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Ein brutaler Raubüberfall im Turiner Dom. Die Beute: das berühmte Grabtuch!
Ein Auftrag für Dr. Ava Curzon: Die Archäologin und ehemalige Agentin entdeckt bald eine Spur, die zu einem russischen Oligarchen führt. Doch was bezweckt er mit dem Raub? Auf der Suche nach der Antwort gerät Ava immer tiefer in eine dunkle Welt des religiösen Fanatismus und biblischer Geheimnisse.
Ihre Jagd führt sie quer durch Europa - direkt in die Hinterzimmer der Reichen und Mächtigen. Und Ava entdeckt eine Verschwörung von unvorstellbarem Ausmaß: Falls sie den Plan nicht vereitelt, wird ein neuer Krieg im Nahen Osten die Welt ins Chaos stürzen!
Packend und brandaktuell - nach ihrem Debüt in "Das Gottessiegel" entschlüsselt Ava Curzon erneut die Mysterien, an denen die Geheimdienste scheitern. Noch mehr Tempo! Noch mehr Spannung! Eine noch größere Bedrohung!
Jetzt als eBook von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 534
Veröffentlichungsjahr: 2018
Ein brutaler Raubüberfall im Turiner Dom. Die Beute: das berühmte Grabtuch!
Ein Auftrag für Dr. Ava Curzon: Die Archäologin und ehemalige Agentin entdeckt bald eine Spur, die zu einem russischen Oligarchen führt. Doch was bezweckt er mit dem Raub? Auf der Suche nach der Antwort gerät Ava immer tiefer in eine dunkle Welt des religiösen Fanatismus und biblischer Geheimnisse.
Ihre Jagd führt sie quer durch Europa – direkt in die Hinterzimmer der Reichen und Mächtigen. Und Ava entdeckt eine Verschwörung von unvorstellbarem Ausmaß: Falls sie den Plan nicht vereitelt, wird ein neuer Krieg im Nahen Osten die Welt ins Chaos stürzen!
Dominic Selwood ist Autor und Historiker. Er war schon immer von der Zeit der Kreuzzüge fasziniert und studierte Mittelaltergeschichte in Oxford und an der Pariser Sorbonne. Nach seiner Promotion arbeitete er einige Jahre lang als Rechtsanwalt. Heute schreibt er neben seinen Thrillern immer noch Bücher und Artikel über Geschichte, oft über wenig bekannte Themen. Wenn er gerade nicht schreibt, spielt er Bass in einer Rockband. Dominic Selwood lebt in London.
DOMINIC SELWOOD
DAS FEUER DER APOKALYPSE
THRILLER
Aus dem amerikanischen Englisch von Gerold Hens
beTHRILLED
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Dominic Selwood
Titel der britischen Originalausgabe: „The Apocalypse Fire“
Originalverlag: CORAX, London
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ralf Reiter, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock nito | Zoart Studio | Renata Sedmakova | Jag_cz
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6321-0
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Denn der HERR, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer.
Deuteronomium 4:24
(laut Überlieferung Moses zugeschrieben)
Stadtteil Twerskoi, Moskau
Die Heilige Mutter war fürchterlich.
Oleg Antonwitsch Durow wusste es von dem Moment an, als sie ihn vor vielen Jahren zum ersten Mal aufgesucht hatte. Doch er hatte immer getan, was sie von ihm verlangt hatte, so schrecklich es auch sein mochte.
Er schaute aus dem getönten Fenster der gepanzerten Limousine auf den stehenden Verkehr ringsum.
Es hatte keinen Zweck. Er verspätete sich zu dem Termin im Energieministerium. Als Vorsitzender der Öl-und-Gas-Kommission stand ihm ein großer Tag bevor.
Er befahl dem Fahrer anzuhalten. Zu Fuß würde er schneller vorankommen.
Beim Aussteigen nahm er sein Jackett vom Haken am Fenster, griff nach seiner schmalen ledernen Aktenmappe, knallte die Tür zu und machte sich auf den Weg.
Er ging einen Block weit, weg von den Luxusboutiquen und der bunten Mischung aus superreichen Shoppern und Touristen, die danach gierten, sich mit dem Feinsten einzudecken, was Moskau zu bieten hatte.
Als er die Straße überquerte – wobei er sorgsam den Pfützen auswich, die die ersten Straßenreiniger hinterlassen hatten –, nahm er plötzlich einen Platzregen aus kleinen, diffus leuchtenden weißen Kugeln wahr, die von hinten auf ihn zuschossen. Sie waren schnell, schwirrten über seine Füße, die Hüften und den Kopf, um dann vor ihm über das Pflaster zu flitzen.
Voller Entsetzen vernahm er ein niederfrequentes Donnern tief in der Erde. Es wuchs zu ohrenbetäubenden Ausmaßen an, und der Boden unter ihm fing heftig an zu beben. Kurz darauf kam zu dem Geräusch ein hohes Rauschen, als sei er hinter einen Wasserfall getreten.
Der Geräuschpegel stieg an und dröhnte unglaublich laut in seinen Ohren.
Voller Angst, er könne eine Gehirnblutung haben, fiel er auf die Knie. Seine Aktenmappe rutschte aufs Pflaster, und geheime Kreml-Dokumente und petrochemische Berichte ergossen sich über den Asphalt.
Weiter vorn verlangsamten sich die weißen Lichter und konzentrierten sich an einer Stelle, wo sie zu einer schimmernden Ellipse und dann einer Mandorla zusammenflossen.
Ungläubig sah er zu, wie die Form an den Rändern unter psychedelischen Farbpulsen zu flackern und zu fluoreszieren begann und die Szenerie unbeteiligter Menschen überlappte, die ihren Geschäften nachgingen.
Verständnislos starrte er die junge Frau an, die vor einer strahlenden Sonne inmitten der Form erschien und deren Füße auf einer Mondsichel ruhten.
Sie trug ein Kleid aus strahlendem Silber mit einer sternenübersäten Regenbogenschärpe um die Hüfte und ein glänzend blaues Cape mit Kapuze. Ihre Haut war strahlend weiß, und ihre Lippen blitzten rot wie Rubin.
Er presste die Hand auf die Ohren, um den unerträglichen Lärm auszublenden. Es half jedoch nichts.
Ehrfürchtig sah er zu, wie die blutroten Lippen sich teilten und ihre Stimme sich sengend wie geschmolzenes Gold über ihn ergoss.
Vage war er sich anderer Passanten bewusst, die ihn anstarrten. Dann wurde ihm klar – wie während der beiden Male damals, als sie ihm vor vielen Jahren schon erschienen war –, dass er der Einzige war, dem es vergönnt war, sie zu erblicken.
Sie hatte ihn auserwählt.
Es war eine private Offenbarung – ein heiliges Geschenk. Und ihm allein behielt sie es vor.
Er lauschte ihren Worten, spürte, dass sie ihn durchbohrten wie himmlische Speere. Sie spießten jede einzelne Zelle auf, brachen die einzelnen Helixstränge seiner DNS auf und verschmolzen mit seiner Seele. Seine Augen standen in Flammen. Er spürte sich selbst verbrennen.
Was sie verlangte, war unsäglich, unmenschlich, fürchterlich in seiner zerstörerischen Kraft.
Er sollte ihr Agent auf Erden sein – ihr Amanuensis der Letzten Tage.
Es stand alles geschrieben in der Bibel – die Offenbarung enthielt alle Einzelheiten.
Tief im Herzen fühlte er sich gesegnet. Sein Wissen war der Grund dafür, dass die Heilige Mutter ihn auserwählt hatte. Er war der Einzige, der sie verstand. Er war der Einzige, dem sie vertrauen konnte.
Cattedrale di Giovanni Battista, Turin
Die vier Mönche überprüften ihre Waffen. Sie waren bereit.
Die Nacht war über das Susatal hereingebrochen, das sich zerklüftet durch die Alpen grub, von der französischen Grenze bis tief in die italienischen Berge.
An seinem östlichen Ende, auf der Ebene Norditaliens, blickte Giovanni Raspallo vorsichtig durch die alte, niedrige Pforte der Sakristei der Kathedrale.
In dem Augenblick, als die schwarzgekleideten Gestalten in der Morgendämmerung erschienen, wusste er, dass er einen verhängnisvollen Fehler gemacht hatte.
Früher am Morgen hatte der hohlwangige Mönch ihn schüchtern angesprochen und sich leise als Pater Wasili vorgestellt. In stockendem Italienisch hatte der Mönch angefragt, ob er und ein paar Brüder aus einem Kloster nahe Nowgorod vor der alten Ikone der Heiligen Archelais, Thekla und Susanna – der gemarterten Jungfrauen von Salerno –, deren orthodoxes Fest bei Sonnenuntergang beginnen sollte, etwas Zeit im einsamen Gebet verbringen dürften.
Als Sakristan – als Hüter – der Kathedrale wurde Raspallo regelmäßig um Gefälligkeiten gebeten, und gewöhnlich half er gern. Turin wurde für einen alleinstehenden Mann seines Alters schließlich immer teurer. Es war kein Problem, eine Kerze am Brennen zu halten, ein Fläschchen mit frischem Weihwasser zu füllen oder einen Lieblingsrosenkranz über Nacht auf dem Grab des Seligen Pier liegen zu lassen. Die kleinen Zuwendungen, die er dafür erhielt, erlaubten ihm, gelegentlich eine Leckerei für sein Paar Distelfinken zu kaufen, und wenn er seine leeren Kisten mit Tafelwein auffüllte, der ihm half, sich an einsamen Abenden zu beduseln, brauchte er nicht immer vom billigsten Fass dolcetto zu kaufen.
Inzwischen war es dunkel, und Pater Wasili war mit seinen drei Brüdern zurückgekommen. Sie warteten in der kühlen Abendluft vor dem Seiteneingang der Sakristei – so wie Raspallo sie angewiesen hatte –, unverwechselbar in ihren weiten schwarzen russisch-orthodoxen und zylindrischen kamilawka-Schleierhüten.
Raspallo konnte nicht sofort sagen, worin das Problem bestand. Aber in dem Augenblick, als die Mönche sich an ihm vorbei in die enge Sakristei drängten – deren Vitrinen mit dem Silberzeug und den bestickten Messgewändern er jahrzehntelang liebevoll gepflegt hatte –, wusste er instinktiv, dass da irgendetwas überhaupt nicht stimmte.
Noch während er die schwere Holztür hinter ihnen schloss, explodierte urplötzlich sein Kopf in einem Blitz aus sengend heißem, weißglühendem Licht, und er wand sich in qualvollen Zuckungen, als würde er vom Feuerschwert eines Erzengels aufgeschlitzt.
Als sein krummer Rücken auf den Terracottaplatten aufschlug, wurden seine alten Muskeln von heftigen Krämpfen geschüttelt, und in seiner Kehle stieg würgende Galle auf.
Seine Augen verdrehten sich in ihren Höhlen, sodass er weder die beiden dünnen Kupferdrähte sehen konnte, die jetzt in seiner Brust steckten, noch den Lithium-Akku in Wasilis Hand, der erbarmungslos fünfzigtausend Volt in ihn hineinpumpte.
Raspallo versuchte zu schreien, doch die übermächtigen Stromschläge blockierten sämtliche Nervenbahnen in seinem verkrümmten Körper.
Nach fünf fürchterlichen Sekunden wurde der Strom abgeschaltet, und er verfiel unkontrolliert zuckend in einen tiefen Schockzustand.
Bevor er noch in der Lage war zu begreifen, was passierte, streckte Wasili die Hand aus und riss ihm grob die Widerhaken des Elektroschockers heraus, wobei er ihm rücksichtslos die Haut aufschlitzte.
Ohne ihm eine Pause zu gönnen, ging ein anderer Mönch vor ihm in Hocke und schlug ihm mit der Faust heftig auf den Kehlkopf. Noch während ihm neuerlich Schmerz und Übelkeit durch Hals und Brust fuhren, packte eine Hand seinen Kopf, und er merkte, dass ihm etwas darübergezogen wurde.
Mühsam versuchte er zu begreifen, wieso Bänder hinter seinem Schädel verschnürt wurden. Seine Gedanken wurden jedoch jäh von dem unerträglichen Schmerz abgeschnitten, mit dem seine Schneidezähne brachen, als eine Hand ihm einen metallenen Pflock in den Mund trieb und seine Kehle sich mit Blut und Bruchstücken von Zähnen füllte.
Jetzt schrie er – mit all der Kraft, die sein verkrampfter Leib aufbrachte. Der schwere Metallknebel erstickte jedoch jeden Laut.
»Halt still, dann passiert dir nichts«, knurrte eine Stimme.
Raspallo hatte Mühe, die Worte zu verarbeiten, denn er musste noch die Brutalität des Überfalls verdauen.
Zwei Mönche traten vor, packten ihn unter den Schultern und schleppten ihn mit dem Gesicht nach unten in die stark nach Weihrauch duftende Kathedrale.
Der vierte, mit breitem, pockennarbigem Gesicht, stand bereits vor dem Schaltpult, das die vierzehn unauffällig angebrachten High-Definition-Sicherheitskameras steuerte, die rund um die Uhr liefen. Hektisch tippte er auf dem Bildschirm eines Tablets herum, das er in den RJ45-Anschluss gestöpselt hatte, um für fünfzehn Minuten die Bildübertragung zu unterbrechen, während das System registrierte, dass es zwecks eines Software-Updates offline gehen sollte.
Als die beiden Mönche, die Raspallo trugen, weiter in die Kathedrale vordrangen, konnte er an dem Muster der marmornen Sechsecke im Boden erkennen, dass man ihn durch das von Kerzen erleuchtete Kirchenschiff zum Hochaltar brachte.
Trotz seiner starken Schmerzen bemühte er sich zu verstehen, was sich hier abspielte.
Es ergab keinen Sinn. Die Ikone der Heiligen Archelais, Thekla und Susanna befand sich in der südwestlichen Ecke des Bauwerks – in entgegengesetzter Richtung.
Er begann sich heftig zu wehren und mit Armen und Beinen um sich zu schlagen, um sich aus dem harten Griff der Wächter zu befreien, doch ein betäubender Schlag auf seinen Nackenansatz verwandelte sein Skelett in Gummi.
Wieso machten sie das? Waren sie gekommen, um ihn umzubringen?
Mühsam hob er den Kopf und schaute sich trostsuchend nach den Bildern und Skulpturen der Heiligen und Engel um, die von Wänden und Decke herabblickten. Doch alles, was er sah, war ein blutiger, gemarterter Leib, den man grausam an ein Kreuz genagelt hatte, und ein junges Mädchen, das auf ein Rad geflochten war, während ein römischer Soldat ihre Knochen mit einem Hammer zertrümmerte.
Er begann vor Angst zu keuchen.
Als sie ihn zur Kanzel schleppten, wurde sein Blick von den sechs riesigen goldenen Kerzenleuchtern des Altars nach oben zu der hochragenden Rotunde mit ihrer ehrfurchtgebietenden Kaskade noch größerer Altäre gezogen, die sich, einer auf den anderen folgend, im Dämmerlicht der Kuppel verloren.
Gott würde doch gewiss keinen Mord zulassen an diesem heiligen Ort? Er war starr vor Entsetzen.
Die Männer bogen nach links ins nördliche Querschiff ab, und mit einem Mal begriff Raspallo, was ihn irritiert hatte, als die Mönche die Sakristei betreten hatten.
Jetzt war es klar.
Das waren keine Männer, deren Körper von jahrelangem Schweigen, Beten und Fasten ausgezehrt waren. Sie gingen aufrecht, wirkten durchtrainiert und muskulös. Auch ihre Gesichter waren falsch, mit ihren kurzen, frischen Bärten statt der infolge frommer Nachlässigkeit ungepflegten Strähnen.
Als die Gruppe sich der Vielzahl von Seitenkapellen entlang der nördlichen Mauer näherte, erblickte Raspallo die Triforium-Balustrade in der ersten Etage, die den Blick auf die große Königsloge versperrte. Hier hatten die Grafen von Savoyen einst die Messe gehört und sich unter der gewaltigen Skulptur ihres königlichen Wappens in Gold, Rot und Weiß gesonnt.
Die Mönche machten Halt, und mit erschütternder Klarheit wurde Raspallo bewusst, worauf sie es abgesehen hatten.
»Smettete lo …«, heulte er auf, doch erstickt von dem festen metallenen Knebel erstarben die Laute in seinem Mund.
Wasili stürmte voran zur Seitenkapelle unter der Königsloge und musterte fachmännisch die deckenhohen Glasscheiben. Hinter der Trennwand stand ein langer niedriger Altar vor einem dicken roten Vorhang, und auf dem Stoff war eine große verschwommene Fotografie vom Kopf eines Mannes angebracht. Er hatte ein seltsam längliches Gesicht mit hohen Wangenknochen, lange Haare, einen Vollbart und tiefe, eindringliche Augen.
Entschlossen öffnete Wasili die gläsernen Schiebefenster, betrat die Kapelle und packte den roten Vorhang. Mit einem einzigen Ruck riss er ihn zu Boden und mit ihm die gespenstische Fotografie.
Jetzt konnten alle sehen, dass der Vorhang eine große Vitrine verhüllt hatte, die die doppelte Länge und Breite eines Mannes besaß und mehr als zwanzig Zentimeter tief war. Sie stand auf einem verstellbaren Metallrahmen, auf dem sie horizontal liegen oder senkrecht aufgerichtet werden konnte. Merkwürdigerweise war sie an ein Pult mit Hightech-Computeranlagen angeschlossen.
Obwohl Raspallo noch nie zuvor einen Blick hinter den Vorhang hatte werfen dürfen, wusste er genau, was das für eine Vitrine war und wozu die Elektronik, die Kabel und die Röhren dienten.
Das Glas war versenkt, und die Maschinen, die daneben rund um die Uhr summten, regelten die künstliche Atmosphäre darin mit konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit, um zu gewährleisten, dass sie mit 99,5% Argon und 0,5% Sauerstoff anaerobisch, antibakteriell blieb.
Es war nicht die Art von Technik, die man gewöhnlich in einer Kirche antraf. Aber schließlich war auch das dünne Stück aus elfenbeinfarbenem Leinen, die sie schützte, in keiner Weise gewöhnlich.
Raspallo konnte das alte Stück Tuch nicht sehen. Aber er wusste genau, wie es aussah. Jedes Detail war in sein Gehirn eingebrannt.
Er hatte es während der offiziellen Ausstellungen 2010 und 2015 bewundert, als mehrere Millionen Menschen den Dom besucht und sich an einem speziellen Schaukasten vorbeigeschoben hatten. Abends, wenn die Menge gegangen und es in dem Bauwerk still und dunkel war, hatte er vor der Reliquie gestanden und sich an ihren Wundern sattgesehen. Er hatte sie so lange betrachtet, dass er jetzt die Augen schließen und sich das vertraute sepiafarbene Bild von Vorder- und Rückseite eines qualvoll gekreuzigten Mannes ins Gedächtnis rufen konnte, der von Hunderten von Wunden und Blutflecken entstellt war.
Als Wasili sich dem heiligen Glasreliquiar näherte, spülte eine neuerliche Woge der Furcht über Raspallo hinweg. Weshalb zwang man ihn, zuzusehen, was sie taten?
Die beiden Mönche ließen Raspallo zu Boden fallen. Der stämmigere der beiden packte ihn an den schlotternden Handgelenken, band sie fachmännisch mit einem Kabelbinder unter dem rechten Knie zusammen und fesselte ihn so in einer Haltung, in der er sich nicht bewegen konnte.
Dann bückten sich beide Mönche und holten Waffen aus ihren kleinen Rucksäcken.
Raspallo war kein Soldat, doch er hatte vor vierzig Jahren seinen naja-Dienst abgeleistet und konnte eine kleine Maschinenpistole erkennen – auch wenn er noch nie eine so kleine oder eine mit derart bösartigen futuristischen Formen gesehen hatte.
Er hustete, um seine Kehle von Blut zu befreien, was aber nur den pochenden, brennenden Schmerz im Mund verschlimmerte, während sein Körper in unkontrollierten Krämpfen zu zucken begann.
Der größte der Mönche lief rasch in die Kirche zurück und bezog einen Beobachtungsposten, von dem aus er die Tür zur Sakristei und seine Kameraden sehen konnte. Ein anderer Mönch blieb zwischen Raspallo und der Seitenkapelle stehen und richtete seine böse aussehende Waffe direkt auf den Sakristan.
Wasili beugte sich über einen offenen schwarzen Rucksack, aus dem er eine rechteckige Maschine mit breiten runden Griffen holte. Ohne Vorwarnung legte er den Schalter um, und der Lärm des 2000-Watt-Motors, der von dem glatten Boden und den Wänden widerhallte, zerriss die Stille des großen Tempels.
Raspallo starrte schweißgebadet die Kettensäge an.
Sie würden doch nicht …? Er hatte Filme gesehen …
Seine Augen weiteten sich, als der Mönch auf ihn zutrat, doch nur, um eine Schutzbrille aus seiner Tasche zu holen und sie aufzusetzen.
Mit einem drohenden Blick auf Raspallo trat Wasili an den Hightech-Schaukasten, musterte kurz das kugelsichere Glas und senkte dann das brutal wirkende runde Sägeblatt.
Wut mischte sich in Raspallos Entsetzen, während er hilflos zusehen musste.
Das war ein Sakrileg, ein Gräuel.
Das heilige Leintuch war nicht irgendein Gegenstand in der Kathedrale wie etwa eines der vielen Weihrauchgefäße, einer der Kerzenhalter oder eines der wertvollen Gemälde. Es war die berühmteste Reliquie des Christentums – dem Heiligen Vater persönlich vom letzten König Italiens geschenkt, dessen Familie das alte Tuch fünfhundertdreißig Jahre lang gehütet hatte.
Am anderen Ende der Seitenkapelle hatte der pockennarbige Mönch einen grauen, mit geriffeltem Gummi überzogenen Laptop aus seiner Tasche geholt, den er am Rand der Vitrine aufstellte und an ein dazu passendes Satellitentelefon anschloss.
Der Mönch, der dem Sakristan am nächsten stand, stupste ihn mit dem Lauf seiner Pistole an, steckte die Hand tief in die Gesäßtasche des Priesters und zog ein abgegriffenes Portemonnaie heraus. Er warf die braune Geldbörse seinem Kameraden am Laptop zu, der den spärlichen Inhalt durchblätterte und dann eine offizielle Carta d’Identità herauszog.
Verwirrt verfolgte Raspallo, wie der falsche Mönch die offizielle grün-braune Karte vor den Bildschirm des Laptops hielt und Biochip, Barcode, Foto und Unterschrift scannte. Dann fing er an zu tippen und etwas zu murmeln, während seine Finger über die weichen Gummitasten flogen, die alle mit einem Buchstaben aus einem Alphabet gekennzeichnet waren, das Raspallo nicht erkannte.
Der Lärm der Kreissäge wurde lauter, als Wasili die diamantbesetzte Schneide mühelos in das polykarbonverstärkte Glas senkte und eine tiefe hässliche Scharte in den Schaukasten ritzte.
Verständnislos schaute der Sakristan auf den Bildschirm des Laptops, konnte aber nur Zeile um Zeile aus winzigen weißen Buchstaben auf einem völlig schwarzen Hintergrund erkennen. Es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den knallbunten Webseiten, die er normalerweise auf den Tablets und Handys der Touristen sah.
»Ihr Uni-Banda-Konto zeigt an, dass Sie gestern Ihre gesamten Ersparnisse abgehoben haben«, sagte der pockennarbige Mönch mit schwerem russischen Akzent zu Raspallo. »Neunzehntausendsiebenhundertfünfzig Euro. Und die Fluglisten des Turiner Flughafens Sandro Pertini geben an, dass Sie auf den Alitalia-Flug heute Abend nach Paris eingecheckt haben, wo Sie in Kürze landen werden, bevor Sie sicher die örtliche Grenzkontrolle auf dem Charles de Gaulle passieren.«
Raspallo verstand kein Wort. Wieso sollte er in Paris sein? Was hatte das zu bedeuten?
Mit gespielter Bewunderung blickte der Mönch zu dem Sakristan hinüber. »Gratuliere, Signor Raspallo. Soeben haben Sie das Verbrechen des Jahrhunderts begangen. Im Alleingang.«
Tatsächlich? Raspallo schüttelte den Kopf. Sie waren die Verbrecher, nicht er.
»Keine Sorge«, fuhr der Mönch fort. »Man wird Sie nicht finden.« Er schloss den Laptop mit einem Klick. »Wir werden alle nötigen Vorkehrungen treffen.«
Der Sakristan beobachtete, wie die Profischneide die letzte Schicht Glas durchtrennte und ein ganzes Stück der Schutzvitrine auf die harten Bodenfliesen krachte.
Raspallo konnte seine Glieder nicht mehr spüren, und er konnte nichts unternehmen, als Wasili die Powersäge abstellte, die Hand durch die schartige Öffnung der Vitrine steckte und ein Gummituch über die Schnittkante legte, bevor er anfing, vorsichtig das empfindliche Stück Leinen herauszuziehen.
In seinen Augen brannten Tränen. Außer Entsetzen und Empörung empfand er nun auch Scham. An dieser Entweihung trug er die Schuld. Es lag nur an seiner Gier. Er hatte diese Ungeheuer in den Dom gelassen. Er hatte alle verraten.
Wasili nickte dem Mönch neben Raspallo zu, der sich bückte und den Kabelbinder um die Handgelenke des Sakristans durchtrennte.
Raspallo streckte sein zitterndes Bein, als der Kreislauf wieder in Gang kam, doch der Mönch zerrte ihn hoch und schleppte ihn stolpernd zu Wasili hinüber, der seine Handgelenke packte und seine Handflächen mehrmals auf die glänzende Glasfläche des Schaukastens drückte.
Raspallo, dessen gebrochener Leib der Kraft des Jüngeren nichts entgegenzusetzen hatte, konnte nur voller Schrecken zusehen, wie Wasili den linken Handrücken zu dem zerstörten Rand der Vitrine dirigierte und dann die nackte Haut voller Absicht fest in die scharfe Glaskante presste, die mühelos in das Fleisch und tief in die Blutgefäße darunter eindrang.
Vor Schreck und Schmerz heulte Raspallo auf, als das Blut aus der Fleischwunde ins Innere des leeren Schaukastens strömte, doch der Knebel in seinem Mund erstickte jeden Laut, sodass der Schrei nur in seinem Kopf widerhallte.
Beim Anblick von so viel Blut wurde ihm schwindlig, aber Wasili zog rasch die zerfleischte Hand aus dem Schaukasten und begann, die zahlreichen Wunden fachmännisch zu verbinden, um weiteres Blut aufzufangen und zu verhindern, dass noch mehr auf die Vitrine oder den Boden tropfte.
Dem Sakristan wurde dumpf bewusst, dass die übrigen Mönche ihre Werkzeuge fertig eingepackt hatten und nun ihren Anführer erwartungsvoll anblickten.
Auf Wasilis Zeichen hin packten zwei von ihnen Raspallo erneut und schickten sich an, ihn zum westlichen Ende des alten Tempels zu schleppen.
Verwirrt schaute Raspallo sich um, bis er sah, dass der hochgewachsene Mönch, der die Sakristei überwacht hatte, jetzt drüben bei der Westpforte an dem reichverzierten, großen steinernen Taufbecken stand.
Als die Gruppe näherkam, zog der große Mönch an der alten eisernen Kettenmechanik und hob den schweren hölzernen Deckel des Beckens in die Höhe.
Raspallo schaute verwundert zu. Sie hatten doch, was sie wollten. Was hatten sie mit dem Taufbecken vor?
Die Mönche dirigierten ihn zu der Schale und drückten ihn mit der Brust gegen den kunstvoll gemeißelten Baum des Lebens.
Raspallo blickte sich verständnislos um, bis eine Hand ihn am Hinterkopf packte und ihn nach unten drückte.
Als sein Gesicht auf das eiskalte Wasser traf, schrie er aus Leibeskräften, doch die Laute verloren sich in der kalten Finsternis des breiten Steinbeckens.
Endlich begriff Raspallo.
Sie hatten ihm gestattet weiterzuleben, weil er einen Zweck zu erfüllen hatte.
Und jetzt hatte er ihn erfüllt.
Er schrie erneut, erkannte jedoch zu spät, dass die wertvolle Luft, die er vergeudete, die allerletzte war, die ihm noch blieb.
Er bäumte sich mit aller Kraft auf, doch die Arme, die ihn an das Becken pressten und seinen Kopf unter das heilige Wasser gedrückt hielten, waren wie aus Stahl.
Mit einem urtümlichen Entsetzen wurde ihm klar, dass er sterben würde.
Im Zentrum seines Blickfelds erschien ein roter Wirbel, der immer größer wurde. Die Zeit schien sich zu dehnen, und er spürte, wie seine Kraft ihn verließ und ein lautes Dröhnen seine Ohren erfüllte. Die wirbelnde dunkelrote Wolke füllte jetzt unter Explosionen schimmernder Funken gleißenden Lichts sein Gesichtsfeld.
Endlich setzten die Instinkte seinen Verstand außer Gefecht. Immer wieder wie wild durch die Nase einatmend, sog er das Vergessen tief hinein in seine ertrinkenden Lungen.
Während sich völlige Schwärze über ihn senkte, erschlaffte er, und sein Leben ergoss sich in das zur Taufe bestimmte Wasser.
Dann nichts mehr.
Die Mönche öffneten die Tür zur Sakristei und ließen drei als Müllkutscher gekleidete Männer ein, die den leblosen Körper des Sakristans rasch in eine fahrbare Tonne steckten, die sie nach draußen zu einem wartenden Müllwagen schoben.
Die Mönche brauchten nichts aufzuräumen. Raspallos Haut und Haare hatten sich die vergangenen Jahrzehnte über in dem Dom angesammelt. Es gab keinen besonderen Beweis auf einen Mord. Die einzigen Indizien für ein Verbrechen, die die Polizia finden würde, waren Raspallos überall auf der zertrümmerten leeren Vitrine verteilten frischen Fingerabdrücke und sein Blut.
Als die Mönche fertig waren, scheuchte Wasili sie aus dem Gebäude, bevor er die Tür zur Sakristei hinter ihnen schloss und von außen mit Raspallos Schlüssel zusperrte.
Sie schlüpften alle in einen in der Nähe stehenden Mercedes, dessen Motor die ganze Zeit über gelaufen war, und brausten mit einer der berühmtesten Reliquien der Welt in einem silbernen Aktenkoffer in die Nacht hinaus.
10b St James’s Gardens, Piccadilly, London SW1
Ava schreckte hoch und war sofort auf der Hut.
Sie warf einen Blick auf die rot leuchtende Digitalanzeige des Radios an ihrem Bett. Sie zeigte 2 Uhr 04.
Sie lauschte angestrengt und hörte das Geräusch von Neuem. Es kam aus dem Flur.
Inzwischen hellwach, langte sie unter dem Bett nach der geladenen Ruger LCR, die sie dort mit Klebeband befestigt hatte.
Sie wusste sehr wohl, dass sie keine Lizenz für die Waffe besaß und sie eigentlich gar nicht haben durfte. Die Zeit, in der sie von Amts wegen eine Feuerwaffe tragen durfte, war lange vorbei. Aber nach den zurückliegenden Ereignissen konnte sie nicht länger davon ausgehen, dass ihre Vergangenheit sie in Ruhe lassen würde.
Im Dunkeln fanden ihre Finger die kleine, kühle Waffe, die sie rasch löste. Sofort schmiegte sie sich bequem in ihre Hand.
Sie horchte noch einmal genau hin und hörte es wieder. Wer immer es sein mochte, er machte sich in ihrer Küche zu schaffen.
Sie zog ihre Jeans über, öffnete leise die Schlafzimmertür und durchquerte unter Adrenalinstößen den Flur.
Sie hatte keine Einbruchsicherung, denn sie brauchte keine. Dafür hatte sie eine eigens angefertigte Haustür aus solidem Stahl.
Wie war der Eindringling hereingekommen?
Die Küchentür stand einen Spalt offen, und sie konnte dahinter einen Lichtschimmer sehen.
Sie zwang sich, ruhig zu atmen. In einer fließenden Bewegung öffnete sie mit dem Knie die Tür und glitt rasch durch den Eingang und aus der Schusslinie.
Ihre Waffe zielte genau auf das Herz des Eindringlings.
Zu ihrer Verwunderung saß der Mann am Küchentisch und hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen.
Außerdem hatte er eine Handfeuerwaffe direkt auf sie gerichtet.
»Allzeit bereit, wie ich sehe.« Seine Stimme klang rau. Schottischer Akzent. Glasgow, hätte sie vermutet.
In einem Sekundenbruchteil prägte sie sich seine Züge ein. Kurzgeschorene graue Haare, Mitte fünfzig, ein zerknitterter grauer Anzug, den er jeden Tag trug. Eine Figur, die einmal fit gewesen war und jetzt aus dem Leim zu gehen drohte.
Nichts an seiner Erscheinung trug zu ihrer Beruhigung bei. Er konnte alles Mögliche sein.
Die Spannung zwischen ihnen stieg bedrohlich an. Sie blickte ihm fest ins Gesicht und suchte nach einem kleinen Anzeichen, das seine Absichten verriet.
Sein Blick war ausdruckslos. Aber da war noch etwas – ein Anflug von Kälte in seinem Gesicht, von Unberechenbarkeit.
»Dr. Curzon. Ich muss mich entschuldigen. Ich hätte mich vorstellen sollen.« Er stand langsam auf.
Avas Adrenalin kochte hoch. Sie hatte kein Namensschild an ihrer Haustür.
Weiterhin auf sie zielend, griff der Mann mit der linken Hand in die innere Jackentasche.
Sie konzentrierte sich auf beide Hände und suchte, alles andere ausblendend, nach dem ersten Anzeichen einer feindseligen Bewegung.
»Ganz langsam«, warnte sie ihn, während sie den Abzug der Ruger um einen Bruchteil weiter durchdrückte. Der winzige silberne Zylinder drehte sich in der mattschwarzen Waffe und spannte den Hahn über einem frischen .22er-Projektil.
Bedächtig zog er eine Visitenkarte hervor und hielt sie hoch. Seinen Namen konnte sie nicht lesen, aber das Foto war ihm recht ähnlich, und in fetten Großbuchstaben stand da:
MINISTRYOFDEFENCE
»Jack Swinton«, erklärte er. »MI13.«
»Raus«, befahl sie leise.
Er nickte. »Ich weiß, was Sie denken. Es gibt kein MI13. Aber trotzdem«, er lächelte knapp, »sind wir hier.«
Aus dem Augenwinkel nahm Ava am Rand der Küchenjalousie draußen auf der Straße eine Bewegung wahr. Mit einem kurzen Blick erkannte sie einen geparkten schwarzen Lieferwagen. Daneben stand ein Streifenwagen, in dem zwei Polizeibeamte saßen und in die Nacht hinausstarrten.
»Stellen Sie sich vor, MI5, MI6 oder das GCHQ möchte etwas erledigt haben.« Er sprach ruhig, die Pistole nach wie vor auf sie gerichtet. »Aber man will nicht, dass die Politiker oder die Öffentlichkeit davon erfahren.« Er hielt inne. »Dafür sind wir dann da.«
Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Raus, habe ich gesagt.«
Er rührte sich nicht. »Es hat sich einiges verändert seit Ihrer Zeit.«
Sie schluckte heftig.
»Die Nachrichtendienste müssen den parlamentarischen Ausschüssen heute offen Rede und Antwort stehen. Es ist unmöglich geworden, irgendetwas wirklich verdeckt zu tun. Und da kommen wir ins Spiel. Die Politiker wissen nicht einmal, dass es uns gibt.«
Sie warf erneut einen Blick aus der kleinen Lücke auf den Streifenwagen auf der Straße. Er wirkte durchaus echt – bis hin zu dem gelangweilten Ausdruck in den Gesichtern der Polizisten, die die Nachtschicht gezogen hatten.
»Die blauen Jungs auf den Vordersitzen da draußen halten uns für die Zollfahndung.« Er schmunzelte.
»Sie haben sich in der Adresse geirrt.« Ava nickte in Richtung ihrer Haustür. »Ich sag’s Ihnen nicht noch mal.«
Er seufzte. »Dann eben auf die ausführliche Tour. Dr. Ava Curzon, Sie studierten Archäologie und alte orientalische Sprachen in Oxford, Harvard und Kairo, folgten ihrem Vater zum MI6. Jahrgangsbeste. Nach einem Senkrechtstart kündigten Sie – desillusioniert – bei Beginn des Irakkrieges. Sie gingen an die Nahost-Abteilung des British Museum, von dem Sie später an Museen in Amman und Bagdad abgeordnet wurden. Inzwischen sind Sie wieder zurück in London und arbeiten über assyrische Antiquitäten, die in den Kriegen im Irak zerstört wurden.«
Ava holte tief Luft. Er hatte eindeutig seine Hausaufgaben gemacht.
»Diese Informationen sind nicht schwer zu beschaffen.« Sie musterte ihn eingehend. »Wenn man weiß, wo man nachsehen muss.« Ihre Stimme spiegelte eine Sicherheit vor, die sie nicht empfand.
»Na schön«, antwortete er. »Tun Sie mir nur einen Gefallen. Schauen Sie sich das hier an.«
Er nickte in Richtung eines Blatts Papier, das mitten auf dem großen Küchentisch lag. Es war ihr noch nicht aufgefallen; es lag auf den Fotos und den Übersetzungen der mesopotamischen Bestattungskeilschriften, an denen sie noch bis spät in die Nacht gearbeitet hatte.
Sie hatte nicht die Absicht, ihm noch näher zu kommen. Sie wollte ihn – und seine Pistole – auf Abstand halten, wo sie beide sehen konnte.
Sie warf einen Blick auf die Akte und sah, dass es sich um eine Zusammenstellung fotokopierter Dokumente handelte, die auf ein einziges Blatt verkleinert worden waren. Als sie sie genauer studierte, merkte sie, dass sie ihr alle vertraut waren.
Und streng geheim.
Sie schaute auf ihren früheren MI6-Foto-Ausweis des Foreign Office, die offizielle Karte mit ihren Fingerabdrücken, ein Foto mit dem Director-General, der sie bei der Aufnahme neuer Rekruten willkommen hieß, aufgenommen in seinem Penthouse-Büro in ›Legoland‹, dem bunten Hauptquartier, das an Bauklötze aus einem Kinderbaukasten gemahnte. Und auf ihr P45-Steuerformular mit den vertraulichen ›Angaben zu ausscheidenden Mitarbeitern‹, das die Personalabteilung ihr am Tag ihres Ausscheidens ohne auch nur ein Dankeschön ausgestellt hatte.
Obwohl die Aufnahmen inzwischen schon vor einer Weile gemacht worden waren, sah sie immer noch ziemlich genauso aus. Dunkle Haare – nach wie vor im Pferdeschwanz – und braune Augen mit goldenen Einsprengseln. Für ihre Art von Arbeit war ihr Aussehen günstig. Sie konnte überzeugend als Engländerin, Europäerin oder Orientalin auftreten.
Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass da auf dem Blatt mit den Fotos noch ein Schlüssel aus glänzendem Messing lag. Als sie seine vertraute Form erkannte, stellte sie fest, dass im Gegensatz zu dem Original, das sie immer bei sich trug, die Kopie auf dem Tisch noch glänzte und mit einem Etikett versehen war, auf dem ein alphanumerischer Code stand.
»Die Firma behält für alle Türen, die sie einbauen lässt, einen Schlüssel zurück«, erklärte er. »Ihr Vater hat diese Wohnung bauen lassen. In den späten Neunzigern, nicht wahr? Ich bin sicher, Sie wissen, wie das läuft.«
Sie warf erneut einen Blick auf den Schlüssel. Ihr Vater hatte die Tür während einer besonders üblen Operation einbauen lassen, bei der seine Sicherheit als gefährdet beurteilt worden war. Sie erinnerte sich gut daran. Dennoch besaß, soweit sie wusste, sie den einzigen Schlüssel.
Langsam hob sie den Kopf und erwiderte seinen Blick. »Ich warne Sie zum letzten Mal.«
»Sie haben kürzlich einen hohen Beamten des MI6 und einen amerikanischen DIA-Agenten bei Aktionen gegen eine Gruppe sehr böser Menschen unterstützt, bei denen es – wie soll ich sagen? – zu unvorhergesehenen Bestattungen kam.«
Sie erstarrte. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte.
Ihre Vergangenheit zu kennen war eine Sache. Aber davon wusste niemand.
Sie konnte spüren, wie sich die Haare in ihrem Nacken aufstellten. Diese Informationen waren mehr als geheim. Sie existierten überhaupt nicht.
Auf ihrem Rücken brach ihr der Schweiß aus. Waren etwa Einzelheiten durchgesickert? War es das, worum es ging? Vergeltung?
Sie beobachtete die Muskeln um die Augen des Mannes und verstärkte nach und nach den Druck auf den Abzug der Ruger.
Sollten hier lose Enden bereinigt werden?
Der Lauf seiner Pistole bewegte sich fast unmerklich.
In dem Sekundenbruchteil, den sie brauchte, um auszuatmen und den Abzug durchzudrücken, merkte sie, dass er seine Pistole senkte.
»Muss ich fortfahren?«, fragte er und legte die Waffe auf den Tisch.
Ihre Handflächen waren feucht.
»Hören Sie, wir brauchen schlicht und einfach Ihre Hilfe«, beharrte er. »Wenn ich hier wäre, um Ihnen zu schaden, dann würden wir diese Unterhaltung nicht führen.«
Sie schaute hinab auf die Fotos und den Schlüssel.
Was er sagte, ergab Sinn. Er würde eine Menge Ärger riskieren, wenn er nur gekommen wäre, um sie zu entführen oder umzubringen. Das hätte er tun können, während sie schlief.
»Ich bin sicher, Sie haben Hunderte von guten Leuten.« Sie entspannte ihren Finger und senkte die Ruger behutsam an ihre Seite. Dennoch war jede Faser gespannt für eine Reaktion, falls er etwas versuchen sollte. Er hatte immer noch ein Dutzend Möglichkeiten anzugreifen. Seine Pistole war in Reichweite, ebenso die Kaffeetasse. Hinter ihm stand ein Messerblock.
»Streichen Sie mich von Ihrer Liste«, befahl sie. »Ich bin jetzt Museumsarchäologin. Weiter nichts. Und genau das will ich sein.«
Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Darüber können wir reden.« Er griff nach dem Blatt Papier und dem Schlüssel und steckte sie wieder in die Tasche.
Als er den Blick hob, blieb er an zwei großen gerahmten Fotografien an der Wand neben ihr hängen. Die eine zeigte Lawrence von Arabien in den 30er Jahren. Er war irgendwo auf dem Land in England, trug eine britische Armeeuniform und saß auf einem schnittigen zeitgenössischen Motorrad. Auf der Fotografie daneben war, irgendwo neben einer mittelalterlichen Burg an ein identisches Motorrad in Schwarz und Chrom gelehnt, Ava zu sehen.
»Wenn ich das so sehe«, fuhr er fort, »glaube ich, dass es Ihnen beim MI13 gefallen würde. Wenig konventionell, wenig Vorschriften.«
Ava warf einen Blick aus dem Fenster zum Streifenwagen. Der Polizist auf dem Beifahrersitz schaute auf die Uhr.
»Daraus wird nichts«, antwortete sie. »Das liegt alles hinter mir. Es tut mir leid, dass Sie Ihre Zeit verschwendet haben.«
Eine Weile musterte er eingehend ihr Gesicht, bevor er nach der Kaffeetasse griff und einen Schluck trank. »Sie werden mir sicher zugestehen, dass das derzeitige Verhältnis zu Russland angespannter ist denn je seit dem Fall der Mauer. Bei dem, was derzeit in Osteuropa und Syrien vorgeht, ist daher alles, was das russische Militär an Ungewöhnlichem unternimmt, für jeden von allerhöchstem Interesse.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Also es ist so, Dr. Curzon. Haben Sie irgendeine Ahnung, weshalb das russische Militär das Turiner Grabtuch stehlen sollte?«
Ava starrte ihn ungläubig an. Das Turiner Grabtuch?
»Wenn Sie interessiert sind, ziehen Sie sich an.« Er stand auf. »Wir haben eine mobile Einheit draußen.«
10b St James’s Gardens, Piccadilly, London SW1
Die Straße vor Avas Haus war menschenleer und still. Obwohl es Sommer war, war die Temperatur gefallen, und auf dem Eisengeländer waren Tautropfen zu sehen.
Swinton ging auf den schwarzen Lieferwagen zu, und Ava, immer noch auf der Hut, folgte ihm wenige Schritte hinterdrein.
Die Seitentür des Fahrzeugs öffnete sich, und alle noch verbliebenen Zweifel lösten sich auf, als sie hineinblickte.
Anstatt des üblichen kargen Innern begrüßte sie ein von den LEDs zahlreicher Stationen mit elektronischen Geräten und mehreren Reihen Bildschirmen beleuchtetes Einsatzzentrum.
Mit einem Nicken forderte Swinton sie auf einzusteigen.
Mit wachsender Erregung bestieg sie den Lieferwagen, gefolgt von Swinton, der die Tür hinter sich schloss. Er tippte zweimal an die Metallwand, die sie von der Fahrerkabine trennte, und der Lieferwagen setzte sich in Bewegung.
»Zeigen Sie’s ihr«, wies er einen krausköpfigen Mann in Jogginghose und T-Shirt an, der an den Kontrollen saß und dessen leicht bärtiges Gesicht von dem elektronischen Schimmern beleuchtet wurde.
Der Techniker fing an, schnell zu tippen, und quer über die gesamten sechs in drei mal zwei Reihen an der Wand angeordneten Monitore erschien ein großes Videobild.
Unten an der Aufnahme, die das Innere eines rechteckigen Gebäudes zu zeigen schien, lief eine Zeitanzeige.
Ava brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es sich um eine große italienische Kirche handelte, aus dem Blickwinkel einer direkt nach unten gerichteten Deckenkamera.
Die Aufnahme war ohne Ton, aber sie konnte deutlich eine Gruppe orthodoxer Mönche in schwarzen Kutten erkennen, die einen wehrlosen älteren Mann durch das Kirchenschiff in Richtung des Altars am östlichen Ende schleppten.
»Turiner Dom. Vor fünfeinhalb Stunden. Einundzwanzig Uhr fünfundvierzig Ortszeit«, verkündete der Techniker.
Ava beobachtete konzentriert den Bildschirm, auf dem die Mönche die Taschen öffneten und Waffen herausholten.
Die Techniker hielt das Bild an und zoomte mit einem Trackball auf eine der kurzen, kantigen Maschinenpistolen, bis sie alle sechs Bildschirme ausfüllte und die in Kyrillisch auf das Gehäuse aufgedruckte militärische Kennzeichnung deutlich zu sehen war: ПП-2000.
»Russisch«, erläuterte der Techniker. »PP-2000. Hochpräzision. Hergestellt vom KBP-Instrumente-Design-Büro. Weit verbreitet bei Ordnungskräften und militärischen Eliteeinheiten der ehemaligen Sowjetunion.«
Tief in Avas Magen breitete sich ein Kältegefühl aus, als sie vor ihrem geistigen Auge das Botschaftsgebäude in Addis Abeba sah.
Schlimme Erinnerungen.
Sie verdrängte sie. Sie waren jetzt nicht hilfreich.
»Speznaz?«, fragte sie. Sie erkannte den Stil der Operation wieder. Sie trug unverkennbar den Stempel der russischen Spezialeinheiten.
Swinton nickte. »Das ist unsere Arbeitshypothese.«
»Und die lassen die Überwachungskameras im Dom einfach laufen?« Das konnte sie nicht glauben. »Unwahrscheinlich, nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Die haben gründlich gearbeitet. Das eingebaute Überwachungssystem des Doms war zu diesem Zeitpunkt vollständig abgeschaltet. Die Aufnahmen, die Sie sehen, kommen von unserer eigenen Kamera.«
»In Turin?« Sie zog die Augenbrauen hoch.
Swinton nickte. »Die Stadt ist ein Knotenpunkt für Menschenhändler, die Migranten von Nordafrika nach Italien über die Alpen und weiter nach Großbritannien schmuggeln.« Sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Miene. »Eine unangenehme lybisch-italienische Gruppe wickelt einen Großteil ihrer Geschäfte im Dom ab. Wir behalten sie gern im Auge, um zu wissen, wenn sich etwas tut. Es ist purer Zufall, dass wir diese Aufnahmen haben.«
Auf dem Bildschirm holte einer der Mönche etwas, das wie eine Profisäge aussah, aus der Tasche und verließ das Blickfeld.
»Dreimal dürfen Sie raten, wohin er geht.« Swinton bewegte den Trackball, und die Aufnahme begann, mit doppelter Geschwindigkeit vorzuspulen.
Sie nickte. »Die Kapelle mit dem Turiner Grabtuch.«
Er hielt die Aufnahme an, um zu zeigen, wie einer der Mönche einen geriffelten silbernen Aktenkoffer aus der Kapelle trug, während zwei andere den verletzten älteren Mann zu dem großen, verzierten Taufbecken der Kathedrale am äußersten linken Rand des Blickfelds schleppten. Voller Entsetzen verfolgte Ava die Videoaufnahmen, die deutlich zeigten, wie sie ihn ermordeten.
»Die italienische Polizia entdeckte den Raub bald danach, als sich die Überwachungskameras des Doms wieder einschalteten«, erklärte Swinton. »Der Teufel war los. Jetzt sind die Carabinieri eingeschaltet, und sie gehen davon aus, dass es ein Insidercoup des Sakristans Giovanni Raspallo war. Seine Fingerabdrücke und sein Blut waren überall auf der eingeschlagenen Vitrine verteilt. Außerdem hatte er am frühen Abend einen Flug nach Paris genommen, und das gesamte Geld von seinem Sparkonto abgehoben.«
»Was den Russen Zeit zur Flucht gelassen hat, bevor die Carabinieri dahintergekommen sind, dass man sie an der Nase herumgeführt hat«, schloss Ava, während sie zusah, wie zwei Männer in gelb leuchtenden Signaluniformen eintraten und die Leiche des Sakristans in eine unauffällige fahrbare Mülltonne steckten.
»Wie es der Zufall will«, fuhr Swinton fort, »sind wir den Italienern um Längen voraus, wir wissen nämlich, wen wir suchen müssen. Wir haben uns in die Aufnahmen der zentralen Kameraüberwachung eingeklinkt, die zeigen, wie der Müllwagen die Mülltonne an einem russischen Restaurant abgeladen hat, einem bekannten Treffpunkt von Kreml-Funktionären.«
»Und das Einsatzkommando?« Ava war fasziniert. Das hörte sich allmählich nach einer höchst durchdachten Operation an.
Der Techniker rief eine Reihe von Fotos auf, die einen schwarzen Mercedes an verschiedenen Plätzen, Verkehrskreiseln und Ampeln zeigte. Jedes Bild trug eine Zeitangabe innerhalb der letzten fünf Stunden.
»Sie sind in nordöstlicher Richtung gefahren, durch Mailand, Como und Lugano«, erklärte der Techniker. »Das ist Echtzeit. Bald werden sie westlich an Davos vorbeifahren, dann wahrscheinlich weiter nach Liechtenstein.«
»Das ist nur eine Vermutung«, schaltete Swinton sich ein, »aber der Straßenverlauf passt zu einer Route nach Moskau über Berlin, Warschau und Minsk. Wenn das stimmt, dann werden sie heute Morgen durch Bayern kommen.«
Der Techniker schaltete zu einer Karte, auf der man die beiden Hauptrouten von Mailand aus nach Norden sah, die sich in der Schweiz teilten und bei Warschau wieder zusammentrafen. Er zoomte in die Karte hinein. »Wir vermuten, dass sie gegen null-siebenhundert Ortszeit auf der E51 bei Nürnberg sein werden.«
Es folgte eine Pause, während derer der Techniker ein Bild des eindringlichen Gesichts des Turiner Grabtuchs aufrief und anfing, den Kontrast zu ändern, um die dramatischen Züge in noch schärferer Kontur darzustellen.
Swinton unterbrach die wachsende Stille. »Also, Dr. Curzon, jetzt wissen Sie genauso viel wie wir.« Sein Gesichtsausdruck war ernst. »Möchten Sie losziehen und es für uns zurückholen?«
Ava zuckte zusammen. Sie war sich nicht sicher, richtig gehört zu haben. Sie hatte angenommen, dass er sie über irgendeinen Aspekt der Reliquie aushorchen wollte und sie in einer Stunde wieder im Bett liegen würde.
»Was? Sind …«
Er schnitt ihr das Wort ab. »Wir haben keine Zeit. Wir haben schon genug vergeudet. Möchten Sie ausgerüstet werden und losziehen? Ja oder nein?«
Ava starrte ihn ungläubig an. »Unglaublich«, antwortete sie. »Ich hätte nicht deutlicher sein können. Ich habe gekündigt. Ich bin draußen. Ich habe einen normalen Beruf. Ich möchte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.«
Aber noch während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
Sie hatte beim MI6 gekündigt, das stimmte. Und sie war desillusioniert genug gewesen, um alle Verbindungen zu kappen. Beim Wettrennen um den Krieg im Irak war ihr Rat, vorsichtig in Bezug auf die Auswirkungen zu sein, ignoriert worden. Es hatte bei ihr das Gefühl zurückgelassen, isoliert zu sein, und mit dem, was dann folgte, wollte sie nichts zu tun haben.
Aber sie wusste auch, dass der MI6 ihr ganzes Leben gewesen war und ihre Heimat. Er war alles, woran sie sich seit ihrer frühesten Kindheit erinnern konnte. Er war die Welt ihres Vaters gewesen und dann zu ihrer geworden. Nach seinem Tod wegzugehen war das Schwerste gewesen, was sie je getan hatte.
Nach ihrem Ausscheiden hatte sie sich auf die Rolle gestürzt, die sie im British Museum gefunden hatte. Es war ein Traumjob. Sie hatte es mit einigen der aufregendsten Objekte der Welt zu tun bekommen, hatte sie erforscht, hatte antike Puzzles zusammengesetzt und die Ergebnisse mit der internationalen Öffentlichkeit geteilt.
Das Museum hatte sie nach Amman geschickt und dann nach Bagdad, wo sie die Aufgabe hatte, die Objekte, die im Krieg geraubt worden waren, aufzuspüren, was für eine Nahost-Archäologin wie sie eine einmalige Gelegenheit war. Sieben Jahre lang hatte sie von einem Büro im Museum von Bagdad aus gearbeitet und das aufregende und gefährliche Leben in dieser uralten Stadt genossen.
Aber sie war noch nie sehr gut darin gewesen, sich selbst etwas vorzumachen.
Gut gewesen war sie in nachrichtendienstlicher Arbeit. Und die fehlte ihr. In letzter Zeit hatte sie sogar angefangen, nebenbei auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, um den Fluss geraubter syrischer und irakischer Antiquitäten zu verfolgen, die im Kielwasser der aktuellen religiösen Anarchie im Nahen Osten den Londoner Markt überschwemmten.
Swinton öffnete einen Umschlag auf dem Pult vor sich und zog eine kleine Plastikkarte heraus, die er ihr vorlegte.
Sie brauchte einen Moment, um festzustellen, dass ihr Name und ihr Foto unter den fettgedruckten Worten MINISTRYOFDEFENCE zu sehen war.
»Sie können Vollzeit im Museum bleiben und dort arbeiten. Sie sind lediglich Beraterin des MI13. Ich verspreche Ihnen, dass wir Sie aus dem politischen Kram heraushalten.«
Ihr Puls beschleunigte sich. War das überhaupt möglich? Erst allmählich wurde ihr bewusst, was er da sagte.
»Sie sind Teil des Teams und haben einen Schreibtisch im Hauptquartier. Wir rufen Sie an, wenn wir Sie brauchen. Oder«, er lächelte, »Sie rufen uns an. Sie können sich aussuchen, woran Sie arbeiten.«
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Sagte er da tatsächlich, sie könnte als Archäologin und als Agentin arbeiten? Und es läge bei ihr, womit sie zu tun haben würde?
In ihren Leistungsberichten hatte es durchgängig geheißen, sie müsse auf ihre draufgängerische Ader achten.
In ihrer Küche vorhin hatte Swinton eine Bemerkung über eine kürzliche Zusammenarbeit mit dem MI6 und der amerikanischen DIA gemacht. Diese hatte anfangs wie eine aufregende Sache gewirkt, hatte aber, wie er sie erinnerte, in einer Reihe von Beisetzungen geendet, darunter um ein Haar ihrer eigenen. Als es vorbei war, hatte sie beschlossen, nie wieder Ja zu sagen, wenn ihre früheren Kollegen vom MI6 noch einmal bei ihr anklopfen würden.
Der Lieferwagen hielt abrupt an, und Swinton öffnete die seitliche Schiebetür.
Sie befanden sich mitten im Green Park.
In der Ferne konnte sie dort, wo die gepflegten Rasenflächen auf die dichtbelebte Mall trafen, durch die Bäume die schwachen Lichter des Buckingham Palace schimmern sehen.
Sehr viel auffälliger jedoch stand unmittelbar vor ihr auf dem Gras ein großer Hubschrauber.
Selbst bei Mondlicht erkannte sie seine unverwechselbaren Umrisse und wusste genau, worum es sich handelte – einen der Special Forces Dauphins des Army-Air-Corps-Geschwaders in Credenhill, der, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, in neutralen Zivilfarben gehalten war.
»Der Pilot wird jetzt, da wir hier sind, nur sechzig Sekunden lang warten.« Swinton hielt seinen MI13-Plastikausweis hoch. »Sie müssen sich entscheiden.«
Ava schloss die Augen. Wollte sie sich wirklich wieder auf die geheime Welt der Nachrichtendienste einlassen? Und – noch dringlicher – wollte sie wirklich noch einmal russischen Militärs entgegentreten?
Seit jenem Zusammenstoß in Äthiopien hatte sie ihr Leben damit verbracht, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Es war am Ende eines normalen Schultags gewesen. Ihr Vater hatte sie für den restlichen Nachmittag zur Botschaft gebracht. Zu dieser Zeit hatte sie dem abgenutzten Schild an seiner Bürotür geglaubt, das besagte, er sei für die Passangelegenheiten der Botschaft zuständig. Jahre später hatte sie herausgefunden, dass er ein leitender Beamter beim MI6 war. An den meisten Tagen ging sie mit ihm nach der Schule zur Botschaft. Einen anderen Ort gab es für sie nicht. Ihre Mutter hatte sie ein Jahr zuvor verlasen.
Die erste halbe Stunde in der stillen Botschaft war an diesem Tag ganz normal verlaufen. Sie hatte bei der Sekretärin ihres Vaters gesessen, die ihr bei einer Hausarbeit für die Schule behilflich war.
Dann brach Panik aus. Schüsse, zerfleischte Leiber, gebrochene glasige Augen und vor Blut schlüpfrige Fußböden. Erwachsene, die sie zu ihren Freunden gezählt hatte, lagen tot über ihren Schreibtischen.
Jahre später hatte sie es verstanden. Der Kalte Krieg war in Afghanistan heiß geworden. Amerika und Großbritannien hatten Waffen an die Mudschaheddin geliefert, die an vorderster Front gegen die Invasion der Russen standen. Äthiopien war Teil der tödlichen Lieferkette gewesen, und die Russen waren dagegen eingeschritten.
Bei ihr waren seelische Narben zurückgeblieben und unbearbeitete Gefühle gegenüber Infanteristen, die Hammer und Sichel auf ihren Uniformen trugen.
Sie schreckte in die Gegenwart zurück und blickte zu dem Hubschrauber des Einsatzkommandos, der im Mondlicht bedrohlich wirkte. Sie beobachtete, wie sich die Rotorblätter zu drehen begannen, und fühlte sich hin- und hergerissen.
Als ihre Gedanken jedoch zu dem Bild von Swinton zurückkehrten, der in ihrer Küche saß und eine geladene Pistole auf sie richtete, nahm ein Gefühl der Klarheit Gestalt an.
Er bat sie um Hilfe, weil sie gut gewesen war bei dem, was sie für den MI6 getan hatte. Es stimmte, dass sie ihre Arbeit am Museum liebte, aber tief drinnen wusste sie auch, dass sie mehr wollte. Etwas fehlte in ihrem Leben, und sie wusste – wenn sie ehrlich war – genau, was es war.
Sie starrte auf die Karte.
Das Leben ist kurz.
Wortlos griff sie danach und nahm einen triumphierenden Blick in Swintons Augen wahr. Einen Moment lang verspürte sie einen Anfall von Unsicherheit.
War das alles ein Spiel für ihn? Gab es da etwas, was er ihr nicht sagte?
Sie schob den Gedanken beiseite. Die Zeit würde es erweisen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und das Adrenalin begann bereits zu strömen.
Sie stieg aus dem Lieferwagen in die kühle Nacht, rannte auf den wartenden Hubschrauber zu und duckte sich unter dem ansteigenden Wirbel der Rotoren, während sich die große Ladeluke für sie öffnete.
Beim Einsteigen sah sie die ausdruckslosen Gesichter der vier Männer des SAS-Teams, die bereits auf ihren Sitzen angeschnallt waren. Einer hatte lange Koteletten, die in einem Schnurrbart zusammentrafen. Zwei weitere hatten einen modernen zivilen Haarschnitt. Der vierte war unauffällig. Alle hatten sich seit mehreren Tagen nicht rasiert. Sie trugen keine Uniformen, nur Jeans, Kapuzenpullis und Regenjacken. Sie hätten nicht unmilitärischer wirken können. Doch die Atmosphäre intensiver Konzentration und Gewaltbereitschaft ließ keinen Zweifel daran, wer sie waren.
Als die Rotoren sich schneller drehten, reichte eine bewaffnete Frau im Sitz neben der Tür Ava eine kleine Khaki-Reisetasche. Der Reißverschluss stand einen Spalt offen, und im Innern konnte Ava eine schwarze SIG P228 sehen.
»Für Sie«, rief die Frau über den Lärm der Rotoren hinweg, die Geschwindigkeit aufnahmen. Ihr Akzent war amerikanische Westküste. »Ich bin Mary, Kontaktperson des Vatikans.«
Ava nickte bestätigend, nahm die Tasche und spürte zum ersten Mal seit Jahren ein vertrautes Kribbeln.
Sie fühlte sich lebendig.
La Goutte d’Or, 18. Arrondissement, Paris
Amines Körper war vor Angst völlig verspannt. Er rannte wie der Teufel, um von dem Auto wegzukommen.
Den Motor hatte er zum ersten Mal beim Verlassen der Wohnung seiner Mutter gehört. Zuerst hatte er einfach angenommen, es sei jemand, der ebenfalls auf dem Heimweg war. Doch als er merkte, dass das Fahrzeug ihm gezielt in wenigen Metern Abstand folgte, wusste er, dass irgendetwas nicht stimmte.
Er hatte versucht, es abzuschütteln, und war in eine kleinere Seitenstraße abgebogen. Doch als der Wagen hinter ihm her um die Ecke kurvte, bekam er es wirklich mit der Angst zu tun.
Was wollten sie? Hatten sie auf ihn gewartet? Es war 3 Uhr morgens durch.
Urplötzlich rannte er los. Während er die Straße entlangflüchtete, warf er einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass es sich um einen anscheinend neuen stumpfsilbernen BMW handelte, nicht um die Sorte von Mühle, in denen kleine Gauner saßen, die es auf leichte Kohle abgesehen hatten. In dem Auto saßen vier Gestalten.
Wer verfolgte jemanden um diese Zeit am Morgen?
Er knallte gegen das vernagelte Fenster eines bar-tabac, das seit Jahren geschlossen war – das verrostete Metallrollo war inzwischen mit einem Gewirr aus Obszönitäten in Arabisch und Französisch besprüht.
Er rannte schneller und roch die Angst, die seine Haut verströmte. Er war kein geborener Held.
Er prallte von einer Wand mit zerrissenen Postern nordafrikanischer Rai-Tanzabende ab, stürzte geradewegs in eine Gasse und betete, dass das Auto ihm nicht würde hineinfolgen können.
Einen Augenblick lang überfiel ihn die kalte Angst, er könnte in eine Sackgasse geraten sein. Als er jedoch durch die dunkle, müllverdreckte Passage stürmte, sah er Licht und eine Öffnung am anderen Ende.
Er kam auf einer menschenleeren Straße heraus und rannte weiter, als er erneut hörte, wie das Auto beschleunigte – diesmal aus einer Seitenstraße heraus.
Sein Körper war schweißgebadet.
Er erkletterte eine mit Graffiti übersäte Fußgängerbrücke und überquerte das breite Band von Eisenbahngleisen, die vom Gare du Nord in nördlicher Richtung unter dem Ring der Périphérique um die Stadt hindurch ins Kampfgebiet der Vorstädte von Seine-Saint-Denis führten.
Als er von der letzten Schwelle sprang, hörte er am Ende der Straße wieder den Motor aufheulen.
Er fluchte. Es musste eine parallele Straßenbrücke geben.
Das Adrenalin schoss so hoch, dass er keine Ahnung hatte, wo er war. Alles verschwamm ihm vor Augen. Er konnte an nichts anderes mehr denken als daran, schneller zu rennen denn je.
Aus dem Augenwinkel sah er das Straßenschild, das ihm verriet, dass er sich jetzt im neunzehnten Arrondissement befand. Das hier war Belleville – noch so ein Immigrantenviertel. Eine vage Erinnerung stieg in ihm auf, dass Edith Piaf hier aufgewachsen war.
Seine Lungen brannten, als er die Hügel des Parc des Buttes-Chaumont erblickte, die sich links von ihm erhoben.
Ein Stück vor ihm tauchte von einer Kreuzung her das Auto auf, dessen Scheinwerfer ihm direkt ins Gesicht leuchteten.
Hemd und Jackett klebten ihm am Rücken. Noch nie hatte er eine solche Angst gehabt.
Er entdeckte eine Lücke zwischen einer Bäckerei und einem Café und flitzte hinein.
Waren sie hinter dem her, was er in seiner Tasche trug? Er presste die braune lederne Kuriertasche fester sich.
Das ist unmöglich. Woher können sie das wissen?
Am Ende der Gasse angekommen, fiel er schwer nach Luft ringend gegen eine große metallene Mülltonne. Was er an Fitness einst besessen hatte, hatte sich längst schon in Lesesälen und Bibliotheken verflüchtigt.
Erstarrt blickte er sich um, jederzeit darauf gefasst, erneut das Motorengeräusch zu hören.
Vor ihm lag eine enge Straße, vor der in wenigen Metern Abstand zwei dunkelgrüne Litfaßsäulen standen, deren breite, mit Werbung beklebte Zylinder unter imposanten orientalischen Rokokokuppeln aufragten.
Stirnrunzelnd musste er zweimal hinschauen.
Da er aus den verbauten Städten Algeriens stammte, fielen ihm solche Dinge auf. Zwei Reklamesäulen in so dichtem Abstand zeugten von schlechter Planung, wie sie sein Heimatland verschandelte – was er von den Pariser Behörden nicht erwartet hätte. Doch während er sie so anschaute, verspürte er ein unerwartetes Kribbeln.
Er kannte diesen Ort.
Während er sich noch bemühte, ihn unterzubringen, machte es plötzlich klick.
Er war schon einmal hier gewesen. Vor vielen Jahren. Mit Sami.
Rasch warf er einen Blick auf die andere Straßenseite, und da war er – der kleine steinerne Brunnen mit der bronzenen Meerjungfrau.
Al-hamdu lillah.
Gott sei gedankt für Sami.
Als er noch Schüler am Gymnasium und danach an der Grande Ècole gewesen war, hatte Sami immer geschwänzt und sich auf der Straße auf die bescheidenen Sensationen gestürzt, die das Ghetto im Norden der Stadt einem jungen Paria aus dem Maghreb zu bieten hatte.
Er und Sami waren immer Außenseiter gewesen. In Algerien waren sie als Christen beschimpft worden. Jetzt, hier in Frankreich, in ihrem neuen Leben weg von den Schrecken, wurden sie als Nordafrikaner gemieden. Niemandem schien bewusst zu sein, dass Algerien lange vor Frankreich christlich gewesen war. Oder dass der Heilige Augustinus – der brillanteste Denker und die größte Leuchte der Frühkirche – Afrikaner gewesen war.
Es schien auch keine Rolle zu spielen, als er Jahre später einen guten Job an der Universität ergatterte und zu einem der führenden Spezialisten auf seinem Gebiet aufstieg. Er konnte niemals hoffen, einer von ihnen zu werden.
Er wankte in die Straße hinein, während sein Blick wieder zu der auffallend wohlgerundeten Statue in dem Brunnen irrte. Das war sie eindeutig.
Sie hatten damals über die Franzosen gespottet. Sami und seine Freunde hatten sich darüber lustig gemacht, dass die Straßen von Paris so schlecht gebaut waren, dass viele einbrachen. Es war vorgekommen, dass die Rue d’Enfer – die Straße zur Hölle – völlig eingesackt war.
Als er die Straßenmitte erreichte, blickte er nach unten, und da war es.
Ehe er sich versah, lag er auf den Knien und krallte die Finger in die kleinen Löcher in dem eleganten gusseisernen Gullydeckel. Mit aller Kraft zerrte er an der Metallscheibe, um sie anzuheben, und betete, dass sie nicht eingerostet oder, noch schlimmer, zugeschweißt worden war.
Das Metall bewegte sich millimeterweise, als er das Dröhnen der sechs Zylinder des BMWs hörte, der beschleunigte. Es schien jetzt näher zu sein, gleich auf der anderen Seite einer nahen Kreuzung.
Mit neuerlichem Eifer zerrte er heftiger und spürte, wie die Rückenmuskeln sich verkrampften, als er mit der ganzen Willenskraft seines Körpers das Metall beschwor, sich zu bewegen.
Und dann war es urplötzlich locker.
Irgendwo in der Nähe rastete krachend der Gang ein, und der Motor nahm Fahrt auf.
Er zerrte die schwere Scheibe zur Seite und steckte die Beine in die Schwärze darunter. Oben quietschten die Reifen, und sein Fuß fand die kleine, unregelmäßige Leiter aus Eisensprossen, die in die Betonwand eingelassen war.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, und alles schien zugleich zu passieren.
Die Scheinwerfer leuchteten auf ihn herab, als er sich nach dem Gullydeckel reckte. In einer verzweifelten Kraftanstrengung zerrte er ihn an seinen Platz über seinem Kopf zurück und hörte, wie er einrastete.
Jetzt befand er sich mit einem Mal in völligem Dunkel und zitterte unkontrollierbar.
Sami hatte ihm den Gullydeckel schon vor all den Jahren gezeigt, aber sie waren nie zusammen hinuntergestiegen. So etwas machte Sami mit seinen Freunden – der heimlichen Armee der Kataphilen, die sich durch die unkartierte Stadt der Katakomben bewegten.
Hier im Norden, hatte Sami ihm erzählt, wurden die Tunnel und Schächte nicht gereinigt wie die im Süden von Paris, wo im späten 18. Jahrhundert aus den Friedhöfen der Stadt an die sechs Millionen Leichen ausgegraben und in den kilometerlangen unterirdischen Gips- und Kalklagern abgelegt worden waren. Heutzutage konnten glotzende Touristen eine Handvoll Euro bezahlen, um in den mit Totenköpfen gesäumten Tunneln herumzuspuken, sobald aber geschlossen wurde, sorgten die Beamten dafür, dass alle draußen waren, bevor sie die Tore die Nacht über verriegelten, um zu Baguette und Wein nach Hause zu gehen.
Die nördlichen Gänge waren ganz anders, hatte Sami erklärt. Das waren nicht die 0,2% gesicherter Katakomben. Diese hier waren nicht kartiert und unbekannt, instabil und nicht legal zugänglich. Nur die Kataphilen trieben sich – von der Welt oben unbemerkt – hier in einem düsteren Paralleluniversum von Junkies, Ausgeflippten und Freiheitskämpfern herum.
Amine, dessen Koordination beim Teufel war, rutschte unbeholfen die Sprossen nach unten, während die bleistiftdünnen Strahlen fahlen Lichts von dem Gullydeckel über ihm schwächer wurden.
Schließlich trafen seine Füße auf den feuchten Schlick, der den Boden des Tunnels bedeckte.
Die Luft hier war kühl.
Er presste die Ledertasche fester an sich. Sie würden sie nicht bekommen. Er konnte nicht fassen, dass sie davon wussten. Er hatte so gut wie niemandem davon erzählt.
Vor ihm befanden sich zwei Öffnungen in die Katakomben. Nach kurzem Zögern lief er wieder los, nach rechts. Links bedeutete Unglück.
Als er urplötzlich hinter sich ein Geräusch hörte, blieb er wie angewurzelt stehen und lauschte angestrengt.
Dann hörte er es wieder; es hallte von den steinernen Wänden wider. Ein Irrtum war unmöglich.
Es war das ferne Schaben des Gullydeckels über Beton und Dreck.
Sie mussten ihn gesehen haben.
Jetzt fing er an zu rennen; die Angst saß ihm als Klumpen in der Kehle.
Er umklammerte die Tasche fester denn je. Sie würden sie nicht finden. Sie durften sie nicht finden. Er konnte nicht zulassen, dass sie bekamen, was in der Tasche war.
Die Katakomben waren endlos. Er stürzte sich vorwärts in die Dunkelheit. Jetzt nahm er bedrohliche fahle Schatten wahr, die von weit entfernten Lichtern geworfen wurden. Seine Lungen brannten wie Feuer, und sein Herz pochte viel zu schnell.