst eine Tasse Kaffee haben oder Tee.«

»Danke, ich möchte nichts.«

Er ging ins Zimmer, sie folgte ihm. Das Bett war ungemacht, eine Unterhose lag auf einem der Stühle am Tisch, auf dem anderen lagen zwei Zeitungen. Verner warf die Unterhose aufs Bett und zog hastig die Bettdecke darüber, um sie zu verstecken, und strich die Decke glatt. Dann fegte er die Zeitungen vom anderen Stuhl, zog ihn vom Tisch weg und machte eine einladende Geste in Richtung seines Gastes, selbst setzte er sich auf den Stuhl, der gerade erst von der nicht ganz sauberen Unterhose befreit worden war.

Aber die junge Frau mit dem Polizeiausweis ließ sich nicht nieder, sie ging zum Fenster und öffnete es, erst einen Spalt, dann ein wenig weiter.

»Möchtest du rauchen?«, fragte Verner.

»Nein«, antwortete sie. Schnell sah sie sich im Zimmer um. Es gab nur wenige Möbelstücke, keine Bilder, keine Teppiche. Neben dem Bett hing ein Regal mit einigen Büchern, einem Lexikon, einem Stapel Heftchen. Ganz oben im Regal stand ein Dekorationsgegenstand, und zwar der einzige im ganzen Zimmer: ein bemalter Gipskopf, an die fünfzehn Zentimeter hoch, der ein junges Mädchen darstellte.

Dann setzte sich die Frau Verner gegenüber. Sie sagte eine ganze Weile gar nichts, lächelte ihn aber die ganze Zeit über an, so hatte die Stille nichts Beklemmendes für Verner. Schließlich sagte sie mit fragendem Tonfall:

»Du weißt nicht, warum ich hier bin, Verner?«

»Vielleicht wolltest du ja einfach mal hallo sagen.«

»Schon, aber ich frage mich auch, ob du mir nicht vielleicht bei einer Sache behilflich sein könntest. Diese ›Sache‹ ist vorgestern passiert, das heißt, um genau zu sein, ist sie wahrscheinlich vorgestern am späten Abend passiert oder gestern sehr früh am Morgen.«

»Aha.«

»Du weißt nicht, dass hier etwas passiert ist?«

»Nein.«

»Ein Mann wurde tot aufgefunden, erhängt. Erst sah alles nach Selbstmord aus, aber jetzt wissen wir, dass es nicht so war.«

»Und was war es dann?«

»Der Mann wurde ermordet, erst misshandelt und dann getötet. Stranguliert und dann auf dem Speicher von einem der Aufgänge hier zu deinem Hof aufgehängt. Er hieß Anders Björkman, sagt der Name dir etwas?«

»Ich habe den Namen noch nie gehört. Ich höre manchmal Radio, aber da haben sie nichts davon gesagt. Und ich gucke am Kiosk auf die Schlagzeilen.«

»Die Abendzeitungen bringen es heute Abend, da kannst du dir sicher sein.«

»Aha.«

»Und du hast nichts gehört oder gesehen?«

»Nein.«

»An diesem Abend beziehungsweise in dieser Nacht, warst du da hier?«

»Ich glaube schon.«

»Du glaubst?«

»In meiner Erinnerung verschwimmt das alles oft, das kommt von den ganzen Medikamenten, die ich nehme. Ich vergesse die Zeit.«

»Denk bitte nach.«

Verner sah aus dem Fenster und versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte. Die Tage glichen sich und die Nächte ebenso, schlaflos und unruhig, so dass er manchmal aufstand und einige Stunden spazieren ging.

»Vielleicht war ich draußen und bin eine Runde gegangen.«

»Hier in der Gegend?«

»Anzunehmen.«

»Und du hast nichts besonderes gesehen oder gehört?«

»Wie ich gesagt habe, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich in der Nacht wirklich draußen gewesen bin, vermutlich war ich das, aber ich kann die Tage nicht auseinanderhalten.«

»Okay Verner, ich glaube dir, aber wenn dir doch noch etwas einfallen sollte, kannst du mich gerne anrufen, falls die Erinnerungen sozusagen zurückkommen sollten.«

»Das tun sie für gewöhnlich nicht.«

»Aber falls doch, dann rufst du an, ja?«

»Wo bist du denn zu erreichen?«

»Ich bin jetzt bei der Bezirkspolizei, bei der Kriminalabteilung.«

»Du warst dort wohl gerade neu, als ich aufgehört habe.«

»Ich war noch in der Ausbildung, als du verschwandest, wir haben uns nur ein paar Mal getroffen, du hast damals Vorlesungen für uns gehalten, erinnerst du dich?«

»Auf der Polizeihochschule?«

»Nein, die hatte ich da bereits hinter mir, das war während der praktischen Ausbildung.«

»Ach so, ja. Sie hatten mich ab und zu darum gebeten, euch Vorträge zu halten.«

»Weil du dein Handwerk verstanden hast, Verner.«

»Das ist lange her.«

»Aber du konntest dich noch an meinen Namen erinnern.«

»Das muss Zufall gewesen sein, vielleicht hast du irgendeinen besonderen Eindruck hinterlassen.«

»Obwohl drei Jahre ja auch wieder nicht so lang sind.«

Verner erhob sich und ging in die Kochnische. Er drehte den Wasserhahn auf, spülte zwei Tassen aus und setzte den Wasserkessel auf. Die junge Polizeiinspektorin blieb sitzen, sie begriff, dass er über das, was passiert war, nicht sprechen wollte.

»Darf ich mal die Toilette benutzen?«, fragte sie.

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie hinaus in den Flur, öffnete die Tür zum Badezimmer, machte sie hinter sich zu und schloss ab. Sie stand eine Weile still, bevor sie ein Stück Papier von der Rolle zog, es zusammenknüllte und es in die Toilette fallen ließ und spülte. Dann öffnete sie das Spiegelschränkchen, fand Rasierer, Zahnpasta, Pflaster, eine Rolle Kupferdraht und fünf Pillendöschen mit Etiketten: Tolvin, Cipramil, Valium, Rohypnol, Leponex. Dazu noch zwei Döschen ohne Aufschrift. Sie zog ihr Notizbuch aus der Tasche und schrieb die Namen der Präparate auf.

Als sie wieder in den Flur kam, stand Verner noch in der Kochnische. Das Wasser hatte angefangen zu sieden.

»Ich möchte am liebsten Tee«, sagte sie.

Als er nicht antwortete, ging sie zum geöffneten Fenster hinüber, zog es ein Stück weiter zu und sah einige Kinder vorbeigehen, ein Mädchen und zwei Jungen, der eine trug eine leuchtend gelbe Mütze. Margret erinnerte sich, dass das Mädchen, mit dem ihr Kollege gesprochen hatte, orangefarbene Kleidung getragen hatte, das hatte im Bericht gestanden, als ob dieses Detail wichtig gewesen wäre.

»Es war ein kleines Mädchen, das das Mordopfer gefunden hat«, sagte sie.

»Aha«, murmelte Verner und stellte zwei Teetassen auf den Tisch.

»Ja, ein Mädchen und ein Müllmann.«

»Aha.«

»Und es war Philipsson, der mich gebeten hat, mit dir zu sprechen.«

»Dein Chef?«

»Ja, er meinte, dass du vielleicht etwas wissen könntest.«

»Bin ich für die Ermittlungen von Interesse?«

»Er hat mich nur gebeten, mit dir zu sprechen, mehr nicht, weil du hier wohnst und weil du mal Polizist gewesen bist.«

»Ich bin so vieles gewesen, und jetzt weiß ich mal gerade noch, wie ich heiße, und Philipsson ist übrigens einer von denen der ... ach, ist egal.«

»Nein, sag, was du sagen wolltest.«

»Du weißt es sicherlich, Margret, oder? Natürlich weißt du es.«

Verner erhob ein wenig die Stimme, atmete so aus, dass es ähnlich wie ein tiefer Seufzer klang, und schüttelte den Kopf, blieb aber still. Margret nickte, sagte aber nichts. Sie hob die Teetasse, trank einen Schluck, erhob sich und streckte Verner die Hand entgegen.

»Ruf mich an, wenn dir etwas einfällt«, sagte sie, »oder ruf mich einfach so an, wenn du willst, das wäre schön.«

Nachdem Margret gegangen war, ging Verner ins Badezimmer, öffnete das Schränkchen, nahm zwei Pillen aus dem einen Döschen und spülte sie mit einer Handvoll Wasser hinunter. Er wusste, dass seine Besucherin in den Schrank geguckt hatte, und dass sie aufgeschrieben hatte, wie die Pillen hießen. Er wusste, dass es ein Fehler von ihr gewesen wäre, das nicht zu tun, und er wusste, dass sie wusste, dass er wusste, was sie im Badezimmer gemacht hatte.

Er hatte sogar Vorlesungen darüber gehalten, war er es also selbst gewesen, der ihr beigebracht hatte, in den Badezimmerschränken anderer Leute herumzuschnüffeln?

Verner verließ gegen zwei das Haus. Er war auf dem Weg ins Zentrum, um im Konsum einzukaufen, ging aber nicht auf direktem Weg dort hin. Er sagte sich selbst, dass er sich nur ein wenig die Beine vertreten wollte, sich bewegen, ein bisschen bummeln. Nachdem er einen Kilometer auf dem Trimm-dich-Pfad neben der Eisenbahntrasse zurückgelegt hatte, wusste er, dass er dem Stadtzentrum auswich, den Schlagzeilen in den Zeitungsständern und den ganzen Informationen über das, was geschehen war.

Plötzlich blieb er stehen, stand einige Minuten still auf dem Weg, atmete tief ein und versuchte sich einzureden, dass er nichts zu befürchten hatte; das, was geschehen war, hatte nichts mit ihm zu tun. Es war ein Mord, einer von unzähligen, er hatte selbst eine große Anzahl Opfer gesehen, einige kaputt geschlagen, einige schon verwest, hatte den Gestank gerochen, Würmer gesehen, Kinder getroffen, die ihren Vater verloren hatten, war derjenige gewesen, der einer Mutter erzählen musste, dass ihre Tochter ermordet worden war.

Verner versuchte sich selbst daran zu erinnern, dass er das Schlimmste schon erlebt hatte. Aber er fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte. Er hatte Angst.

Trotzdem drehte er um, sah die Schlagzeilen: ›Brutaler Mord in Älvsjö‹. ›Hinrichtung ohne Gnade‹. Er kaufte den Expressen, einen Liter Milch, ein Brot, ein Päckchen Butter, zwei Tomaten, eine Dose Erbsensuppe. Er wartete mit dem Lesen, bis er zu Hause war.

Das Opfer war ein einundfünfzigjähriger Mann. Er war zuvor nicht polizeibekannt gewesen, er wohnte in Solberga, arbeitete als Gehilfe an einer Tankstelle, er war geschieden, hatte eine erwachsene Tochter. Die Polizei hatte noch niemanden festgenommen, sie hatten an den Haustüren geklopft und erhofften sich Hilfe von der Bevölkerung, jemand musste den Verdächtigen gesehen haben, da er höchstwahrscheinlich über den offenen Hof zwischen den Häusern gelaufen sein musste, in denen es zweiundneunzig Wohnungen gab, alle mit Fenstern zum Hof.

So stand es im Expressen. Verner hatte keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Und er war der gleichen Meinung, es war gut möglich, dass jemand etwas Ungewöhnliches beobachtet hatte, irgendjemand war immer wach, saß schlaflos am Fenster, ging zur Spätschicht, kam aus der Kneipe nach Hause.

Jetzt wusste Verner ein wenig über das Opfer: ein gewöhnlicher Mann in seinem Alter. Aber diese unbedeutende Tatsache half ihm wenig. Seine Unruhe war immer noch da, die Erinnerungslücke, das Gefühl von Schuld.

6.

Der August kam und es regnete immer noch, Schauer, Dauerregen, Nebel, einzelne blaue Streifen zwischen den Wolken, aber keine Sonne. Das Wasser in den Badeseen wurde nicht warm, grüner Schleim blubberte vor der Zeit von den schlammigen Gründen hoch, rund um die Strände des Långsjö wurden Warnschilder aufgestellt: ›Bitte nicht baden! Giftige Algen! Achtet auf Kinder und Hunde.‹

Verner hörte öfter als sonst die Nachrichten im Radio. Er kaufte beide Boulevardblätter, Expressen und Aftonbladet, las die Tageszeitungen Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet in der Bibliothek im Stadtzentrum. Nach den groß aufgemachten Schlagzeilen und Artikeln der ersten Tage hatten die Zeitungen nicht mehr viel zu berichten. Die Fahndung lief weiter, der Sprecher der Polizei schwieg sich aus. Zunächst wurde ihm unterstellt, er würde wichtige Fakten unterschlagen, dann begriffen die Reporter, dass er überhaupt nichts wusste.

Nach drei Tagen hörten die Tageszeitungen auf, über den Mord zu schreiben, denn es gab keine Neuigkeiten. Aftonbladet brachte eine halbe Spalte über den Mord und Expressen eine kleine Notiz; die bestanden jedoch fast nur daraus, die bekannten Fakten zu wiederholen.

Außerdem geschahen in derselben Woche noch mehrere schwere Gewaltverbrechen: Der Anführer eines Bikerclubs wurde in Trångsund ermordet, seine Anhänger drohten mit blutiger Vergeltung. Ein Fernfahrer wurde im Einkaufscenter Kungens kurva ausgeraubt, seine Ladung war verschwunden, und es wurde angenommen, dass eine internationale Verbrecherorganisation dahintersteckte. Dann noch ein Messermord in Sundbyberg. Der Älvsjömord geriet in den Schatten der neuen Ereignisse.

Eines Abends wurde Verner von Margret angerufen. Es war halb acht, er stand in der Tür und war gerade auf dem Sprung zu einem Spaziergang, vielleicht auch zu einem kleinen Ausflug mit dem Pendelzug in die Stadt, denn er fühlte sich rastlos.

»Störe ich?«, fragte Margret.

Verner antwortete, dass es gerade nicht so gut passe, aber dass sie sich ja kurz fassen könne.

»Dauert nur ein paar Minuten«, sagte Margret.

»Okay.«

»Er war mit einer dunklen, halblangen Jacke bekleidet, der Mann, den wir suchen, jemand hat ihn gesehen. Wenn er es denn war.«

»Ach ja?«

»Jemand war gerade auf und sah hinaus über den Hof, eine Dame, die von ihrem bellenden Hund geweckt worden war. Sie sah einen Mann in dunkler Jacke aus dem betreffenden Hauseingang kommen, so gegen drei Uhr nachts.«

»Ach ja?«

»Ich wollte nur deine Aufmerksamkeit auf dieses Detail lenken, die Jacke meine ich, falls dir dadurch noch etwas einfallen sollte, was du gesehen hast, wenn du draußen gewesen sein solltest. Denn vielleicht warst du da ja gerade draußen?«

»Ich erinnere mich nicht, wie ich bereits gesagt habe.«

»Ich weiß, aber ich glaube diese Jacke ist wichtig, schwarz und halblang. Vielleicht bringt das ja etwas hervor? Aus der Erinnerung, meine ich.«

»Ich werde versuchen darüber nachzudenken.«

»Wie geht es dir sonst?«

»Wie immer.«

»Okay Verner, vielleicht sehen wir uns, ich bin ab und zu in der Gegend.«

»Ja, vielleicht sehen wir uns dann.«

»Das war‘s schon, pass auf dich auf.«

Verner murmelte etwas, das Margret nicht verstehen konnte. Sie hielt kurz inne, wollte fragen, was er gesagt hatte, aber da hatte er schon aufgelegt.

Er ging nicht gleich hinaus, wie er es vorgehabt hatte. Er blieb eine Weile auf dem Bett sitzen. Er war sich nicht sicher, warum Margret das mit der Jacke so hervorgehoben hatte, aber er nahm an, dass sie es gesagt hatte, weil sie wohl gesehen hatte, dass er eine ähnliche Jacke besaß. Sie hing im Flur bei der Tür, neben Schals und anderen Jacken.

Und warum arbeitete sie so spät noch? Waren es angeordnete Überstunden, oder nahm sie ihre Arbeit mit nach Hause? War sie eine von diesen übermotivierten jungen Polizisten, die nur für die Arbeit lebten? Gab es solche Polizisten heutzutage noch? Und wenn, mussten sie abends und nachts umsonst arbeiten, ohne dass ihr Chef oder die Gewerkschaften ihnen Einhalt geboten, oder die betriebliche Gesundheitsvorsorge?

Das fragte sich Verner, aber er kannte Margret ja schließlich gar nicht. Vielleicht wollte sie ja auch nur ein bißchen plaudern. Nein, das glaubte er nicht. Sie ist gewieft, dachte er, sie will mich zum Reden bringen, sie weiß schon, was sie tut, und auch gleichzeitig, dass ich das alles durchschaue. Als er hinausging, begriff er, dass sie ihn vermutlich verdächtigten. Vielleicht nicht offiziell. Sie hatten wohl noch niemanden wirklich im Verdacht, der Staatsanwalt war noch nicht eingeschaltet worden. Sie haben mich im Hinterkopf, dachte Verner. Sie haben meinen Namen noch nirgendwo aufgeschrieben, sie haben ihn vielleicht nicht mal ausgesprochen, als sie mögliche Verdächtige durchgesprochen haben. Und wenn schon jemand meinen Namen ausgesprochen haben sollte, dann unter dem Deckmantel: »Unser alter Kollege wohnt doch in der Gegend, das können wir nicht ignorieren«. Keine Beschuldigung, kein ausgesprochener Verdacht gegen ihn. Trotzdem würden alle die unterschwellige Andeutung verstehen, jeder Polizist, alle Fahnder und Ermittler. Denn alle wussten, was mit Verner Lindgren geschehen war, wer er war. Verner selbst war überzeugt davon, dass sein Name bei der Ermittlung des Mordes vom Törnrosväg eine Rolle spielte.

Als Verner gegen zehn Uhr abends von seinem Spaziergang zurückkehrte, hatte der Regen aufgehört. Er war zuerst zum Friedhof in Västberga gegangen, dann auf der Schnellstraße zur alten Kirche von Brännkyrka, war eine Weile über den Friedhof geschlendert, hatte die Inschriften der Grabsteine gelesen, an denen er immer stehen zu bleiben pflegte, denn sie waren alle für Menschen errichtet worden, die Verner geheißen hatten.

Zwei hatten lange gelebt, aber ein Verner war nur achtundzwanzig Jahre alt geworden. Verner und dieser jung Verstorbene hatten denselben Nachnamen, Lindgren. Als Verner den Grabstein zum ersten Mal sah, war er über den frühen Tod seines Namensvetters erschrocken. Er hatte es als schlechtes Omen angesehen.

Das war passiert, als er vor drei Jahren gerade nach Älvsjö gezogen war, und es hatte ihn noch mehr davon überzeugt, dass er bald sterben würde. Er hatte sogar einen Margeritenstrauß auf das Grab gelegt. Jetzt wusste er, dass ihm Aufschub gewährt worden war, für eine bestimmte Zeit, für wie lange, konnte er nicht wissen.

Es war noch nicht richtig dunkel, als Verner in seine Wohnung kam. Er machte kein Licht, sondern setzte sich ans Fenster und blieb dort eine halbe Stunde sitzen, ohne etwas zu tun. Plötzlich erhob er sich mit einem Ruck, ging schnell ins Badezimmer, öffnete das Spiegelschränkchen und nahm eines der Pillendöschen heraus. Er hätte zwei von den hellblauen Tabletten nehmen sollen, aber er nahm vier.

Ein Auto sprang unter dem Fenster an. Verner wachte auf und blickte auf den Wecker, der zehn nach fünf anzeigte. Er wusste, dass er nicht wieder würde einschlafen können. Er stand auf und trank Wasser, pinkelte, fand, dass der Urin ungewöhnlich stark roch und zu dunkel aussah. Er trank noch mehr Wasser und nahm zwei Tabletten. Legte sich wieder aufs Bett und wartete auf den Morgen.

Zwanzig nach sechs ging er nach draußen. Er hatte die dunkle, halblange Jacke an.

Er wusste, dass er jemandem auffallen konnte, jemandem, der nur von ihm gehört hatte, vielleicht durch Margret oder einen der alten Kollegen. Und derjenige, der zuerst die Jacke entdeckte, würde sich an seinen Streifenkollegen im Auto wenden oder später bei der Besprechung im Präsidium seine Beobachtung mitteilen. Etwas würde dazu gesagt werden, das war unausweichlich. Notizen würden darüber gemacht werden.

Verner war sich absolut sicher, dass ihn jetzt jemand beobachtete, vielleicht sogar mit der Videokamera aufnahm. Er hätte andere Kleidung wählen können: die kurze graue Jacke, ein Jackett, einen Mantel.

Er ging durchs Zentrum, vorbei an den Bussen, und er drehte sich nicht um, schielte nicht verstohlen zur Seite. Er hätte auf die Beobachter zeigen können, er wusste, wo sie sich befanden, dachte, dass er bessere Stellen dafür ausgesucht hätte, wenn er hätte wählen müssen.

Zwischendurch kam kurz die Sonne heraus. Verner folgte der Eisenbahnlinie, bog zum Trimm-dich-Pfad ab, durchquerte den Wald, geriet außer Atem, verringerte das Tempo etwas, fühlte sich erschöpft.

Er ging knapp zwei Stunden lang, ohne anzuhalten. Als er zurück im Zentrum war, war es halb zehn. Er ging in den Konsum, denn er brauchte Milch und Käse, und der Kaffee war auch fast alle.

Im Laden befanden sich nur wenige Kunden, einige Frauen und ein älterer Mann. Verner nickte einer der Frauen zu, er kannte sie, denn sie wohnte im gleichen Häuserkomplex wie er, mit Mann und zwei Söhnen, er hatte sie dann und wann zusammen gesehen. Zufälligerweise wusste er, dass die Frau Birgitta Lundberg hieß. Sie hatte mal Zeitungen zum Container getragen, als Verner auch gerade mit einem seiner Altpapierbündel dorthin kam. Er hatte in eine der Tüten schauen können, die die Frau neben sich abgestellt hatte, und zuoberst hatten ein Werbeprospekt und ein Kuvert mit ihrem Namen und ihrer Adresse gelegen. Verner hatte sich den Namen eingeprägt, wohl eine alte Gewohnheit oder auch Berufskrankheit.

Jetzt nickte er der Frau zu, die Birgitta hieß, sie nickte zurück.

Als Verner ein Paket Kaffee aus dem Regal nahm, stellte sich die Frau auf die Zehenspitzen, um an eine Packung Filtertüten oben auf dem Regal heranzukommen. Dabei rutschte ihr Ärmel ein wenig zurück und entblößte Handgelenk und Unterarm. Quer über dem Arm verlief ein blauer Fleck, ein großer Bluterguss, als ob sie sich eingeklemmt oder einen Schlag abbekommen hatte. Verner sah den rotblauen Fleck. Er schaute schnell zu der Frau hinüber, traf für eine Sekunde ihren Blick. Sie hatte die Filtertüten noch nicht zu fassen bekommen, trotzdem ließ sie den Arm sinken und zog den Pulloverärmel herunter. »Ich kann dir helfen«, sagte Verner, »ich bin größer und komme dran.«

Er nahm eine Packung aus dem Regal und reichte sie der Frau, die sich beeilte zu lächeln.

»Danke«, murmelte sie.

Verner nickte ihr zu und folgte ihr mit dem Blick, als sie sich bückte, den Einkaufskorb hochhob, ihm den Rücken zudrehte und weiterging, mit dem Korb in der rechten Hand.

Er hatte auch vorher schon ähnliche Flecken auf den Armen der Frau gesehen. Er wusste, dass sie auf unterschiedliche Weise entstehen konnten. Aber in den meisten Fällen waren sie das Resultat unsanfter Behandlung, jemand hatte sie blau gequetscht, die Haut verletzt. Verner begriff, dass die Frau gemerkt hatte, dass er es gesehen und verstanden hatte. Das hatte sie erschreckt, denn sie hatte verstecken wollen, dass jemand sie misshandelt hatte. Auch das wusste Verner, da er in den Jahren bei der Polizei sehr viele misshandelte Frauen getroffen hatte. Er dachte, dass er vielleicht zu ihr hätte sagen sollen, dass sie ganz beruhigt sein konnte, dass er nichts weitererzählen würde, dass er sich nicht einmischen würde.

Er sagte nichts zu ihr, er ließ sie verschwinden, und ihm war nicht wohl zumute. Das verwunderte ihn ein wenig, denn es war lange her, dass er etwas von diesem alten, vertrauten Gefühl spürte, er hatte sich schon eingebildet, dass es völlig verschwunden war. Trotzdem war das Gefühl ganz anders als früher. Die Wut blieb aus.

7.

Margret machte erst spät Mittagspause. Seit halb neun hatte sie an einer Zusammenstellung dessen gesessen, was sie und ihre Kollegen bei den Gesprächen mit den Mietern im und um den Törnrosväg herausbekommen hatten: Knapp siebzig Befragungen, davon einige auf englisch mit neu zugezogenen Ausländern, einige wortkarge auf schwedisch, an die zehn brauchbare mit Details und Zeitangaben und auch einige völlig fehlgeschlagene, weil derjenige, der die Tür geöffnet hatte, nichts verstand: Achselzucken, nach oben gewendete Handflächen, Lächeln, aber keine Worte, keine Beobachtungen.

Es wäre absolut falsch gewesen, das Ergebnis als mager zu bezeichnen: Es war wertlos, niederschmetternd, nichtssagend. Das Dezernat war unterbesetzt. Es war Ferienzeit, dazu kamen drei Krankmeldungen: eine Lebensmittelvergiftung, ein Blinddarmdurchbruch, ein akuter Hexenschuss. Gleichzeitig gab es mehrere andere schwere Gewaltverbrechen, in denen das Dezernat die Ermittlungen führte: der Bikermord, der Fernfahrerüberfall, mehrere brutale Ladenüberfälle, Bandenkriege in Fittja. Neue Verbrechen an fast jedem neuen Tag.

Margret saß am Computer, gab die Befragungen ein, stellte sie zusammen, überprüfte Namen, schrieb, schrieb, schrieb, vergaß die Zeit und bemerkte erst spät, dass sie die Mittagspause verpasst hatte. Es war zwanzig nach eins. Sie verließ ihr Zimmer, der Korridor war leer, und die meisten Türen zu den Zimmern ihrer Kollegen standen offen, auch die vom Zimmer des Dezernatsleiters Lennart Philipsson. Einige Sekunden bevor Margret dessen Zimmer passierte, erhob sich der Chef von seinem Schreibtisch, zog sein Jackett an und trat hinaus in den Korridor.

»Hej«, sagte Margret und nickte.

»Hej Margret«, antwortete ihr Chef.

Sie gingen beide zum Fahrstuhl. Margret dachte, dass Philipsson oft schnell ging. Er war groß und mager und war in seiner Jugend vielleicht Sportler gewesen. Er bewegte sich wie ein Läufer, oder vielleicht auch wie ein Orientierungsläufer. Er war einer der Menschen, von denen man zu sagen pflegte, dass sie einen federnden Gang hatten. Lennart Philipsson war sechzig Jahre alt. Er hatte aufgehört, auf höhere Sprossen der Karriereleiter zu hoffen, er gab sich damit zufrieden, das größte Dezernat der Bezirkspolizei zu leiten.

»Fährst du runter in die Kantine?«, fragte er.

»Ja, wird ein spätes Mittagessen heute«, antwortete Margret.

»Ich werde auch eine Kleinigkeit essen, wir können uns ja zusammensetzen.«

»Ja, klar.«

»Oder wolltest du auswärts essen?«

»Nein, ich hab es ziemlich eilig, also nur Aquarium heute.«

»Okay, wie du willst.«

Sie verließen den Fahrstuhl im Erdgeschoss, gingen durch die Gänge zur Kantine neben dem Schwimmbad. Margret bestellte Kartoffelpuffer mit gebratenem Speck, Philipsson entschied sich für Gemüsesuppe. Sie ließen sich an einem Tisch ganz in der Nähe der Glastrennwand zum Schwimmbecken nieder. Es waren einige Schwimmer im Wasser, junge Mädchen. Sie schwammen schnell, Bahn für Bahn.

»Schwimmst du auch?«, fragte Philipsson.

»Nicht wirklich«, antwortete Margret.

»Aber du bist doch eine Sportskanone, meine ich doch. Irgendein Kampfsport, oder ...«

»Ich trainiere hin und wieder.«

»Jemand hat gesagt, dass du richtig gut bist.«

»Ach, was die alle so erzählen.«

»Wie geht‘s mit Älvsjö voran?«

»Nichts Neues, geht nur schleppend vorwärts.«

»Und ich kann euch noch nicht mal Verstärkung anbieten, ich habe bei der Fahndung und der Ausländerbehörde um Unterstützung gebeten, aber die haben genauso wenig Leute übrig wie wir.«

»Ja, das sieht schon ziemlich finster aus.«

»Ich hoffe, dass bald etwas passiert, ansonsten müssen wir da kürzer treten.«

»Das verstehe ich.«

Sie hielten im Gespräch inne und widmeten sich dem Essen. Margret blickte auf die Uhr und sah, dass von ihrem Arbeitstag nur noch wenige Stunden übrig waren.

Nach dem Essen tranken sie Kaffee, sprachen weiter über die Unterbesetzung und kamen dann wieder auf den Älvsjö-Mord zurück.

»Was glaubst du?«, fragte Philipsson.

»Es ist zu früh, ich hab noch keine richtige Theorie.«

»Hast du mit Verner Lindgren gesprochen?«

»Ich wurde aufgefordert, mit ihm in Kontakt zu treten, und das habe ich auch getan.«

»Hat es etwas gebracht?«

»Kaum, er hatte nichts Interessantes zu bieten.«

»Wie geht es ihm?«

»Er hat ein schlechtes Gedächtnis, nimmt starke Medikamente, glaube ich.«

»Hm.«

Mehr wurde über Verner nicht gesagt. Margret überlegte, ob Lennart Philipsson vielleicht mehr über Verner wissen wollte und dass der Dezernatsleiter vielleicht aufrichtiges Mitgefühl für seinen alten Kollegen hegte.