Lichte Tage - Sarah Winman - E-Book + Hörbuch

Lichte Tage Hörbuch

Sarah Winman

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Beschreibung

»Ein verblüffend schönes Buch. Es bricht einem das Herz und wärmt es gleichzeitig.« Matt Haig Als sich Ellis und Michael das erste Mal begegnen, ist es, als hätte das Schicksal sie zusammengeführt. Erfüllt mit einer großen Sehnsucht nach Kunst und Poesie, entfliehen die beiden Heranwachsenden dem grauen Oxford in die Wärme und das Licht Südfrankreichs. Dort finden sie heraus, wer sie sein könnten. Und müssen entscheiden, wer sie sein wollen. Ein einzigartiger Roman über die Bande der Freundschaft und der Liebe.  Alles beginnt mit einem Gemälde, das Dora Judd an die Wand ihres Wohnzimmers hängt. Fünfzehn Sonnenblumen, wie sie van Gogh im warmen Licht Südfrankreichs malte. Jahre später reist ihr Sohn Ellis zusammen mit seinem besten Freund Michael der Sonne entgegen. Sie tauschen die grauen Straßen Oxfords, das Arbeiterviertel mit der Autowerkstatt und die Fäuste ihrer Väter gegen die Poesie und das Licht des Südens. Gemeinsam entdecken sie, welche Möglichkeiten ihnen das Leben eröffnet, doch auch die Prägungen ihrer Herkunft brechen immer deutlicher hervor. Dann tritt Annie in ihr Leben, und das ändert gleichzeitig nichts und alles. Sarah Winman hat einen unvergleichlich zärtlichen Roman über die Verflechtungen der Liebe und über die transformative Kraft der Kunst geschrieben. »Eine wunderbar erzählte Geschichte über Liebe und Verlust" The Guardian "Ein Wunderwerk" New York Times "Herzzerreißend, leise und bewegend" Sunday Express "Eine wunderschöne Geschichte über Liebe, Verlust und Sehnsucht" Red Magazine

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Zeit:6 Std. 13 min

Sprecher:Stefan Kaminsky

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Dies ist der Umschlag des Buches »Lichte Tage« von Sarah Winman, Elina Baumbach

Sarah Winman

Lichte Tage

Roman

Aus dem Englischen von Elina Baumbach

Klett-Cotta

Impressum

Die Übersetzerin bedankt sich für das Stipendium »Junge Kunst und Neue Wege« des Freistaats Bayern.

Das im Text wiederkehrende Gedicht entstammt folgender Quelle: Walt Whitman: Grashalme. Aus dem Englischen von Wilhelm Schölermann. Leipzig: E. Diederichs 1904.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Tin Man« im Verlag Headline, London

© 2017 by Sarah Winman

Für die deutsche Ausgabe

© 2023, 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Favoritbuero, München

unter Verwendung einer Abbildung von © Shutterstock, Vovalis

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-98766-9

E-Book ISBN 978-3-608-12034-9

Für Robert Caskie und für Patsy

»Jetzt schon kann ich sagen, dass es mir gutgetan hat, in den Süden zu gehen, um den Norden besser sehen zu können.«

Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo, Mai 1890

1950

»Das Bild war ein Tombola-Gewinn«, waren die einzigen Worte, die Dora Judd je über diesen Abend drei Wochen vor Weihnachten verlor.

Sie erinnerte sich noch, wie das Licht der Cowley-Montagewerke durch den dunkler werdenden Himmel schnitt, während sie im Garten hinter dem Haus ihre letzte Zigarette rauchte und dachte, dass das hier nicht alles im Leben sein könne.

Zurück im Haus sagte ihr Mann, »Jetzt mach hin, verdammt«, und sie erwiderte, »Hör auf, Len«, knöpfte ihr Kittelkleid auf und ging nach oben. Im Schlafzimmer stellte sie sich seitwärts vor den Spiegel und ließ ihre Hände den Fortschritt ihrer Schwangerschaft ertasten. Dieses neue Leben, das wusste sie, war ein Sohn.

Dora setzte sich an den Frisiertisch und stützte das Kinn auf die Hände. Ihr Blick war müde, die Haut trocken. Sie trug roten Lippenstift auf, und die Farbe ließ ihr Gesicht sofort aufleuchten, ihre Stimmung hob sich jedoch kaum.

Als sie durch die Tür des Gemeindezentrums trat, wusste sie augenblicklich, dass es ein Fehler gewesen war zu kommen. Der Raum war verraucht, und festlich gestimmte Trinker drängten zur Bar. Sie folgte ihrem Mann durch die Menge – durch Parfümwolken und den Geruch von Haarwasser, Körpern und Bier.

Lust, mit ihm auszugehen, hatte sie schon lange keine mehr, nicht so, wie er sich verhielt, wenn seine Freunde dabei waren. Er starrte absichtlich jedem hübschen Ding hinterher und vergewisserte sich, dass sie ihn dabei sah. Sie stand etwas abseits mit einem warmen Orangensaft in der Hand, der ihr allmählich Übelkeit verursachte. Ihre Rettung war Mrs Powys, die mit einem Korb voller Tombola-Lose in der Hand geradewegs auf sie zukam.

»Der Hauptgewinn ist eine Flasche Scotch«, verkündete Mrs Powys, während sie Dora zu dem Tisch mit den Preisen führte. »Dann gibt es noch ein Radio, einen Friseurgutschein von Audreys Coiffeuren, eine Dose Butterkekse, einen Flachmann aus Zinn, und zu guter Letzt«, und hier beugte sie sich vertrauensvoll zu Dora, »ein mittelgroßes Ölbild von eher geringem Wert. Allerdings eine sehr gelungene Kopie eines europäischen Gemäldes«, fügte sie zwinkernd hinzu.

Dora kannte das Original von einem Schulausflug nach London; sie hatten eine Ausstellung in der Tate Britain besucht. Fünfzehn Jahre alt war sie gewesen und hatte sämtliche Widersprüche dieses Alters verkörpert. Doch als sie die Galerieräume betrat, war es, als wühlte ein Sturm ihre Seele auf, und sie wusste augenblicklich, dass hier das Leben war, das sie wollte: Freiheit. Perspektive. Schönheit. Es hatten noch andere Gemälde in dem Raum gehangen, erinnerte sie sich – van Goghs Stuhl mit Pfeife und Seurats Badende bei Asnières –, aber sie war wie verzaubert gewesen von diesem einen Bild. Was immer es war, das sie damals gefesselt und in die Tiefe des Rahmens hineingezogen hatte, schlug sie auch jetzt wieder in seinen Bann.

»Mrs Judd?«, fragte Mrs Powys.

»Mrs Judd?«, wiederholte Mrs Powys. »Kann ich Sie jetzt für ein Los begeistern?«

»Was?«

»Ein Tombola-Los?«

»Ach so, ja. Ja, natürlich.«

Das Licht ging mehrmals aus und wieder an, und irgendwo klopfte ein Mann mit einem Löffel gegen ein Glas. Der Raum kam zur Ruhe, und Mrs Powys zog mit viel Aufhebens den ersten Gewinner aus einer Pappschachtel. »Nummer siebzehn«, erklärte sie feierlich.

Doras Übelkeit beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit, und erst, als die Frau neben ihr sie antippte und sagte, »Das sind Sie!«, realisierte Dora, dass sie gewonnen hatte. Sie hielt ihr Los hoch, »Die Siebzehn bin ich«, und Mrs Powys rief, »Mrs Judd! Unsere erste Gewinnerin ist Mrs Judd!«, und brachte sie an den Tisch, damit sie sich ihren Preis aussuchen konnte.

Leonard rief ihr zu, sie solle den Whisky nehmen.

»Mrs Judd?«, fragte Mrs Powys leise.

Aber Dora antwortete nicht, sondern starrte auf den Tisch.

»Nimm den Whisky«, rief Leonard wieder. »Den Whisky!« Und langsam, einmütig, begannen Männerstimmen zu skandieren, »Whisky! Whisky! Whisky!«

»Mrs Judd?«, fragte Mrs Powys. »Soll es der Whisky sein?«

Da drehte Dora sich um, sah ihrem Mann ins Gesicht und sagte:

»Nein, ich mag keinen Whisky. Ich nehme das Bild.«

Es war das erste Mal, dass sie ihm die Stirn bot – es war, wie sich ein Ohr abzuschneiden. Und sie tat es in der Öffentlichkeit.

Kurz danach gingen sie und Len nach Hause. Sie saßen getrennt voneinander im Bus, sie oben, er unten. Nachdem sie ausgestiegen waren, stürmte er voraus, und sie ließ sich zurückfallen in die friedliche Stille dieser Nacht, die ihr so wohlgesonnen schien.

Die Vordertür war nur angelehnt, als sie ankam, das Haus dunkel, und oben war es still. Sie ging leise ins Hinterzimmer und machte das Licht an. Es war ein trostloser Raum, bei dessen Einrichtung einzig und allein Lens Lohntüte das Sagen gehabt hatte. Neben dem offenen Kamin standen zwei Sessel, und ein großer Esstisch, der über die Jahre nur wenig Konversation gesehen hatte, blockierte den Durchgang zur Küche. Die braunen Wände waren mit Ausnahme eines Spiegels nackt, und Dora war sich bewusst, dass sie das Bild, vor seinen Blicken geschützt, im Schatten der Kommode anbringen sollte, aber sie konnte nicht widerstehen, nicht heute Nacht. Sie wusste: Wenn sie es jetzt nicht tat, dann nie. Sie ging in die Küche und öffnete seinen Werkzeugkoffer. Mit Hammer und Nagel ging sie zurück zur Wand. Ein paar vorsichtige Schläge, und der Nagel glitt widerstandslos in den Putz. Sie trat zurück. Das Bild stach heraus wie ein neu eingesetztes Fenster, allerdings eines, das Ausblick gewährte auf ein Leben voller Farben und Vorstellungskraft. Weit weg von der grauen Fabrikdämmerung und ein krasser Gegensatz zu Vorhängen und Teppich, die braun in braun von einem Mann ausgesucht worden waren, damit man den Schmutz nicht sehen konnte. Doch jetzt würde jeden Morgen die Sonne an dieser Wand aufgehen, und ihr Licht würde die Stille ihrer Mahlzeiten in ein Wechselbad der Gefühle tauchen.

Mit einem Krachen flog die Tür auf und wurde beinahe aus den Angeln gerissen. Leonard Judd machte einen Satz Richtung Wand, aber Dora kam ihm mit ungeahnter Geschwindigkeit zuvor, stellte sich vor das Bild, hob den Hammer und sagte, »Versuch’s, und ich bring dich um. Wenn nicht jetzt, dann wenn du schläfst. Das Bild bin ich. Du fasst es nicht an, du respektierst es. Ich schlafe ab heute im Gästezimmer. Und du kaufst dir morgen einen neuen Hammer.«

Alles nur wegen fünfzehn Sonnenblumen.

Ellis

1996

Im vorderen Schlafzimmer steht, gegen Bücher gelehnt, eine Farbfotografie von drei Personen: eine Frau und zwei Männer. Sie nehmen fast das gesamte Bild ein. Die Arme umeinandergelegt, scheinen sie vor dem verschwommenen Hintergrund ganz in ihrer eigenen Welt zu existieren. Sie wirken sehr glücklich. Nicht nur, weil sie lächeln, sondern weil da etwas in ihren Augen zu sehen ist – eine gewisse Leichtigkeit, ein Strahlen, etwas, das sie miteinander teilen. An ihrer Kleidung (T-Shirts, helle Farben, etwas in der Richtung) kann man erkennen, dass das Foto im Frühjahr oder Sommer aufgenommen wurde. Und natürlich am Licht.

Einer der beiden Männer – der mit den verwuschelten Haaren und den freundlichen Augen –, schläft in dem Zimmer. Er heißt Ellis. Ellis Judd. Das Foto fällt kaum auf, dort zwischen den Büchern, es sei denn, man weiß, wo es steht. Und da Ellis schon lange kein Verlangen mehr danach hat zu lesen, gibt es keinen Grund für ihn, zum Regal zu gehen, das Foto in die Hand zu nehmen und an diesen Tag im Frühling oder Sommer zurückzudenken, an dem es aufgenommen wurde.

Der Wecker klingelte wie immer um fünf Uhr nachmittags. Ellis schlug die Augen auf und drehte sich instinktiv zu dem Kissen neben ihm. Durch das Fenster war die Abenddämmerung zu sehen. Es war noch immer Februar – der kürzeste Monat, der doch nie zu enden schien. Er stand auf und schaltete den Wecker aus, ging durch den Flur ins Bad und stellte sich vor die Toilette. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und fing an, seine Blase zu entleeren. Obwohl er nicht mehr darauf angewiesen war sich abzustützen, nahm er unbewusst die Haltung eines Mannes ein, der einst zusätzlichen Halt benötigt hatte. Er stellte die Dusche an und wartete, bis das Wasser zu dampfen begann.

Fertig geduscht und angezogen, ging er nach unten und sah auf die Uhr. Sie ging eine Stunde vor, da er vergessen hatte, sie letzten Oktober zurückzudrehen. Doch er wusste, dass sich das Problem von allein lösen würde, wenn in einem Monat wieder Zeitumstellung war. Wie immer klingelte das Telefon, und er hob ab und sagte, »Carol. Ja, mir geht’s gut. Alles klar. Du auch.«

Er machte den Herd an und kochte sich zwei Eier. Er mochte Eier, genau wie sein Vater. Eier stimmten sie versöhnlich, hier kamen sie überein.

Er schob sein Fahrrad hinaus in die eisige Dunkelheit und machte sich auf den Weg die Divinity Road entlang. An der Cowley Road wartete er auf eine Lücke in dem nach Osten fließenden Verkehr. Er war diese Strecke schon tausendmal gefahren und konnte alles ausblenden, eins werden mit der stahlgrauen Flut. Sobald er die gleißenden Lichter der Montagewerke erreicht hatte, bog er ab und fuhr zur Lackiererei. Er war fünfundvierzig und fragte sich jede Nacht, wo all die Jahre geblieben waren.

Der Gestank von Terpentin stieg ihm in die Nase, als er hineinging. Er nickte Männern zu, zu denen er früher einmal Kontakt gepflegt hatte, betrat die Schlosserei und nahm eine Tasche mit Werkzeug aus seinem Spind. Garvys Werkzeug. Jedes einzelne Stück handgefertigt und dafür gemacht, sich in eine Delle hineinzuschmiegen und sie auszuklopfen. Die Leute behaupteten, er sei so geschickt gewesen, dass er ein Grübchen aus einer Wange habe herausklopfen können, ohne dass das Gesicht dabei eine Miene verzog. Garvy hatte ihm alles beigebracht. An Ellis’ erstem Tag hatte Garvy mit einer Feile eine ausrangierte Türverkleidung eingedellt und ihn angewiesen, die Beule zu entfernen.

»Deine Hand muss flach aufliegen«, erklärte er. »So. Du musst lernen, die Delle zu ertasten. Du musst lernen, mit deinen Händen zu sehen. Fahr langsam darüber. Spür die Delle, streichle sie. Ganz vorsichtig. Ertaste das Grübchen.« Und er trat zurück, mit heruntergezogenen Mundwinkeln und kritischem Blick.

Ellis nahm die Handfaust, platzierte sie hinter der Delle und begann, von oben mit dem Löffeleisen dagegenzuhämmern. Er war ein Naturtalent.

»Achte auf den Klang!«, hatte Garvy gerufen. »Gewöhn dich an den Klang. Der Ton sagt dir, wann du die richtige Stelle gefunden hast.« Und als Ellis fertig war, stand er auf, selbstzufrieden, denn das Blech war so glatt, als wäre es gerade eben erst gewalzt worden. Garvy fragte, »Glaubst, sie ist draußen, oder?« Und Ellis antwortete, »Ja, sicher.« Garvy schloss seine Augen, fuhr mit der Hand über die Schweißnaht und erwiderte, »Noch nicht.«

Sie hatten damals immer Musik gehört, aber erst, als Ellis mit dem Klang des Metalls vertraut gewesen war. Garvy hörte gerne Abba, er mochte die Blonde am liebsten, Agnetha irgendwer, aber er erzählte sonst niemandem davon. Mit der Zeit erkannte Ellis, wie einsam dieser Mann war und wie sehr er nach Zweisamkeit hungerte; das Ertasten und Ausbeulen von Dellen war für ihn so, als liebkosten seine Hände einen Frauenkörper.

Später in der Kantine machten die anderen hinter ihm Kussmünder, fuhren sich mit den Händen über eingebildete Brüste und Hüften und flüsterten, »Schließ deine Augen, Ellis. Kannst du das Grübchen spüren? Kannst du es spüren, Ellis? Spürst du’s?«

Der unverbesserliche Komiker Garvy war es auch gewesen, der ihn in die Reifenwerkstatt geschickt hatte, um nach einer »reifen Frau« zu fragen, allerdings nur das eine Mal. Als er schließlich in Rente ging, sagte Garvy, »Lass dir zwei Dinge von mir mitgeben, mein Junge. Erstens: Arbeite hart, und du wirst es hier zu was bringen. Und zweitens: mein Werkzeug.« Ellis ließ sich das Werkzeug mitgeben.

Garvy starb ein Jahr, nachdem er in Rente gegangen war. Die Arbeit war seine Luft zum Atmen gewesen. Die Leute sagten, er wäre am Nichtstun erstickt.

»Ellis?«, fragte Billy.

»Was?«

»Ich hab gesagt, schöne Nacht zum Grübchen aufspüren.« Er schloss seinen Spind.

Ellis nahm eine Feile und schlug damit gegen ein ausrangiertes Stück Blech. »Da bitte schön, Billy«, sagte er. »Klopf es heraus.«

Es war ein Uhr morgens. In der Kantine herrschte reges Treiben, und es roch nach Pommes mit Shepherd’s Pie und nach irgendetwas Verkochtem, Grünen. Aus der Küche tönte ein Radio, Wonderwall von Oasis, die Frauen hinter der Theke sangen mit. Ellis war als Nächster an der Reihe. Das Licht war grell, und er rieb sich die Augen. Janice sah ihn besorgt an, bis er sagte, »Shepherd’s Pie und Pommes, bitte, Janice.«

Und sie erwiderte, »Einmal Pie mit Pommes. Bitte schön, Süßer. Männerportion, noch dazu.«

»Danke.«

»Nacht, Süßer.«

Er ging zu einem der Tische ganz hinten und nahm sich einen Stuhl.

»Darf ich, Glynn?«, fragte er.

Glynn sah auf. »Tu dir keinen Zwang an«, sagte er. »Alles klar bei dir, Kumpel?«

»Bestens«, erwiderte er und fing an, sich eine Zigarette zu drehen. »Was liest du da?«

»Harold Robbins. Wenn ich es nicht zudecke, machen sich die anderen nur drüber lustig. Du weißt ja, wie sie sind.«

»Ist es gut?«

»Großartig«, sagte Glynn. »Man weiß nie, was als Nächstes passiert. Eine Wendung nach der anderen, Gewalt, flotte Autos, flotte Frauen. Hier schau, das Foto vom Autor. Schau ihn dir an. Sein Stil. Das ist ein Mann nach meinem Geschmack.«

»Was heißt hier ein Mann nach deinem Geschmack? Bist du vielleicht ’ne Schwuchtel, Glynn?«, fragte Billy, während er sich einen Stuhl heranzog.

»Soll heißen, er ist ein Mann, mit dem ich einen trinken gehen würde.«

»Mit uns also nicht?«

»Eher schieß ich mir ins Bein. Nichts für ungut, Ellis.«

»Kein Problem.«

»In den Siebzigern sah ich ein bisschen aus wie er. Also was den Stil angeht. Weißt du noch, Ellis?«

»Ein bisschen wie in Saturday Night Fever, oder?«, fragte Billy.

»Mit dir red ich nicht.«

»Weißer Anzug und Goldkette?«

»Ich red immer noch nicht mit dir.«

»Okay, okay. Frieden?«, sagte Billy.

Glynn nahm sich den Ketchup.

»Aber«, sagte Billy.

»Aber was?«, erwiderte Glynn.

»Ich wette, you could tell by the way you used your walk that you were a woman’s man with no time to talk.«

»Wovon redet er?«, fragte Glynn.

»Keine Ahnung«, sagte Ellis leise und schob seinen Teller weg.

Draußen in der Dunkelheit zündete er seine Zigarette an. Es war kälter geworden, und er sah nach oben und dachte, dass es bald schneien würde. Er drehte sich zu Billy, »Du solltest Glynn nicht so ärgern.«

»Er legt es doch drauf an«, antwortete Billy.

»Niemand legt es drauf an. Und lass den Scheiß mit der Schwuchtel.«

»Schau«, sagte Billy. »Ursa Major. Kannst du ihn sehen? Den Großen Wagen?«

»Hast du mich gehört?«, fragte Ellis.

»Schau – runter, runter, runter, rauf. Rüber. Runter. Und rauf, rauf. Siehst du ihn?«

»Ob du mich gehört hast?«

»Ja, ich hab dich gehört.« Sie gingen zurück zur Lackiererei.

»Hast du ihn denn jetzt gesehen?«, fragte Billy.

»Herrgott nochmal«, sagte Ellis.

Die Sirene ertönte, das Montageband wurde langsamer, und die Männer machten sich bereit für Schichtwechsel und Feierabend. Es war sieben Uhr früh, und der Morgen war dunkel. Ellis fragte sich, wann er zuletzt die Sonne gesehen hatte. Er war rastlos nach der Schicht, und immer, wenn er sich so fühlte, ging er nie direkt nach Hause, denn dort lauerte die Einsamkeit. Manchmal radelte er zum Shotover-Park oder hinaus bis nach Waterperry; ganz für sich füllte er so die Stunden mit Kilometern, die dumpf in seinen Waden brannten. Er sah den Morgen durch die Bäume heraufziehen und lauschte dem Vogelgezwitscher, damit seine Ohren sich von dem Klirren metallischer Produktivität erholen konnten. Dort draußen in der Natur versuchte er, nicht allzu viel nachzudenken. Manchmal gelang es ihm und manchmal nicht. Wenn es ihm nicht gelang, fuhr er zurück und dachte darüber nach, wie sein Leben verlaufen war: vollkommen anders, als er es beabsichtigt hatte.

Die Straßenlampen entlang der Cowley Road streuten ihr orangefarbenes Licht über den Asphalt, und die Erinnerung an längst verlassene Läden lauerte geisterhaft in den Schatten. Betts, Lomas Fahrradwerkstatt, Estelles, Mabels Gemüseladen, alle verschwunden. Der junge Ellis hätte sich niemals träumen lassen, dass Mabels Laden irgendwann einmal nicht mehr existieren würde. Ein Trödelladen namens Second Time Around war nun in die alten Räumlichkeiten gezogen. Er hatte fast immer geschlossen.

Er kam an dem alten Kino, dem Regal Cinema, vorbei, in dem vor dreißig Jahren Predigten des Evangelisten Billy Graham auf der großen Leinwand für 1500 seiner Anhänger ausgestrahlt worden waren. Ladenbesitzer und Passanten hatten sich auf dem Bürgersteig versammelt, um die Massen aus den Türen strömen zu sehen. Die Gäste draußen vor dem City Arms Pub sahen zu und scharrten betreten mit den Füßen – eine Pattsituation zwischen Exzess und Abstinenz. Aber war die Straße nicht schon immer das Zentrum der Spannungen zwischen Ost und West gewesen? Zwischen den zwei Enden des Spektrums, Haben und Nichthaben, ganz gleich, ob Glaube, Geld oder Toleranz.

Er fuhr über die Magdalen Bridge hinein in das Reich, in dem die Luft nach Büchern roch. Er bremste ab, um ein paar erschöpft wirkende Studenten vorbeizulassen – schon wach oder immer noch? Es war schwer zu sagen. Unten am Markt hielt er an und kaufte sich einen Kaffee und eine Zeitung. Einhändig fuhr er weiter, bis ans Ende der Brasenose Lane, wo er den Kaffee, an eine Wand gelehnt, trank. Er sah übernächtigten Touristen dabei zu, wie sie das Beste aus einem Morgen mit Jetlag machten. »Schöne Stadt, die Sie hier haben«, bemerkte einer. »Ja«, erwiderte er nur und trank weiter.

*

Am darauffolgenden Tag in der Schlosserei wartete ein Rover 600, der vom Band geholt worden war. Ellis prüfte das Übergabeprotokoll mit den Anmerkungen der Tagschicht. Wieder ein linker Vorderkotflügel. Er zog seine weißen Baumwollhandschuhe an, spreizte die Finger und fuhr mit den Fingerspitzen über die beschädigte Stelle. Er konnte die Einbeulung kaum spüren, sie war so klein, dass sie sich selbst im Licht nur ganz leicht auf dem Lack abzeichnete. Er richtete sich auf und streckte sich.

»Versuch du es, Billy«, sagte er.

Billy legte seine Hände auf den Kotflügel. Die weißen Handschuhe glitten über die Karosserie, hielten inne, fuhren noch einmal darüber. Bingo.

»Hier«, sagte Billy.

»Volltreffer«, erwiderte Ellis und nahm die Handfaust und das Löffeleisen. »Ein paarmal klopfen sollte reichen«, sagte er. »Schnell und sachte. Genau so.«

Er kontrollierte den Lack – ein perfekter silberfarbener Streifen –, und Billy fragte, »Wolltest du das hier schon immer machen?« Seine ehrliche Antwort überraschte ihn selbst, »Nein.« Und Billy fragte, »Was dann?«

»Ich wollte zeichnen«, erwiderte er.

Die Sirene erklang, und sie gingen zusammen hinaus in die beißende Kälte. Ellis zog sich die Mütze tief ins Gesicht und band seinen Schal fester. Er nahm seine Handschuhe aus der Tasche und musste einem Taschentuch hinterherrennen, das herausgefallen und vom Wind erfasst worden war. Billys Gelächter machte ihm nichts aus. Es war ein gutes Lachen.

»Ich hab eine Verabredung für Freitag«, sagte Billy.

»Wo geht’s hin?«

»Kneipe, vielleicht. Irgendwo in der Stadt. Wir treffen uns am Märtyrerdenkmal.«

»Ach ja?«, fragte Ellis. »Wo ist eigentlich dein Fahrrad?«

»Da drüben neben deinem«, antwortete Billy. »Keine Ahnung, wieso ich vorgeschlagen hab, dass wir uns da treffen. Mir ist nichts anderes eingefallen. Schau dir das mal an.« Er zeigte auf eine Stelle an seiner Nase. »Pickel.«

»Man kann ihn kaum sehen. Ist es was Ernstes?«

»Ja, schon, ich mag sie sehr. Aber sie ist zu gut für mich«, sagte Billy.

Und dann, »Hast du jemanden, Ellis?«

Und seine Antwort, »Nein.«

Dann sagte Billy etwas, das noch nie jemand zu ihm gesagt hatte: »Terry hat mir erzählt, dass deine Frau gestorben ist?«

Seine Frage war so einfühlsam und direkt und unbefangen, als wäre der Tod der Liebe etwas völlig Alltägliches.

»Ja, ist sie«, erwiderte Ellis.

»Wie?« fragte Billy.

»Hat Terry dir das nicht erzählt?«

»Er hat gesagt, ich soll mich um meinen eigenen Kram kümmern. Kann ich auch, weißt du? Also mich kümmern.«

»Autounfall. Vor fünf Jahren.«

»Ach du Scheiße«, sagte Billy.

Und »Ach du Scheiße« war tatsächlich die einzig passende Antwort, dachte Ellis. Nicht, »Oh, tut mir leid«, oder, »Das ist ja schrecklich.« Sondern, »Ach du Scheiße.« Seit Langem war er niemandem begegnet, der die Unterhaltung so gut lenken konnte wie Billy. »Ich wette, danach hast du mit der Nachtschicht angefangen, oder?«, hakte Billy nach. »Ich hab mir schon gedacht, dass du das nicht wegen dem Geld gemacht hast. Ich wette, du hast nicht mehr schlafen können. Ich glaub nicht, dass ich jemals wieder schlafen könnte.«

Billy mit seinen neunzehn Jahren verstand. Sie warteten am Tor, um die Autos vorbeizulassen.

»Ich geh nach Leys auf ein Bier. Komm doch mit«, sagte Billy.

»Heute nicht.«

»Ich bin allein. Und ich unterhalte mich gerne mit dir. Du bist nicht wie die anderen.«

»Die anderen sind in Ordnung.«

»Gehst du denn nie was trinken, Ell?«

»Nein.«

»Ich probier’s einfach weiter. Du bist jetzt mein Projekt.«

»Lass gut sein. Ab mit dir.«

»Bis morgen, Ell!«, und Ellis sah zu, wie er zwischen den ganzen anderen Leuten verschwand, die sich in Richtung Blackbird Leys bewegten. Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr langsam zurück nach Westen. Er fragte sich, wann der Junge begonnen hatte, ihn Ell zu nennen.

Es war acht Uhr morgens, und der Himmel über South Park wurde langsam heller. Frost hatte sich auf Windschutzscheiben und Vogelnestern niedergelassen, und die Gehwege glitzerten. Ellis schloss die Haustür auf und schob sein Rad in den Flur. Das Haus war kalt und roch nach verbranntem Holz. Im Hinterzimmer legte er seine Hand auf die Heizung. Sie lief, aber hatte zu kämpfen. Er zog seine Jacke nicht gleich aus, sondern schürte den Kamin und brachte das Feuer in Gang. Er war gut im Feuermachen; er machte Feuer, Annie entkorkte den Wein, und so verstrichen die Jahre. Dreizehn, um genau zu sein. Dreizehn Jahre voll Trauben und Behaglichkeit.

Er nahm eine Flasche Scotch aus dem Küchenschrank und ging zurück in die Wärme. Das Echo des Fabriklärms verlor sich in der Stille, nur die Flammen im Kamin, und von draußen gedämpft das Geräusch von Autotüren, die den neuen Tag zu grüßen schienen. Diese Tageszeit war schon immer am schlimmsten gewesen, diese lautlose Leere, die ihn nach Luft ringen ließ. Seine Frau war hier – ein Schatten an der Peripherie, der durch eine Tür huschte oder sich in einem Fenster spiegelte –, und er musste endlich aufhören, nach ihr zu suchen. Der Whisky half, half ihm, an ihr vorbeizugehen, wenn das Feuer ausgegangen war. Doch manchmal folgte sie ihm die Treppe hinauf, deswegen hatte er sich angewöhnt, die Flasche mitzunehmen. Annie stand in der Schlafzimmerecke und sah ihm dabei zu, wie er sich auszog, und immer dann, wenn er dabei war einzuschlafen, beugte sie sich über ihn und flüsterte Dinge wie, »Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?«

Und er antwortete, »Natürlich weiß ich das noch. Ich habe einen Weihnachtsbaum geliefert.«

»Und?«

»Ich habe geklingelt und ein bisschen nach Tannennadeln und Winter gerochen. Ich konnte deine Silhouette durchs Fenster sehen, die Tür ging auf, und da warst du: in Holzfällerhemd, Jeans und den dicken Socken, die du immer als Hausschuhe getragen hast. Mit grünen Augen und einem Leuchten im Gesicht. Deine Haare fielen dir über die Schultern, und in der Dämmerung sah es so aus, als wärst du blond, aber später habe ich Rot darin entdeckt. Du hast Toast gegessen, der Flur hat nach Toast gerochen; du hast dich entschuldigt und deine Finger abgeleckt. Ich kam mir ein bisschen dämlich vor in meiner Pelzmütze, also habe ich sie abgenommen, den Baum hochgehalten und gesagt, ›Das ist Ihrer, nehme ich an, Miss Anne Cleaver?‹ Und du hast gesagt, ›Sie nehmen richtig an. Und jetzt zieh deine Stiefel aus und komm mit.‹ Ich habe sie ausgezogen, bin dir gefolgt und habe nie zurückgeschaut.«

Ich habe den Baum ins Wohnzimmer getragen, es roch nach Orangen und Nelken. Ich konnte sehen, wo du gerade noch gesessen hattest. Deinen Abdruck auf dem Sofa, daneben ein aufgeschlagenes Buch, eine Strickjacke, auf dem Tisch ein leerer Teller und die schwachen Reste eines verglühenden Feuers.

Nachdem ich den Baum in den Ständer gestellt hatte, half ich dir, den Fuß mit Goldpapier auszulegen. Auf Goldpapier folgten Lichter, auf Lichter Weihnachtskugeln, bis ich schließlich den Weihnachtsstern oben an der Baumspitze befestigte. Ich stieg von der Leiter und stand neben dir, und ich wollte nicht mehr von deiner Seite weichen.

»Musst du nirgendwo hin?«, hast du gefragt.

»Nein, nur zurück in den Laden.«

»Keine Bäume mehr auszuliefern?«

»Keine Bäume mehr. Deiner war der letzte.«

»Und was ist im Laden?«

»Michael. Mabel. Und Whisky.«

»Ah, ja! Das bekannte Kinderbuch!«

Ich musste lachen.

»Du hast ein schönes Lachen«, sagtest du.

Und dann haben wir uns angeschwiegen. Weißt du noch? Weißt du noch, wie du mich angestarrt hast? Wie du mich verunsichert hast? Ich habe dich gefragt, wieso du mich so anstarrst.

Und du hast erwidert, »Ich frage mich gerade, ob ich mit dir mein Glück versuchen soll.«

Und ich sagte, »Ja. Ja ist die einzig mögliche Antwort.«

Als die Dämmerung in Dunkelheit überging, liefen wir Hand in Hand die Southfield Road entlang und hielten kurz in einer verborgenen Ecke, in der ich Toast auf deinen Lippen und deiner Zunge schmecken konnte. Wir kamen in der Cowley Road an, wo die Auslage vor Mabels Laden schon weggeräumt worden war und Musik – People Get Ready von den Impressions – aus der offenen Tür dröhnte. Du hast meine Hand gedrückt und gesagt, dass das eines deiner Lieblingslieder sei. Michael war allein im Laden und hat lauthals mitgesungen und getanzt, und Schwester Teresa sah ihm von der Türschwelle aus zu. Wir liefen über die Straße und gesellten uns zu ihr. Als das Lied zu Ende war, klatschten wir, und Michael hat sich verbeugt. »Kommst du dieses Weihnachten in die Kirche, Michael?«, fragte Schwester Teresa. »Wir brauchen Sänger wie dich.«

»Leider nein, Schwester. Kirche ist nichts für mich«, antwortete er. »Habt ihr alles, was ihr für den großen Tag braucht?«, fügte er hinzu. »In der Tat«, erwiderte sie. »Warte«, sagte er und ging nach hinten. »Hier.«

»Ein Mistelzweig«, lachte sie. »Ewig her, dass ich unter so einem stand«, und sie wünschte uns allen frohe Weihnachten und ging.

»Und wer ist das?«, wollte Michael wissen, sein Blick auf dich gerichtet. Ich habe gesagt, »Das ist Anne.« Du hast erwidert, »Annie, eigentlich.« Und er sagte, »Miss Annie Eigentlich. Sie gefällt mir.«

Das war 1976. Du warst dreißig, ich fünfundzwanzig.

Du hättest wahrscheinlich nie gedacht, dass ich mich an diese Kleinigkeiten erinnern würde.

Wir drei saßen draußen im Garten hinter dem Laden. Es war kalt, aber mit dir neben mir fühlte es sich nicht so an. Mabel kam heraus, um Hallo zu sagen, und du bist aufgestanden und sagtest, »Setz dich, Mabel.« Doch sie antwortete, »Heute Abend nicht. Ich gehe ins Bett, um der Musik zu lauschen.« »Welcher Musik?«, hast du gefragt. Aber sie war schon im Haus verschwunden und konnte dich nicht mehr hören.