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Freunde und Feinde sucht man sich aus, die Familie schickt der Teufel. Eine Mutter treibt ihre Tochter in die Obdachlosigkeit, ein Bruder tötet den anderen, und alle wollen erben. Doch es gibt auch den Bruder, der um das Leben seiner Schwester kämpft, und die Zwillinge, die gemeinsam einen Gott hereinlegen. Sieben Autoren erzählen von mysteriösen Unfällen, Familienstreitigkeiten, unglücklichen Ehen und fragwürdigen Rollenbildern. In neunzehn unterhaltsamen Kurzgeschichten gehen die Heilbronner Schreibtischtäter dem Phänomen der Familienbande auf den Grund und enthüllen, dass selbst der Teufel Familie hat.
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2019
© 2019 Heilbronner Schreibtischtäter
www.heilbronnerschreibtischtaeter.jimdo.com
Covergestaltung:
TomJay – bookcover4everyone www.tomjay.de
Bildmaterial:
YuliaShlyahova / Fotolia.com dovla982 / Shutterstock.com jakkapan / Shutterstock.com Betacam-SP / Shutterstock.com NadzeyaShanchuk / Shutterstock.com
Korrektorat:
Lektor-hoch-drei, Waiblingen www.lektor-hoch-drei.de
Logo:
Tanja Koller
Verlag und Druck:
tredition GmbH Halenreihe 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
Paperback:
978-3-7482-2967-4
e-Book:
978-3-7482-2968-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Heilbronner Schreibtischtäter
FAMILIENBANDE
Geschichten von Liebe und Hass
Wir bedanken uns bei allen, die uns bei der Erstellung dieses Buches begleitet und unterstützt haben. Bei Joachim Speidel für das Korrektorat, bei Thorsten Jurai für das wunderschöne Cover und bei Tanja für das schöne Logo, das genau rechtzeitig da war. Und natürlich bei unseren Familien, die uns zum Glück selten Vorbilder für die Geschichten in diesem Buch waren, unser Schreiben aber jederzeit unterstützen.
Inhalt
Bianca Heidelberg
Bratkartofelverhältnis
Die Bierbeschaffungsmaßnahme
Sprung ins Ungewisse
Ein guter Tag
Björn Sünder
Ein Schatten bleibt
Wespensommer
Das Attentat
Der Wettlauf
Hedda Fischer
Ein Morgen auf dem Friedhof
Wiedersehen
Die alte Schreibmaschine
Monika Huhn
Bruderliebe
Meinungsfreiheit
Ramona Astner
Totenstill
Rabenschwarzer Montag
Spanischer Sommernachtstraum
Tom H. Eschen
Zehn Cent für ein Leben
Eine himmlische Familie
Ulrike Baumgärtel
Wenn vier sich streiten
Die Autoren
Bianca Heidelberg
Bratkartoffelverhältnis
Bratkartoffelverhältnis.
Zwei Menschen.
Mann nutzt aus.
Frau lässt es geschehen.
Selbstverschuldet.
42-Jährige ertrinkt im Neckar
Heilbronn - Eine in Heilbronn wohnhafte Frau ertrank gestern bei der Museumsinsel im Neckar. Ein 18-jähriger Obdachloser beobachtete, wie die 42-Jährige in den Neckar fiel und sofort unterging. Er eilte hinzu, sprang in den Fluss und zog die Frau aus dem Wasser. Der junge Mann versuchte, die Frau zu reanimieren. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Zeugenaussagen deuten darauf hin, dass die Frau alkoholisiert war.
Anna seufzte genervt. Luca sah kurz zu ihr hinüber und strich mit den Fingern sanft über ihre Hand. Anna lächelte ihm zu und blickte wieder nach vorne. Neben dem Altar stand der schlichte Holzsarg, in dem ihre Mutter lag. Der einzige Kranz betonte mit seiner Anwesenheit das Fehlen weiterer Kränze. Neben dem Sarg stand der Pfarrer und hielt seinen Monolog. Lachhaft, dass jemand über ihre Mutter sprach, der keine Ahnung hatte.
»Gott unterzog Ina Kurz einer schweren Prüfung, als er ihr vor drei Jahren den Mann nahm. Seitdem sorgte sie allein für sich und ihre Tochter Anna, die damals 15 Jahre alt war, ein Teenager, wie man heute sagt.«
Annas Gedanken schweiften von der Rede des Pfarrers ab in die Vergangenheit. Die Tage nach dem Tod ihres Vaters waren für sie verschwommen. An die Beerdigung ihres Vaters hatte sie keine Erinnerung. Oder daran, was sie in den Tagen danach getan hatte. Sie erinnerte sich nicht an den ersten Vollrausch ihrer Mutter. Nur an die Zeit, als es normal gewesen war, dass ihre Mutter betrunken war. Daran, wie sie hungrig von der Schule kam und kein Essen auf dem Tisch stand. Bis Anna gelernt hatte, selbst einzukaufen und zu kochen. Das Haus einigermaßen ordentlich zu halten. Sie erinnerte sich noch genau an die erste Ohrfeige, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Und an die letzte.
Es war an einem regnerischen Tag im März. Vor vier Monaten. Der letzte Tag ihres alten Lebens. Anna kam tropfnass von der Schule nach Hause. Sie stellte die Tasche mit den Einkäufen auf den Küchentisch und schaute ins Wohnzimmer. Ihre Mutter saß auf dem Sofa, hielt eine Flasche Bier in der Hand und starrte auf den heruntergelassenen Rollladen. Ein widerlicher Geruch nach Bier und ungewaschenen Haaren zog in Annas Nase. Energisch zog sie den Rollladen hoch und öffnete das Fenster.
»Mach es wieder zu«, sagte ihre Mutter mit energieloser Stimme.
Anna räumte die leeren Flaschen vom Wohnzimmertisch und ging in die Küche.
»Ich hab gesagt, mach es wieder zu«, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer.
Anna räumte die Lebensmittel auf und begann, Möhren zu schneiden. Ihre Mutter stellte sich in den Türrahmen und hielt sich mit einer Hand daran fest. Ihr Körper schwankte vor und zurück. Sie hob ihre Bierflasche und prostete Anna zu.
»Auf meine gehorsame Tochter«, sagte sie lallend und trank einen Schluck. »Wenn du schon die Hausherrin spielst, kannst du in Zukunft auch das Geld verdienen. Die haben mich rausgeschmissen.«
»Ach, haben sie’s endlich geschnallt«, sagte Anna trocken.
»Halt’s Maul!«, sagte ihre Mutter.
»Halt du dein Maul!«, rief Anna aufgebracht. »Du solltest dich um mich kümmern! Erst recht, seit Papa tot ist.«
Annas Mutter schwankte noch heftiger im Türrahmen. Mit wutverzerrtem Gesicht schrie sie ihre Tochter an.
»Dein Vater hat es vorgezogen, sich aus dem Leben zu verpissen.«
Anna spürte ein Klicken in ihrem Kopf. Endlich kam der gerechte Zorn zum Vorschein, den der Kampf ums Überleben viel zu oft unter sich begrub.
»Wer weiß, ob du nicht der Grund dafür warst«, sagte sie in giftigem Tonfall.
Mit zwei Schritten war ihre Mutter bei ihr. Im nächsten Moment spürte Anna ein Brennen in ihrem Gesicht. Das Gefühl war ihr vertraut. Zu vertraut. Doch diesmal war ihre Wut groß genug. Wie von selbst hob sich Annas Hand und landete mit einem lauten Klatschen auf der Wange ihrer Mutter. Einen Moment starrten die beiden sich an.
»Das machst du nie wieder«, zischte Anna.
Ihre Mutter hob drohend die Hand. »Raus!«, schrie sie. »Ich will dich nie wieder sehen, hörst du!«
Anna brauchte fünf Minuten, um die wichtigsten Sachen zu packen und das Haus zu verlassen.
»Bratkartoffelverhältnis«, sagte Anna. Sie und Luca blickten dem Mann im Anzug unverhohlen hinterher.
»Bratkartoffelverhältnis?«, wiederholte Luca bedächtig und legte den Kopf schief. »Wenn das heißt, dass ich jeden Tag Bratkartoffeln zu essen bekomme, dann will ich dein Bratkartoffelverhältnis sein.«
Anna prustete. »Das heißt, dass der sicher ein Dummchen zu Hause hat, das für ihn putzt und kocht. Nein danke!«
Luca nickte verständnisvoll. Er wusste, wie Annas Leben in den letzten beiden Jahren verlaufen war.
Anna bemerkte sein Nicken nicht. Ihre Augen suchten schon ein neues Ziel unter den Passanten. Ihre Finger spielten mit ihren langen, blonden Haaren. Annas Blick blieb an einem jungen Mann hängen, der schäbige Jeans und ein zerknittertes Hemd trug. Er schlenderte gemütlich über den Heilbronner Rathausplatz.
»Dauersingle«, sagte sie bestimmt. Luca folgte ihrer Blickrichtung.
»Affären«, entgegnete er.
Anna sah ihn an. »Papperlapapp«, sagte sie. »Wer nimmt denn so einen?«
Luca zog eine Augenbraue hoch. »Das ist der Künstlertyp. Gib ihm eine Gitarre in die Hand, und die Frauen schmelzen dahin.«
Anna lachte. »Hättest du wohl gern«, erwiderte sie und blickte vielsagend auf Lucas Gitarre, die neben ihm an der Wand lehnte, und dann auf seine schmuddelige Kleidung und seine halblangen, leicht gelockten schwarzen Haare. Die beiden saßen auf der Treppe vor dem Heilbronner Rathaus und spielten ihr Lieblingsspiel. Beziehungsstatusraten.
Luca grinste. »Um nochmal auf Bratkartoffeln zu kommen«, sagte er. »Wenn ich Kartoffeln besorge, brätst du sie dann?« Er blickte hinauf zu Anna, die eine Stufe über ihm saß, und legte seinen Hündchenblick auf.
Anna schnaubte. »Zum Braten braucht man eine Pfanne«, sagte sie in einem Ton, als würde sie mit einem Zweijährigen sprechen. »Wir haben nicht einmal einen Dosenöffner. Deshalb haben wir schließlich seit zwei Monaten ungeöffnete Dosenaprikosen in unserem Quartier. Und wer hat den Quatsch geklaut?« Sie schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ich liebe es, wenn du so mit mir sprichst, Bella«, sagte Luca theatralisch. Anna verdrehte die Augen. Die beiden brachen in Gelächter aus.
»Hey, ihr Faulpelze! Ratet mal, was ich uns besorgt habe«, rief eine Stimme hinter Anna. Die beiden drehten ihre Köpfe und schauten die Treppe hinauf. Auf dem Podest stand Valentina und vollführte einen Freudentanz mit einer Flasche Shampoo.
Anna sprang auf und gesellte sich zu dem zierlichen Mädchen, das die gleichen dunklen Locken und braunen Augen hatte wie Luca.
»Valentina, du bist die Beste«, rief Anna und tanzte mit. »Meine Haare brauchen dringend mal wieder eine Wäsche.«
»Ich frage lieber nicht, woher mein Schwesterchen das hat«, sagte Luca und schüttelte den Kopf.
Valentina zuckte mit den Achseln. »Wenn die das Zeug auch immer vor die Tür stellen.«
»Luca, du darfst dir unser Essen heute allein verdienen, ich muss dringend Haare waschen«, sagte Anna und zog Valentina mit sich. Die beiden Mädchen ignorierten Lucas Protest und liefen kichernd davon.
»Himmlisch«, sagte Valentina.
Anna seufzte. »Das Beste seit Langem«, sagte sie. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal so sehr über Shampoo freue.«
Die beiden lagen in Unterhose und überlangem Shirt auf einer Wiese am Neckar und ließen ihre Haare in der Sonne trocknen. Ein paar nasse Kleidungsstücke hingen verstreut über Bäumen und Büschen.
Anna zog eine blonde Strähne an ihre Nase und schnupperte. »Mmmhhh, welch ein Duft!« Plötzlich fiel ein Schatten über sie. »Luca, geh aus der Sonne«, sagte sie ärgerlich. Sie öffnete ihre Augen genau in dem Moment, in dem Luca einen Schritt zur Seite trat. Geblendet schloss sie die Augen wieder. »Mann!«, rief sie.
Luca lachte.
»Du könntest dich auch mal wieder waschen«, sagte Valentina und rümpfte ihre Nase.
Luca ließ sich ins Gras plumpsen. »Momentan habe ich Besseres zu tun«, sagte er wichtigtuerisch und öffnete eine Tüte. Abrupt setzten sich die Mädchen auf und sogen gierig den Duft ein.
»Waaa!«, rief Valentina und griff hinein.
Luca entzog ihr die Tüte. »Immer mit der Ruhe«, sagte er und holte eine Aluminiumschale hervor. Valentinas Augen wurden kugelrund.
Annas Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Wie bist du denn an so viel Geld gekommen?«, fragte sie.
»Och«, sagte Luca und zuckte mit den Schultern. »Das war keine Frage des Geldes, sondern des Charmes.« Er zwinkerte Anna zu.
Sie verdrehte die Augen. »Ach ja, ich vergaß, euch feurigen Italienern kann keine Frau widerstehen.«
»Halbitaliener«, sagte Luca, während er die Schale auf den Boden stellte und öffnete.
»Geilo, Bratkartoffeln!«, rief Valentina begeistert.
Anna lachte. Luca zwinkerte ihr zu.
Als jeder eine Plastikgabel in der Hand hielt, sahen sie sich feierlich an. Luca nickte seiner kleinen Schwester zu.
»Und los«, rief sie und alle drei stürzten sich ausgehungert auf das Essen.
Eine Viertelstunde später lagen sie im Gras und hielten sich die Bäuche.
»Mann, bin ich satt.« Luca stöhnte.
»Was für ein geiler Tag«, sagte Anna. »Haare waschen und essen bis zum Umfallen. Was braucht man mehr!«
»Und das alles in Freiheit«, sagte Valentina und seufzte.
Die Freunde kicherten und blinzelten in die Sonne. Anna drehte sich auf die Seite und schaute die beiden Geschwister an.
»Wollt ihr irgendwann mal wieder normal leben? Ein festes Dach über dem Kopf haben?«, fragte sie.
»Klar«, sagte Luca. »Aber frühestens in drei Jahren, wenn Vali achtzehn ist.« Liebevoll sah er zu seiner jüngeren Schwester. »Ich lass nicht zu, dass sie nochmal in ein Heim gesteckt wird.«
Valentina gab einen Grunzlaut von sich. »Und wie willst du das bezahlen?«
»Ich werd schon was finden, was uns über Wasser hält. Und du gehst zur Schule und lernst was Ordentliches. Danach brauchen wir uns keine Sorgen mehr machen.«
»Wie ist es hier draußen im Winter?«, fragte Anna. Sie lebte erst seit vier Monaten mit den Geschwistern auf der Straße und hatte Angst vor dem Schnee und der Kälte. Die beiden hatten immerhin schon zwei Winter auf der Straße überlebt.
Valentina verzog das Gesicht.
»Arschkalt«, sagte sie.
Anna musste gegen ihren Willen lachen. »Ich hab Angst vor dem Winter«, gab sie zu und schaute in den Himmel. Eine einzelne weiße Wolke zog vorüber. Sie sah aus wie ein Igel. Anna liebte Igel.
»Keine Sorge, wir kennen uns aus«, sagte Luca beschwichtigend.
»Ja, wir schaffen das schon«, murmelte Valentina weniger überzeugend. »Ich wünschte, Mama und Papa würden noch leben«, sagte sie und seufzte.
Anna dachte an ihr Zuhause und seufzte ebenfalls. Ihre Mutter hatte sie zwar hinausgeworfen, würde sie aber sicher wieder aufnehmen. Aber sie wusste, wie es laufen würde. Und Anna hatte sich an jenem Tag etwas geschworen: Nie wieder würde sie sich ungestraft schlagen lassen!
Luca nahm Valentinas Hand und die von Anna und drückte sie sanft. »Wir schaffen das! Wir sind jetzt eine Familie«, sagte er. Dann räusperte er sich. »Ich geh mich mal waschen.«
»Wer war eigentlich Robert Mayer?«, fragte Anna. Valentina und Luca zuckten mit den Schultern. Die drei saßen wie so oft auf der Treppe vor dem Heilbronner Rathaus. Das Gemurmel von Menschen, die auf dem Markt einkauften, brummte sanft in ihren Ohren. Annas Blick blieb noch eine Weile an der Statue hängen, die entspannt und selbstsicher auf ihrem Stuhl saß. Plötzlich sah Anna eine Frau, die ihr bekannt vorkam. Sie brauchte zwei Sekunden, um zu verstehen, wen sie sah.
Ihre Mutter.
Anna sank auf der Treppe in sich zusammen und zog ihr Käppi tiefer ins Gesicht. Luca und Valentina sahen sie fragend an. Anna schüttelte den Kopf und beobachtete ihre Mutter. Die ging leicht schwankend zum Obst- und Gemüsestand vor dem Robert-Mayer-Denkmal. Sie redete kurz mit dem Verkäufer, der ihr eine Tüte voller Weintrauben reichte. Ihre Mutter bezahlte und drehte sich um. Im Umdrehen sah sie zur Treppe hinüber. Ihre Augen weiteten sich und ihre Lippen formten Annas Namen. Anna stand auf und rannte davon.
Anna saß auf ihrem Lieblingsplatz, dem Steg unter der Friedrich-Ebert-Brücke, und ließ ihre Beine baumeln. Direkt über ihr hing ein grünes Schild. Willkommen auf der Insel. Sie dachte zurück an den Tag, an dem ihre Mutter sie geschlagen und dann hinausgeworfen hatte. Nie wieder, hatte sie sich geschworen. Und sie wusste, dass ihre Mutter sich nicht ändern würde. Dazu war sie gar nicht mehr in der Lage. Nein, sie wollte nicht nach Hause zurück, auch wenn es schwer war, auf der Straße zu leben. Sie wollte ihre Mutter nie wieder sehen.
»Anna!« Die Stimme ihrer Mutter riss Anna aus ihren Gedanken. Sie sprang auf, konnte aber nicht entkommen. Ihre Mutter stand bereits am anderen Ende des Steges. Die beiden starrten sich an. Die gleichen blauen Augen, die gleichen blonden Haare. Die eine stand stocksteif, die andere wankte hin und her wie ein Fähnlein im Wind.
»Anna!«, rief ihre Mutter noch einmal. Anna schaute zur Seite, auf das träge dahinfließende Wasser. »Anna, bitte komm zurück!« Nach quälend langen Minuten fuhr ihre Mutter fort. »Ich kann es nicht mehr lange verheimlichen, dass du weg bist. Bitte, komm zurück!«
Anna schnaubte. »Ach, darum geht es dir. Sorgst du dich um deinen guten Ruf?« Ihr Ton zeigte, für wie gut sie den Ruf ihrer Mutter hielt.
Ihre Mutter kam schwankend näher.
Anna schaute hinter sich. Sie stand genau an der Kante des Steges. Ein dicker Ast ragte aus dem Wasser und verwirbelte es. »Lass mich in Ruhe«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wurde ärgerlich. »Du tust gefälligst, was ich dir sage«, sagte sie in scharfem Ton, der durch das Lallen in ihrer Stimme ruiniert wurde.
»Das zieht nicht mehr, Mama«, sagte Anna, so ruhig sie konnte. »Ich komme auch ohne dich klar. Außerdem werde ich übermorgen achtzehn. Du hast mir gar nichts zu sagen.«
Das Gesicht ihrer Mutter nahm einen gefährlichen Rotton an. Sie stolperte auf Anna zu und packte sie am Arm. »Du kommst jetzt sofort mit!«
»Du stinkst«, schrie Anna und versuchte, ihren Arm freizubekommen. Die Hand ihrer Mutter umklammerte ihn mit erstaunlicher Kraft, während der restliche Körper mit jeder Armbewegung von Anna heftig hin und her schwankte. Mit einem Ruck bekam Anna ihren Arm endlich frei. Ihre Mutter verlor das Gleichgewicht und prallte gegen das Geländer. Anna wich aus. Jetzt stand ihre Mutter gefährlich nahe am Rand des Stegs.
»Blöde Schlampe«, kreischte Annas Mutter. Sie hob ihre Hand.
»Du schlägst mich nie wieder!« Anna versetzte ihrer Mutter einen Stoß gegen die Brust. Mit einem Platschen kam sie auf der Wasseroberfläche auf. Bewegungslos beobachtete Anna, wie ihre Mutter ein paar schwache Schwimmversuche unternahm und dann wie ein Stein unterging. Langsam drehte sie sich um und ging.
Als Anna die Stufen zur Brücke hinaufstieg, kam Luca angerannt. Nach einem kurzen Blick auf sie schaute er schuldbewusst zu Boden.
»Sorry«, sagte er. »Vali hat sie hierher geschickt. Sie weiß es ja nicht.«
»Kein Thema«, sagte Anna tonlos und starrte an ihm vorbei ins Leere. Luca blickte auf.
»Anna, alles in Ordnung?«, fragte er. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sah sie prüfend an.
Anna sah ihn an und grinste plötzlich. »Alles gut«, sagte sie. »Ich hab meine Mutter in den Neckar gestoßen.«
»Du hast was?« Luca beugte sich über das Geländer und blickte suchend auf den Fluss.
»Gib dir keine Mühe«, sagte Anna gut gelaunt. »Die war mal wieder so besoffen, die ist längst ertrunken.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und stieg die letzten Stufen hinauf. Lucas Schritte auf der Treppe hallten in ihren Ohren.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Die Worte des Pfarrers rissen Anna aus ihren Gedanken. Wie ein Roboter ging sie hinter dem Sarg her, warf eine Schaufel Erde ins Grab und beobachtete, wie sich immer mehr davon auf dem Sarg anhäufte. Für sie wurde nur ein vergangener Lebensabschnitt begraben. Ungeduldig wartete sie darauf, dass die Schlange derer, die ihr kondolieren wollten, zu Ende war. Am Schluss standen noch Luca und Valentina neben ihr. Anna schaute die beiden an.
»Also«, sagte sie mit einem Zwinkern und hielt ihren Hausschlüssel in die Höhe, »wie wäre es mit einem Bratkartoffelverhältnis?«
»Bratkartoffelverhältnis?«, fragte Valentina verständnislos.
»Wenn du die Kartoffeln schälst«, erwiderte Luca grinsend.
»Die Rollenverteilung müssen wir noch ausknobeln«, sagte Anna lachend. Die Geschwister nahmen sie in die Mitte, und die drei schlenderten Arm in Arm vom Friedhof.
Bianca Heidelberg
Die Bierbeschaffungsmaßnahme
Bier.
Manchen schmeckt’s.
Anderen noch besser.
Schmeckt es zu gut:
Alkoholismus.
Edgar Wachenfeld war der Chef der Bande. Weil er immer und überall der Chef war. Zumindest hatte er in seinem früheren Leben, wie er es nannte, eine Firma geleitet. Siebzehnhundert Menschen, und alle hatten auf sein Kommando gehört. Jetzt, mit sechzig Jahren, versuchte er, seine drei durchgeknallten Freunde zu führen. Was ehrlich gesagt viel schwieriger war, als eine Firma zu leiten. Sie saßen zu dritt auf einer Parkbank im Luisenpark in Bruchsal, Edgar in der Mitte. Die braunen Blätter auf dem Boden wurden vom Wind umhergewirbelt, als führten sie einen Tanz auf.
»Titus, ich halte das für keine gute Idee«, sagte Edgar. »Das ist in deinem Alter nicht das Richtige. Du bekommst selten was Anständiges zu essen, und im Winter wird es empfindlich kalt.«
Titus schnaubte. »Essen auf Rädern ist auch kein anständiges Essen, Ede. Nein, nein, ich lass mich nicht so einfach abschieben. Da geh ich lieber selbst.« Er unterstrich seine Worte, indem er mit seinem Stock mehrfach auf den Boden klopfte.
»Das Bier schmeckt scheiße«, maulte Olaf Renkewitz. Er beäugte die Bierflasche, die er auf seinem dicken Bauch abstützte, nahm noch einen Schluck und verzog das Gesicht.
»Nörgel nicht«, sagte Edgar und redete weiter auf Titus ein, der immer wieder halsstarrig den Kopf schüttelte.
Plötzlich schaute Titus auf wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hat. »Ah, da kommt Peter. Vielleicht erlöst er mich von dem Thema.«
Die beiden anderen drehten die Köpfe und beobachteten, wie Peter sich ihnen näherte. Er saß in seinem Rollstuhl und zog sich mit den Füßen voran, sodass er aussah wie ein Einsiedlerkrebs, der sein Schneckenhaus hinter sich herzieht. Ächzend manövrierte er seinen Rollstuhl vor die Bank, sodass er den anderen gegenüber saß. Dann griff er hinter sich und zog eine Bierflasche hervor. Nachdem er sie an der Armlehne geöffnet hatte, prostete er den anderen zu.
»Du fauler Hund, tragen dich deine Beine überhaupt noch?«, fragte Edgar.
Peter lachte. »Keine Ahnung, schon lang nicht mehr getestet.«
Titus schüttelte missbilligend den Kopf.
»Lass den Peter, der ist angeschissen genug mit seiner Behinderung«, sagte Olaf in weinerlichem Tonfall.
»Oll, wann hast du eigentlich das Denken eingestellt?«, fragte Titus. Einzig die Lachfalten hinter seinen Brillengläsern zeigten, dass er sich amüsierte.
»Und du, tu nicht so schlau. Du machst mir am meisten Sorgen«, sagte Edgar in vorwurfsvollem Tonfall zu Titus.
»Aha«, sagte Peter und sah Titus neugierig an.
Titus seufzte genervt. »Nicht wieder von vorne.«
Peter sah zu Edgar. »Na los, Ede, sag schon.«
Edgar zeigte mit dem Finger auf Titus. »Dieser alte Narr will aus seinem warmen Nest flüchten und sich unserem Leben auf der Straße anschließen. Wie kann man mit achtzig so unvernünftig sein?«
»Von wegen warmes Nest«, sagte Titus erbost und fuchtelte so heftig mit seinem Stock, dass die anderen zurückwichen. »Meine Tochter will mich ins Heim abschieben.«
Peter lachte. »Sei doch froh, du kriegst ’ne Rund-um-die-Uhr-Versorgung. Wer soll dir denn den Arsch waschen, wenn du auf der Straße lebst? Ich bestimmt nicht.«
»Wir wissen, dass du keinen Finger krumm machst, Muttersöhnchen«, warf Edgar ein. »Aber er hat recht, Titus, du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Wir sind selbst nicht mehr die Jüngsten. Außerdem soll es einen Jahrhundertwinter geben. Habt ihr euch darüber schon Gedanken gemacht?«
»Quatsch mit Soße!« Peter lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich mach’s wie immer. Du doch sicher auch, Ede.« Peter grinste anzüglich.
Titus lachte und schüttelte den Kopf. »Edgar und die Frauen.«
»Für einen warmen Hintern kann man doch mal ein paar Monate seine Freiheit einschränken«, erwiderte Edgar. »Das würde euch auch guttun. Selbst für Olaf würden wir eine Dumme finden.«
Peter lachte. »Ohne mich! Alles Fotzen außer Mutti«, sagte er, prostete Edgar mit seiner Flasche zu und nahm einen Schluck.
»Scheiße noch mal, mein Bier ist leer!«, rief Olaf und kratzte sich unter seiner Hose am Hintern.
Peter starrte demonstrativ ins Nichts. Edgar trat Peter gegen das Schienbein.
»Wieso immer ich?«, maulte Peter.
»Du hast so lange billig bei Mutti gelebt, dein Geld reicht noch eine Weile.« Edgar blickte ihn streng an.
»Gott hab sie selig«, murmelte Peter. Widerstrebend griff er nach einer Flasche und streckte sie Olaf hin.
Dieser zog seine Hand aus seiner Hose, begutachtete den Dreck unter seinen Fingernägeln und nahm dann die Flasche. »Schmeckt genauso beschissen«, sagte er nach einem Schluck.
»Und jetzt auch noch motzen, das macht der jedes Mal«, beschwerte sich Peter.