Das Fenster zur Welt - Sarah Winman - E-Book

Das Fenster zur Welt E-Book

Sarah Winman

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Beschreibung

»Es gibt nicht genug Superlative, um die Schönheit dieses Romans zu beschreiben.« Sunday Independent  Ulysses und Evelyn begegnen sich in einem italienischen Weinkeller und sprechen über Kunst und das Leben, zu einem Zeitpunkt, an dem die Schönheit in der Welt nicht leicht zu finden ist. Diese Begegnung knüpft zwischen ihnen ein lebenslanges Band der Freundschaft. Von den sonnenbeschienenen Hügeln der Toskana bis hin zum Londoner East End ist »Das Fenster zur Welt« ein lebensbejahender Roman über Schicksal, Liebe und Familie. Er ist ein junger britischer Soldat, sie ist eine sechzigjährige Kunsthistorikerin, die ihre geliebten Gemälde vor den Bomben des zweiten Weltkriegs bewahren will. Ein einziger Abend eröffnet Ulysses eine Sichtweise auf die Welt, die ihn für immer verändert. Nach dem Krieg kehrt er aus Florenz in seine Heimat London zurück, zu den alten Bekannten, die sich täglich in Col's Pub treffen. Dort wartet auch Peg, die Liebe seines Lebens, die ihr Herz aber an einen amerikanischen Soldaten verloren hat. Ulysses hofft auf einen Neuanfang. Da ihn seine Jahre in Italien nie loslassen, bricht er in ein ungewisses Abenteuer auf: ein Leben in Florenz. Im Gepäck hat er nicht nur Pegs Tochter Alys, sondern auch den alten Cress und den Papagei Claude. Sarah Winman hat einen warmherzigen, atmosphärischen Roman über Freundschaft und Schönheit geschrieben und darüber, dass es nie zu spät für einen Neubeginn ist, auch wenn man sich selbst dafür zu alt fühlt. »Die Seiten wimmeln von ungestümem, überschwänglichem Leben ... Der Roman hat Schwung, Charme und ein großes Herz.« Sunday Times »Satz für Satz, Figur für Figur wird Das Fenster zur Welt zur Poesie« New York Times Book Review »Ein Stärkungsmittel für das Fernweh und ein Heilmittel für die Einsamkeit. Es ist dieser seltene, liebevolle Roman, bei dem man dankbar ist, dass er einen mitgenommen hat.« The Washington Post »Voller unvergesslicher Charaktere und voller Atmosphäre ist Das Fenster zur Welt eine fröhliche, sommerliche Ode an die Liebe, die Kunst und die Poesie.« Mail on Sunday »Eine wunderbare, großzügige Geschichte über freundliche Herzen und verwandte Geister ... Einhoffnungsvoller, glücklicher, zutiefst menschlicher Roman"« Daily Mirror »Umwerfend, opulent und klug« The Times »Die schiere Freude an Sarah Winmans Erzählkunst ist ansteckend. Ich habe es geliebt, Zeit mit dieser unvergesslichen Gruppe von Charakteren in außergewöhnlichen Zeiten und an außergewöhnlichen Orten zu verbringen.« Graham Norton

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Seitenzahl: 704

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das Fenster zur Welt« von Sarah Winman, Elina Baumbach

Sarah Winman

Das Fenster zur Welt

Aus dem Englischen von Elina Baumbach

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Still Life« im Verlag Fourth Estate, London.

© 2021 by Sarah Winman.

Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München

Nach einem Entwurf von Ellie Game/4th Estate. Illustration: Shutterstock

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96606-0

E-Book ISBN 978-3-608-12289-3

Für Mum Für Patsy Für Stella Rudolph (1942–​2020)

»Zwei Menschen, die sich gegenseitig zur Erlösung führen, ist für mich das einzig lohnenswerte Thema.«

E. M. Forster, Commonplace Book

»Ein zentrales Anliegen des aufgeklärten Reisenden in Italien ist üblicherweise, sich mit den dortigen Kunstschätzen vertraut zu machen. Auch diejenigen, die sich gemeinhin mit Dingen prosaischer Natur beschäftigen, werden in Italien unwillkürlich zu Bewunderern von Lyrik und Kunst. Beides ist hier so sehr Teil des täglichen Lebens, dass der Reisende auf Schritt und Tritt ihrem Einfluss ausgesetzt ist und zwangsläufig empfänglich wird für die Erhabenheit der Künste.«

Karl Baedeker, Italy: Handbook for Travellers, 1899

Der Mensch als das Maß aller Dinge

1944

Irgendwo inmitten toskanischer Hügel nahmen zwei englische Jungfern, Evelyn Skinner und eine Margaret Irgendwer, auf der Terrasse eines bescheidenen albergo ein spätes Mittagessen ein. Es war der zweite August. Ein schöner Sommertag, wenn man nur vergessen könnte, dass Krieg herrschte. Das weinumrankte Spalier über ihnen und der Einfallswinkel der Sonne waren der Grund dafür, dass eine im Schatten saß, die andere im Licht. Sie aßen nur eine Kleinigkeit, feierten den Vorstoß der Alliierten aber mit einem großen Glas Chianti. Der Schatten eines Bombers, der tief über sie hinwegflog, hing für einen kurzen Augenblick über ihnen. Sie nahmen ihre Ferngläser und suchten nach den Erkennungszeichen. »Einer von unseren«, stimmten sie überein und winkten.

»Das Kaninchen schmeckt vorzüglich«, sagte Evelyn und fing den Blick des Besitzers auf, der neben der Terrassentür stand und rauchte. »Coniglio buonissimo, signore!«, wiederholte sie.

Der Signore steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und hob den Arm – teils Salut, teils Gruß, sie waren sich nicht sicher.

»Glaubst du, er ist Faschist?«, flüsterte Margaret.

»Nein, kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Evelyn. »Obwohl die Italiener politisch gesehen eher wankelmütig sind. Waren sie schon immer.«

»Ich hab gehört, sie werden jetzt erschossen, die Faschisten.«

»Jeder erschießt jeden«, sagte Evelyn.

Zu ihrer Rechten ertönte das Kreischen einer Granate, die kurz darauf auf einem entfernten Hügel explodierte und eine Gruppe kleiner Zypressen entwurzelte.

»Eine von ihren«, stellte Margaret fest und hielt den Tisch fest, um Kamera und Weinglas vor der Schockwelle zu schützen.

»Angeblich hat man den Botticelli gefunden«, sagte Evelyn.

»Welchen?«, fragte Margaret.

»Primavera.«

»Gott sei Dank«, erwiderte Margaret.

»Und Giottos Madonna aus den Uffizien. Rubens’ Nymphen und Satyrn und noch eines«, Evelyn dachte angestrengt nach. »Ah, ja«, sagte sie, »Abendmahl in Emmaus.«

»Der Pontormo! Hat man etwas von seiner Kreuzabnahme gehört?«

»Nein, noch nicht«, sagte Evelyn, während sie sich ein Stückchen Knochen aus dem Mund zog.

In der Ferne erleuchtete plötzlich Artilleriefeuer den Himmel. Evelyn sah auf und sagte: »Ich hätte nie gedacht, dass ich das in meinem Alter nochmal erleben würde.«

»Sind wir nicht gleich alt?«

»Nein. Älter.«

»Du?«

»Ja. Acht Jahre. Ich werde vierundsechzig.«

»Im Ernst?«

»Ja«, erwiderte sie und schenkte sich Wein nach. »Die Schwalben tun mir leid«, fügte sie hinzu.

»Das sind Mauersegler«, sagte Margaret.

»Bist du sicher?«

»Ja. Diese schrillen Schreie, das sind Mauersegler.« Sie lehnte sich zurück, wobei sie ein fürchterliches Geräusch von sich gab, das nicht im Geringsten nach dem Schrei eines Mauerseglers klang.

»Mauersegler«, sagte Margaret, wie um ihren Standpunkt zu unterstreichen. »Die Schwalbe ist natürlich der Florentiner Vogel, ein Sperlingsvogel der Unterordnung Singvögel. Der Mauersegler hingegen nicht. Aufgrund seiner Beine. Die Füße sind nicht besonders gut zum Laufen geeignet, aber er hat eine große Spannweite. Ein Vogel aus der Ordnung der Seglervögel oder Apodiformes. Apodiformes ist Griechisch und bedeutet ›schlecht zu Fuß‹. Die Mehlschwalbe dagegen gehört zu den Seglervögeln.«

Meine Güte, dachte Evelyn, nimmt das denn nie ein Ende?

»Schwalben«, fuhr Margaret fort, »haben einen gegabelten Schwanz und einen roten Kopf. Und eine Lebenserwartung von etwa acht Jahren.«

»Wie deprimierend. Nicht einmal zweistellig. Glaubst du, Schwalbenjahre zählen wie Hundejahre?«, fragte Evelyn.

»Nein, das glaube ich nicht. Habe ich wenigstens noch nie gehört. Mauersegler sind braun, erscheinen im Flug aber eher schwarz. Da sind sie wieder!«, rief Margaret. »Da drüben!«

»Wo?«

»Da! Du musst aufpassen, sie sind ziemlich flink und ständig in Bewegung!«

Plötzlich stürzten sich zwei Falken aus den Wolken und rissen einen der Mauersegler brutal in zwei Hälften.

Margaret schnappte nach Luft.

»Waren ziemlich flink und ständig in Bewegung«, sagte Evelyn und sah zu, wie die Falken hinter den Bäumen verschwanden. »Ein guter Tropfen, der classico. Habe ich das schon erwähnt?«

»Das hast du in der Tat«, erwiderte Margaret spitz.

»Naja, ich sag es noch einmal. Ein Jahr Besatzung hat die Qualität nicht gemindert«, ihr Blick begegnete dem des Besitzers und sie deutete auf ihr Glas, »buonissimo, signore!«

Der Signore nahm die Zigarette aus dem Mund, lächelte und hob wieder seinen Arm.

Evelyn lehnte sich zurück und legte ihre Serviette auf den Tisch. Die beiden Frauen kannten sich seit sieben Jahren. Anfangs hatten sie eine kurze Liebesbeziehung gehabt, doch schon bald war gegenseitiges Begehren einem geteilten Interesse an der toskanischen Protorenaissance gewichen – eine willkommene Wende für Evelyn, jedoch weniger willkommen für Margaret Irgendwer. Sie stürzte sich Hals über Kopf in die Ornithologie. Der Eintritt des Kriegs hatte zu Evelyns Glück weitere Avancen seitens Margaret verhindert. Doch dann kam Rom. Zwei Wochen nachdem die Alliierten in die Stadt gekommen waren, öffnete Evelyn die Tür der Villa ihrer Tante in der Via Magento und sah sich mit dem Unvorhergesehenen konfrontiert. »Überraschung!«, sagte Margaret. »So leicht wirst du mich nicht los!«

Überraschung war nicht das Wort, das Evelyn in den Sinn kam.

Sie stand auf und streckte sich. »Zu lange gesessen«, sagte sie und klopfte Krümel von ihrer Leinenhose. Stehend war sie eine beeindruckende Erscheinung mit wissendem Blick, der sowohl von Intelligenz zeugte als auch von dem Schalk, der ihr im Nacken saß. Zehn Jahre zuvor hatte sie ihr grauer werdendes Haar blond gefärbt und diese Entscheidung nie bereut. Sie ging zu dem Signore und bat ihn in perfektem Italienisch um eine Zigarette. Sie steckte sie sich zwischen die Lippen und ließ sich von ihm Feuer geben. »Grazie«, flüsterte sie, und er drückte ihr das Päckchen in die Hand und bedeutete ihr, es einzustecken. Wieder dankte sie ihm und ging zurück zum Tisch.

»Stopp«, sagte Margaret.

»Was?«

»Das Licht in deinem Gesicht. Wie grün deine Augen sind! Dreh dich ganz leicht zu mir. Bleib so.«

»Grundgütiger, Margaret.«

»Jetzt mach schon. Halt still.« Margaret nahm ihre Kamera und machte sich an der Blendeneinstellung zu schaffen.

Evelyn zog theatralisch an der Zigarette (Klick), blies Rauch in den frühen Abendhimmel (Klick) und bemerkte die sich wandelnden Farben, die untergehende Sonne, einen einsamen Mauersegler, der unruhig seine Kreise zog. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der gerunzelten Stirn (Klick).

»Was beschäftigt dich, meine Liebe?«

»Wahrscheinlich die Mücken.«

»Höre ich da ein wenig Rührseligkeit heraus?«, fragte Margaret. »An was denkst du?«

»An nichts Neues.«

»Da spricht der Lagerkoller«, erwiderte Margaret. »Wir können nicht vorrücken, uns bleibt nur der Rückzug.«

»Das ist nichts Neues«, sagte Evelyn.

»Genau wie die Minen der Deutschen, Dummchen!«

»Ich will einfach nur nach Florenz. Irgendetwas tun. Mich nützlich machen.«

Der Besitzer kam und räumte den Tisch ab. Auf Italienisch bot er ihnen Kaffee und Grappa an, was sie dankbar annahmen; dann riet er ihnen, sich nicht wieder zu weit zu entfernen, und sagte, seine Frau würde später die Fensterläden in ihrem Zimmer schließen. Ach, und hätten sie gerne ein paar Feigen?

»Oh, sì, sì. Grazie.«

Evelyn blickte ihm hinterher, als er davonging.

»Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen«, sagte Margaret. »Robin Metcalfe hat mir erzählt, du hättest Forster getroffen.«

»Wen?«

»Den mit der Aussicht.«

Evelyn lächelte. »Ach ja, genau.«

»So wie Robin Metcalfe es erzählt, hört es sich an, als wärt ihr die besten Freunde gewesen.«

»Lächerlich! Wenn du es genau wissen willst, habe ich ihn bei einem Abendessen – es gab Kochfleisch – in der furchtbaren Pensione Simi kennengelernt. Wir waren die armselige Besatzung eines kleinen Schiffes an den Ufern des Arno, verzweifelt auf der Suche nach dem wahren Italien, und das mit einer waschechten Londoner Vermieterin. Gott hab sie selig.«

»Cockney?«

»Ja.«

»Warum eine Cockney?«

»Keine Ahnung.«

»Ich meine, warum in Florenz?«

»Ich habe sie nie gefragt.«

»Jetzt würdest du fragen«, sagte Margaret.

»Jetzt würde ich mit Sicherheit fragen«, entgegnete Evelyn und nahm sich eine Zigarette.

»Ist wahrscheinlich als Kindermädchen hergekommen«, überlegte Margaret.

»Ja. Wahrscheinlich«, Evelyn öffnete die Streichholzschachtel.

»Oder als Gouvernante. Das wird es sein.«

Evelyn riss ein Streichholz an, hielt es an die Zigarette und inhalierte.

»Wusstest du, dass er an einem Buch schrieb?«, fragte Margaret.

»Meine Güte, nein. Er war erst seit Kurzem Gelehrter, wenn ich mich richtig erinnere. Noch beansprucht von den Nachwehen seines Abschlusses – schüchtern, unbeholfen, du weißt schon. Ausgesetzt in der Welt ohne jegliche Erfahrung.«

»Waren wir nicht alle so?«

»Ja, das waren wir wohl«, erwiderte Evelyn, nahm eine Feige und drückte mit dem Daumen gegen die empfindliche, weiche Schale. »Das waren wir wohl«, wiederholte sie leise.

Sie brach die Frucht in zwei Teile und betrachtete das erotisch glitzernde Fleisch. Sie errötete und hätte es auf das hereinbrechende Abendlicht geschoben, auf die Wirkung des Weins und des Grappas und der Zigaretten, aber in ihrem Herzen, in einem verborgenen, sorgsam behüteten Teil von ihr regte sich leise eine Erinnerung und versetzte sie in stille Aufruhr.

»Auf merkwürdige Weise charismatisch allerdings«, sagte sie und kam wieder in die Gegenwart zurück.

»Forster?«, fragte Margaret.

»Ja, wenn er allein war. Aber die Anwesenheit seiner Mutter nahm ihm jede Luft zum Atmen. Jede Rüge schnürte ihm die Kehle zu. Seltsame Beziehung. Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Sie, mit ihrem Sonnenschirm und ihrem Riechsalz, und er, in schlechtsitzendem Anzug, mit einem abgegriffenen Baedeker in der Hand.«

Margaret griff nach Evelyns Zigarette.

»Ich weiß noch, wie er immer in einem ruhigen Moment auftauchte. Man sah ihn, aber man hörte ihn nie. Groß und schlaksig in der Ecke. Oder mit einem Notizbuch im Salon. Immer am Kritzeln. Hat einfach beobachtet.«

»So fängt es doch an, oder?«, fragte Margaret und gab die Zigarette zurück.

»Was?«

»Ein Buch.«

»Ja, vermutlich.«

»Diese kurzen Augenblicke, die sonst niemand bemerkt. Die kleinen, heiligen Momente des Alltags.« Sie nahm ihre Kamera (Klick). »Wie dieser Moment (Klick). Oder dieser.«

»Meine Güte, hör auf damit, Margaret. Was ist los mit dir?«

Margaret nahm die Kamera herunter. »Du siehst nicht, was ich sehe«, sagte sie in verführerischem Ton.

»Du hast da was zwischen den Zähnen.«

»Wieso hast du nichts gesagt?«

»Habe ich doch. Jetzt gerade.«

Margaret wandte sich ab und nahm die Hand vor den Mund. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne.

»Besser?« Sie bleckte die Zähne.

»Ja.«

Unvermittelt arrangierte Margaret den Aschenbecher, die Feigen und das Weinglas auf dem Tisch neu. Sie änderte die Blendeneinstellung (Klick). Sie verschob das Weinglas, die Zigarettenpackung (Klick) (Klick) (Klick) (Klick).

»Ich war einundzwanzig, als ich das erste Mal nach Florenz kam«, sagte Evelyn. »Hab ich das erwähnt?«

»Ja, ich glaube, das wissen wir alle«, entgegnete Margaret.

»Oh.«

Evelyn fuhr fort: »Die Wirtin des Simi hatte eine Bedienstete, ihr Mädchen für alles. Sie stand während der Mahlzeiten immer in der Ecke des Speisesaals, beobachtete uns ständig, stets bereit, uns zu bedienen und den Tisch abzuräumen, stets dabei, uns jeden Wunsch von den Augen abzulesen.«

(Klick.)

»Sie fiel auf«, sagte Evelyn. »Aufgeweckt. Hübsch.«

(Klick.)

Margaret lehnte sich zurück. »Wie hübsch?«, fragte sie.

»Sie war ein Kunstwerk Leonardos«, erwiderte Evelyn.

»Welches?«

»Dame mit dem Hermelin.«

»Oha«, sagte Margaret und zog eine Augenbraue hoch.

»Nicht ihrer Garderobe nach natürlich – die war abends hauptsächlich schwarz-weiß, weiß, wenn sie das Frühstück servierte. Immer zugeknöpft, aber das war damals eben so. Das waren wir wahrscheinlich alle. Doch ihre Haut, ihre Augen, diese Haarsträhne, die ihr immer in die Stirn fiel, die roten Wangen.«

»Du warst offenbar ziemlich angetan von ihr?«

»Alle waren angetan von ihr«, gab Evelyn zurück.

»Selbst Forster?«

»Nein, meine Liebe. Der war schwul.«

Evelyn pausierte. Margaret beobachtete sie aufmerksam, während sie die Asche von ihrer Zigarette abklopfte.

»An jenem Abend war er nicht da«, fuhr Evelyn fort. »Der Abend meines Geburtstags. Er war noch nicht in der Pension.«

»Wie hieß sie?«, unterbrach Margaret sie.

»Ich weiß ni…«

»Hm, wir sollten ihr einen Namen geben.«

»Nein, wir sollten …«

»Irgendetwas wie Beatrice!«

»Grundgütiger, Margaret! Es geht nicht um den Namen, es geht um den Moment. Das ist alles. Ihr Name spielt keine Rolle.«

»Apologees«, erwiderte Margaret, wobei sie sich theatralisch zurücklehnte und sich dem Rest ihres Grappas widmete. »Continuez.« Evelyn fuhr fort: »Sie wusste, dass mein Geburtstag bevorstand, da seit Tagen über nichts anderes gesprochen wurde, und obwohl sie kaum Englisch sprach, verstand sie, worüber wir uns unterhielten. Eine sonderbare Weltgewandtheit – nichts zu sagen und doch alles zu verstehen. Sie bat Signora Cockney um Erlaubnis, sich für unseren Abend um das Essen kümmern zu dürfen, um uns allen – in Wirklichkeit mir – etwas ganz Besonderes zuzubereiten. Signora Cockney war natürlich begeistert, weil das für sie weniger Arbeit bedeutete, und sie ging früh schlafen.«

»Was kein großer Verlust war«, ergänzte Margaret.

»Ganz im Gegenteil«, bestätigte Evelyn. »Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als ich die Treppe herunterkam und …«

»Du bist ohne Begleitung gereist?«, unterbrach Margaret wieder.

»Ja. Ohne Anstandsdame bis nach Rom.«

»Ohne Anstandsdame? Wie um alles in der Welt …?«

»Margaret, bitte. Wir waren keine konventionelle Familie. Skandale gehörten bei uns zum Erwachsenwerden. Darf ich fortfahren?«

Margaret bedeutete ihr, fortzufahren.

»Ich hätte merken sollen, dass da etwas im Busch war, als ich in den Salon kam und alle schlagartig verstummten. Constance Everly hat mich angelächelt, meine Hand genommen und …«

»Constance Everly?«

»Ja.«

»Die Dichterin?«

»Ja. Constance Everly, die Dichterin, Margaret.«

Evelyn lehnte sich erschöpft zurück. Nie konnte sie eine Geschichte erzählen, ohne unterbrochen zu werden.

»Und?«, fragte Margaret.

»Und was?«

»Constance Everly nahm deine Hand …?«

»Und. Drückte. Sie«, sagte Evelyn.

»Warum redest du so komisch?«

»Für den Fall, dass du mich wieder unterbrechen willst. Ich mache Pausen. Zwischen. Den Wörtern. Damit du nicht dazwischenfunken und stören kannst, wenn …«

»Ach, erzähl einfach die verdammte Geschichte, Evelyn.«

Evelyn lachte. »Constance ging mit mir in den Speisesaal. Überall standen Kerzen, und in der Mitte des Tisches standen eine Reihe Weißer Veilchen – schwer aufzutreiben zu der Jahreszeit – und Rosmarinzweige, und der Duft war berauschend. Irgendjemand hatte sich offensichtlich Gedanken über die Dekoration gemacht, darüber, wie der Raum auf die wirken würde, die hereinkamen. Große Steingutkannen mit Wein und fiaschi – in Stroh gewickelte Flaschen – standen auf dem Tisch, und das Dienstmädchen schenkte mir ein und ließ mich Platz nehmen. Dann kamen die anderen Gäste – sie waren sichtlich ergriffen von der Schönheit, der bellezza, unseres Moments. Endlich hatten wir unseren authentisch italienischen Abend. Sie servierte uns einfache papardelle mit einem ragù …«

»Bestimmt hat sie Suppenfleisch verwendet«, warf Margaret ein.

»Und Kaninchen mit weißen Bohnen und einem herben, grünen Gemüse, das sie wahrscheinlich am Straßenrand in Fiesole oder Settignano gesammelt hatte. Es war zubereitet nach ripassati-Art mit Knoblauch und Öl. Sie servierte das Essen, und als sie alle bedient hatte, stellte sie sich in ihre Ecke abseits vom Kerzenlicht und beobachtete uns beim Essen. Sie genoss unseren Genuss, und ich konnte mich nicht von ihrem Anblick losreißen. Ich war einundzwanzig, als mir dieser Abend geschenkt wurde, und die Bedeutung dieses Geschenks entzog sich meinem Verständnis. Erst später begriff ich, was sie mir hatte zeigen wollen.«

»Ach ja? Und was wollte sie dir zeigen?«

»Ein Fenster zu ihrer Welt. Unbezahlbar.«

Margaret schenkte sich ein weiteres Glas Grappa ein und nippte daran. Sie kniff die Lippen zusammen. »Das hast du mir noch nie erzählt.«

»Ach nein?«

»Daran würde ich mich erinnern. Warum jetzt?«

Ja, warum jetzt?, dachte Evelyn und sagte: »Das Kaninchen.«

»Das Kaninchen?«

»Ja.«

»Hast du seitdem kein Kaninchen mehr gegessen?«

»Und die Musik.«

»Welche Musik?«

»Die Ouvertüre zu Spontinis La Vestale. Der Signore hat sie heute Morgen gespielt. Einfach eine Erinnerung an das Teatro Verdi.«

»Und hier endet die Geschichte, nehme ich an?«

»Beinahe«, erwiderte Evelyn. »Nach dem Essen gingen die anderen Gäste wie üblich auf ihre Zimmer. Irgendwo war leise ein Klavier zu hören. Ich sagte Constance, dass ich noch bleiben und mich bei dem Mädchen bedanken wolle, und sie ging ins Rauchzimmer. Da stand ich nun, in einem Schlachtfeld aus Weingläsern und welkenden Kerzenstumpen. Und dann kam das Dienstmädchen. Ich glaube, sie hat mich zuerst gar nicht bemerkt – sie wirkte abwesend, ihr Gesicht war leicht gerötet. Doch dann entdeckte sie mich. Sie nahm eines der Veilchen und gab es mir. Per voi, sagte sie. Für mich. Der Abend war für mich, das wusste ich. Ich bedankte mich, nahm das Veilchen und ging aus dem Zimmer. Später habe ich es in meinem Baedeker gepresst.«

»Hast du es noch?«

»Den Bae…«

»Das Veilchen.«

»Ich glaube nicht. Nach all den Jahren, Margaret. Warum sollte ich?« Evelyn zündete sich eine Zigarette an und sie schwiegen. Sie konnte Margarets Blick auf sich lasten spüren. Die stumpfe Schneide ihrer Eifersucht.

»Was du alles erlebt hast«, sagte Margaret kühl.

Die Sonne näherte sich dem Horizont, und die Schatten wurden länger. Die Wärme des Tages ergab sich zögerlich der allabendlichen Brise. Aus dem Inneren des Hauses klang das Rattern einer Nähmaschine: Die Signora stopfte Laken. Irgendwo spielte leise ein Radio – ein klandestiner Kanal, über den die Alliierten und die Widerstandsbewegung in Kontakt blieben.

»Ich glaube, ich gehe rein und lese. Du?«, fragte Margaret.

»Ich bleibe noch ein Weilchen. Rauche die Zigarette zu Ende. Genehmige mir noch einen Grappa.«

»Geh nicht zu weit weg.«

»Mache ich nicht. Nur bis zu der Landstraße. Und da bleib ich dann ganz artig stehen. Und hoffe auf ein Taxi oder ein Pferd oder irgendetwas, das kommt und mich zu Tode trampelt.«

Evelyn sah Margaret hinterher, als sie durch die Tür verschwand, und spürte, wie sich die Anspannung in ihren Schultern löste. Sie stand auf, trank den Grappa aus und spazierte zur Straße. Das unerwartete Dröhnen eines alliierten Fliegers in der Ferne ließ sie ihren Blick suchend auf die Grundstücksgrenze richten. Sie holte ihr Fernglas hervor. Die Zypressenhügel lagen bereits im Dunkeln. Es war nicht kalt, doch das schräg einfallende Licht und das malvenfarbene Leuchten der Landschaft ließen sie erschauern. Vor beinahe fünfundvierzig Jahren hatte sie sich in ein junges Dienstmädchen namens Livia verliebt. Weit entfernt das Krachen von Geschossen wie Donnerschläge. Geschützfeuer blitzte auf und teilte den Himmel. Natürlich hatte sie das verdammte Veilchen aufbewahrt.

In einem Wald irgendwo zwischen Staggia Senese und Poggibonsi warteten alliierte Truppen auf ihren Einmarsch in Florenz. Die Dämmerung senkte sich, und zwischen den Bäumen erklang ein Akkordeon, gestohlen aus einer Fabrik bei Triest.

Ein junger Mann stand neben seinem Jeep und betrachtete sich in einem zerbrochenen Spiegel: Wangen und Kinn bedeckt mit Rasierschaum. Vorsichtig zog er die Rasierklinge über die Rinne zwischen Nase und Oberlippe, wobei er die Narbe vermied, die sich dort vor zwei Jahren gebildet hatte.

Sein blondes Haar schimmerte rötlich unter der frühen Abendsonne. Niemand in seiner Familie – beide Seiten hatten dunkles Haar – konnte sich erklären, von wem er das Rot geerbt hatte, und sein Vater witzelte gerne, dass er in dem Winter, als sein Sohn gezeugt wurde, reichlich Rote Bete gegessen habe. »Du wurdest eingefärbt«, sagte ihm sein Vater immer.

Die Gesichtszüge hatte er von seiner Mutter: die schmale, gerade Nase, ein klein wenig zu lang, als dass man die Proportionen als ausgewogen hätte bezeichnen können. Die nach oben geschwungenen Augenbrauen erweckten den Eindruck eines guten Zuhörers, und seine Ohren, wenn auch nicht übermäßig abstehend, waren auffallend aufmerksam. Wenn er lächelte, was er oft tat, bildeten sich Grübchen in seinen Wangen, die auf sein Gegenüber sofort entwaffnend wirkten.

Seine Frau, Peg, war der Meinung, er sollte – in Anbetracht der Tatsache, dass er nur die besten Eigenschaften seiner Mutter geerbt hatte – eigentlich attraktiver sein. Sie meinte es als Kompliment, doch ihre Worte waren ein zweischneidiges Schwert, heiß und kalt, gütig und grausam, aber das war eben Peg. Niemand konnte ahnen, dass er Jahre später seine Apotheose erfahren würde. Er sollte ein relativ attraktiver Mann mittleren Alters werden und ein bemerkenswert gutaussehender älterer Mann.

Er freute sich über das Kreischen der Vögel, die über ihm ihre Runden zogen. Wie er waren sie allen Widrigkeiten zum Trotz Hunderte Kilometer nach Norden gereist, um im Hier und Jetzt anzukommen – die Mauersegler Ende März, er im Juni –, und die Liste der Beinaheunglücke und der geglückten Fluchten, die er auf seiner Reise durch Afrika, Sizilien und entlang der Adria durchlebt hatte, würden jeden Priester und jeden Astrologen in Staunen versetzen. Irgendetwas hatte über ihn gewacht. Wieso nicht auch ein Mauersegler?

Er sah auf die Uhr, wusch sich das Gesicht und lud seine Tasche und sein Gewehr in den Jeep, als Sergeant Lidlow aus dem Speisezelt kam.

»Wohin geht’s, Temps?«

»Den Captain abholen, Sarge.«

»Sei so gut und bring mir ein, zwei Flaschen mit.«

Ulysses schaltete die Zündung ein, und der alte Jeep sprang sofort an.

Er fuhr den Hügeln entgegen und ließ die dunklen Silhouetten der Panzer und der Männer hinter sich. Er kam an mehreren Alliierten-Lagern vorbei, überall junge Männer wie er, vorzeitig gealtert. Das weiche Licht folgte ihm durch Wälder und Wiesen, bis nur noch Zirrusrosa den Himmel färbte und die Nacht aus dem Westen heranjagte. Er hatte versucht, sich seine Ambivalenz diesem Land gegenüber zu bewahren, jedoch vergebens. Italien versetzte ihn in Staunen, dafür hatte Captain Darnley gesorgt. Zusammen hatten sie das Land bereist, vornehmlich als Kundschafter, doch hin und wieder waren sie einfach umhergewandert; sie kamen durch abgelegene Dörfer, stießen auf Fresken und kleine Kapellen.

Etwa einen Monat zuvor waren sie nach Orvieto gefahren, eine Stadt erbaut auf einem gigantischen Felsbrocken, der hoch über dem Paglia-Tal aufragt. Sie hatten auf der Motorhaube des Jeeps gesessen und Rotwein aus ihren Feldflaschen getrunken, während über ihnen Bomber zum Monte Cetona nahe der toskanischen Grenze donnerten. Schwankend hatten sie den Dom betreten und die Kapelle San Brizio, wo sich Luca Signorellis Meisterwerk, der Freskenzyklus Die vier letzten Dinge: Tod, Gericht, Hölle und Himmel befand. Obwohl keiner der beiden gläubig war, fühlten sie sich von den Abbildungen zur Rechenschaft gezogen.

Darnley erzählte ihm, dass 1899 Sigmund Freud die Kapelle besucht hatte, er sich aber nicht an Signorellis Namen erinnern konnte. Dies hatte er als Abwehrmechanismus der Verdrängung bezeichnet, später einer der Grundpfeiler in Freuds Traumdeutung. »Ach Gott, das weißt du wahrscheinlich schon, Temps, oder?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte Darnley hinaus an die junge Junisonne und ließ Ulysses zurück, dem schwindlig geworden war von diesem Strudel aus Informationen und Darnleys unerschütterlichem Vertrauen in ihn.

Die Straße machte eine Biegung und aus einer Baumgruppe in der Ferne flackerte ein Lichtstrahl über sein Gesicht. Er bremste ab und blieb mit laufendem Motor stehen. Durch seinen Feldstecher konnte er am Straßenrand eine Frau erkennen, die ihn ebenfalls durch ein Fernglas beobachtete.

Mit Zigarette in der Hand winkte sie ihm zu, und als der Jeep neben ihr zum Stehen kam, rief sie: »Ach, Gott sei Dank! 8. Armee?«

»Nur ein kleiner Teil davon, fürchte ich«, sagte Ulysses, und sie gab ihm die Hand. »Ich bin Evelyn Skinner.«

»Private Temper«, erwiderte Ulysses. »Woher kommen Sie, Miss Skinner, wenn ich fragen darf?«

»Rom«, antwortete sie.

»Wie? Jetzt?«

»Gütiger Himmel, nein! Aus dem albergo hinter dem Wäldchen da. Ich bin vor einer Woche mit einer Freundin angereist, und wir haben in Cortona Halt gemacht, um eventuelle Beschädigungen des Francesco di Giorgio zu untersuchen. Wie durch ein Wunder unversehrt. Seitdem warten wir.«

»Auf was warten Sie?«

»Ich versuche die Militärregierung der Alliierten zu kontaktieren.«

»Zu welchem Zweck?«

»Um mit den Kunstschutzoffizieren zusammenzuarbeiten. Sie wissen, dass ich hier bin, aber sie haben mich scheinbar im Stich gelassen. Ich bin Kunsthistorikerin und dachte, ich könnte von Nutzen sein, sobald all die Werke aus Museen und Kirchen ausfindig gemacht werden. Sie wurden alle hier in der Gegend beschlagnahmt, die ganzen Meisterwerke. Die üblichen Verdächtigen, sogar der gute, alte Cimabue. Aber das wissen Sie vermutlich, oder?«

Ulysses lächelte. »Ich habe Gerüchte zu Ohren bekommen, Miss Skinner.«

»Haben Sie Feuer?«, fragte sie.

»Davon würde ich abraten. Da, sehen Sie, was mir passiert ist«, und er deutete auf die Narbe über seiner Lippe. »Heckenschütze. Knapp verfehlt.«

Evelyn starrte ihn an.

»Aber Sie wurden getroffen.«

»Allerdings nicht der wichtige Teil«, erwiderte er und tippte sich an die Stirn. »Hat mir aber beinahe die Lippen weggeblasen. Und was würden Sie dann machen?«

»Mir mit meinen Plosivlauten schwertun, Private Temper. Und jetzt, Feuer. Bitte.«

Ulysses beugte sich zu ihr und riss ein Streichholz an.

»Danke«, sagte sie und blies den Rauch in einem perfekten Ring aus. Sie hob ihren Arm und sah sich um. »Sehen Sie? Keine Heckenschützen. Also, denken Sie, Sie können mir helfen? Ich werde Ihnen auch nicht zur Last fallen. Und meine Lippen, obgleich vollkommen intakt, sind für immer versiegelt. Was sagen Sie?«

»Sie bringen mich da in eine ungemütliche Lage, Miss.«

»Nun, das ist Ihnen sicherlich nicht neu.«

»Glauben Sie an Schicksal, Miss Skinner?«

»Schicksal? Es ist ein Geschenk. Laut Dante jedenfalls.«

»Ein Geschenk? Das gefällt mir. Dann kommen Sie, Miss, steigen Sie ein.«

»Ach, spar dir das Miss. Grundgütiger«, sagte Evelyn und setzte sich neben ihn. »Ich heiße Evelyn. Und du?«

»Ulysses.«

»Ulysses! Wundervoll! Und gibt es eine Penelope, die auf dich wartet?«

»Nein. Nur eine Peggy. Und ich bezweifle, dass sie wartet.« Und er ließ den Jeep an und fuhr los.

Der vereinzelte Beschuss, der den Nachmittag eskortiert hatte, war eingestellt worden, und ein zerbrechlicher, beinahe glaubhafter Friede legte sich über die bewaldeten Hügel und ihre Schutzhütten, über die dunkle Symmetrie der Weinreben, die die Hänge flankierten.

Ulysses steckte sich eine Zigarette an.

»Also«, sagte Evelyn, »erzähl mir …«

»London. Vierundzwanzig. Verheiratet. Keine Kinder.«

Evelyn lachte. »Das ist nicht das erste Mal.«

»Man muss schnell schalten, oder? Könnte morgen schon tot sein. Du?«

»Kent. Vierundsechzig. Unverheiratet. Kinderlos. Und dein Leben vor all dem hier?«

»Globen«, antwortete er. »Pa hat sie gebaut, ich hab sie verkauft. Als er gestorben ist, hab ich dann angefangen sie zu bauen.«

»Dank dir dreht die Welt sich weiter!«

»Falls du mal einen Globus von Temper & Sohn zu Gesicht bekommst, kannst du irgendwo darauf den Namen meiner Mutter entdecken.«

»Eine Stadt namens …?«, fragte sie.

»Nora.«

»Wie romantisch.«

»Schön, oder?«

»So wie du und Peggy?«

»Nein, Peggy und ich sind das Gegenteil. Wenn es nach mir ginge, würde ich Sterne nach ihr benennen. Wir haben nach einem Besäufnis geheiratet, das war die einzige Möglichkeit für uns. Als sie am Morgen danach den Ring gesehen hat, hat sie mir ins Gesicht geschlagen. Trotzdem der glücklichste Tag meines Lebens. Dann bin ich zur Armee, und wir waren wieder Fremde.«

»Schreibt ihr euch denn nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir wissen beide, was der andere macht«, sagte er. »Tatsache ist, dass es am Ende immer nur uns gab. Immer dieser Funke, wenn das Licht ausgeht. Ist das Liebe?«

»Da fragst du die Falsche. Auf dieses Pferd habe ich nie gesetzt.«

»Nie?«

»Einmal. Zweimal vielleicht.«

»Einmal reicht. Man muss wissen, wozu das Herz fähig ist, Evelyn.«

»Und du weißt, wozu es fähig ist?«

»Ja. Zorn und Gnade.«

Evelyn lächelte und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.

»Also war das«, sie deutete auf seine Lippe, »kein Heckenschütze, sondern Peg.«

»Nein, das war ganz sicher ein Heckenschütze. Hier«, er hob seinen rechten Unterarm und zeigte ihr die Narbe an seinem Handgelenk. »Granatsplitter.« Er neigte seinen Kopf und strich die Haare zur Seite. »Heckenschütze«, sagte er. Er zog das Hosenbein hoch. Evelyn zuckte zusammen. »Artilleriefeuer. Die Wunde hat sich entzündet. Und das hier«, und er knöpfte sein Hemd auf.

»Ach du lieber Gott«, stieß Evelyn hervor. »Noch so ein knapp verfehlt?«

»Nein. Gerade noch davongekommen. Das ist was anderes.«

»Inwiefern?«

»Alles eine Frage der Einstellung. Wie ich das Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt sehe. Die letzte Narbe stammt aus Triest, und seitdem war nichts mehr. Und jetzt weiß ich, dass ich nicht sterben werde, und ich bin wesentlich glücklicher.«

»Wie bitte?«, fragte Evelyn.

»Dass ich nicht hier sterben werde, meine ich.«

»Hier in Italien?«

»Hier im Krieg«, erwiderte er. »Das ist wie eine Schuld, die auf einem lastet. Man weiß, dass sie irgendwann eingefordert wird, aber nicht, wie sie eingefordert wird. Ich meine diese ganzen Gelegenheiten, die sie hatten, mich umzubringen. Ich bin immer noch hier. Dafür gibt es einen Grund.«

»Mangelnde Treffsicherheit könnte einer sein«, sagte Evelyn.

»Du bist witzig, Evelyn.«

»Und du bist ein äußerst optimistischer junger Mann.«

»Das bin ich«, sagte er, »schön, dass dir das aufgefallen ist.« Den Optimismus habe er von seinem Vater, Wilbur, fuhr er fort, dessen weiser Rat ›Das Leben ist, was du daraus machst, Junge‹ schon seit Kindheitstagen tief in ihm verwurzelt war. »Er war ein Träumer«, sagte Ulysses. »Hatte das Glück des Verlierers und ein gewinnendes Lächeln. Und ohne das mulmige Gefühl in der Magengegend, das er seinen Wetten zu verdanken hatte – ein Gefühl, das er oft mit Liebe gleichsetzte –, war er nie wirklich zufrieden. Aber dann ist es eines Tages wirklich passiert. Er ging in den Pub, stieg auf einen Tisch und verkündete, dass er sich Hals über Kopf verliebt hätte. Alle dachten, sie wäre irgendein hübsches, junges Ding, aber das stimmte nicht. Sie war beinahe so alt wie er, schlitterte auf die sechzig zu. Ein müdes, freundliches Gesicht, mit stechend blauen Augen, die ihn ansahen, als wäre er der neue Messias. Und zwei Monate später – aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz – teilte sie ihm mit, dass sie sein Kind erwartete. Für beide ein erstes Mal.«

»Die schönsten Worte, die es gibt«, sagte Ulysses.

»Ich erwarte dein Kind?«, fragte Evelyn.

»Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz.«

Doppeltes Glück – Ehefrau, und Kind unterwegs – brachte Wilbur Temper wieder auf den Geschmack, er hatte wieder dieses Wettgefühl in der Magengegend.

»Und seine Hände und Fußsohlen fangen an zu kribbeln«, erzählte Ulysses weiter, »er kennt dieses Gefühl, es ist Siegesgewissheit, und wenn man sich so fühlt, muss man etwas unternehmen, denn alles andere wäre unnatürlich. Also geht er zu meiner Ma und sagt ihr, was er vorhat. Zum letzten Mal, befiehlt sie. Zum letzten Mal, verspricht er. Sein Kumpel Cressy hat ihm nämlich von diesem illegalen Windhund-Rennen in Essex erzählt, streng geheim, hohe Einsätze. Also fahren sie zusammen raus, studieren Form und Verfassung, und Cressy kritzelt eine eindrucksvolle Konstellation aus Zahlen, Subtraktion und Addition in sein Notizbuch, eine algebraische Formel zum Glück. Letztes Rennen. Alles auf Schwarz. Das hat er immer gesagt. Alles oder nichts. Und mein Pa setzt alles auf einen braunweißen Hund namens Ulysses’ Boy, bei einer Wettquote von 100:1. Der Rest ist Geschichte. Der Hund gewann das Rennen, und war so ausschlaggebend für zwei Dinge: genug Geld für einen kleinen Laden, in dem mein Pa seine Globen verkaufen konnte, und einen denkwürdigen Namen für seinen Sohn und Erben.«

»Du wurdest nach einem Windhund benannt?«, fragte Evelyn.

»Nach einem Gewinnerhund, Evelyn. Einem Gewinner.«

Die erdrückende Anwesenheit von Artillerie und Infanterie zeigte sich schon lange vor der Villa. Am Checkpoint wurden sie einfach durchgewunken. In der Einfahrt standen Wachposten, und italienische Zivilisten stellten ›Zutritt verboten‹-Schilder vor allen Eingängen des prachtvollen Gebäudes auf. Captain Darnley erwartete sie bereits. Er putzte gerade seine Brille mit einem Hemdszipfel und sah mit zusammengekniffenen Augen auf, als der Jeep sich näherte. Sein dunkles Haar war an den Schläfen frühzeitig ergraut, was ihn älter als seine dreißig Jahre erscheinen ließ. Die dunklen Augen blickten aus dunklen Höhlen und verliehen ihm einen Ausdruck von kontinuierlichem Kummer. Er setzte seine Brille wieder auf und ging zu dem Jeep.

»Temps!«, rief er. »Temps!«

Ulysses parkte und stieg aus.

»Was liegt an, Sir?«, fragte er.

»Wir haben einen Keller entdeckt. Jerry muss ihn übersehen haben. Wir trinken schon den ganzen verdammten Tag. Ich glaub, ich hab mich nüchtern getrunken.«

»Nein, noch nicht, Sir. Sir, das ist Miss Evelyn Skinner. Miss Skinner, Captain Darnley.«

Sie gaben sich die Hand. »Ist mir ein Vergnügen, Miss Skinner«, sagte Darnley.

»Ebenso, Captain«, antwortete Evelyn.

»Miss Skinner ist Kunsthistorikerin«, sagte Ulysses. »Sie versucht die Kunstschutzoffiziere der alliierten Militärregierung zu kontaktieren. Ich dachte, sie könnten vielleicht hier sein, Sir.«

»Bisher noch nicht, Temps«, erwiderte Darnley. »Aber keine Sorge, Miss Skinner, wir besorgen Ihnen einen Kontakt. Aber jetzt kommen Sie erstmal mit. Komm, Temps, du auch.«

Sie gingen auf die Villa zu, und er sagte: »Ist eine gute Ausbeute. Erst vor vierundzwanzig Stunden entdeckt.«

Als sie über den Hof gingen und an den Wachen vorbeikamen, fragte Evelyn: »Verstehe ich Sie richtig, Captain Darnley?«

»Hier entlang«, sagte Darnley und stemmte die Flügel der großen, barocken Holztür auf, die in den salone führte. Der Gestank überwältigte sie.

»Ach du liebes Bisschen!«, stieß Evelyn aus und hielt sich die Nase zu.

»Tut mir leid, Miss Skinner«, sagte Darnley, »ich hätte Sie vorwarnen sollen. Die Deutschen scheißen gerne alles voll, bevor sie den Rückzug antreten. Passen Sie auf, wo sie langgehen. Ist eine ziemlich üble Kloake hier.«

Außer den dunklen Umrissen der Möbel konnte man kaum etwas erkennen. Die Fensterläden waren geschlossen, die Luft stand totenstill, und die Fliegen schwirrten fröhlich. Unter ihren Füßen das Geräusch zerbrochenen Glases und zerbrochener Fliesen, und Staub, den sie mit ihren Schritten aufwirbelten. »Warten Sie hier«, sagte Darnley und ging zu einer Lampe auf der anderen Seite des Zimmers. Er bückte sich, riss ein Streichholz an und hob mit theatralischer Geste die Lampe. Ein Leuchten erfüllte das Zimmer, und in der Mitte, erwachsen aus Gestank und Finsternis, stand ein großes, unbeschädigtes Altargemälde.

»Ach du meine Güte«, flüsterte Evelyn.

»Ulysses Temper, Miss Evelyn Skinner, ich würde Ihnen gerne Pontormos Kreuzabnahme vorstellen.«

»Denken Sie, wir könnten es vielleicht gleich mitnehmen und denen die Mühe sparen, Captain Darnley?«, fragte Evelyn.

Darnley lachte. »Wir können ja fragen.«

»Was genau ist das, Sir?«

»Eines der vortrefflichsten Altargemälde, die das Leben Christi darstellen, Temps. Oder etwa nicht, Miss Skinner?«

»Sie haben recht, Captain. Gemalt für die Capponi-Kapelle, in der Kirche von Santa Felicità, wo es über dem Altar hängen sollte. Fertiggestellt circa 1528. Den Stil nennen wir frühen Manierismus, Ulysses – ein Bruch mit Traditionen, nichts weiter –, weg von den klassischen Vorbildern der Hochrenaissance und allem, was man damit verband. Man sieht, dass es eine gewollte Verleugnung des realistischen Stils ist, durchdacht und künstlich. Das Licht – hier, schaut – theatralisch.«

Und sie ging dazu über, den Unterschied zwischen einer Kreuzabnahme und einer Grablegung zu erläutern. Die Verwendung der Farben, gleich einem Traum, die Klarheit in der Abbildung, der Tanz.

»Es geht um Gefühle, Ulysses«, sagte sie, »das ist alles. Wir alle versuchen uns einen Reim auf etwas zu machen, auf das wir uns keinen Reim machen können.«

Leises Gelächter drang in das Zimmer.

»Es ist einfach die Leiche eines jungen Mannes, die seiner Mutter gezeigt wird«, sagte Darnley.

»Immer dasselbe alte Lied«, sagte Evelyn.

»Das da wäre?«

»Trauer, Temps. Einfach verdammt viel Trauer.«

Sie wagten sich weiter in das Innere der Villa vor. Wachen des Militärs und italienische Aufseher beladen mit religiösen Artefakten und Statuen marschierten an ihnen vorbei. Sie traten zur Seite, um Filippo Lippis Verkündigung durchzulassen, die unsanft an ihnen vorbeimanövriert wurde.

Darnley blieb vor einer kleinen Holztür stehen. »Hier wären wir«, sagte er. »Das am schlechtesten gehütete Geheimnis der Toskana. Wollen wir?«

Kerzenlicht schien auf die knapp bemessenen Stufen eines Treppenabgangs. Ein starker Geruch von feuchtem Stein und Talg machte sich breit, und die Luft wurde dünner, je weiter sie hinunterstiegen. Die Treppe endete schließlich in einem geräumigen, von Öllampen erleuchteten Keller. Was aussah wie Blutflecken am Boden, war in Wirklichkeit der Inhalt Dutzender aufgebrochener Eichenfässer. Papiere und Bücher lagen verstreut herum, und die Decke wurde von Holzbalken gestützt. Man hatte einen Weg durch Schutt und Asche geräumt, hin zu einer Regalwand, die sich bei näherer Betrachtung als ein hervorragendes Trompe-l’œil entpuppte. Als sie näher kamen, konnte Ulysses den deplatziert wirkenden Umriss einer Tür erkennen.

»Abrakadabra«, verkündete Darnley.

»Was ziehen Sie noch alles aus dem Hut, Captain?«

»Jetzt nichts mehr, Miss Skinner. Bitte, nach Ihnen.«

Darnley öffnete die Tür, und Gespräche und Musik quollen heraus. Dahinter lag ein langer, schmaler Korridor, und das schwache Kerzenlicht vermochte es nicht, bis in die Ecken vorzudringen, die von caravaggioesken Schatten besetzt wurden. Glasscherben bedeckten den Boden, und zwei ausgeräuberte Weinregale verschwanden in der Tiefe des Raumes. Rauchwolken hingen über Tischen besetzt von alliierten Offizieren und italienischen Inspektoren, und frische Luft kam nur aus einem Gitter in der Decke, durch das der Mief in sporadischen Zügen nach draußen gesaugt wurde.

»Was darf es sein, Miss Skinner? Ein Roter?«

»Überraschen Sie mich«, sagte Evelyn.

Darnley ging zu dem Regal, wackelte nachdenklich mit den Fingern und griff nach einer Flasche. Er blickte auf das Etikett und reckte den Daumen nach oben.

»Ein Carruades de Lafite, Jahrgang 1902. Pauillac!«, rief er. »Himmlisch!« (Ein Wort, das er oft verwendete, was seltsam war für einen Mann, für den das Jenseits bloßes Unbewusstsein bedeutete.)

Sie setzten sich an einen freien Tisch, und ein Soldat löste sich aus den Schatten. Er trug drei Kristallgläser, einen Korkenzieher und einen kleinen Teller mit dünn geschnittenem Pecorino-Käse.

»Sehen Sie, Miss Skinner. Hier ist es fast wie im Garrick.«

Evelyn lachte.

Darnley servierte. Ein adrettes Plopp, den Korken zur Nase, und das tröstliche Gluckern beim Einschenken.

»Auf was trinken wir?«, frage Darnley. »Was meinst du, Temps?«

»Auf diesen Augenblick, Sir.«

»Oh, sehr schön«, sagte Evelyn.

»Auf diesen Augenblick.«

Die Unterhaltung wandte sich schnell Evelyns und Darnleys gemeinsamer Liebe zu Florenz zu. Darnley erzählte von seinem Vater, der – wenigstens für einen kurzen Zeitraum – Vikar der St. Mark’s English Church gewesen war. »Glückliche Tage«, sagte er. »Die Sommer in den Uffizien waren meine Ausbildung. Als ich schließlich von der Schule ging, hatte ich kaum noch an etwas anderem als Kunst Interesse. Kurzer Aufenthalt in Chelsea, kurzer Aufenthalt an der Royal Academy of Arts. Und jetzt hier. Ich bin ein privilegiertes Klischee, Miss Skinner …«

»Ach, das waren wir, glaube ich, alle schon mal, Captain …«

»Zu nichts zu gebrauchen, außer zur Weinverkostung und dazu, hin und wieder den Urheber eines Kunstwerks zu benennen.«

Darnley griff in seine Jackentasche und holte ein fleckiges Notizbuch und einen Bleistiftstummel hervor. »Wenn Sie gestatten?«, fragte er. »Ich mache mir nur Notizen zum Wein – das Gedächtnis, Sie wissen schon. Überlegungen. Solche Sachen.«

»Nein, bitte, machen Sie nur«, erwiderte Evelyn.

Lange, schlanke Finger. Eine Haarsträhne fällt ihm in die Stirn, er wirkt beinahe kindlich. Er erinnerte sie an Forster, und sie beugte sich zu Ulysses und sagte es ihm.

»Wer ist Forster, Evelyn?«

»Wie, was?«, fragte Darnley und sah auf.

»Ich meinte eben zu Ulysses, dass Sie mich an E. M. Forster erinnern.«

»Sie kennen ihn, Miss Skinner?«

»Ich habe ihm sein erstes bombolone gekauft und ihm meinen Baedeker geliehen.«

»Großer Gott! Es gibt Leute, die würden Ihnen dafür einen Heiratsantrag machen!« Darnley klopfte eine Zigarette aus seiner Packung und bot sie ihr an. »Wie war er so?«, fragte er.

»Ganz reizend«, antwortete Evelyn. »Er war seiner Mutter ziemlich zugetan und kein Freund von Rubens.«

»Könnte mein Zwilling sein«, bemerkte Darnley, während er sich eine Zigarette ansteckte und sein Glas in einem Zug austrank.

»Haben Sie Zeit für ein weiteres Glas, Miss Skinner?«

»Alle Zeit der Welt«, erwiderte Evelyn.

»Und Temps, Musik? Etwas Sanfteres, passend zum Wein, bitte.«

»Alles klar, Sir.« Ulysses ging zu dem Grammophon und requirierte einen weiteren Teller mit Käse.

Die zweite Flasche war ein Château Margaux, Jahrgang 1900, begleitet von Joan Merrills There Will Never Be Another You. Eine einzigartige Kombination, fanden sie alle. Darnley schenkte den Wein ein. Man roch eindeutig: Tabak, Trüffel, Zedernholz, Erdbeere. Sie hoben die Gläser. »Auf diesen Augenblick!«

»Ich war einundzwanzig«, fuhr Evelyn fort. »Beinahe so alt wie du, Ulysses. Es war mein erster Besuch in Florenz. Ich war ohne Begleitung und bereit, mich zu verlieben.«

»Und hast du das, Evelyn?«

Evelyn pausierte und probierte den Wein. »Das habe ich tatsächlich«, sagte sie. »Zum einen in eine Person und zum anderen in die Stadt selbst. Das steht dir alles noch bevor, Ulysses. Öffne dein Herz. Das ist der Ort, an dem Dinge geschehen, wenn du es zulässt. Wunderbare Dinge.«

Plötzlich fuhr ein Ruck durch den Keller, die Erde über ihnen erzitterte unter Geschützfeuer. Evelyn rang nach Luft. Teile der Decke brachen heraus, fielen zu Boden und löschten die Kerzen; einige der Männer hielten die Tische fest, während andere darunter in Deckung gingen. Gläser und Flaschen stürzten zu Boden.

»Das ist verdammt nervtötend!«, rief Darnley, die Flasche Margaux schützend an die Brust gezogen.

Ulysses griff über den Tisch nach Evelyns Hand. Er fing an, mit ihr zu reden, sogar für sie zu singen, und er sang immer noch, als das Sperrfeuer geendet hatte. Das leise Klicken des Plattentellers, der sich dem unausweichlichen Stillstand entgegenbewegte. Der sanfte Fall weißen Staubs in der Stille dazwischen. Ein lachender Darnley.

Hinaus in die Nacht, und sie atmeten die frische, willkommene Luft. Darnley setzte sich nach hinten, Evelyn nach vorne, und sie fuhren ab zwischen betrunkenen, salutierenden Soldaten, die noch ein Stück weit neben dem Jeep herrannten und ihnen zuriefen, dass sie sich in Florenz wiedersehen würden!

Bäume flankierten die Straßen, und der helle Dreiviertelmond leuchtete ihnen in Abwesenheit von Scheinwerfern sporadisch den Weg, bis sie schließlich von der Dunkelheit verschluckt wurden. Die mächtigen, überhängenden Bäume und die abfallende, kurvenreiche Straße verliehen ihnen das Gefühl, sich nicht länger auf der Erdoberfläche zu befinden, sondern langsam in trüben, wildbewachsenen Tiefen zu verschwinden. Die Luft roch schwer und grün. Bald schon fiel Darnley in einen tiefen, alkoholisierten Schlaf, und das Innere des Jeeps wurde von seinem ruckartigen Schnarchen perforiert. Ulysses nahm den Fuß vom Gas, und langsam glitten sie den Rand der Nacht entlang.

Evelyn drehte sich um und betrachtete Darnleys Gesicht. »So selbstsicher, oder?«, fragte sie. »Sie ihn dir an. Im Prinzip ist er nur ein Junge. Ihr seid alle nur Jungen. Du magst ihn gerne, oder?«

»Das tue ich, Evelyn. Das tue ich wirklich«, antwortete er und fuhr an den Straßenrand, um einen Alliiertenkonvoi vorbeizulassen. Der Lärm überwältigte sie, und sie lehnten sich zurück und beobachteten die vorbeifahrenden Lastwagen. Die bleichen, versteinerten Gesichter der Soldaten darin starrten zurück. Weltuntergangsstimmung.

»Sie kommen bald in der Stadt an, oder?«, fragte sie.

»Höchstens noch ein paar Tage. Erst die Neuseeländer. Dann die Südafrikaner. Und dann wir.«

»Wird es schlimm?«, fragte sie.

»Vermute ich mal. Es ist immer schlimm.«

Die letzte Staubwolke des letzten Lastwagens hatte sich gelegt. Ulysses zündete zwei Zigaretten an.

»Dieses Gemälde. Der Pont …?«, sagte er.

»… ormo«, gab sie zurück. »Pontormos Kreuzabnahme?«

»Jep.« Er reichte ihr eine Zigarette. »Darnley hat erzählt, er hat es vor dieser ganzen Geschichte hier studiert, und ich habe gefragt, was es da zu studieren gibt. Es ist ja nur ein Bild, oder?«

»Es ist nur ein Bild. Du hast recht«, antwortete Evelyn. »Kunsthistoriker haben Männer zu Göttern gemacht.«

»Also?«

»Also.«

»Die ganze Aufregung?«

Evelyn lachte. »Mit der Aufregung, wie du es nennst, kann man es bestimmt übertreiben. Aber für mich geht es stets um Reaktion. Ein Gemälde verlangt nach einer Reaktion. Die größten tun das ausnahmslos alle.«

»Was für eine Reaktion?«

»Sag du es mir.«

»Was soll das heißen?«

»Die Wolke im Hintergrund hat deine Aufmerksamkeit gefordert. Sie hat dich interessiert, dich vereinnahmt.«

»Sie sieht anders aus als der Rest des Bildes«, erwiderte Ulysses.

»Vielleicht verfolgt sie das Drama, das sich gerade abspielt. Ein Symbol für den Himmel? Den Heiligen Geist? Oder einfach eine Erinnerung daran, dass die Szene im Freien spielt. All das ist Reaktion, Ulysses. Viel komplizierter ist es nicht. Natürlich können wir noch die Umsetzung hinzunehmen – wie gut jemand malt – und die Geschichte des Werks, seinen Ursprung, und so können wir einen Wert bestimmen. Doch für mich wird der wahre Wert immer die Reaktion bleiben, wie sehr ein Werk jemanden bewegt.«

»Und deshalb sollte man es erhalten?«

»Das glaube ich. Das glaube ich tatsächlich. Um sicherzustellen, dass es für die nächste Generation auch noch existiert. Weil es wichtig ist, Ulysses.«

»Wichtiger als Menschen?«

Evelyn nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Das eine geht mit dem anderen Hand in Hand. So war es schon immer. Wir haben uns in einer Höhle oder auf einem Blatt Papier verewigt, um zu zeigen, wer wir sind, um unsere Weltanschauung zu teilen und das Leben, das uns aufgebürdet wurde. Diese gemalten Gesichter offenbaren unseren Seelenkonflikt – mal auf liebevolle, mal auf groteske Weise, aber Kunst wird immer zum Spiegel. Der ganze Symbolismus, das Paradoxe – es liegt an uns, das zu interpretieren. So wird es zu einem Teil von uns. Und als Ausgleich für unser Leiden haben wir die Schönheit; denn Schönheit gefällt uns, oder? Etwas Schönes zu sehen, muntert uns auf. Es macht etwas mit uns auf molekularer Ebene, es bereichert uns, wir fühlen uns lebendig. Die schönen Künste öffnen uns die Augen für die Schönheit der Welt, Ulysses. Sie verändern unsere Sichtweise und Urteilsbildung. Das Flüchtige wird in der Kunst für immer eingefangen. Wir sind nichts als ein kümmerlicher Fleck im Lauf der Geschichte. Das Heer namens Zeit marschiert voran. Kunst versus Menschheit ist nicht der Punkt, Ulysses. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Kunst ist das Gegengift. Reicht das aus, um ihr Bedeutung zu verleihen? Das denke ich auf jeden Fall.«

Zwischen den Olivenbäumen konnte man das albergo erkennen. »Da wären wir«, flüsterte Evelyn, während der Jeep langsamer wurde und schließlich stehenblieb. Das Ticken des Motors, der langsam abkühlte. In der Ferne der Ruf einer Eule. Darnleys schwerer Atem.

»Schau«, sagte Ulysses und deutete auf ein schwaches Licht, das in einem der oberen Zimmer leuchtete. »Empfangskomitee?«

»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte Evelyn und stieg aus. Sie beugte sich zu Darnley, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Captain Darnley.«

Er wachte benommen auf.

»Zeit sich zu verabschieden«, sagte sie.

»Miss Skinner.«

»Nein, nein. Bleiben Sie sitzen«, und sie reichte ihm die Hand. »Danke. Für heute Abend. Ziehen Sie den Kopf ein und bleiben Sie unter den Lebenden, wenn Sie so freundlich wären.«

Darnley lächelte. »Passen Sie auf sich auf, Miss Skinner. Es war mir ein Vergnügen.«

»Ebenso.«

»Ich lege ein Wort bei der alliierten Militärregierung für Sie ein. Versprochen.«

»Vielen Dank.« Evelyn drehte sich zu Ulysses. »Ich glaube, ich schaffe es nicht, dir auf Wiedersehen zu sagen, junger Mann.«

»Dann mach es nicht, Evelyn.«

Ulysses stieg aus dem Jeep und reichte ihr seine Hand. Sie umschloss sie mit ihrer.

»Ein Geschenk, richtig?«, sagte er.

»Ganz genau. Ein Geschenk«, erwiderte sie. »Dante Alighieri. Du findest ihn in Florenz, draußen vor Santa Croce. Er macht einen eher griesgrämigen Eindruck. Grüß ihn von mir.«

»Mach ich.«

»Und bleib unbesiegbar«, fügte sie hinzu.

Er salutierte und blickte ihr hinterher, wie sie über das vertrocknete Gras auf die Terrasse zustapfte.

Es war zu dunkel, als dass er hätte sehen können, wie sie sich umdrehte und ihn ansah. Aber das tat sie. Sie beobachtete, wie er in den Jeep stieg und hinter der Biegung verschwand. Sie flüsterte etwas, kein Gebet, nur einen Wink an das Schicksal, ihn zu beschützen.

Im Osten Londons war Peggy Temper mit hämmerndem Kopf aufgewacht. Sie war beinahe eine Stunde zu spät für die Vorbereitungen; den Großteil dieser Stunde hatte sie über dem Waschbecken zugebracht und versucht, ihre Erinnerung an die vorangegangene Nacht zu wecken. Draußen vor dem Fenster unterhielten sich die Bierfahrer, und sie zog die Vorhänge zurück, geblendet vom Sonnenlicht. Sie sah, wie Col Bierfässer ablud, wobei er einen kurzen Blick zu ihrem Fenster hinaufwarf. Sie ging blitzschnell in Deckung, doch er hatte sie gesehen, da war sie sich sicher.

Sie trat vor den Spiegel und stöhnte. Mit nassen Fingerspitzen versuchte sie eine Locke hier, eine Locke da zu ermuntern, bevor sie sie in einem Schleier aus Haarlack festigte. Eine Katzenwäsche und ein Spritzer Parfüm halfen ihr, in ihre Kleidung zu schlüpfen, und sie rauchte eine halbe Zigarette, um den Kopf freizubekommen.

Sie wankte die Treppen hinunter und versetzte alles in Habachtstellung. Im Schankraum herrschte sie: »Halt bloß dein Maul, Col«, was er auch tat und ihr einen Gin pur zuschob. »Danke«, sagte sie und trank das Glas leer. »Oh Gott«, stöhnte sie, und Col stieß mit dem Fuß den Wischeimer in ihre Richtung.

Sie war eine Bürde, aber wenigstens eine gutaussehende. Ihr Gesicht und ihr Mundwerk brachten die Soldaten hierher, und selbst wenn sie sich die Seele aus dem Leib kotzte, tat sie es mit Stil. Ihr Hintern hüpfte bei jeder Bewegung und versprach das süße Aufblitzen ihrer Strümpfe. Col spürte, wie sich eine Erektion gegen seine Unterhose drückte. Er ging in den Keller, um eine Flasche Rum zu holen. Als er wieder nach oben kam, stand sie mit einem Glas in der Hand am Ausschank.

»Reparierbier?«

Reparierbier, dachte sie höhnisch, eine verdammte Brauerei würde sie heute Morgen nicht reparieren können. Was zur Hölle redete er da?

»Ziehs von meinem Trinkgeld ab«, sagte sie, setzte sich und steckte eine Zigarette an.

Er setzte sich zu ihr. »Schöner Abend?«, fragte er. Sie sah ihn an und lachte.

»Bist einzigartig, Peggy«, sagte er, und sie lächelte dieses Lächeln, und die Blaukehlchen sangen.

»Col?« (Oh, verdammt, was jetzt? Wie sie dreinschaut …)

»Ja, Peg?«

»Diesen Samstag.«

»Keine Chance, Peg.«

»Ich weiß, ich weiß, aber diesmal ist es wichtig.«

»Es ist immer wichtig.« Col trank aus und stand auf. »Du hast Durchhaltevermögen, das muss ich dir lassen.«

»Das ist doch was Gutes, oder?«

Und Peggy stellte sich ihm gegenüber und begann zu tanzen. »Das ist was Gutes, oder, Col?«

»Komm schon, Peg, Zeit aufzumachen. Und pass auf, dass du nicht in die Sauerei trittst, die du da mit dir rumschleppst.«

Peggy hielt inne und blickte hinter sich. »Was für eine Sauerei?«, fragte sie.

»Deine Leber. Und jetzt schließ auf, verdammt.«

Die warme Morgenluft wogte herein, zusammen mit dem Gestank von Ziegelstaub und Teer. Ginny Formiloe, Cols Nachwuchs, kam gerade vom Bäcker, einen Laib Brot wie einen Säugling gegen die Brust gedrückt. Ginny winkte ihr zu, und Peg winkte zurück. Ginny liebte Peg, sagte ihr das jeden Morgen mit ihrer seltsam nasalen Stimme. Ginny war dem Körper nach Frau und dem Geist nach Kind. Sie sammelte die Gläser im Pub ein, und manchmal schenkte sie Bier aus, aber hauptsächlich waren es die Gläser und das Zählen der Münzen am Ende des Abends. Liebes, liebes Kind, mit ihrem eigentümlichen Denken, den Beinen ihrer Mutter und ihrem hübschen Blumenkleid. Die Ähnlichkeit mit Cols Frau war nicht zu übersehen, was Col in den Anfangszeiten das Herz gebrochen hatte. Ginny war nicht von Geburt an so, irgendetwas war passiert, wahrscheinlich das Fieber, an dem sie beinahe gestorben war. Cols Frau hatte ihn wegen seiner Trinkerei verlassen, aber eigentlich ging es um etwas anderes, und sie war auf und davon, noch lange bevor der Krieg ausbrach. Sie ging nach Schottland auf die Äußeren Hebriden, wo ihre Schwester einen Bauernhof hatte. Niemand traute sich auszusprechen, was alle dachten: Wie schlimm musste es gewesen sein, dass es für sie auf einem Granitbrocken im Nordatlantik geendet hatte?

Col hörte mit dem Trinken auch nicht auf, als seine Frau ihn verließ, aber er schränkte es ein. Außerdem war in Gegenwart seiner Tochter sein Zorn wie weggeblasen. Er wurde zu einem sentimentalen Säufer mit patriotischen Liedern und Tränen in den Augen. So war er nun mal.

Ginny blieb an der Bordsteinkante stehen. Sie sah nach links, nach rechts, nach links, nach rechts, bevor sie über die Straße ging. »Peggy!«, rief sie. Peggy breitete die Arme aus und Ginny stürzte sich hinein. »Hab dich lieb, Peggy«, sagte sie. Ginny roch streng nach Monatsfluss, und Peggy sagte: »Komm, Ginny, wir suchen dir frische Sachen.«

Am Ende des Nachmittags war Peg fix und fertig. Der Pub hatte sich zum Leichenschauhaus gewandelt, und sie machte ihre Pause draußen. Sie betrachtete die Straße mit ihren ausgeblichenen Vordertreppen und genug Tratsch, um die Kanalisation zu füllen. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und streckte ihr Gesicht in die Sonne. Kinder, manche von ihnen erst acht, fuhren auf ihren Rädern vorbei und pfiffen: »Alles klar, Peg?« Sie hob ihren Arm. »Ja, alles klar, Jungs«, ahmte sie sie nach. Sie hatte gerade erst die Augen geschlossen, als Old Cress vorbeikam. Sie wusste, dass er es war, der in der Sonne stand und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Cress war Pegs Fels in der Brandung. War er immer gewesen, würde er immer sein. Er hielt sie für die schönste Frau der Welt, und er würde alles für sie tun. Sogar den Mond vom Himmel holen, wenn er könnte. (Und bitte was soll ich mit dem Mond anfangen, Cress? Ihn gegen die Sonne tauschen. Greif nach den Sternen, Mädchen.)

»Gut heimgekommen?«, fragte er.

»Du hast mich nach Hause gebracht, du Depp. Ich weiß vielleicht nicht mehr viel, aber das weiß ich noch.«

»Kommst du rein und schenkst mir ’nen Pint ein?«

»Ich hab Feierabend«, sie zeigte auf das Schild: GESCHLOSSEN. »Col steht an der Theke, und ich lieg in der Sonne.«

Er ließ sie allein und sie zog ihr Kleid nach oben über die Knie. Die Sonne wärmte ihr den Schritt, machte sie leichtsinnig und heiß, so wie sie sich gefühlt hatte, als sie American Boy das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte.

Er war ein guter Tänzer. Das war ihr zuerst aufgefallen. Besser als sein Freund, aber wenn man sich die beiden so ansah, hätten sie Brüder sein können. Sein Freund ging zur Bar, und Eddies Blick begegnete ihrem. »Wie Sternblitzen«, würde er später zu ihr sagen. Und dann tanzten sie wie auf Wolken, bis ihre Kleidung nass und ihr Appetit nicht mehr zu zügeln war. Sie aßen in einem Café in Old Compton Street, ein jämmerliches Gericht aus nicht identifizierbarem Fleisch und Kartoffeln.

Eddie hatte schönes Haar (dick, glänzend, dunkel); Peg fuhr mit den Fingern hindurch und sagte, es fühle sich an wie Seide, und Eddie wurde rot, denn trotz seines Alters war er immer noch ein Junge. Eddie erzählte ihr, dass er nach dem Krieg auf eine Hochschule gehen würde, um später das Geschäft seines Vaters zu übernehmen, und Peggy wollte wissen, was für ein Geschäft, und er antwortete, Orangen. Peg meinte, sie habe seit zwei Jahren keine Orange mehr gegessen, und Eddie sagte, darum würde er sich kümmern müssen. Er fragte, ob er sie Samstag sehen könne, Peg erwiderte, er solle nur versuchen, sie davon abzuhalten, und Eddie lachte. Schöne Zähne hatte er ebenfalls. Amerikanisch weiß. Leichter Überbiss, wenn er sie küsste, aber nichts, was man nicht mit ein wenig Übung aus der Welt schaffen könnte. Eddie zahlte und fragte, ob er mit zu ihr kommen könne, und sie sagte: »Nicht heute Abend, Sonnenschein«, und er: »Ich mag deinen Akzent«, und sie: »Trotzdem nicht heute.« Dann sagte Eddie etwas von einem Hotelzimmer Samstagabend, und Peg wäre ihm beinahe an Ort und Stelle erlegen. »Ich werde dich wie eine Prinzessin behandeln«, sagte er.

Musik vom Plattenspieler im Pub: Someday My Prince Will Come. »Du verdammter Komiker, Col!«, rief sie, stand auf und ging zurück an die Bar, eine dunkle Wolke über ihr.

Die ganze Woche über stand sie früh auf, wischte Tische und kontrollierte den Ausschank. Sie war nüchtern und charmant, trotzdem nahmen immer noch alle Habachtstellung vor ihr ein. »Was ist mit Peg los?« »Woher zur Hölle soll ich das wissen«, sagte Col, während er sie mied, als wäre sie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Doch nichts dergleichen geschah – sie rauchte einfach bloß. Sie erledigte die Buchführung, gab Bestellungen auf und nahm Ginny mit zum Kanal hinunter, um die Kätzchen zu suchen, die laut Cress dort vor einer Woche geboren worden waren. Donnerstagabend polierte Peg die Theke mit einer weiteren Schicht Brasso, und Col fand, sie strahle wie eine Kristallkugel. »Ich sehe Samstagabend«, sagte Col. »Ich sehe dich und den Goldjungen unterwegs in der Stadt.«

Peg dachte, sie habe sich verhört. »Wie bitte?«, fragte sie.

»Du hast mich schon gehört«, erwiderte Col, und Peg sprang ihm in die Arme und umschloss seine Hüften mit ihren schönen, starken Beinen, und er spürte wieder diesen unverwechselbaren Druck. »Schon gut, schon gut«, sagte er und musste in den Keller gehen, um sich Erleichterung zu verschaffen.

Als der Samstagabend sich schließlich herabsenkte, senkte er sich warm und gelb, und der Kanal schimmerte mit abertausenden verrückten Sternen und brachte die Hunde zum Bellen.

Klack, klack, klack, Pegs Absätze auf der Treppe. Col konnte sie riechen, bevor er sie sah, und sie roch französisch und blumig, vollkommene Verlockung. Sie kam in die Bar mit blauen Augen und roten Lippen, blondem Haar und engem Rock.

»Ich hoffe, er ist es wert«, sagte Col. Und Peg: »Er ist Amerikaner, Col. Er ist es wert.«

Col reichte Peg einen Gin Tonic.

»Stürz dich da nicht in was rein, Peg. Kein Hals über Kopf.«

»Ich trinke auf Hals über Kopf«, sagte Peg und hob ihr Glas.

»Hier«, sagte Col. »Das hat Kathleen für dich vorbeigebracht.«

Er schob einen Umschlag über die Bar. Peg öffnete ihn und steckte das Geld ein.

»Erzählt er irgendwas?«, fragte Col.

»Briefe sind nicht so unser Ding, Col, das weißt du doch. Das Geld heißt, er ist am Leben, und das ist alles, was mich interessiert. Um den Rest kümmern wir uns, wenn er wieder da ist.«

»Er ist ein guter Junge.«

»Das weiß ich.«

»Wart nicht auf mich, Sonnenschein«, fügte sie hinzu.

»Peg?«

Sie drehte sich um. »Was?«

»Dir kann niemand das Wasser reichen.«

Es war ein schickes Restaurant. Streicher spielten und ein Kellner schüttelte ihre Serviette auf und legte sie ihr auf den Schoß. Er nannte sie sogar Madame, was wirklich verdammt vornehm war. Eddie strahlte sie an, mit blitzenden Zähnen und Pfefferminzatem. Seine Attraktivität stieg ihr direkt zu Schoße.

Er schob zwei Schachteln über den Tisch.

»Mach auf«, sagte er. »Damit du weißt, dass ich es ernst mit dir meine.«

Peg konnte die Blicke der anderen Gäste spüren. Sie öffnete die größere der beiden Schachteln und nahm eine Orange heraus. Es war eine absolut perfekte Orange. Sie schloss ihre Augen und roch daran. Hätte an Ort und Stelle reinbeißen können, und als sie jemand lachen hörte, verdarb ihr das beinahe den Moment.

»Die nächste«, sagte er, und sie wappnete sich schon dafür, Freude über den Inhalt zu heucheln, aber als sie den Deckel abnahm, war da eine wunderschöne Brosche, sodass sie sich das sparen konnte. Eddie nahm sie ihr aus der Hand und hielt sie gegen das Licht.

»Der Stein ist eigentlich Muschel, hast du gesehen?«

»Natürlich hab ich das«, sagte Peg (obwohl sie das nicht hatte).

»Ich nicht«, sagte er und hielt sich die Brosche ans Ohr.

»Kannst du das Meer hören?«, fragte sie ihn.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nur eine Stimme«, sagte er und verzog das Gesicht.

»Was sagt sie?«

»Lass uns zu dir gehen«, lachte Eddie.

Peg lachte nicht.

»Aber das geht nicht, Eddie. Das hab ich dir doch gesagt. Ich dachte, wir würden in ein Hotel gehen.«

»Es war entweder die Brosche oder ein Zimmer«, entgegnete er. »Und ich dachte mir, du hättest gerne die Brosche.«

Peg trank über die Grenzen des Akzeptablen hinaus und fand sich schließlich unter einem Brückenbogen wieder, mit dem Rücken gegen eine Mauer gedrückt. Es war eine schwarz-weiße Nacht, Mondlicht splitterte über schwarze Kiesel, streifte stellenweise Pegs weiße Haut. Ihr amerikanischer Soldat küsste sie heftig, und er hatte ihr ein Zimmer versprochen, aber stattdessen eine Brosche geschenkt, und so waren sie hier gelandet, an eine Wand gelehnt mit einem Strauß billiger Blumen zu ihren Füßen.

Er fummelte an ihr herum auf der Suche nach dem Paradies, und sie sagte, da müsse er schon weiter südlich ziehen, um es zu finden.

»Na bitte«, sagte sie, und er stöhnte.

Ihr gefiel, wie er sie Baby nannte, wie er sagte: »Ich habe noch nie ein Mädchen wie dich getroffen, Peg«; wie er sie vögelte. Aber sie konnte nur daran denken, dass er ihr ein Zimmer versprochen hatte, und sie versuchte den Gedanken zu verdrängen, aber je mehr er sie in die Wand hineinrammte, umso mehr drängte sich der Gedanke höhnisch nach vorn.

»Du hast mir ein Zimmer versprochen«, sagte sie.

»Ich weiß, ich weiß.« Er tat geschäftig. »Nächstes Mal.«