das Fahrrad der ewigen Stille - hedda fischer - E-Book

das Fahrrad der ewigen Stille E-Book

hedda fischer

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Beschreibung

Ein junger Mann, der seine Phantasien auslebt, der tötet, um das absolute Machtgefühl zu erreichen, der tötet, um nicht verraten zu werden ...

Das E-Book das Fahrrad der ewigen Stille wird angeboten von tredition und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Berlin, unsichtbar, Frauenmörder

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Hat der junge Benjamin keine Chancen im Leben ?

Doch – er hat sie. Aber er nutzt sie nicht.

Er stellt sich sein Leben aufregender vor. Allerdings kann er über seine Vorstellungen mit niemandem sprechen. Und genau das würde er gerne tun. Er möchte seine Ideen erklären, herausfinden, ob andere dieselben haben, sich aber nicht trauen, sie umzusetzen.

Er kann es. Er traut sich. Er ist besser, er ist unsichtbar, noch nicht gefasst, noch nicht einmal erkannt worden. Er wird weitermachen, da es immer wieder Frauen gibt, die ihn anmachen und ihm letztendlich dieses wahnsinnige Machtgefühl verschaffen, das er braucht.

Der Gedanke, Macht über andere - über Frauen - auszuüben, wird übermächtig. Und er tötet, um nicht verraten zu werden.

Er ist immer allein.

Aber allein fühlt er sich stark.

Er hat gelernt sich durchzusetzen.

hedda fischer

das Fahrrad der ewigen Stille

Hedda Fischer, Geburtsjahr 1945, erlebte Kindheit, Schulzeit, Jugend in Berlin. 1988 kehrte sie nach einigen Jahren im Ausland nach Deutschland zurück. Es folgten Arbeitsjahre als Sekretärin in verschiedenen Ingenieurbüros. 2006 Umzug von Berlin nach Heilbronn.

Endlich blieb Zeit zum Schreiben.

Zwei Kriminalromane sind entstanden: „naguanagua“ und „posta mortale … wenn Briefe töten“, außerdem Kurzgeschichten in den Anthologien „Familienbande“ und „MordsKunst“.

das Fahrrad der ewigen Stille

Alle Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Personen:

Benjamin Grossmann

ein junger Mann, der sich benachteiligt fühlt und schließlich auf ungewöhnliche Art Macht erlangt ( meint er )

Valentina Grossmann

seine Mutter, die sich durch das Leben kämpft bis sie das große Los zieht

Otto und Laura Grossmann

Bruder und Schwägerin der Mutter, die den jungen Mann schließlich bei sich aufnehmen

Paula Grossmann

die Großmutter, die schlecht zu Fuß ist und sich so ihre Gedanken macht

Moritz und Kai Müller

die unausstehlichen Zwillinge

Noah Wegner

der Freund aus dem Lessing-Gymnasium

Sven und Richard

die Besitzer der Autowerkstatt

Otmar Grisebach

der Trainer

Armin Grützke

der Chef der Eisenwarenhandlung Sommermeyer

Susanne Beil

Kollegin bei der Firma Sommermeyer, fast ein Mutterersatz

Marianne Kampe

die Rentnerin, die ihm gewogen ist und die einzige, bei der er sich wohlfühlt

Hauptkommissar Maximilian Ulm

ermittelt wegen der ermordeten Frauen

Hauptkommissar Martin Görner

der zweite Mann, der gerne der Chef geblieben wäre

Hauptkommissar Lutz Winter

übernimmt die Sonderkommission

Clara Heyer

seine Freundin

1 – Vorspann

Hauptkommissar Winter betrachtete den jungen Mann, der ihm - durch einen Tisch getrennt - gegenüber saß. Er seufzte innerlich.

Es ist immer wieder dasselbe, dachte er, ein halbwegs vernachlässigtes Kind, ein Jugendlicher, der mit der Schule und überhaupt mit dem Leben nicht zurecht kommt, sich in eine Traumwelt begibt, sich weiß Gott was einbildet, Macht-Phantasien entwickelt und sie letztendlich sogar auslebt …

Nur wenige konnten sich aus dieser Spirale befreien. Zu oft hatte er das in seinen langen Dienstjahren miterlebt, es war nachgerade langweilig. Und er hatte keine Lust, mit dem jungen Mann zu diskutieren, sich dessen angeblich gute Beweggründe anzuhören, sich dessen Leben erklären zu lassen. Schon gar nicht zu dieser unchristlichen Zeit.

Am liebsten hätte er jetzt in einem bequemen Sessel gesessen, zurückgelehnt, richtig guten alten Whisky getrunken und eine Zigarre geraucht. Und Clara auf dem dunkelblauen Kissen zu seinen Füßen, nackt, zwischen seinen Beinen an ein Knie gelehnt, so dass er bequem ihren Nacken, ihre Haare oder ihre Brüste streicheln könnte …

Es war inzwischen fast drei Uhr morgens. Sie hatten den jungen Mann vor einer guten halben Stunde gefasst, nach wochenlangen Ermittlungen. Kollege Zufall hatte geholfen, wie so oft. Winter holte seine Gedanken zum Wesentlichen zurück. Die Befragung. Heißer Tee wurde gebracht. Der Recorder wurde angestellt. Winter straffte sich.

2 – Benjamin ( 11 Jahre )

Er lehnte halb verdeckt hinter einem Strauch am Zaun und beobachtete die Haustür. Seine Mutter war in der Wohnung, das wusste er, er sah schließlich das Licht, aber sie war vermutlich nicht allein, das wusste er aber nicht mit Sicherheit. Was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie demnächst das Haus verlassen müsste, da die Putzkolonne, in der sie momentan arbeitete, Abendschicht hatte. Das hieß: von 18 bis 24 Uhr Büros putzen. Einen anderen Job hatte sie nicht. Schon seit Jahren nicht. Er fragte sich schon gar nicht mehr warum.

Nach einer guten Viertelstunde ging das Licht im Treppenhaus an. Es war um diese Zeit – gegen 17 Uhr – noch recht hell, aber das Treppenhaus war durch die halbhoch mittelgrau gestrichenen Wände immer düster. Unebene Ölfarbe. Die hellen Wände darüber oft mit Graffiti verschönert, auch mit seinen, wenn er denn Geld für einen dicken schwarzen Marker ausgeben konnte. Er schlenderte zur Haustür. Als er sie erreicht hatte, öffnete sie sich, und seine Mutter trat zusammen mit einem Mann aus dem Haus. Er tat so, als ob er gerade eben von der Nachmittagsbetreuung heimgekommen wäre. Dabei war er schon seit Wochen nicht mehr hingegangen.

Seine Mutter begrüßte ihn erfreut. Küsste ihn auf die Wange und strubbelte sein Haar. Das war ein gutes Zeichen, denn das hieß, dass der Mann an ihrer Seite sie gut behandelt hatte. Er kannte ihn nicht. Unsympathisch war er ihm auf jeden Fall. Unsympathisch waren ihm alle, die seine Mutter mitbrachte. Ganz egal, ob ihn einer freundlich ansprach, ihm Geld schenkte, ihn wie einen Erwachsenen behandelte. Er konnte keinen gebrauchen, er wollte seine Mutter für sich. Sie hatten immer zusammen gelebt, waren eine Einheit. Den echten Vater hatte er nicht zu Gesicht bekommen, besser gesagt, er erinnerte sich überhaupt nicht.

Er fühlte sich mit seinen elf Jahren alt genug, um auf seine Mutter aufzupassen, sie zu beschützen, sie zu ernähren. Was natürlich Unsinn war. Das war ihm auch irgendwie bewusst, drang aber nicht so recht bis zu seinem Gehirn vor. Die meiste Zeit fühlte er sich durchaus imstande, die Schule zu schmeißen, einen Job als Aushilfe in einem Geschäft, als Zeitungsausträger, als Gehilfe auf dem Markt zu erledigen und damit Geld zu verdienen. Er war zwar nur mittelgroß, aber kräftig.

Einer der zahlreichen Freunde seiner Mutter hatte ihn einmal wegen einer angeblich frechen Bemerkung geohrfeigt, und er hatte sich nicht wehren können. Daraufhin hatte er beschlossen, seine Muskeln zu trainieren. Heimlich hatte er im Keller die schweren Holzklötze eines Nachbarn gestemmt. Zwanzigmal, fünfzigmal hintereinander. Eines Tages hatte der Nachbar ihn dabei beobachtet und ihm Tipps gegeben, wie er richtig stehen, richtig die Arme bewegen und auch die Beine einsetzen musste. Zwar lief ihm nach kurzer Zeit der Schweiß herunter, und der Muskelkater wollte gar nicht mehr aufhören. Aber dann – nach rund drei Wochen – bemerkte er Fortschritte. Die Klötze schienen leichter zu werden, Arme und Beine schmerzten nicht mehr so sehr. Muskeln hatten sich noch nicht gebildet, aber wenn er seine Oberarme befühlte, schienen sie härter geworden zu sein.

Er übte auf dem Schulhof den ’knallharten Blick’ – wie Jackie Chan in den Kung-Fu-Filmen -, um die anderen in Schach zu halten. Die anderen, das waren die Jungs aus seiner Klasse, die ihn wegen seines Namens hänselten. Er hörte die höhnischen Stimmen jeden Tag.

Sie waren nicht unbedingt größer oder stärker als er, hatten aber mehr Selbstbewusstsein, besaßen die richtigen Sachen, Handys, gute Turnschuhe, coole Klamotten. Das alles hatte er nicht. Was daran lag, dass seine Mutter zeitweise gar nichts und wenn, dann nur wenig verdiente. Irgendwie ungerecht war das schon. Aber ändern konnte er es nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht.

Seine Mutter hängte sich bei dem Mann ein, sagte im Vorbeigehen, er solle brav sein und zu Hause bleiben, und dann machten sich die beiden auf den Weg. Sie drehte sich nicht mal um. Natürlich blieb er zu Hause.

Was sollte er denn sonst tun?

Taschengeld bekam er nur wenig, und diesen Monat hatte er ohnehin schon fast alles ausgegeben. In seiner Hosentasche befanden sich noch ein Euro fünfzig. Aber damit konnte er nicht ins Kino gehen - allein war das sowieso langweilig -, sich keine Bratwurst kaufen, es reichte allenfalls für eine Tüte Chips zu 99 Cent. Dann blieben ihm noch 51 Cent für morgen. Oder er kaufte sich jetzt Kaugummi, und damit wäre das ganze Geld weg. Er ärgerte sich, dass er gestern für 2,49 Kuchen vom Vortag gekauft hatte. Die Hälfte hätte es auch getan.

Langsam stieg er die Treppe hoch bis zum fünften Stock. Er nahm nie den Aufzug, weil er das Treppensteigen gut für seine Kondition hielt. Abgesehen davon, man wusste nicht, wer sich mit in den Aufzug drängte. Wenn er Pech hatte, stiegen die Zwillinge aus dem dritten Stock ein, hielten ihn fest und durchsuchten seine Taschen nach Brauchbarem. Sie waren drei Jahre älter und größer als er. Gegen sie kam er nicht an. Wenn er ihnen auf der Treppe begegnete – was eher selten vorkam – hatte er gute Chancen zu entkommen, denn er war schnell. Wenn er nach oben rannte, drückte er im Vorbeilaufen auf sämtliche Klingelknöpfe, so dass die Leute die Köpfe aus den Türen steckten, sich beschwerten, und die Zwillinge aufgaben. Wenn er nach unten rannte, war er blitzschnell aus der Haustür und in einer der anliegenden Straßen verschwunden. Die Zwillinge machten sich nie die Mühe, ihn ernsthaft zu verfolgen. Sie wussten nur zu gut, dass er ihnen wieder einmal über den Weg laufen würde.

Auch konnte es sein, dass andere Hausbewohner im Aufzug einen prüfenden Blick auf ihn warfen und lauthals über seine Mutter sprachen ( als ob er gar nicht vorhanden wäre ). Und sie sprachen nichts Gutes. Es klang immer abfällig, obwohl er nicht so richtig einordnen konnte warum eigentlich. Er fühlte dann, dass er rot wurde, blickte zu Boden, und schwor sich, diesen Leuten eines Tages eine reinzuhauen, aber so richtig.

Im Kühlschrank fand er Salami und Käse, schnitt sich einige Scheiben Brot ab, nahm alles mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Auf dem Tisch davor standen eine Flasche klarer Schnaps und zwei Gläser. An einem sah er Lippenstift. Er roch an dem Glas und ließ den winzigen Rest auf seine Zunge tropfen. Er schmeckte grässlich. Im Vorabendprogramm lief die „Lindenstraße“. Von dieser Serie kannte er bereits alle Folgen, aber da er nichts Interessanteres fand, sah er erst einmal zu. Der gemütliche Abend konnte beginnen.

Viertel nach zwölf war seine Mutter noch immer nicht nach Hause gekommen, und er fragte sich, ob sie mit zu dem Mann gegangen war. Eigentlich war er müde, aber es hatte noch einer der Filme angefangen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet waren ( wie es im Vorspann immer so schön hieß ), der ihn aber interessierte. Er zwang sich, die Augen offen zu halten, wenn Leute verprügelt oder gefoltert wurden und Blut floss. Auch wenn er manche Szenen nicht ansehen mochte, weil sie ihn erschreckten, zugegeben hätte er das nie. Danach konnte er mitunter nicht einschlafen oder er fand sich, mit eingeschlafenen Gliedern und verrenktem Nacken, um zwei Uhr morgens auf dem Sofa wieder und wusste gar nicht, wie der Film ausgegangen war.

3 – Mutter Valentina

Benjamin wurde in die Möwensee-Schule eingeschult. Sie lag nicht weit von ihrer damaligen Wohnung in der Otawistraße entfernt. Zu Fuß - sogar mit seinen kleinen Füssen und den kurzen Beinen - in fünfzehn Minuten zu erreichen. Er war ja eher ein kleines Kind, klein, aber stämmig. Er war voller Vorfreude an ihrer Hand dorthin getrabt. Und die ersten zwei-drei Jahre ließen sich auch gut an. Er war aufmerksam, kam gut mit. Doch irgendwann kam er mit den anderen Jungs nicht mehr zurecht. Warum, wusste sie nicht. Er wurde aggressiv und schlug um sich, wenn sie ihn ärgerten, und dann hänselten sie ihn noch mehr. Allein gegen mehrere konnte er sich nicht wehren. Einen richtigen Freund hatte er ab der dritten Klasse nicht mehr, da der einzige, Lars Meyer, mit seiner Familie in einen anderen Bezirk gezogen war. Vater Meyer, das war auch so einer, von einem Job in den nächsten. Aber diesmal schien es etwas Besseres zu sein. Denn sie zogen nach Wilmersdorf, eine recht feine Gegend, nicht so fein wie Zehlendorf oder Charlottenburg, aber zumindest feiner als Wedding. Und unendlich weit weg. Zumindest für kleine Jungen.

Danach konnte sich Benjamin mit keinem anderen mehr anfreunden. Er wurde auch nicht zu Geburtstagen eingeladen. Kinder können sehr grausam sein.

Mit Mädchen ging es besser. Mit denen konnte er reden und spielen. Und wenn sie ihn akzeptierten, machte es ihm nichts aus, dass die anderen Jungen ihn belächelten. Bei den Mädchen war er der Star, weil er mehr Kraft hatte, wenn es darum ging, einen Ball zu werfen, auf einen Baum zu klettern, ohne sich darum zu kümmern, ob die Kleidung verschmutzt oder zerrissen wurde, Papierkörbe umzuwerfen, ohne die Strafe zu fürchten beziehungsweise sie mit einem Achselzucken abzutun. Entsetzlich, wie er manchmal nach Hause kam ! Aber sie war froh, dass er überhaupt mit anderen unterwegs war.

Er war ohnehin erwachsener als andere Kinder, weil er schon mit sechs-acht Jahren viel allein war ( sie ging ja immer arbeiten ), einkaufen gehen musste, einen eigenen Schlüssel besaß, sein Leben zum Teil selbst bestimmte. Sich auch erwachsen fühlte, wenn sie mit ihm wie mit einem Erwachsenen sprach. Er versuchte, es ihr recht zu machen, was nicht immer gelang. Sie wusste durchaus, dass er komplette Nachmittage vor dem Fernseher herumhing, anstatt seine Hausaufgaben zu erledigen, konnte allerdings nichts dagegen tun. Oder er vergaß, einkaufen zu gehen, obwohl sie ihm einen Einkaufszettel und Geld hingelegt hatte. Erst viel später erfuhr sie, dass er es nicht vergessen, sondern sich in die Wohnung geflüchtet hatte, wenn er von den Zwillingen verfolgt wurde und sich nicht wieder hinaus traute, aber nicht wagte, ihr das zu gestehen.

Und sie schimpfte auch noch mit ihm. Er wollte nicht, dass sie sich einmischte. Das hätte ausgesehen, als ob er ein Muttersöhnchen wäre. Und das war er ganz sicher nicht.

Natürlich berührte sie ihn, wenn sie ihn badete. Und das tat sie lange Zeit. Denn auch wenn er allein in die Wanne kletterte, freute er sich, wenn sie das Badezimmer betrat, ihn einseifte, überall. Ihr machte es Spaß und auch ihm schien es Spaß zu machen. Seine weiche Haut. Sein kleiner Penis, der sich erfreut aufrichtete.

Im Großen und Ganzen kam er gut allein zurecht, würde sie sagen.

Ihre Mutter war nicht dieser Ansicht. Man könne ein so kleines Kind nicht dauernd allein lassen, bekam sie oft zu hören. Aber er war gar nicht so viel allein. Allenfalls an den Abenden, an denen sie arbeiten gehen musste.

Schulisch gesehen hatte er sich letztendlich doch angestrengt und war mit elf Jahren ins Lessing-Gymnasium gewechselt. Auch dort war er nicht der beliebteste. Woran es lag ? Das wusste sie nicht. Es war ja nicht der Fall, dass er unfreundlich zu den Klassenkameraden gewesen wäre, dass er nichts auslieh, dass er unsportlich war. Nein, er kam aus einer anderen Schicht, obwohl der Bezirk Wedding nicht gerade mit wohlhabenden Leuten gesegnet war. Aber er hatte weniger Taschengeld als die anderen. Das war aufgrund ihres Gehaltes so. Sie ließen es ihn spüren. Wobei durchaus unklar war, weshalb die anderen mehr Taschengeld hatten. Auch andere Eltern waren nicht gerade gut gestellt. Wurde da geklaut ? Heimlich Geld aus dem Portemonnaie der Mutter genommen ?

So nach und nach passte er im Unterricht weniger auf, hörte nicht zu, begriff den Stoff nicht mehr. Sie merkte das erst viel später. Bei den wirklich guten Klassenkameraden nachzufragen traute er sich nicht. Einer wohnte in ihrer Straße, dieser Noah. Denn zu diesem Zeitpunkt waren sie schon in die Cambridger Straße umgezogen. Eigentlich hätten die beiden zusammen zur Schule und nach Hause gehen können. Aber das geschah selten. Sie gingen oft nur hintereinander her. Vielleicht lag es auch an Noahs Familie. War ja auch nicht das Wahre ! Der Vater kellnerte in dem Restaurant des Kaufhauses Wertheim in der Schlossstraße. Sechs Tage die Woche. Zumindest kam er abends nach Hause und musste nicht - wie andere - die halbe Nacht arbeiten und vielleicht noch mit Kollegen einen trinken gehen. Die Mutter ? Sie wusste es nicht.

Sie sagte oft zu ihm

»Nun lade doch mal einen von deinen neuen Klassenkameraden ein.«

Darauf antwortete er gar nicht. Sie wusste nie warum.

Das änderte sich eines Mittwochs ( sie stand gerade auf dem Balkon ), als die Zwillinge aus der dritten Etage Noah in die Zange nahmen und versuchten, ihm seinen Schulrucksack zu entreißen. Noah wehrte sich. Sie boxten ihn, und sie waren zu zweit. Benjamin sah es auch, zögerte nur einen winzigen Moment und rannte hinzu. Schlug auf einen der beiden ein, sie wusste nicht, ob es Moritz oder Kai war, sie konnte die beiden ohnehin nicht auseinanderhalten. War ja auch egal.

Nach kurzer Zeit ließen die Jungen voneinander ab, keiner hatte gewonnen, aber die Angreifer hatten zumindest den Rucksack nicht entwenden können. Schwer atmend blieben sie stehen und sahen sich an. Die Zwillinge wechselten einen Blick, sagten im Weggehen zu Benjamin etwas. Später erzählte er, dass sie ihm gedroht hatten.

»Pass auf, wenn wir dich allein erwischen …«

Sie fragte nach, aber der Sohn winkte ab.

Damit würde er schon fertig, sagte er.

4 – Benjamin ( 12 Jahre )

Noah und er wischten sich nach der Prügelei verlegen die Hände an den Jeans ab, räusperten sich und gingen schweigend die paar Schritte weiter bis zu dem Block, in dem Noah mit seiner Familie wohnte.

»Komm mit ’rein«, sagte der kurz.

Benjamin nickte und folgte ihm. Die Wegners wohnten in der ersten Etage, in der sich die größeren Wohnungen befanden. Auch Noah hatte einen eigenen Schlüssel. Er schloss auf und rief:

»Ich bin da.«

Eine alte Frau erschien in der Küchentür. Noah gab ihr einen Kuss auf die Wange. War das die Mutter ? Nein, es war die Oma. Er wurde kurz vorgestellt. Noah winkte ihn in sein Zimmer, ging dann in die Küche und holte zwei eiskalte Colas. Sie setzten sich, Noah auf das Bett, Benjamin auf den Schreibtischstuhl. Sie schwiegen einen Moment.

»Kennst du die beiden ?«

»Ja«, sagte Benjamin, »sie wohnen in meinem Block im dritten Stock. Ich sehe sie nicht so oft, sie gehen auf eine andere Schule, aber sie versuchen immer wieder, mich zu beklauen.«

Ein Moment Pause. Dann setzte er hinzu:

»Aber sie schaffen es nicht.«

Das stimmte nicht ganz, aber er wollte nicht zugeben, dass er meist der Unterlegene war. Er hatte Kraft und konnte zuschlagen, aber gegen zwei kam er nicht an, schon gar nicht, wenn sie ihn unglücklicherweise in eine Haus- oder Park-Ecke gedrängt hatten.

Von dem Tag an gingen sie ab und zu zusammen von der Schule bis in die Cambridger Straße. Für ihn fühlte es sich so an, als ob sie befreundet wären. Er trödelte oft herum, um auf Noah zu warten. Aber der unterhielt sich mit Klassenkameraden, zog Benjamin nicht mit ins Gespräch, ging einen anderen Weg oder spielte gleich nach der Schule beim BSC Rehberge Fußball. Der Club lag in der Afrikanischen Straße, nicht weit von Schule und Wohnung entfernt. Benjamin war einmal dorthin gegangen, hatte so getan, als wäre er zufällig vorbeigekommen und eigentlich hatte er mitspielen wollen. Der Trainer hatte gefragt, ob er Mitglied wäre und als er das verneinte, ob er Mitglied werden wolle … Er hatte die Schultern gehoben. Sich nicht getraut, nach der Beitragshöhe zu fragen. Getan, als ob es ihm egal wäre, ob er nun mitmachen durfte oder nicht. Dabei wünschte er es sich. Wünschte sich, irgendwo dazu zu gehören. Sich mit anderen auszutauschen. Freunde zu haben.

Einen Sonnabendnachmittag waren Noah und Benjamin zum Olympia-Stadion gefahren. Das hatte sich eher zufällig ergeben, denn er hatte Taschengeld bekommen – diesmal reichlich, was damit zusammenhing, dass seine Mutter ihn aus dem Weg haben wollte, weil sie einen neuen Bekannten mitbringen wollte.

Ihm war die Sache sofort klar gewesen. Denn diese Situation kannte er seit Jahren. Wenn seine Mutter freundlich und aufmerksam war, mit ihm neue Kleidung kaufen ging, sich überhaupt für ihn interessierte, dann stand ein neuer Mann ins Haus. Sie trank dann nicht viel, nur eben so viel, um bei Laune zu bleiben. Sie ging zum Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen. Sie kochte. Die Wohnung wurde geputzt. Sie tat alles, was richtige Mütter eben so tun.

Er hatte im Vorübergehen auf Plakaten gelesen, dass das Olympia-Stadion einen Tag der Offenen Tür veranstaltete, an dem man sich alles ansehen konnte und an dem Sportvereine Informationstische aufstellen würden. Also waren Noah und er Sonnabendmittag zum Stadion gefahren. Man brauchte zwar noch eine Jacke, aber eine Jeansjacke reichte, die Sonne schien. Sie waren ausgezeichneter Stimmung, redeten laut, sogar Noah, der sonst eher der ruhige Typ war. Sie blödelten herum, lästerten über die Mitfahrenden in der U-Bahn, fühlten sich stark und unangreifbar.

Die verschiedensten Vereine hatten Tische aufgestellt, Flyer ausgelegt, Landkarten aufgehängt, Vereinserfolge aufgelistet. Da gab alles: Fußball, Handball, Tischtennis, Radfahren, Tennis, Hockey, Basketball, Leichtathletik, sogar Voltigieren … einfach alles ! An jedem Stand waren Mitglieder, Trainer und junge Leute zugange, die Fragen beantworteten und neue Mitglieder anlocken wollten.

Noah und Benjamin schlenderten herum. Tennis kam gar nicht in Frage, zu teuer. Und all diese feinen Clubs, da hätten sie gar nicht gewusst, wie sie sich benehmen sollten. Tischtennis ? Nein, dieses schnelle Hin- und Herspringen lag beiden nicht, hinzu kam, dass Benjamin Muskelmasse hatte und sich nicht schnell bewegte. Langsam war einfach cooler. Für Basketball waren beide zu klein. Hockey – egal ob Rasen- oder Eishockey – kam auch nicht so recht in Frage. Außerdem hatte er noch nie Schlittschuhe an den Füssen gehabt. Und bei Noah herrschte auch nicht so ein Wohlstand, dass er eine Beteiligung ins Auge gefasst hätte. Voltigieren ? Noah sah sich die Informationen genau an. Nein, für Benjamin war das nichts. Das machten nur kleine Mädchen.

»Wo willst du denn das Pferd hintun ?« fragte er grinsend, »auf den Balkon ?«

»Ich hätte gern eins«, sagte Noah.

Benjamin sah ihn überrascht an. Das hatte nachdenklich geklungen.

»Wäre schön, so ein Tier«, sagte Noah, ein wenig verlegen. Er sah ihn nicht an, sondern guckte in der Gegend herum.

»Naja«, sagte Benjamin zögernd, »aber ein Pferd ? Nimm doch einen Hund.«

»Geht auch nicht«, sagte Noah, »wo soll der tagsüber bleiben ? Meine Eltern arbeiten, ich gehe zur Schule, und Oma kann nicht gut laufen.«

Ein Moment des Schweigens.

»Aber ich hätte schon gern ein Tier … «

Sie schlenderten schweigend weiter, kamen an den Stand des Radsportvereins RC Charlottenburg. Dort standen keine anderen Leute, daher konnten sie die ausgelegten Informationen in aller Ruhe in Augenschein nehmen. Es stellte sich heraus, dass Jungen jeden Alters mitmachen konnten, besser gesagt mindestens fünf Jahre alt sollte man schon sein. Wer kein Fahrrad besaß und sich auch keins leisten konnte, bekam erst einmal eins gestellt, das er allerdings nicht mit nach Hause nehmen durfte, weil es von mehreren Jungen benutzt werden musste. So viel Material hatte der Club nun auch nicht zur Verfügung.

Sie durften verschiedene Fahrräder ausprobieren. Der Trainer sah zu. Benjamin fühlte sich beschwingt wie schon lange nicht mehr. Ein Fahrrad hatte er nur in frühen Jahren besessen, das letzte stand wahrscheinlich - ihm längst zu klein geworden - noch im Keller. Hier gab es neue Modelle. Leicht und leichtgängig, obwohl es sicher nicht die teuersten waren.

Er war begeistert. Ließ sich die Gänge erklären, fuhr eine weitere Runde, wechselte auf eine andere Bauart, eine andere Marke. Er besprach sich mit dem Trainer, einem etwa 30jährigen Mann, der sich als Otmar Grisebach vorgestellt hatte ( »sagt einfach Otmar zu mir« ), ließ sich genau erklären, wie richtiges Training vor sich ging. Was er tun musste. Tun sollte.

Otmar hatte seine Begeisterung sofort erkannt. Er besah sich seine Statur, ahnte, dass er Krafttraining gemacht hatte. Davon zeugten seine Schulter- und Armmuskeln. Nachwuchs konnte der Club gut gebrauchen. Sie verabredeten sich für den kommenden Sonnabendnachmittag, damit sie die näheren Einzelheiten besprechen konnten. Er machte sich vergnügt auf den Rückweg. Endlich hatte er eine Sportart gefunden, die ihn interessierte, die er ausüben konnte. Allein ausüben konnte. Sich nicht anderen anpassen musste, wie zum Beispiel beim Fußball, wo es ja darauf ankam, Teamgeist zu entwickeln, nicht alles allein machen zu wollen, sondern mitzuspielen. In dem Moment war ihm allerdings nicht klar, dass er auch beim Radfahren mit andern zusammenarbeiten musste. Sicher anfangs, wenn er noch nicht der große Star war.

Auf der Rückfahrt in der U-Bahn sprachen sie ausführlich darüber, und Benjamin konnte Noah überzeugen, dass der es auch unbedingt probieren müsste. Allein wäre er zwar auch hingegangen, aber mit Noah zusammen wäre alles viel besser.

Noah zögerte. Er fühlte sich in der Fußballjugend beim BSC Rehberge als Rechtsverteidiger oder Mittelfeldspieler wohl. An sich wollte er lieber als Stürmer spielen, aber da hatte er keine Chance. Es gab zu viele, die diese Position ausfüllen konnten. Letztendlich entschloss er sich, am nächsten Sonnabend einfach mal mitzugehen.

Benjamin war begeistert. Endlich ein Freund ! Einer, der mit ihm zusammen Sport machen würde, der ihm vielleicht auch bei den Hausaufgaben helfen könnte. Er entwickelte sofort Pläne: Jeden Tag zusammen sein, Schule und Sport. Vielleicht auch mal eine Reise – später, wenn er Geld verdient hätte. A propos Geld: Er musste jetzt ernsthaft Geld verdienen. Beitrag für den Verein. Ein Fahrrad. Das einzige, was in Frage kam: Zeitungen austragen. Allerdings wusste er nicht, wie er an diesen Job kommen konnte. Noah wusste Bescheid. Für den Bezirk Wedding kam an sich nur die Berliner Morgenpost in Frage. Den Tagesspiegel las hier kaum einer, und die Bildzeitung kauften sich morgens alle selber auf dem Weg zur Arbeit.

Also machten sie sich drei Tage später zu Fuß auf den Weg in die Thyssenstraße in Wittenau. Dort befand sich die Zustellagentur, die die Leute einteilte. An sich hätte er erst einmal seine Daten angeben und ein Vorstellungsgespräch führen müssen. Aber nach einigem Hin- und Her-Telefonieren kam die Sache in Gang, was hauptsächlich daran lag, dass sie wieder einmal knapp an Austrägern waren. Sie hielten ihn für zu jung. Aber er bekam dann doch probeweise den Job, musste eine komplette Woche mit einem Partner mitgehen, der die Kunden kannte. Das hieß, um halb vier Uhr aufstehen, zur Ablagestelle gehen, die Zeitungspakete annehmen, auf einen Bollerwagen laden und sich auf den Weg machen.

Die Runde dauerte mehr oder weniger anderthalb Stunden. Dafür bekam er in der ersten Woche nur ein Taschengeld, dann aber einen Stundenlohn von 4,15 Euro. Hochgerechnet hieß das, dass er pro Woche über 40 Euro bekommen würde, pro Monat gut 170 Euro, eine Riesensumme. Er fühlte sich als Millionär und sah unendliche Möglichkeiten. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen ? In Kauf nehmen müsste er allerdings das tägliche frühe Aufstehen, da er die Runde für die Abonnenten sehr früh und für sich vor der Schule erledigen musste. Aber dazu fühlte er sich durchaus imstande.

Sonnabend am frühen Nachmittag machten sie sich auf den Weg zu dem Fahrradclub. Er hatte den Tag kaum erwarten können. Otmar nahm sie in Empfang, führte sie herum, stellte sie den anderen vor und erklärte die Abläufe. Kinder fuhren auf kleinen Fahrrädern auf dem Platz vor dem Clubhaus in Schlangenlinien um orangefarbene Hütchen herum.

Lächerlich ! Sie waren ja schon älter, würden das wohl kaum machen müssen. Er irrte sich. Sie bekamen Helme angepasst, die Fahrräder wurden auf die richtige Höhe eingestellt, und dann ging es los. Erst einmal mehrmals rund um den Platz, dann enge Kreise, dann doch um die Hütchen, erst rechts herum, dann links herum. Otmar beobachtete genau.

Was sie sich vorstellten, wurden sie gefragt.

Er hatte sich die Antwort vorher genau überlegt:

»Ich will Radrennfahrer werden«, sagte er.

»Da wirst du viel trainieren müssen«, antwortete Otmar, »sowohl im Fahren als auch mit Krafttraining.«

»Das macht mir nichts aus«, sagte Benjamin, zog wie zufällig sein Sweatshirt aus und präsentierte seine Oberarmmuskeln. Die waren nicht so ohne, die konnte er zeigen. Angegriffen hatte ihn schon lange keiner mehr. Sie wussten alle, was ihnen dann blühte.

»Gut«, sagte Otmar und wandte sich Noah zu.

5 – die Oma

Ick hab’s ja immer jesagt, man kann een kleenet Kind nich’ dauernd allene lassen. Aber meine Tochter weeß ja allet besser. Sie ginge doch nur abends arbeiten, sagt se. Wat denn – abends ? Fragte ick ihr immer. In einer Bar oder wat ? Das hatte sie sicher ’ne janze Weile jemacht, denn woher kannte die denn all die Männer ? Doch wohl nich’ von ihren Putzjob !

Wenn ick mal zu Besuch kam, was ja nich’ so häufig war - ick wohne zwar nich‘ weit weg, aber ick bin schlecht zu Fuß -, da hockte in der Wohnung oft jenug een Typ herum und spielte sich als Hausherr uff.

Und der kleene Benjamin tat mir leid. Er saß dann mit auf der Couch, trank eine Cola ( unjesund, dat Zeug ) und hörte den Gesprächen zu. Mitunter is’ mir der Jedanke jekommen, dass er absichtlich sitzen blieb, um seine Mutter und den Mann zu ärgern. Er überhörte alle Aufforderungen, draußen auf der Straße zu spielen oder in’t Kino zu jehen. Nur damit se freie Bahn hätten ! Det se nun mit dem Mann in’t Bette jing, wenn der Junge mit in der Wohnung war. Nee, det tat se nun doch nich’.

Er war eifersüchtig. Dat sah ick doch sofort. Wollte seine Mutter für sich. Aber die Männer, die se anschleppte, waren ja auch nüscht rechtes. Allet so schwache Typen, vermutlich arbeitslos oder so … Sein Vadder war ja auch so eener jewesen. Kaum hatte der Arbeit, schmiss er sie auch schon wieder hin, weil der Chef det und det jesagt hatte und er sich das sicher nich‘ gefallen liesse und so weiter und so weiter. Da habe ick jesehen, was aus einem solchen Menschen wurde. Jobs hier und da, schlecht bezahlt, dann die ach so sicheren Jeschäfte mit faulen Kumpels, schließlich Einbrüche und Jefängnis.

Ihn mussten se ja fassen, so dämlich wie der war. Hielt sich immer für den großen Zampano, war aber nur ein kleenet Licht, ein Handlanger, der sich och noch einbildete, dass die anderen es ihm vergelten täten, wenn er den Mund hielt und ihre Namen nich’ verriet. Taten se aber jar nich’. Lachten sich wahrscheinlich tot über den Trottel.

Na, ejal, er is’ schon vor Jahren aus dem Leben meiner Tochter verschwunden. Auch jut. Auch wenn se nicht jerade besser dran ist jetzt … so allein mit den miesen Jobs und dem wenigen Jeld. Aber für den Jungen ist es allemal besser, als wenn er seinem Vater vor Ogen hätte und dem womöglich noch nacheiferte.

Ick weeß jar nicht, ob er sich überhaupt noch an den erinnert ?!

6 – Benjamin ( 16 Jahre )

Er ging der Frau hinterher. Sie ging die Cambridger Straße hinunter. Es war kurz vor 23 Uhr. Mai. Nur leicht kühl und windig.

Er war gerade aus der U-Bahn gestiegen, die Treppe hoch gegangen und hatte die Frau am Kiosk stehen sehen. Er hatte sich neben sie gestellt und eine Cola gekauft. Sie angesprochen. Sie hatte sich ihm zugewandt, ihn einen Moment lang gemustert und sich dann mit einem gemurmelten »Schon gut, Junge« abgewandt, ihr belegtes Brötchen eingesteckt und war gegangen. Hielt sie ihn für jünger als er war ? Schließlich war er 16, sah allerdings jünger aus, was vermutlich an der Größe von eins zweiundsiebzig und an dem nur leichten Bartwuchs lag. Jedenfalls hatte er sich geärgert.

Warum nahm ihn denn niemand für voll ?

Er sah ihr nach und folgte ihr dann langsam. Sie ging ziemlich schnell, drehte sich aber nicht um. Man hörte ihre Absätze auf dem Pflaster, seine Schritte aber nicht. Er trug Turnschuhe. Schließlich bog sie nach rechts in die Belfaster Straße ein und überquerte den Fahrdamm. Dort fingen die Laubenpieper-Kolonien an, die sich um diese Jahreszeit langsam bevölkerten. An sich war es zum Übernachten in den Hütten noch zu kalt, und er fragte sich, was sie dort wollte. Sie betrat die Kolonie Berg und Tal, eilte die Stufen hinunter, wandte sich nach rechts.

Er blieb im Schatten einer Hecke. Schließlich hielt sie vor einem Gartentor – der Nummer 17 – an, sah sich kurz um und zog einen Schlüssel aus der Tasche. Zwei-drei schnelle Schritte. Dann war er neben ihr.

»Wieso haben Sie mich abgewiesen ?«, fragte er, »ich wollte doch nur mit Ihnen reden …«

»Aber ich nicht«, sagte sie, »ich habe keine Zeit für kleine Jungs.«

»Ich bin fast 17«, sagte er.

»Wie auch immer«, sagte sie und schloss die Tür auf, »gute Nacht.«

Sie stand vor dem geöffneten Gartentor, hatte den Türgriff in der linken Hand, den Schlüssel in der anderen, die Handtasche über der Schulter. Er ergriff ihren Arm und versuchte, sie festzuhalten. Sie wehrte sich. Sie war erstaunlich kräftig. Dabei war sie einen halben Kopf kleiner als er und etwas mollig, so wie seine Mutter. Auch so blond wie seine Mutter. Vielleicht war sie ihm deshalb aufgefallen. Er umfasste sie rasch von hinten mit beiden Armen, drückte sie fest an sich und so aneinander gepresst schoben sie sich durch das kleine Tor. Sie wehrte sich immer noch. Trat nach ihm. Fing an, ihn zu beschimpfen. Sie schrie allerdings nicht.

Er legte einen Arm um ihren Hals. Als sie weiter zappelte, drückte er zu. Sie wurde ruhiger. Ein Gefühl der Macht ! Ein unglaubliches Gefühl ! Er drückte noch ein wenig fester. Sie fing an zu keuchen. Noch ein wenig mehr Druck. Auf einmal wurde sie schlaff. Er erschrak. Ließ sie vorsichtig auf den Boden gleiten. War sie tot ? Nein, sie atmete noch. Er verließ rasch das Grundstück und wartete ein paar Schritte weiter im schwarzen Schatten eines Baumes. Dann hörte er, wie sie sich bewegte, der Kies knisterte, sie krächzte, hustete. Also war sie wirklich am Leben.

Er entfernte sich rasch, lautlos, erleichtert.

Doch dieses Wahnsinns-Gefühl der Macht blieb, und die Erinnerung daran verließ ihn auch die nächsten Tage und Wochen nicht.

7 – Benjamin

Seine Schulzeit hatte etwas abrupt geendet. Nach etwa zehn Jahren – inzwischen war er vom Gymnasium an die Schule am Schillerpark gewechselt – hatte er schlicht und einfach die Nase voll. Sitzenbleiben und damit die zehnte Klasse wiederholen: Das stand auf dem Programm in diesem Herbst ! In der achten und neunten hatte es schon Probleme gegeben, aber er hatte es jedes Mal gerade noch geschafft, alle wichtigen Klassenarbeiten mit Vier oder wenigstens Vier Minus zu schreiben. Aber jetzt ? Keine Chance. Er begriff nur Mathematik - das einzige Fach, in dem er immer gut gewesen war -, kam aber bei den Sprachen nicht mehr mit. Sein Englisch war mäßig, Spanisch verstand er gar nicht mehr. Chemie ging einigermaßen. Die Elemente ließen sich auswendig lernen, Reaktionen auch, aber Physik war fast nicht zu begreifen. Er hatte total den Anschluss verpasst, was auch daran liegen konnte, dass er eine Zeit lang die Schule geschwänzt hatte. Zum Teil, weil er einfach keine Lust gehabt hatte, sein eigenes Unwissen immer wieder zur Schau zu stellen, zum anderen, weil er Geld verdienen wollte und das konnte er nur tagsüber, zum Beispiel in dem Lagerhaus am Hafen.

Auch das Fahrrad-Training kostete Zeit. Aber es machte unendlichen Spaß ! Das langsame Anfahren, das Immerschneller-Werden, das Dahinfliegen ohne Zeit und Raum. Es machte ihm überhaupt nichts aus, zwei-drei Stunden hintereinander zu fahren, mal schnell, mal langsam, wie es ihm der Trainer erklärt hatte. Seine eigene Kraft zu fühlen, Schnelligkeit zu erleben, ein Freiheitsgefühl ! Er hatte damals instinktiv den richtigen Sport für sich entdeckt. Jetzt war er schon fast vier Jahre dabei und besaß zwei gute Fahrräder. Das Vereinsleben interessierte ihn nicht. Nur das Training. Was sollte er bei Vereinsabenden ? Quatschen ? Karten spielen ? Fachsimpeln ? War ihm egal. Er hatte seine eigenen Vorstellungen. Wenn die anderen über Mädchen redeten, dachte er an Frauen. An erwachsene Frauen, nicht an kichernde Teenager. Die Vorstellung, eine Frau zu bezwingen, war in ihm mehr und mehr gewachsen. Sie musste nur noch in die Tat umgesetzt werden …

Seine Mutter hatte nie gefragt, woher er die Räder hatte. Dachte wohl, vom Verein. Soweit sie sich überhaupt dafür interessierte, was er so trieb. Er hatte beide durch Arbeit verdient. In der Werkstatt von Sven und Richard gejobbt, im Lagerhaus Möbel und Kartons getragen, in dem türkischen Laden Kisten geschleppt, als der Großvater hingefallen, sich am Knie verletzt hatte und der Sohn gerade für ein paar Wochen in der Türkei in Urlaub gewesen war.

In dem Lagerhaus hatte niemand nach seinem Alter gefragt. Sie musterten ihn, sahen seine kräftige Statur ( auf die er sehr stolz war ) und hatten ihn erst einmal einen Tag lang probeweise beschäftigt. Ohne Murren hatte er Kisten aufgestapelt, LKWs mit allerlei Kram aus Wohnungsauflösungen aus– und eingeräumt, auch die Halle ausgefegt. Danach bestellten sie ihn eine Woche lang jeden Tag. Am Ende der Woche zahlten sie das Geld in bar aus ( ‘bar auf die Kralle‘, wie gesagt wurde ). Er kam sich sehr erwachsen vor, damals, als er Freitag am frühen Nachmittag mit den älteren Arbeitern vor dem Büro des Chefs wartete, nichts äußerte, aber den Worten der anderen genau zuhörte.

Hauptsächlich war von Frauen und Saufen die Rede. Von „der Alten zu Hause“. Von der „Blonden mit den geilen Titten“, die in dem nahen Café jobbte. Vom Ficken. Und was man da alles machen könne … Er wurde beim Zuhören nicht mehr rot, konnte sich aber mangels Erfahrung nicht an den Gesprächen beteiligen. Die anderen grinsten. Es fielen gutmütige Sprüche, sie klopften ihm auf die Schulter und sagten, das würde er alles auch noch erleben. Und ob sie ihm eine Frau besorgen sollten ?

Nein, das wollte er nicht. Obwohl, es lockte. Aber er dachte, dass es eine der Frauen sein würde, die die Männer kannten und die würde darüber berichten. Und sie wüssten Bescheid, ob er denn oder eben nicht … Und er wusste noch immer nicht, wie das richtig lief. An sich herumspielen – wenn er allein vor dem Fernseher saß – das kannte er. Das tat ihm ausgesprochen gut und gab Erleichterung. Die festen Berührungen seiner Mutter kannte er seit Jahren. Bei denen fühlte er sich auch wohl. Wie das nun war, in einer Frau drin zu sein, das wusste er nicht. Er sah in Filmen die Bewegungen der Männer und Frauen ( spätabends wurden Filme dieser Art gezeigt ), fragte sich aber, wie eng oder weit eine Frau an dieser Stelle wäre. Im Grunde genommen hatte er Angst, sich zu blamieren. Und die Männer im Lagerhaus würden das erfahren und sich über ihn lustig machen. Eine Situation wie in der Schule. Nein, das wollte er ganz sicher nicht. Das passte nicht zu einem coolen Typen wie ihm, der richtig Radfahren konnte und auch sonst allerhand drauf hatte.

Da würde er sich doch lieber selbst um eine Frau kümmern ! In den letzten Wochen hatte er nicht viel Zeit gehabt, die Parks abzufahren und Ausschau zu halten. Aber der Gedanke an dieses intensive Machtgefühl von damals war geblieben. Nur: Wie machte man das, wenn die Frau halb bewusstlos auf dem Boden lag und eine Menge Klamotten anhatte ? Konnte man die schnell zerreißen ? Mit einem Messer zerschneiden ? Er konnte doch nicht nur im Sommer über eine Frau herfallen, wenn sie wenig anhatte. Denn schnell musste es gehen. Das war klar.

Seine Mutter war aufgrund eines Briefes der Schulleitung dahinter gekommen, dass er die Schule schwänzte. Nach mehreren Tagen, an denen der Brief ( es war schon der zweite, denn den ersten hatte er verschwinden lassen ) auf der Kommode im Flur herumgelegen hatte, öffnete sie ihn, las, goss sich einen Schnaps ein und fragte nach …

Er gab lieber gleich zu, dass er seit einiger Zeit gar nicht mehr hingegangen war, zum einen, weil er nicht mehr mitkam, und zum anderen, weil er lieber Geld verdienen wollte. Eigentlich war er froh, dass die Sache endlich auf den Tisch kam. Die volle Aufmerksamkeit galt endlich einmal ihm, was selten genug der Fall war.

Er saß auf dem Sofa, seine Mutter im Sessel. Sie seufzte, goss sich noch einen Korn ein und sah ihn an. Sie sah müde aus. Die Arbeit, die sich bis in die Nachtstunden hinzog, und die Zeit, die sie mit Männern verbrachte.

»Und nun ?«, sagte sie und seufzte noch einmal.

Das ärgerte ihn. Er hatte doch nichts Schlimmes getan. Die Schule ? Naja. Er hob die Schultern. Er sah vor sich hin auf den abgetretenen Teppichboden. Bewegte unruhig die Füße. Die Lagerarbeit gab es ja noch, aber die wollte er nicht erwähnen, zumal er von dem verdienten Geld nicht einen einzigen Euro abgegeben, sondern alles für sich ausgegeben hatte.

»Du kannst eine Lehre anfangen«, sagte seine Mutter schließlich. »bist alt genug.«

Er schwieg.

Was für eine Lehre ? Dachte er.

Seine Mutter schwieg auch. Ob sie wirklich über ihn nachdachte oder an etwas anderes, war nicht ersichtlich.

»Vielleicht in einem Handwerksbetrieb … «, sagte sie nachdenklich, zündete sich eine Zigarette an, die erste seit Wochen.

»Da nehmen sie dich hoffentlich«, fuhr sie fort. »So ohne Abschluss.«