Das erste Fundament - Band II - Michel Peltriaux - E-Book

Das erste Fundament - Band II E-Book

Michel Peltriaux

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Beschreibung

»Ich weiß von dem, was kommt. Ich weiß um deine Bedeutung. Und ich weiß, wovor du dich fürchtest. Doch ich kann dir geben, wonach du suchst.« Von den Nachwirkungen seines ersten Einsatzes kaum erholt, wird Andrew offenbart, dass seine Rolle in diesem Spiel von größerer Bedeutung ist, als er je für möglich gehalten hätte. Das Schicksal der Ebenensteht auf Messers Schneide und während sich die Dämmerung einer alles verschlingenden Finsternis am Horizont abzeichnet, fällt es Andrew immer schwerer Freund von Feind zu unterscheiden.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das erste Fundament

Band II

 

 

Zeit

Sechster Februar 2002

 

Die Wohnung lag im zweiten Stock einer ruhig gelegenen Nebenstraße. Das Gebäude – ein Altbau aus dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert – ähnelte zwar jenem, in welchem Andrew wohnte, doch endeten damit auch bereits die Gemeinsamkeiten. Bereits das Treppenhaus und die hölzerne Treppe, die sich darin hinauf rankte, waren doch eigentlich nur gepflegt und instandgehalten worden, doch erschienen sie damit auf Andrew, im Vergleich zu seinem eigenen Zuhause, geradezu luxuriös.

Hinter der Wohnungstür breitete sich ein geradliniger Flur aus, zu dessen Seiten je eine weitere verschlossene Tür lag, und führte in das Wohnzimmer am Ende der Diele. Eine Deckenlampe von zeitloser Eleganz erleuchtete den Eingangsbereich und warf dabei weiche Schatten um die Bilder an den Wänden, als Elisabeth den Schalter umlegte.

Andrews nasse Schuhe streiften die Türmatte unter ihm nur kurz und quietschten auf, als sie den hölzernen Dielenboden dahinter erreichten. Noch immer glitten vereinzelte Tropfen von ihnen herab, die eine nasse Spur auf dem Boden zurückließen. Elisabeth warf ihren Schlüssel in eine hölzerne Schale, die unweit der Haustür auf einer schweren Kommode stand. Der schwere Regen hatte ihr Haar so aufgeweicht, dass selbst der hochgesteckte Dutt nur noch mühsam die Strähnen zusammenhalten konnte und sich dabei teilweise bereits einfach seinem feuchten Schicksal hingab. Andrew hatte kaum die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen, als sie bereits durch die Tür zu ihrer Linken verschwand, hinter welcher sich ein Badezimmer befand.

Schweigend und tropfend blickte Andrew ihr hinterher und machte nach einigen Augenblicken einen Schritt zurück, um weiter auf der Türmatte, statt den Holzdielen, abzunässen. Sein ganzer Körper zitterte mittlerweile. In den wenigen Minuten, in denen er im prasselnden Regen gestanden hatte, hatte sich die Kälte dieser Februarnacht so tief unter seine Haut graben können, dass selbst die Heizung des Wagens keine Abhilfe schaffen konnte.

Erst jetzt bemerkte Andrew den wohligen Geruch schweren Holzes, welchen er nicht von der Wohnung einer Kettenraucherin erwartet hätte und neugierig fuhr sein Blick durch den Flur, wobei er vergeblich nach Familienfotos oder ähnlichem Ausschau hielt. Einige der Motive in den schweren Rahmen erkannte er aus den Museen wieder, in die seine Eltern ihn als Kind von Zeit zu Zeit geschleppt hatten. Offenbar umgab sich Elisabeth lieber mit Kunstdrucken als persönlichen Erinnerungen. Zitternd schob er seine Hände unter die Achseln, in der Hoffnung, dort doch noch etwas Körperwärme finden zu können.

Elisabeth kehrte schließlich aus dem Bad zurück. Auf ihren Schultern lag ein großes Handtuch, mit dem sie immer wieder ihr geöffnetes Haar knetete, welches nun zumindest nur noch feucht, statt triefend nass zu sein schien. Sein eigenes Handtuch, welches vom Regen ebenso durchnässt worden war wie er selbst, ruhte um Andrews Hals. Nur notdürftig hatte er diesen nassen Lappen am Hauseingang ausgewrungen. Doch noch immer wirkte dieser mehr wie ein toter Fisch – feucht, kalt und schlaff, ganz genau so, wie sein Besitzer sich in diesem Moment fühlte. Elisabeth musterte ihren Schützling von Kopf bis Fuß, während sie allmählich von ihrem Haar abließ.

»Sie sollten eine heiße Dusche nehmen. Ich setze einen Tee auf und lege Ihnen dann ein paar trockene Sachen vor die Tür. Dieses Mal sind Sie mir Antworten schuldig, Mr. Miller«, sagte sie und verwies ihn mit einem deutlichen Blick in das geöffnete Badezimmer, bevor sie dem Flur in Richtung des Wohnzimmers folgte.

Stumm nickte Andrew ihr hinterher, wohl wissend, dass sie sein Nicken ohnehin nicht mehr sehen konnte, bevor er schließlich das Bad betrat und die Tür hinter sich zuzog. Es musste wohl ein guter Schnitt sein, der diesen Raum so geräumig wirken ließ – oder zumindest so geräumig, wie ein Badezimmer in einer New Yorker Wohnung eben sein konnte, selbst hier, in einem der abgelegeneren Viertel. Dumpf drang das klappernde Geräusch eines Teekessels durch die Wand, der irgendwo in der Wohnung auf einen Herd gestellt wurde. Andrew zog sich das nasse Oberteil vom Körper, das sich mittlerweile mehr wie ein nasser Schwamm anfühlte, wrang es über der Duschwanne aus und legte es zum Trocknen über einen antik wirkenden Stuhl, den er hinter der Tür fand und von dem er innigst hoffte, dass dieser für genau diesen Zweck auch gedacht war.

Bevor er sich die nasse Hose von den Beinen schälte, wanderte sein Blick auf der Suche nach Badetüchern durch den Raum. Elisabeth musste sie in einem der Schränke verstaut haben – schließlich war sie selbst mit einem Handtuch um die Schultern wieder aus dem Badezimmer gekommen. Nacheinander öffnete Andrew die Schranktüren und ließ den Blick über deren Inhalte wandern. Eine große Schublade zog dabei seine Aufmerksamkeit auf sich, doch fand er darin lediglich Pappschachteln mit länglichen Tablettendosen, welche er jedoch sogleich wiedererkannte.

Neugierig griff er nach einer dieser Dosen und zog sie so leise, wie seine vor Kälte bebenden Finger erlaubten, hervor. Es wäre ja nur ein kurzer Blick auf das Etikett, bevor er weiter nach den Tüchern suchen würde, redete Andrew sich ein und drehte dabei die Dose zwischen seinen Fingern. Zu seiner Überraschung fand er darauf jedoch nicht mehr, als einen schiefen Aufkleber, auf welchem eine handgeschriebene Nummer aufgekrakelt worden war. Weder gab es einen Hinweis auf den Hersteller, den Wirkstoff oder auch nur eine Dosierung, die man Elisabeth empfohlen hatte.

Ohne, dass sich auch nur eine einzige seiner Fragen geklärt hätte, ließ er die Dose wieder zurück in die Schachtel gleiten und schloss die Schublade leise. Womöglich war das Medikament ja auch mit nicht mehr als einer kryptischen Nummer versehen, um eben allzu neugierige Leute davon abzuhalten mehr über die Umstände des Patienten zu erfahren. Andrew fühlte sich ertappt und biss sich auf die Innenseite seiner Wange, bevor er sich weiter auf die Suche nach Badetüchern machte.

Welche Medizin Elisabeth auch einnahm, hatte ihn nicht im geringsten zu interessieren – selbst, wenn es sich um nichts weiter als ein Mittel gegen Migräne handeln mochte. Doch dass sie über einen solch großen Vorrat verfügte, machte Andrew stutzig. Vielleicht wurde es aber auch bei einer Arbeit wie der ihren irgendwann notwendig, dass man sich ab und an eine dieser Tabletten einwerfen musste. Schließlich hatte sie auch ihm eine davon gegeben, nachdem …

Schlagartig kamen die Erinnerungen wieder hoch. Die Erinnerungen an diese eine Nacht. Wurden bildlich. Andrew riss sich aus dem Strudel der Gedanken, der geradezu nach ihm zu greifen schien, und versuchte stattdessen an etwas anderes zu denken. Weg von den Bildern zu kommen, die sich ihm aufdrängten und ebenso schnell wie sie gekommen waren, schob er sie wieder tief zurück, zurück in die Dunkelheit seines Inneren, aus welcher sie gekommen waren. In der Küche pfiff der Teekessel, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag direkt vor der Badezimmertür, welcher so unerwartet kam, dass Andrew zusammenzuckte.

»Badetücher sind unter dem Waschbecken«, rief Elisabeth durch die Tür, bevor sie dem Pfeifen in der Küche folgte. Andrews Herz schlug mit einem Male so intensiv, als hätte sie ihn persönlich beim Durchwühlen ihrer Schränke ertappt – was nicht weit weg von der Wahrheit war, wie er sich eingestehen musste. Kreidebleich starrte Andrew zunächst zur Tür, bevor sein Blick auf den Schrank unter dem Waschbecken fiel.

Ob sie gehört hatte, dass er durch ihre Schränke stöberte? Bei dem bloßen Gedanken überkam ihn eine Scham, die ihn hochrot anlaufen ließ. Die Neugierde hatte ihn einfach übermannt und offensichtlich jeden Funken Anstand vergessen lassen. Darüber sinnierend, kaute er auf der Lippe, zog dann endlich eines der Badetücher unter dem Waschbecken hervor und stieg in die Dusche.

 

***

 

Andrew drehte das heiße Wasser ab. Noch immer prickelten seine Beine, als bräuchten sie noch etwas Zeit, bis sie sich an die Temperatur der Lebenden gewöhnen würden. Jetzt, wo das Rauschen des Wassers verstummt war, hörte er Elisabeths Stimme durch die Wände. Zu seiner großen Verblüffung antwortete ihr jemand. Die Stimmen waren zu leise und dumpf, als dass Andrew hätte ausmachen können, worüber gesprochen wurde. War zwischenzeitlich jemand gekommen? Er erinnerte sich nicht die Wohnungstür gehört zu haben, die doch gleich neben dem Badezimmer lag. Sich voll und ganz auf die Stimme des Fremden konzentrierend, trocknete er sich ab und öffnete die Tür einen Spalt breit, um nach den Kleidungsstücken zu greifen, die Elisabeth ihm vor die Tür gelegt hatte. Doch während dieses Momentes ruhte das Gespräch am Ende des Flurs, sodass Andrew die Tür wieder leise zurück ins Schloss gleiten ließ.

Während er den grauen Sportanzug, den sie ihm hingelegt hatte, überzog, fragte er sich, ob Elisabeth wohl einen Partner hätte, dessen Kleidung sie ihm gerade auslieh. Doch schon im nächsten Moment schüttelte er den Kopf, als antwortete der Körper instinktiv diesem Gedanken. Ein Mensch wie Elisabeth Moore lebt für die Arbeit, dachte Andrew sich. Die bloße Vorstellung, wie das Date einer Elisabeth Moore aussehen musste, ließ ihn unweigerlich grinsen, da sie den meisten Männern vermutlich deutlich zu spüren geben würde, dass sie ihr nicht das Wasser reichen könnten.

Nur wer dieser verurteilenden Ausstrahlung, den strengen Augen mit ihrem durchbohrenden Blick und darüber hinaus den massiven Eispanzer überwinden könnte, der sie dauerhaft zu umgeben schien, könnte sich einen Platz als würdiger Partner an ihrer Seite verdienen. Andrew grinste und schnaubte amüsiert aus, als er den grauen Pullover über den Kopf zog. Es mochte wohl realistischer sein, dass einer ihrer Bewunderer das sagenumwobene Schwert aus dem Steine ziehen und damit rechtmäßiger König von England würde. Nein, Elisabeth Moore lebte für die Arbeit, da war er sich sicher. Es hätte ihn daher auch nicht überrascht, wenn sie kaum Zeit in dieser Wohnung verbrachte und hier ausschließlich gemeldet war, um nach Außen hin den Schein eines ganz gewöhnlichen Lebens zu wahren. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr erhärtete sich sein Verdacht, dass Betty King womöglich eine entscheidende Rolle bei der Wahl ihrer Einrichtung gespielt hatte und ließ seinen Blick entlang der dunkel gestrichenen Wände des Badezimmers gleiten.

Die Stimmen wurden für einen Moment lauter und rissen Andrew aus seiner erneuten Tagträumerei. Wieder lauschte er konzentriert nach der zweiten Stimme, ohne, dass er sie einzuordnen wusste. Zu dumpf und schwach drang sie ins Badezimmer. Er wollte zu ihnen stoßen. Wollte wissen, welchen Gast sie um diese Uhrzeit noch empfangen hatte. Der deutlich zu große Trainingsanzug waberte locker an ihm herum, doch war er zumindest trocken, ganz im Gegensatz zu seiner eigenen Kleidung.

Endlich verließ er das Bad und folgte dem Flur in das Wohnzimmer, den Stimmen folgend. Leise knarrte eine Diele unter seinen Füßen, als er den Türbogen am Flurende durchschritt. Auf einem großen Rundteppich, mittig im Raum, standen eine kleine Couch, zwei Ohrensessel und inmitten dieser Sitzgruppe ein niedriger Wohnzimmertisch aus poliertem Nussholz mit kleinen Messingfüßen. Eine deckenhohe Reihe Bücherregale verkleidete die Wand zur Linken, und beherbergte schwere, alte Ledereinbände, deren Buchrücken immer wieder durch herabhängende Topfpflanzen aus den obersten Regalfächern verdeckt wurden. Die Pflanzen wirkten bedeutend gesünder, als das vertrocknete Unkraut, das in ihrem Büro einsam vor sich hin vegetierte.

An der ihm gegenüberliegenden Wand hätten Fenster den Blick auf die Stadt freigelegt, waren aber von schweren dunklen Vorhängen verdeckt, die von der Decke bis zum Fußboden reichten. Eine schwere Standuhr an der Wand zur Rechten tickte altehrwürdig vor sich hin und die gedimmten Lampen tauchten den Raum in ein schummriges Licht.

Gleich neben der Standuhr führte ein weiterer Türbogen in die Küche, aus welcher sich die Stimmen gerade näherten, als Andrew das Wohnzimmer betreten hatte. Elisabeth trat herein und trug ein Tablett mit einer Teekanne und Tassen in den Händen. Ihre Blicke trafen sich und Andrew spürte, dass in ihrem etwas lag, das er einmal mehr nicht zu deuten wusste. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass dieser Umstand selten ein gutes Zeichen war. Sie schien die Lippen schonungslos aufeinander zu pressen, sodass sie leicht an Farbe verloren, wendete dann den Blick ab und stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch ab.

Ihr hinterher, mit einer Tasse Tee auf dem Untersetzer in der steifen Hand klappernd, schlurfte Alistair Douglas, welcher noch immer in eine seiner Erzählungen vertieft war.

»... Mandeln! Die waren früher mit Mandeln belegt, natürlich! Aber, nun ja – Das wird ja auch schon wieder fünfzig Jahre her sein. Ach, wo ist die Zeit nur geblieben?«

In der anderen Hand hielt er einen trockenen Keks, auf welchem eine dicke Schicht Krokant klebte und der offenbar Gegenstand seines Geredes war. Mit prüfendem Blick musterte der Aufseher den Keks, wie ein Pfandleiher eine alte Goldmünze, und biss schließlich hinein. Erst jetzt bemerkte er den stillen jungen Mann, der im Türrahmen des Flurs stand. Während der Alte den Durchgang zur Küche durchschritt, zog er den Kopf leicht ein, um nicht gegen den Bogen zu stoßen. Eine leichte rote Beule an seiner Stirn verriet, dass er den Kopf dieses Mal aus gutem Grund einzog. Gedankenverloren kaute Alistair Douglas auf dem Krokantgebäck herum und blickte Andrew dabei gedankenverloren an.

»Ja, wo ist die Zeit nur geblieben, Mr. Miller?«, fragte er nach einigen Augenblicken und räusperte sich, bevor das Räuspern in einen kurzen Husten überging.

»Guten Abend, Mr. Douglas«, erwiderte Andrew und nahm auf dem Sofa Platz. Elisabeth hatte sich bereits in einen der Sessel niedergelassen und schenkte Tee ein.

Alistair Douglas hatte seinen Husten unter Kontrolle bekommen, atmete gewohnt rasselnd ein und versuchte ein Krokantstück, welches sich auf seiner trockenen Lippe festgesetzt hatte, mit der anderen Lippe einzufangen. Auf dem eingefangenen Krokantstückchen schließlich knuspernd, nahm auch er daraufhin im Sessel Platz. Die Pendeluhr schlug Mitternacht. Es war ein altes, melodisches Schlagen, das keiner der Anwesenden unterbrechen wollte. Sie schwiegen und lauschten dem antiken Zeitmesser, bis es wieder still wurde.

»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte Andrew und hoffte, mit einer gewöhnlichen Frage die immer schwerer werdende Stille aufbrechen zu können. Alistair Douglas stellte Untertasse samt angebissenen Keks ab und lehnte sich im Sessel zurück. Die Arme stützte er auf den Lehnen ab und faltete nachdenklich die Hände, die sich auf Höhe seines Gesichtes befanden. Andrew war sich währenddessen nicht sicher, ob der Alte seine Frage überhaupt gehört hatte. Verwundert blickte Andrew zu Elisabeth. Doch sie hatte sich gerade eine Tasse genommen und biss nun ebenfalls in einen der Kekse.

Gerade als Andrew seine Frage etwas lauter wiederholen wollte, fuhr sich der Aufseher mit der Zunge über die spröden Lippen und holte dabei Luft.

»Was ist die Zeit, Mr. Miller?«, fragte ihn der Aufseher unvermittelt und blickte dabei mit derselben Güte durch die kleinen Gläser seiner Brille zu Andrew hinüber, mit welcher er ihm seit dem ersten Tag begegnete. Von der unerwarteten Frage überrascht, ließ Andrew den Blick in die bräunlich-spiegelnde Oberfläche seines Tees gleiten.

»Nein, nein, das ist nicht fair, Ihnen diese Frage so, hier und heute zu stellen. Entschuldigen Sie bitte«, widersprach Alistair Douglas sich im nächsten Augenblick selbst, noch ehe Andrew reagieren konnte und fuchtelte dabei mit der steifen Hand in der Luft herum, als vertreibe er damit die Frage wie eine lästige Fliege.

»Lassen Sie es mich anders formulieren: Was denken Sie, was Zeit ist, Mr. Miller?«

Andrew, von der zweiten Frage verwirrter als von der ersten, blickte auf und dem Aufseher tief in die glasigen Augen hinter den Brillengläsern. Rasselnd atmete der Alte in die Stille.

»Zeit vergeht. Zeit ist relativ, wie man so sagt. Für den einen wirkt ein Moment wesentlich länger als es für jemand anders erscheint, obwohl der Moment gleich lang ist«, erwiderte Andrew, als würde er gerade von einem Lehrer geprüft werden. Elisabeth tauchte ihren Keks in den Tee, bevor sie einen weiteren Bissen davon nahm und schien während der gesamten Situation nur Augen für ihre Tasse zu haben. Alistair Douglas hingegen schien Andrew aufmerksam zu lauschen. Immer wieder zog er währenddessen die Zungenspitze über seine rissigen Lippen.

»Und ich habe das Gefühl, dass etwas mit meiner eigenen Zeit nicht richtig läuft«, ergänzte Andrew nach einer kurzen Denkpause. Der Aufseher nickte großväterlich, griff nun ebenfalls nach seiner Tasse, nahm einen Schluck und stellte sie gleich wieder ab.

»Mrs. Moore hat mich bereits darüber informiert, dass Sie im Bilde sind, was die Auswirkungen des Hauses auf die Mitarbeiter des Bureau betrifft.«

Schon wieder zog sich die Zunge über die spröden Lippen. Die dauerhafte Trockenheit schien unvermeidlich, da der Alte nur mit einem dauerhaft leicht geöffnetem Mund noch ausreichend Luft zu bekommen schien. »Ich möchte das ein wenig ausführen um Missverständnisse zu vermeiden, Mr. Miller: Nicht jeder Mitarbeiter des Bureaus ist von diesen Veränderungen betroffen. Wir vermuten, dass nur jene, deren natürliche Grundschwingung bereits eine große Ähnlichkeit zu der Schwingung des ersten Fundamentes aufweist, in den Genuss dieser Transformation kommen. Es muss sich also um eine Prädisposition handeln.«

Andrew wiederholte das Wort immer wieder in seinen Gedanken und schien dabei nicht zu merken, wie offensichtlich ihm seine Verwirrung ins Gesicht geschrieben war.

»Eine Veranlagung«, übersetzte Elisabeth für ihn und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. »Wir haben eine Art Veranlagung, Fertigkeiten zu entwickeln, deren Wirkung man in gewisser Weise ebenfalls als Phänomen bezeichnen kann.«

Eine plötzliche Zufriedenheit erfüllte Andrews Innerstes und wärmte wie die ersten Sonnenstrahlen nach einer kalten Nacht unter klarem Himmel. Andrew atmete aus und spürte dabei, wie sich eine tief liegende Verspannung löste, die er bis zu diesem Moment gar nicht mehr bemerkt hatte. Der moorsche Nebel umschmeichelte seine Beine und füllte allmählich den Boden unter ihnen aus. Auch Alistair Douglas schloss für einen kurzen Moment den stets leicht geöffneten Mund und versuchte tief durch die Nase einzuatmen. Dabei entwich ein ungesund klingendes Geräusch seinen Nasenflügeln, welches ihn unmittelbar dazu brachte, wieder zur gewohnten Mundatmung zurückzukehren. Der Versuch wurde mit einem kurzen Husten gestraft. Langsam versickerte der moorsche Nebel im Boden unter ihnen.

»Man vergisst allzu schnell, wie sich Frieden anfühlt, nicht wahr?«, fragte der Aufseher in die Runde und griff wieder nach seiner Tasse.

»Phänomene, sagten Sie? Das klingt, als wenn … als würden Sie von Parakonstrukten sprechen«, sagte Andrew und lenkte das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema.

»Ich möchte Sie eine Sache fragen, Mr. Miller. Wo liegt der Unterschied zwischen einem Parakonstrukt und einemMenschen?«, fragte Alistair Douglas zurück. »Wir neigen dazu von Fertigkeiten zu sprechen, wenn wir über vermeintlich beseelte Dinge, wie den Menschen, sprechen. Und wir möchten gerne von Phänomenen sprechen, wenn wir über vermeintlich unbeseelte Dinge reden, wie einen Stein, einen Stuhl – oder eben auch einen Ring. Vielleicht sollten wir Abstand von solch Haarspalterei nehmen, denken Sie nicht auch?«

Der Alte blickte ihn über den Rand seiner Brille an. Doch Andrew nickte nur zögerlich. Bislang hatte er die Ebenenverschränkungen, die zur Entstehung von Parakonstrukten führen konnten, ausschließlich auf Objekte bezogen: Gegenstände, die weder Bewusstsein noch Gefühle haben konnten. Doch machten sowohl Elisabeth Moore, als auch Alistair Douglas, ihm auf vorsichtige aber deutliche Art und Weise klar, dass diese Unterscheidung nicht die geringste Rolle spielte. Andrew hatte sich einer naiven Hoffnung hingegeben, dass Menschen etwas Besonderes seien. Unmöglich erschien ihm der Gedanke, dass auch sie, so wie jedes profane Ding, ein Parakonstrukt werden könnten. Und gerade deswegen sträubte er sich gegen diese Erkenntnis und wollte es einfach nicht wahrhaben.

Seine Mentorin hatte immer nur von Objekten gesprochen, die zu Parakonstrukten werden könnten. Und doch hatte sie damit zu keinem Zeitpunkt geleugnet, dass auch ein Mensch nichts weiter als ein eben solches Objekt war. Andrew hatte nur nie genauer nachgefragt. Bei näherer Betrachtung hätte wohl auch er einem emotional aufgewühlten und überaus instabil wirkenden Neuling an dessen ersten Tag nicht gleich sämtliche Wahrheiten um die Ohren geschlagen. Andrew fragte sich, wann sie ihn wohl mit dieser Information erst hätte konfrontieren wollen, wären die Umstände andere gewesen und blickte zu seiner Mentorin hinüber.

»Wie schon gesagt: Bislang entwickeln nur gewisse Personen über die Zeit Phänomene. Oder Fertigkeiten, je nachdem mit welchem Wort Sie besser schlafen können, Mr. Miller. Hintergrund des Ganzen ist der Versuch des Hauses …«, führte Alistair Douglas weiter fort, wurde aber von Andrew unterbrochen.

»Mit uns zu Resonieren und uns so an sich anzugleichen«, entglitt es diesem, der sich noch im selben Moment auf die Zunge biss, als ihm auffiel, dass er den Aufseher unterbrochen hatte. Überrascht blickten ihn die glasigen Augen an, bevor Alistair Douglas nickte und lächelte.

»Ich sehe, dass Sie mit Mrs. Moore genau die richtige Mentorin an Ihrer Seite haben. Sehr erfreulich, sehr erfreulich! Aber ja, so ist es. Allerdings benötigt dieser Vorgang seine Zeit. Wir sprechen hier von Jahren. Jahre, in denen sich immer wieder erste Hinweise auf ein sich ausprägendes Phänomen bemerkbar machen. Wie ein langsam entstehender Wasserfleck, der auf einen dahinterliegenden Rohrbruch hindeutet.«

Alistair Douglas Blick folgte seinem steifen Finger, den er zur Decke des Wohnzimmers richtete, um seinen Worten damit Nachdruck zu verleihen. Aus Elisabeths gerunzelter Stirn las Andrew ab, dass sie die Bildwahl des Alten ebenso ungewöhnlich zu finden schien wie er selbst. Derweil ertränkte sie den restlichen Krokantkeks in ihrem Tee, bis dieser schließlich ohne weitere Gegenwehr zum Boden der Tasse sank und sich dort seinem Schicksal ergab.

»Aber Sie, Mr. Miller«, Alistair Douglas’ Finger und Kopf schnellten vom Anblick der Decke hinab, sodass Andrew zusammenzuckte und das Porzellan in seiner Hand klappern ließ. Elisabeth versteckte ein Schmunzeln, indem sie den ertrunkenen Keks aus den Tiefen ihres Tees barg und ihn genüsslich im Mund mit der Zunge zerdrückte.

»Sie, Mr. Miller, wurden nicht nur am ersten Abend vom Haus gehen gelassen«, fuhr Alistair Douglas fort, während die Zungenspitze über seine rissigen Lippen schnellte, »Sondern sie tragen bereits jetzt die ersten Wasserflecken an sich.«

Mit seinem knorrigen Finger näherte er sich Andrews grauem Oberteil und deutete auf unsichtbare Flecken auf dessen Brust. Andrew war von der Größe der Hand des Alten irritiert, die ihm zum ersten Mal so nahekam, dass er gerne darauf verzichtet hätte. »Und auf welche Art von Rohrbruch deuten die Flecken Ihrer Meinung nach hin, Mr. Douglas?«, fragte Andrew, den Blick auf den fuchtelnden Finger des Alten gerichtet. Alistair Douglas lachte rasselnd darüber auf, dass Andrew seine abstruse Metapher nun selbst verwendete, lehnte sich dann zu ihm vor und starrte ihn mit seinen glasigen Augen an.

»Zeit!«, zischte Alistair Douglas mit gedämpfter und doch zugleich kraftvoll erscheinenden Stimme, die Andrew nicht erwartet hatte. »Zeit, Mr. Miller!«

Langsam lehnte er sich wieder mit ernster Miene zurück, die sich jedoch sogleich verflüchtigte, als seine Hand die Keksschale passierte und der Aufseher sich im nächsten Moment erfreut daran zu erinnern schien, dass es diese ja gab. Wie ein Greifvogel schwebte die steife Klause des Alten über dem Gebäck und schien sich noch nicht so recht für ihre nächste Beute entscheiden zu können.

»Die Zeit …«, wiederholte der Alte dabei gedankenverloren und schien sich damit nun selbst einen Denkanstoß geben zu wollen. »Was ist die Zeit? Was glauben wir, was Zeit ist? Wie sie funktioniert? Ist sie … linear?«, seine Stimme erhob sich, als die schwebende Klaue hinab schnellte und einen wehrlosen Krokantkeks packte. Elisabeth hatte derweil lediglich Augen für die durch die Luft fliegenden Krümel, die von dem hinabstürzenden Zupacken des Aufsehers empor gewirbelt wurden und sich auf ihrem Wohnzimmerboden verteilten. Schweigend trank sie weiter aus ihrer Tasse und schien sich damit von dem Anblick ablenken zu wollen.

»Läuft sie einfach immer weiter vor sich hin? Und wenn ja, wo läuft sie überhaupt hin?«

Die Kekshand verwies plötzlich schleudernd in eine Ecke des Raums und sollte damit Alistair Douglas’ Aussage Nachdruck verschaffen. Doch erneut folgte Elisabeths Blick den Krokantkrümeln, die sich dabei weiter durch ihr Wohnzimmer verteilten.

»Gibt es also einen Weg hinter ihr, den sie gelaufen ist?«, Hand und Keks flogen erneut ruckartig herum und deuteten nun hinter den Sessel des Alten. »Einen Weg vor ihr?«

Die Hand flog vor den Alten. Die Krümel folgten. Elisabeth schlürfte ihren Tee und starrte dabei in die sich leerende Tasse.

 »Oder sind es doch nur einzelne Bilder, so schnell aufeinander abfolgend, dass sie uns lediglich eine Bewegung der Welt um uns herum vorgaukeln? Wie … wie in einem Lichtspielhaus?«

Alistair Douglas Hand schnellte wieder herum und schleuderte sich den Keks mit solch einer Wucht in den Mund, dass Andrew fürchtete, der Alte würde sich jeden Augenblick daran verschlucken.

»Kino«, übersetzte Elisabeth trocken und goss sich Tee nach. »Er meint einen Film im Kino.«

Andrew beobachtete seine Mentorin, während sie den Tee einschenkte und fragte sich insgeheim, wie alt der Aufseher wohl eigentlich sein mochte und darüber hinaus, wie selten er das erste Fundament wohl überhaupt verließ. Ob dies einer dieser besonderen Momente sein musste, da Alistair Douglas an einem anderen Ort war? Andrew schaute wieder zu dem eigentümlichen Greis zu seiner Seite.

»Um es kurz zu machen, Mr. Miller: Ich hege den Verdacht, und zugleich die Hoffnung, dass Sie sich die Zeit selbst untertan machen werden«, sagte Alistair Douglas.

Wieder beugte er sich zu Andrew vor und eine Ernsthaftigkeit verdrängte erneut die großväterliche Güte in seinem Blick, während er den jungen Mann eindringlich beäugte. »Sollte ich Recht in dieser Annahme behalten, sind Sie von noch wesentlich größerem Wert für das, was uns erwartet, als ich hätte erahnen können. Als sie hätten erahnen können.«

Stille breitete sich aus. Unter strengem Ticken beäugte die Wanduhr das Geschehen. Andrew wollte gerade fragen, wen genau der Aufseher mit sie meinte, doch kam er nicht mehr dazu.

»Eine solche Fertigkeit hegt zugleich aber auch eine große Gefahr, solange Sie noch nicht in der Lage sind, diese zu kontrollieren«, fügte der Aufseher mit erdrückender Schwere in der Stimme hinzu.

»Und … wie lerne ich es zu kontrollieren?«, fragte Andrew, als auf die drückende Schwere nichts weiter folgte.

»Für den Augenblick – gar nicht«, erwiderte Alistair Douglas trocken und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück, nahm dann die Brille von der Nase und rieb sich die glasigen Augen.

»Ihre Fertigkeit steht noch ganz am Anfang. Sie muss sich erst weiter entfalten, bevor Sie damit beginnen können, sie zu kultivieren«, sagte der Alte.

»Sie meinen, ich soll das einfach so hinnehmen, dass ich plötzlich jederzeit – sprichwörtlich – neben mir stehen könnte und eigentlich ich selbst aus der nahen Zukunft bin?«, entgegnete Andrew aufgebracht. Der Aufseher setzte die Brille wieder auf und versuchte sie im richtigen Abstand zu seinen Augen auf dem Nasenrücken zu platzieren. Dabei fixierte er einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand und wirkte ein weiteres Mal, als hätte er Andrews Einwand nicht gehört.

»Mitnichten, Mr. Miller!«, entfuhr es ihm schließlich, als die Brille endlich richtig saß. »Das Bureau stellt Ihnen Pharmazeutika in ausreichender Menge zur Verfügung. Diese sind in der Lage, die Symptome des Phänomens – Mrs. Moore, nebenbei bemerkt, zieht es ebenfalls vor, es als solches zu bezeichnen – zu unterdrücken. Die Ausprägung wird dadurch zwar ebenfalls verlangsamt, doch ist das eben das notwendige Übel, das wir in Kauf nehmen müssen. Wie Sie schon richtig sagten, möchte niemand eine unangenehme Situation heraufbeschwören, über die man schlimmstenfalls sogar die Kontrolle verliert.«

Andrew nickte einsichtig und trank die bitter gewordenen Reste aus seiner erkalteten Tasse aus. Sein Blick verlor sich dabei im dunklen Flur der Wohnung, als seine Gedanken wieder zu rasen begannen. Mit aller Macht stemmte er sich gegen sie und wurde langsam wieder Herr über seinen Kopf.

Die Zeit. Sich die Zeit untertan machen.

Die Formulierung beeindruckte ihn, löste aber auch zugleich Unbehagen aus. Wie sollte er so etwas wie die Zeit selbst kontrollieren können? Etwas, von dem er nicht einmal hätte sagen können, worum es sich dabei überhaupt handelt oder auch nur im Ansatz eine Vorstellung davon hatte, wie sie eigentlich funktionieren mochte.

»Ich werde schnellstmöglich unsere Hausapotheke«, Alistair Douglas gluckste über seine eigene Wortwahl, während Elisabeth unbemerkt die Augen verdrehte, »Darüber informieren, dass man Ihnen eine ausreichende Menge des Wirkstoffes zur Verfügung stellt. Bis dahin werden Sie gewiss auf die Notreserven ihrer Mentorin zurückgreifen können.«

Andrews Blick fiel auf Elisabeth, die in ihrem Tee rührte und die Augen zu ihm wandte, als sie den Blick ihres Schützlings spürte. Die Tabletten, dachte Andrew. Womöglich ihrer Intuition folgend, hatte sie ihm schon damals eine gegeben. Hatte sie etwas geahnt? In dieser Nacht in Talladega?

Nachdenklich legte Andrew die Stirn in Falten. Noch nie hatte er seine Mentorin so angeblickt. Ihre kalten Augen schienen geradezu durch ihn hindurchzublicken. Andrew wich ihnen schließlich aus und wandte sich wieder dem Aufseher zu. Die Uhr schlug eins. Doch dieses Mal wurde ihre Melodie unterbrochen, als der Aufseher mit seinen Handflächen auf seine Oberschenkel schlug.

»So!«, sagte er und richtete sich dabei auf. »Sobald Sie bereit sind, Mr. Miller, werden Sie diesen Diamanten schleifen. Ein weiter Weg liegt vor Ihnen, doch bin ich davon überzeugt, dass sie es schaffen werden!«

»Wie weiß ich, ob ich bereit bin?«, fragte Andrew. Der Alte und Elisabeth tauschten stumme Blicke aus. Der Aufseher nahm daraufhin seine Tasse und entdeckte dabei einige Krokantkrümel auf der Untertasse, die er mit seinem Finger versuchte aufzulesen.

»Das werden Sie, wenn Sie es sind«, erwiderte er diplomatisch und knusperte auf den Krokantresten. Andrew hasste es, andauernd im Unklaren gelassen zu werden, ahnte jedoch zugleich, dass weder Alistair Douglas noch Elisabeth Moore eine wirkliche Wahl hatten.

»Ich bringe meine Tasse in die Küche und mache mich dann auf den Weg«, sagte der Alte mit einem Blick auf die Standuhr. »Mr. Miller – wir hören ganz gewiss wieder voneinander.«

Mit dem klappernden Porzellan in der steifen Hand, schob sich der große Greis in die Küche und zog dabei den Kopf am Türrahmen leicht ein. Andrew und Elisabeth blieben schweigend zurück. Andrews Gedanken kreisten. Jedoch kaum durcheinander. Mehr wie ein Strudel, der sich um einen Mittelpunkt herum formte. Einer dieser wirbelnden Gedanken blieb vor seinem geistigen Auge schließlich stehen: Hatte das alles mit diesem Traum zu tun? Der Traum, nach welchem Elisabeth ihm die Tablette gegeben hatte? Er musste Alistair Douglas dazu befragen, solange er jetzt noch die Gelegenheit hatte. Andrew sprang vom Sofa auf und folgte dem Aufseher in die Küche.

»Mr. Douglas? Haben Sie noch einen Moment? Ich wollte …«

Doch verharrte Andrew im Türrahmen und starrte in die Küche. Sie war leer. Eine einsame Tasse stand am Spülbecken. Doch von dem Aufseher fehlte jede Spur. Andrew blickte sich um, als hätte er Alistair Douglas nur übersehen – was bei einer solchen Persönlichkeit doch vollkommen unmöglich war – und suchte nach einer zweiten Tür, die, aus welchen Gründen auch immer, aus der Wohnung hinausgeführt hätte. Aber es gab keine zweite Tür.

Nur das Fenster über dem Spülbecken, das auf eine Feuerleiter führte, verband die Küche mit der Außenwelt. Andrew schritt zum Fenster und blickte an der Feuerleiter hinunter. Doch nicht nur war das Fenster von innen verriegelt, so gab es darüber hinaus auch keinen vernünftigen Grund, weshalb sich Alistair Douglas durch ein für ihn viel zu winziges Fenster quetschen und eine Feuerleiter hinabsteigen sollte, die mindestens so alt und gebrechlich erschien, wie der Aufseher selbst. Verblüfft trottete Andrew zurück ins Wohnzimmer.

»Er ist weg«, stellte er nüchtern fest und blinzelte seine Mentorin fragend an.

»Ja, und ich fürchtete schon, wir würden ihn erst zum Sonnenaufgang wieder loswerden«, entgegnete sie trocken und begann den Tisch abzuräumen.

»Nein, ich meine, er hat sich in Luft aufgelöst«, hakte Andrew nach.

»Ja, so ist er. Gedankenverloren, wie er manchmal ist, kommt es auch schon vor, dass er sich nicht einmal vorher verabschiedet.«

Dass sie über den verschwundenen Alistair Douglas  nicht im Ansatz so verwundert war wie er, beruhigte Andrew zumindest und erinnerte ihn an das, was er sich am schnellsten aneignen wollte: Akzeptanz und Gewöhnung.

»Er kam also nur, um mir die Sache mit meiner Fertigkeit, meinem … Phänomen ... zu sagen?«, fragte Andrew.

»Er kam auf meine Bitte hin. Es ist wichtig, dass der Aufseher über alle Entwicklungen informiert ist, die das Bureau und die Mitarbeiter betreffen. Insbesondere, wenn sich unter diesen ein Wunderkind zu befinden scheint, Mr. Miller.«

Sie nahm das Tablett und trug es zurück in die Küche. Andrew folgte ihr.

»Und wie geht es jetzt weiter, Mrs. Moore?«

»Sie nehmen sich eine der grauen Pillendosen. Zwei pro Tag genügen: Eine morgens, eine abends. Bei Bedarf wird die Dosis erhöht. Bedienen Sie sich ruhig von meinem Vorrat.«

Andrew starrte sie wortlos an, während sie das Tablett leerte. Plötzlich hielt sie inne und drehte den Kopf zu ihm.

»Sie wissen ja, wo Sie die Tabletten finden, Mr. Miller.«

Andrews Kopf lief hochrot an. Sie wusste scheinbar, dass er durch ihre Schränke gekramt hatte. Wo er zuvor noch Scham empfand, brach nun, im Angesicht Elisabeth Moores, eine Panik auf, die seinen Kopf geradezu glühen ließ. Elisabeth ließ dem gewohnt strengen Blick ein schelmisches Grinsen folgen, als ihr Schützling sich offensichtlich ertappt zeigte, bevor sie sich wieder der Spülmaschine zuwandte. Es war nur ihr Grinsen und die schnelle Abkehr, die Andrews Panik so schnell verblassen ließ, wie sie aufgekommen war. Stumm nickte Andrew und holte eine der grauen Pillendosen aus dem Badezimmer.

Als er zurück in die Küche kam, hatte sie ihm bereits ein Glas Wasser hingestellt. Er brach das Siegel der Dose und warf eine der groben Brausetabletten in das Glas, wo sie gleich begann aufzuschäumen.

Elisabeth schritt derweil zu einer Schublade und zog eine Packung Zigaretten und Streichhölzer hervor. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, zog ein Streichholz über die Packung und entzündete damit die Zigarette. Der Geruch verbrannten Schwefels breitete sich aus, als sie das Streichholz mit einigen schnellen Bewegungen auswedelte. Hinter der Kaffeemaschine zog sie einen sauberen Aschenbecher hervor.

Dass sie selbst in der Küche Zigaretten und Aschenbecher griffbereit deponiert hatte überzeugte Andrew, dass sie diese Wohnung tatsächlich bewohnte und diese nicht bloß zum Schein existierte.

»Wo ist ihr Schnipp-Schnapp Feuerzeug?«, fragte er, als sie den ersten Zug ausatmete und ahmte dabei ihre Handbewegung nach, mit der sie das Feuerzeug für gewöhnlich auf- und zuschnappen ließ.

»In meinem Mantel. Eine Frau mit Stolz zündet auch mit Holz. Für Sie auch eine?«

Sie reichte ihm die offene Packung. Doch zu seiner eigenen Verwunderung lehnte Andrew ab. In diesem Augenblick ging ihm bereits genug durch den Kopf. Zusätzlichen Zigarettenrauch brauchte er darin gerade nicht. Als sie die Packung wieder auf der Anrichte ablegte, zweifelte er jedoch schon wieder an seiner Entscheidung und beobachtete stattdessen die Tablette, die mehr und mehr ihre Form verlor und eine milchige Lösung hinterließ.

»Also war die ganze Sache mit den Kopfschmerzen nur eine Ausrede?«, fragte Andrew.

»Keine Ausrede. Ein Vorwand. Wenn auch nicht gänzlich«, erwiderte Elisabeth Moore kryptisch, sodass Andrew stirnrunzelnd zu ihr aufsah. »Dem Medikament ist ein Wirkstoff beigemischt, der die Wirkung unterstützen soll. Dieses hat eine blutverdünnende Wirkung, was sich bei Kopfschmerzen also ganz gut einsetzen lässt.«

»Warum nehmen Sie dieses Zeug überhaupt? Ihre Fertigkeit wirkt auf mich sehr … abgeschlossen und kontrolliert?«, fragte er. Elisabeth blies einen feinen Strahl Rauchs zur Decke aus.

»Das Medikament dient dazu, das Phänomen abzuschwächen oder – je nach Dosis – sogar ganz zu unterdrücken. In der Anfangsphase ist das von Vorteil, um ein spontanes und ungewolltes Auslösen zu vermeiden, solange sie nicht vollständig ausgebildet ist und kontrolliert werden kann.«

»Und danach?«, fragte Andrew.

Elisabeth zog an ihrer Zigarette und hielt den Atem an, während sie ihren Schützling musterte. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte und klopfte die Zigarette im Aschenbecher neben sich ab. Langsam entwich ein blau-grauer Nebel ihrer Nase und folgte dem Rest hinauf zur Deckenlampe.

»Danach wird es genutzt, um Phänomene abzuschwächen. Einige dürfen nur eingeschränkt zum Einsatz kommen. In Ihrem Fall, Mr. Miller«, wieder zog sie an der Zigarette, »Bin ich sehr gespannt, wie sich die Fertigkeit noch weiter entwickeln wird.«

Ihrem Blick hatte sich etwas beigemischt, das Andrew als Neugierde interpretierte. Das Zischen im Glas hatte mittlerweile nachgelassen, sodass Andrew nach diesem griff und einen Schluck nahm. Der eigentümliche Geschmack, den er mit nichts vergleichen konnte, das er je zuvor getrunken hatte, erinnerte ihn sofort wieder an diese eine Nacht in Talladega. Mit dem Geschmack und der Erinnerung kamen auch die Bilder zurück, sodass er sich einzig und allein auf das Schlucken konzentrierte. Endlich war das Glas leer. Andrew stellte es ab und räusperte sich dann leicht.

»Mrs. Moore?«

»Mr. Miller?«

»... Dieser Traum.«

Elisabeth schwieg.

»... Der Ring. Sein Phänomen.«

Sie schien abzuwarten.

»Hatte das alles irgendwie mit meiner Fertigkeit zu tun? Meinem Phänomen?«

Andrew blickte nun von dem Glas in seiner Hand auf. Elisabeth Moore stieß eine weitere Rauchwolke aus und blickte ihr auf dem Weg zur Küchendecke hinterher. Sie spitzte die Lippen.

»Ich mag keine Vermutungen, wenn sie nicht mit einem Fall zu tun haben. Was geschehen ist, ist geschehen und das nehmen wir vorerst so hin. Der Ring wird untersucht und vielleicht erhalten wir bald schon den Abschlussbericht dazu. Ihr … Erlebnis … kann und will ich für den Moment nicht einordnen. Ich gab Ihnen eine meiner Tabletten, da Sie über Kopfschmerzen klagten und ich nichts Besseres zur Hand hatte.«

Ihr Blick wandte sich von den dünnen Rauchschwaden unter der Decke zu Andrew. »Das ist alles. Sollten die Ereignisse dieser Nacht mit Ihrem Phänomen zu tun gehabt haben, war die Tablette genau die richtige Entscheidung. Falls nicht, ist das Medikament zumindest nicht schädlich.«

Sie hielt ihm die geöffnete Tablettendose entgegen.

»Zweimal täglich. Halten Sie sich daran und alles wird gut.«

Andrew nahm die Dose entgegen, betrachtete das gebrochene Siegel am Verschluss und nickte nachdenklich. Elisabeth zerdrückte die Reste ihrer Zigarette im Aschenbecher und legte dann die Hand auf seine Schulter. Überrascht blickte er zu ihr auf. Tiefdunkle Augen brannten sich in seinen Kopf.

»Alles zu seiner Zeit«, sagte sie beschwichtigend und festigte ihren Griff. Einen Augenblick lang verharrten sie so.

»Ist das in Zukunft mein Spruch? Na, wegen Zeit und so?«, fragte Andrew und ein Grinsen zog sich über seinen Mundwinkel. Doch Elisabeth verdrehte die Augen und ließ von ihm ab.

»Wir sind keine Superhelden, Mr. Miller. Wir brauchen keine Sprüche, mit denen wir auftreten oder uns mit einer Rauchwolke in Luft auflösen«, sagte sie, während sie ins Wohnzimmer schritt. Andrew folgte ihr.

»Aber warum eigentlich nicht? Wir haben immerhin Fertigkeiten!«, sagte er. Je länger er über die Möglichkeiten nachdachte, die sich damit eröffneten, desto euphorischer schien er zu werden. Elisabeth hingegen ging weiter in den Flur und zog ihren Mantel von der Garderobe.

»So? Und was wäre dann mein Spruch, Herr Regisseur?«

In Erwartung einer weiteren Dämlichkeit ihres Schützlings beäugte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie ihren Mantel zuknöpfte. Sie hatte so unvermittelt angehalten, dass Andrew fast in sie hinein gerannt wäre. Mit einem schnellen Schritt wich er zurück, beäugte sie von unten bis oben und schien dabei angestrengt nachzudenken. Derweil prüfte Elisabeth, ob Zigarettenetui und Feuerzeug auch wirklich im Mantel waren. Andrew deutete mit dem Finger auf das Etui, welches sie kontrollierend aus der Tasche hervorzog.

»Stört es, wenn ich rauche? – Mich stört es nicht mal, wenn du brennst«, trällerte er mit zweierlei verstellten Stimmen, wobei die letztere offensichtlich Elisabeth darstellen sollte.

Von seiner kreativen Eingebung selbst zutiefst überzeugt, blickte er stolz zu ihr. Elisabeth verharrte, ließ das Etui allmählich sinken und schloss die Augen, während sie tief einzuatmen schien. Es war unklar, ob sie ein Lachen unterdrückte oder lediglich dem Verlangen widerstand, ihn an Ort und Stelle in den Boden zu rammen. Als ihr Einatmen immer tiefer zu werden schien, schluckte Andrew und überlegte, ob er womöglich doch noch schnell einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu ihr aufbauen sollte. Doch plötzlich stieß sie ein kratzendes Lachen aus. Zufrieden verschränkte der Schützling die Arme vor der Brust.

Es musste das erste Mal sein, dass seine Mentorin mit ihm, anstatt über ihn lachte, glaubte Andrew. Doch ebenso schnell hatte sich ihr Lachen auch schon wieder gelegt und ihr Blick fand zur gewohnten Strenge zurück.

»Los jetzt! Schuhe anziehen und nehmen Sie ihre nassen Sachen mit. Ich fahre Sie heim.«

 

***

 

Andrews Wohnungstür schwang auf und Elisabeth schob Jennifer Taylors Dienstausweis, mit dem sie die Tür geöffnet hatte, zurück in ihre Manteltasche. Andrew war verblüfft und zugleich ein wenig darüber entsetzt, wie einfach seine Wohnungstür zu öffnen war. Ein wohlplatzierter Stoß zwischen Tür und Rahmen genügte scheinbar und ein jeder konnte sich mit einem Ausweis oder einer Kreditkarte Zugang zu seinem Zuhause verschaffen.

Doch spätestens bei dem Anblick, der sich daraufhin offenbarte, würde ein jeder Einbrecher wohl auf dem Absatz kehrt machen. Jeder Laie erkannte gleich, dass es in dieser Wohnung nichts zu holen gäbe. Ein Einbrecher der alten Schule würde womöglich noch aus Mitleid eine Fünf Dollar Note auf der Küchenzeile hinterlassen, sobald er die offensichtliche Lage des Bewohners sah.

Andrew betrat seine Wohnung und blickte sich um. Alles war an seinem Platz. Es erschien glatt, als wäre er nicht einmal vom Sofa aufgestanden. War ja auch so, dachte Andrew bei sich.

»Reizend«, entglitt es Elisabeth trocken, nachdem der erste Eindruck eine Weile auf sie eingewirkt hatte. So wie sie es bereits beim Abstellen des Wagens am Straßenrand und dann erneut beim Blick das alte Treppenhaus hinauf gesagt hatte.

»Es ist klein, aber mein«, erwiderte Andrew und machte dabei eine einladende Handbewegung.

»Reizend«, wiederholte sie ein weiteres Mal und beäugte dabei die Handtücher, die die offenen Hängeschränke über seiner Küchenzeile verdecken sollten. Sie streckte ihm die Hand zum Abschied entgegen und schien dabei zu achten bloß keinen Schritt in diese Wohnung zu machen. Andrew ergriff ihre Hand und spürte sogleich ihren festen Griff, als wollte sie ihn an Ort und Stelle festhalten.

»Mr. Miller. Es waren sehr anstrengende Tage für Sie. Ich wiederhole mein Angebot, dass Sie sich ein wenig Zeit nehmen können, um das Erlebte und die … neuen Eindrücke zu verarbeiten. Wollen Sie sich nicht doch ein oder zwei Tage freinehmen?«

Erneut verpackte sie ihre Anweisung als ein höfliches Angebot. Doch schüttelte Andrew bereits ihre Hand.

»Um dann was zu tun, Mrs. Moore?«, fragte er sie eindringlich und Elisabeths Blick fiel dabei in die heruntergekommene Wohnung hinter ihm.

»Nach Wohnungsinseraten Ausschau halten?«, schlug sie vor. Ihr Blick schien sich an dem Wasserfleck über dem Sofa festgesetzt zu haben. Ein verschmitztes Lächeln zeichnete sich auf Andrews Lippen ab, als er ausschnaubte.

»Endlich eins Freizeitbeschäftigung, die zu mir passt«, erwiderte er sarkastisch. »Verstehen Sie mich doch bitte. Das Bureau hat etwas in mir geweckt, das nicht ruhen kann. Ich begreife es selbst auch nicht, kann mich dem aber auch nicht widersetzen. Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, aber so schnell werden Sie mich nicht wieder los.«

Ein Grinsen breitete sich nun auch unter ihren strengen, dunklen Augen aus. »Man wird ja noch Träumen dürfen. Morgen um neun also, Mr. Miller.«

»Morgen um neun, Mrs. Moore.«

Ihre Hand löste sich von seiner und Elisabeth zog die Tür hinter sich zu. Andrew gähnte. Sein Blick glitt von der geschlossenen Wohnungstür auf den Wandhaken dahinter und damit auf den Schlüsselbund, der dort vor sich hin wackelte. Leicht drehte sich der Basketballanhänger dabei hin und her.

»Sieh zu, dass du nächstes Mal mit mir zusammen verschwindest«, ermahnte er den Basketball, der seinen Haustürschlüssel bewachte, mit erhobenem Finger. Doch schien dieser seine Drohung einfach zu ignorieren.

Dieser Anhänger, dachte sich Andrew. Weshalb hatte er ihn eigentlich nicht im Bureau abgeben müssen? Immerhin war dieses Parakonstrukt dafür verantwortlich, dass er die Schlüssel damals nicht finden konnte. Er verfügte über eine Fertigkeit, oder ein Phänomen, oder wasauchimmer. So wie Andrew. So wie Elisabeth. Und höchstwahrscheinlich auch wie Alistair Douglas, dessen Fertigkeit irgendwie mit dem spurlosen Verschwinden aus Einbauküchen zusammenhängen musste. Wieder gähnte Andrew.

Langsam trottete er zur Küche und breitete die nasse Kleidung zum Trocknen auf der Arbeitsplatte aus. Sein Blick fiel dabei auf die kleine Uhr am Spülbecken. Mittlerweile war es kurz vor zwei. Er schlurfte weiter in sein Esswohnschlafzimmer und ließ sich dort auf dem Sofa nieder, so wie bereits einige Stunden zuvor. Vorsichtig tastete er nach der Tablettendose in seiner Hosentasche und zog sie hervor, bevor er das schiefe Etikett und die Zahl darauf anstarrte. Nun brauchte also auch er diese Tabletten. So wie seine Mentorin.

Woran sollte er erkennen, dass seine Fertigkeit reif genug war, um kultiviert werden zu können, wie Alistair Douglas es formuliert hatte? Andrew grinste über die Eigenartigkeit des Alten, während er die Rolle in der Hand drehte. Doch so wirr die Worte des Aufsehers manchmal auch wirken mochten, wusste Alistair Douglas ganz genau, was er tat. Wusste genau, wie Neugierde zu wecken war. Er hatte genau verstanden wie Andrew funktionierte, noch bevor Andrew selbst verstanden hatte, wie er eigentlich funktionierte. Erneut brannte es in ihm. Eine lodernde Neugierde, deren Flammen geradezu in seinem Hals empor züngelten und nach Befreiung lechzten. Er hustete. Es war Sodbrennen.

Die Tablettendose wanderte auf den Fernseher, auf dass er sie am nächsten Morgen nicht vergessen würde. Doch nun, nach all der Verzögerung, brauchte er endlich etwas zu essen. Tee und Krokantkekse waren nicht die ideale Kost vor der Bettruhe, selbst für einen heruntergewirtschafteten Körper wie den seinen. Sein Blick fiel auf die kalte Suppenschüssel vor ihm, aus der hoch aufgequollene Instantnudeln hervorragten, die mittlerweile einen großen Teil der scharfen Brühe aufgesogen hatten. Das entsprach schon eher seiner Vorstellung eines vernünftigen Abendessens.

 

Recherche

Siebter Februar 2002

 

Die Schritte schlugen dumpf auf dem Teppich unter seinen Schuhen auf. Betty King kam ihm entgegen, eine Tasse Kaffee in der einen, eine dicke Aktenmappe in der anderen Hand. Ihr strahlend weißes Haar hatte sie in einen dicken Zopf geflochten, der ihr weit über den blauen Rollkragenpullover reichte und auf Höhe des tief hängenden Medaillons um ihren Hals endete. Andrew fragte sich, wie viele dieser blauen Rollkragenpullover sie wohl besäße und grüßte ihr im Vorbeigehen mit einer Handbewegung zu.

»Andrew, hast du ein paar Minuten?«, fragte sie unerwartet, als er an ihr vorbei schritt. Verdutzt drehte sich Andrew um, mehr wegen ihrer direkten Ansprache, als dass sie überhaupt zu ihm sprach.

»Also, eigentlich wollte ich mich zuerst bei Mrs. Moore melden, damit sie weiß, dass ich da bin.«

»Es dauert nicht lange. Ich will dir nur etwas mitgeben«, erwiderte Betty King.

Andrew blickte weiter den Gang hinab, an deren Ende Elisabeths und sein Büro liegen musste – so hoffte er es zumindest. Tief atmete er aus und hoffte auf die wohlwollende Gnade seiner Mentorin, wenn er nur ein paar Minuten verspätet im Büro aufschlagen würde. Er nickte Betty zu, die ihm freudestrahlend den Weg wies.

»Wie war der erste Einsatz?«, fragte sie.

»Aufregend trifft es ganz gut, schätze ich.«

»Ja, das hört man öfters. Für viele ist der erste Kontakt mit einem Parakonstrukt aus nächster Nähe ein ganz besonderes Erlebnis.«

Der Anblick der erschossenen Elisabeth Moore drängte sich mit Gewalt in seinen Kopf. »Kann man wohl sagen«, erwiderte Andrew nickend.

»Manch einer sagt, den ersten Einsatz vergisst man nie«, führte Betty weiter aus.

»Ja, das fürchte ich auch«, entgegnete Andrew trocken. Sie folgten dem Flur in entgegengesetzter Richtung und trotz, dass Andrew dachte diesen soeben entlang geschritten zu sein, kamen ihm die Ecken und Weggabelungen, denen sie nun folgten, fremd vor.

»Finde ich nachher auch wieder zurück?«

»Jeder findet irgendwann wieder zurück«, lachte sie ihm über die Schulter zu. Andrew quälte sich ein höfliches Lächeln von den Lippen und blickte besorgt auf die Uhr, als Betty sich wieder abgewandt hatte. Es war kurz vor neun.

Plötzlich bog sie ab und trat einige Stufen einer breiten Treppe hinab. Es waren zu wenig Stufen, als dass sie ein ganzes Stockwerk damit hätten wechseln können. Doch jenseits der Stufen und hinter einem recht gewöhnlich wirkenden Durchgang breitete sich plötzlich ein gewaltiger Raum vor ihnen aus. Von der schieren Größe überwältigt, ließ Andrew sprachlos den Blick umherschweifen.

Mehrere Tischreihen aus schwerer Eiche zogen sich durch die Mitte des Raumes und wurden immer wieder von den bekannten ausladenden Pflanzkübeln mit großblättriger Begrünung unterbrochen. Andrew reckte den Kopf empor und starrte zur weit entfernten Decke hinauf, in deren Mitte sich ein gewaltiges, viereckiges Licht ausbreitete, von dem er auf dem ebenso leuchtend weißen Untergrund nicht klar ausmachen konnte, wo dieses begann oder endete.

Rundherum, entlang der Wände, lagen kleinere Räume, die auf Andrew zunächst wie Raucherbereiche wirkten und in der Tat irgendeine Art von Separees zu sein schienen, in die sich die Mitarbeiter zurückziehen konnten. Darüber, oberhalb dieser Räume, breitete sich eine Empore mit Galerie aus, zu denen in regelmäßigen Abständen Treppen hinaufführten. Hohe Regale reihten sich dort oben aneinander und mussten eine unvorstellbare Anzahl an Unterlagen, Dokumenten und Akten beherbergen.

Mit offenem Mund starrte Andrew in die gewaltige Halle, die mehr an eine Bibliothek als ein Büro erinnerte und vergaß darüber beinahe Betty King weiter zu folgen. Mit einem derartigen Anblick hatte er nicht gerechnet. Auf dem Abschnitt der oberen Galerie, der gegenüber des Eingangs lag, standen Rundtische mit dazu passenden Bänken. Ein dichter Pflanzenbewuchs entlang des dortigen Geländers der Galerie, trennte diesen Bereich merklich vom Rest und schien von den Mitarbeitern als Pausenbereich genutzt zu werden. Mehrere Personen standen und saßen dort oben herum, sprachen und tranken dabei Kaffee.

An den wenigsten der langen Tische im unteren Bereich saßen Mitarbeiter und lasen Lokalzeitungen aus verschiedensten Bundesstaaten oder hörten Audiobänder über Kopfhörer ab, während sie sich Notizen machten.

»Willkommen in der Rechercheabteilung«, sagte Betty stolz und wedelte mit der Aktenmappe in der Luft umher, als locke sie Laufkundschaft in einen Zirkus. Während sie an den langen Tischreihen vorbeischritten, schien sie zu jedem Namensschild darauf eine kleine Anekdote zu kennen, die sie sogleich mit Andrew teilte. Dieser, noch immer von dem überwältigenden Anblick des Raumes in seinen Bann gezogen, nickte lediglich aus Höflichkeit ein jedes Mal, wenn sie ihren dauerhaften Redefluss kurz unterbrach, hörte er doch eigentlich kaum zu. Zu überflutend waren die Eindrücke, die auf ihn einprasselten.

»Und hier ist mein Arbeitsplatz«, sagte Betty schließlich stolz und warf die Mappe geräuschvoll auf den Tisch vor sich. Der Knall ließ ihren gegenüber sitzenden Kollegen zusammen zucken, der sich diesen Arbeitsplatz mit ihr zu teilen schien. Ein hagerer Mann mit Brille und dunklen langen Haaren, in denen sich bereits silbern glänzende Strähnen abhebten, die er zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden hatte. Er schob die verrutschte Brille mit einem Finger wieder in Position und beäugte dabei die Lärmverursacherin argwöhnisch. Der Mann mochte einige Jahre älter als Elisabeth sein, doch – bei all dem, womit man im Bureau konfrontiert wurde – alterte man hier womöglich auch einfach schneller. Der eine mehr, der andere weniger. Der Mann erinnerte Andrew an jene Altstudenten vom College, die man meist in der Nähe der Computerräume umherschleichen sah.

»Betty, ein wenig mehr Respekt vor unserer Arbeit, wenn ich bitten darf«, sagte er, begutachtete die unachtsam abgeworfene Aktenmappe und lugte anschließend über seine Brillenränder zu den beiden hoch.

»Darf ich vorstellen? Sean O’Connor. Er ist hochintelligent und ein hervorragender Kollege, aber eben auch ein wenig nervig«, lachte Betty zu Andrew, als könnte Sean sie nicht hören.

»Ich muss doch sehr bitten«, entgegnete Sean trocken, schien sich aber darüber hinaus nicht weiter über Bettys Kommentar zu ärgern. Stattdessen wandte er sich wieder seiner Zeitung zu, über die er mit einem Textmarker gebeugt saß und zog diesen quietschend über das Papier, um den Satz fertig zu markieren, in den er gerade vertieft war.

»Hochintelligent ...«, wiederholte er dabei ihre Worte murrend. »Überreich es ihm und lass den Jungen dann in Frieden. Ich gehe davon aus, dass er dringlicheres zu tun hat, als sich in der Rechercheabteilung die Füße platt zu stehen. Elisabeth Moore würde ich nicht warten lassen wollen.«

Er hatte den Satz fertig markiert und wieder von seiner Zeitung aufgesehen. Vorsichtig schob er dabei seine Brille ein weiteres Mal in Position, die mehr schlecht als recht an der richtigen Stelle zu bleiben schien. Die müden, stahlgrauen Augen blitzten dabei auf, als reflektierten sie das gebrochene Licht des Brillenglases zusätzlich. Schnell warf Andrew einen erneuten Blick auf seine Uhr. Es war Punkt neun.

»Was soll sie schon machen? Ihm den Kopf abreißen?«, entgegnete Betty grinsend. Sean und Andrew tauschten Blicke aus und nickten daraufhin einstimmig.

»Auszuschließen ist das nicht«, sagte Sean O’Connor.

»Würde das dann als Arbeitsunfall zählen, Sean?«, fragte Betty mit theatralisch überzogener Neugierde.

»Das müsste man dann prüfen«, erwiderte dieser tonlos und beugte sich wieder über seine Zeitung.

»Weißt du das etwa nicht, Sean?«, bohrte Betty nach und zwinkerte Andrew dabei zu.

»Nicht direkt, nein.«

»Weißt du wo man das nachlesen könnte, Sean?«

»Vielleicht.«

»Kannst du uns das mal raussuchen, Sean?«

»Ich arbeite, Betty.«

»Sean? ... Sean?«

Doch Sean O’Connor reagierte nicht mehr, stattdessen nahm er einen Schluck aus der Tasse zu seiner Seite und schien Betty nun einfach auszublenden. Still lachte diese Andrew an, sichtlich über ihr Reiz-Reaktion Spielchen mit Sean erheitert. Mit den Jahren schien Sean seine eigene Technik entwickelt zu haben, um mit einer Kollegin wie Betty King umzugehen.

»Eigentlich ist er ja ganz nett«, sagte sie und tat so, als sei Sean derjenige, der seinen Spaß darin fand, seiner Kollegin auf den Geist zu gehen.

»Eigentlich?«, murmelte Sean trocken in das graue Zeitungspapier vor sich und markierte einige Zeilen in einem halbseitigen Artikel. Der Textmarker quietschte.

»Ich dachte du arbeitest, Sean?«, stichelte Betty erneut, als sie wieder Seans Aufmerksamkeit gewonnen hatte.

»Stimmt«, sagte dieser ebenso monoton wie die Male zuvor und vergrub die Nase tiefer in der Zeitung.

»Sei mir nicht böse Betty, aber …«, sagte Andrew und tippte nervöser werdend auf seine Armbanduhr.

»Ja, ja, natürlich. Hier ist es.«

Unter ihrem Schreibtisch zog Betty King einen Präsentkorb hervor, auf dem eine scheinbar selbst gebastelte Grußkarte thronte. Mit großer Ehrerbietung überreichte sie Andrew den Korb.

»Willkommen in der Behörde«, gratulierte Sean beinah sarkastisch, nickte Andrew dabei müde zu und verschwand erneut in seiner Zeitung, bevor Betty auf ihn hätte reagieren können. Überrascht nahm Andrew den Korb entgegen, hatte er doch mit irgendwelchen Unterlagen oder Akten gerechnet, die er für Elisabeth mitnehmen sollte. Mit einem derart opulenten Präsentkorb hatte er jedoch nicht gerechnet.

Sprachlos stellte er den Korb auf dem Tisch ab und nahm die Grußkarte in die Hand. Zwei lächelnde Strichmännchen waren darauf zu erkennen. Eines war merklich größer als das andere, trug einen langen Mantel und den unverkennbaren, dunklen Haarschnitt seiner Mentorin. Dem anderen Männchen hatte man formloses braunes Haar aufgekrakelt. Andrew grinste über die wenigen aber eindeutigen Merkmale, die Elisabeth und ihn auszumachen schienen. In großen Buchstaben stand über den beiden Figuren: Wir freuen uns! Bitte stirb nicht (direkt).

Andrew lachte laut auf und schloss nicht aus, dass Elisabeth mindestens an der Ideenfindung beteiligt war. Der schwarze Humor war sogar ein recht belastendes Indiz für ihre Beteiligung. Er öffnete die Karte und eine zusammengefaltete Liste mit Unterschriften von Kollegen der Rechercheabteilung klappte sich ihm entgegen. Die erste Unterschrift, gleich oben am Rand des eingeklebten Zettels, war Bettys. Sie hatte einen Schmetterling über ihren kunstvoll verschnörkelten Namen gemalt. Daneben fand er Seans, der mit vollem Namen unterschrieben hatte und dessen Handschrift im Verlauf der Bewegung immer stärker an die eines Arztes erinnerte. Die übrigen Namen konnte er nicht zuordnen – wie hätte er auch? Erstaunt blickte er auf und bemerkte erst jetzt eine Handvoll Mitarbeiter, die am oberen Rand der Galerie standen und zu den dreien hinabblickten.

»Wow, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, sagte er und war sowohl von der Geste als auch dem exklusiven Inhalt des Geschenkkorbs überrascht.

»Ich sagte doch, dass er sicher kein Weintrinker ist. Aber du wolltest ja unbedingt diese Merlots da drin haben«, murmelte Sean trocken in Bettys Richtung und zog den Textmarker quietschend über das Papier.

»Nein, das ist es nicht«, sagte Andrew, wohl wissend, dass Sean recht hatte. »Ich bin nur so überrascht von … Naja, ich kenne fast niemanden von diesen Namen in der Karte. Das ist einfach irgendwie … echt cool.«

»Neuzugänge kommen nicht so oft vor, wie man meinen mag. Und dann noch als Schützling bei Elisabeth zu starten ist nicht gerade ohne. Du bist bekannt wie ein bunter Hund«, entgegnete ihm Betty und zwinkerte ihm zu.

»Echt cool …«, äffte Sean Andrews Wortlaut trocken nach. »Definitiv kein Weintrinker – wie ich gesagt habe.«

»Arbeitest du nicht, Sean?«, neckte ihn Betty.

»Ja, ich arbeite, Betty«, entgegnete Sean und zog den Textmarker extra laut über die Zeitung, dass sich das Papier unter der feuchten Farbe zu wellen begann.

Andrew warf einen erneuten Blick in den Präsentkorb. Zwischen den beiden Rotweinflaschen türmten sich kleine Packungen handgemachter Pasta, in vornehmen Packpapier eingewickelter Hartkäse, Trockenwürste, Delikatessoliven und weitere kulinarische Kleinigkeiten, die funktionale Erwachsene mit Anspruch offensichtlich untereinander verschenkten. Im nächsten Moment dachte er an die verquollenen, kalten Instantnudeln, über die er sich in der Nacht wie ein ausgehungertes Tier unter dem Wasserfleck an seiner Decke hergemacht hatte. Im nächsten Moment fiel ihm auf, dass er nicht einmal einen Korkenzieher besaß, doch wollte er das in der Gegenwart Seans nicht angesprochen haben.

»So, jetzt müssen wir aber los. Ich begleite dich noch zu eurem Büro«, sagte Betty und klopfte mit Blick zu Sean auf ihren Tisch.

»Bin gleich wieder da«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme, die Andrew verriet, dass Seans Martyrium im Anschluss fortgesetzt werden würde. Dieser blätterte jedoch gelassen die Zeitung um und tat so, als habe er sie nicht gehört. Betty grinste Andrew an und nickte in die Richtung des Ausgangs.

Zu Andrews Überraschung bogen sie, nachdem sie die Treppenstufen hinaufgestiegen waren, nicht in dieselbe Richtung des Flures ab, aus welcher sie gekommen waren. Die unergründlichen Gänge des ersten Fundaments akzeptierend, trottete Andrew der quirligen, weißhaarigen Frau hinterher. Betty machte den Eindruck, dass sie genau wusste, wo sie langzugehen hatte. Doch vielleicht hegte sie lediglich ein Urvertrauen in das erste Fundament, dass sich die richtigen Flure hinter den nächsten Biegungen schon noch auftun würden. Ihrer Intuition folgend, schritt Betty zielstrebig um Ecken, vorbei an tropischer Bepflanzung in riesigen Kübeln und verwaisten Sitzgruppen mit aufgefächerten Zeitschriften auf den Tischen.

Dann erkannte Andrew sie wieder. Sie liefen auf das Ende eines Flures zu und dort wo dieser endete, konnte er die Inschrift bereits von weitem erkennen.

Moore & Miller.

Die dunkle Bürotür prangte am Ende des Flurs wie ein lang ersehntes Ziel und für einen Moment überlegte Andrew, ob sein andauerndes Sinnieren über seine Verspätung, wohl für diese herausragende Position der Tür verantwortlich war.

»Also dann, viel Erfolg!«, sagte Betty King und Andrew wusste nicht, ob sie den Arbeitstag oder das Erklären seiner Verspätung Elisabeth gegenüber meinte.

Sie klopfte ihm auf die Schulter, sodass die Flaschen in dem Korb in seinen Armen klapperten, zog an ihm vorbei und bog in einen Flur ab. Verwundert blickte Andrew ihr hinterher, war er sich doch sicher, dass dort, wo Betty gerade abgebogen war, noch vor wenigen Momenten nur ein großer Pflanzenkübel gestanden hatte.

Akzeptanz und Gewöhnung.

Andrew drehte sich zur Tür, klopfte an und trat ein.

 

Empirie

 

 

Andrew schob die Bürotür auf. Er war allein. Nur Elisabeths Mantel hing an der Garderobe hinter der Tür. Schnell warf er einen Blick auf die Wanduhr: Zehn nach neun. Beruhigt atmete Andrew aus, dass er ihr mit seiner Verspätung nicht gleich in die Arme gelaufen war.

»Sie trinken Wein?«

Der Lufthauch glitt über sein Haar, als die Worte aus nächster Nähe über seinen Scheitel hinwegzogen, während sie scheinbar einen Blick in den Korb warf, den er noch immer vor der Brust hielt. Erschrocken kreischte Andrew auf und zog den Kopf ein, als ducke er sich vor einem Raubtier weg, das nach ihm schnappte. Er riss sich herum und musste einmal tief ausatmen, während er dem kühlen Blick seiner Mentorin begegnete.

»Offenbar wirke ich so«, erwiderte Andrew schließlich und zwang sich ein kurzlebiges Lächeln ab, bevor er den Korb auf seinem Schreibtisch abstellte.

»Ohne jeden Zweifel«, bestätige sie so trocken, dass die Ironie aus jeder Silbe drang. Interessiert griff sie nach der Grußkarte im Korb.

»Soll das etwa ich sein?«, fragte Elisabeth Moore überrascht, ohne dabei den Blick von der Karte zu heben.

»Ohne jeden Zweifel«, erwiderte Andrew im selben ironischen Tonfall wie sie und setzte sich dabei. Elisabeth senkte die Karte und strafte ihn mit dem üblichen, strengen Blick, der ihn ermahnte ihre eigenen Waffen nicht gegen sie zu richten.

»Dafür hat Betty Sie aber ganz gut getroffen, wie ich finde«, sagte sie und drapierte die Karte wieder auf dem Präsentkorb, bevor sie Andrew gegenüber Platz nahm. Ein zufriedenes Blubbern gurgelte aus dem Wasserspender in der Ecke hinter ihm.

»Also, was machen wir heute Schönes?«, fragte Andrew neugierig, ignorierte damit ihren Kommentar und beäugte stattdessen einen Stapel Papiere auf Elisabeths Tisch. Wie zu erwarten war, tippte sie lediglich mit einem Finger darauf.