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NICHTS IST SO WIE ES SCHEINT ...
Es ist 1.15 Uhr. Connie Bowskill müsste längst schlafen. Stattdessen sucht sie auf der Internetseite einer Immobilienfirma nach einem ganz bestimmten Haus: Bentley Grove 11, Cambridge. Sie klickt auf den Button ?virtueller Rundgang? und sieht eine Szene wie aus einem Alptraum: Im Wohnzimmer liegt eine Frau ? regungslos, der Teppich unter ihr voller Blut. Fassungslos weckt Connie ihren Mann. Aber als der sich vor den Computer setzt, sieht er nur einen makellos sauberen Teppich in einem ganz gewöhnlichen Wohnzimmer.
Doch Connie weiß, sie hat sich die Leiche nicht eingebildet. Und noch etwas lässt sie nicht mehr los: Die Tote sah Connie zum Verwechseln ähnlich ...
"Düster raffinierter Schrecken" Financial Times
"Der jungen Britin Sophie Hannah ist ein packender Psychothriller gelungen, in dem nicht nur die Heldin von fremden Häusern besessen ist." Bücher
"Ein fesselndes Psychoduell beginnt - schmökertauglich und mit einigen Überraschungen." Westdeutsche Zeitung
"Ein Psycho-Leckerbissen." Tiroler Tageszeitung
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Seitenzahl: 671
Sophie Hannah
DAS
FREMDE
HAUS
Aus dem Englischen von
Anke Angela Grube
Lübbe Digital
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2011 by Sophie Hannah
Titel der britischen Originalausgabe: »Lasting Damage«
Originalverlag: Hodder & Stoughton Ltd,
a division of Hodder Headline, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher
Die beiden Gedichte von A. E. Housman sind dem Band A.E. Housman, Die »Shropshire Lad« Gedichte, herausgegeben von Horst Meller und Joachim Utz, übersetzt von Hans Wipperfürth, entnommen (Mattes Verlag Heidelberg, 2003).
Wir danken dem Mattes Verlag für das freundliche Einverständnis zum Abdruck.
Wir danken außerdem Melina Brandt, Klasse 4b aus der Waldschule in Quickborn bei Hamburg, für ihr Vulkan-Gedicht.
Titelillustration: © missbehavior.de
Umschlaggestaltung: Pauline Schimmelpenninck Büro für Gestaltung, Berlin
Datenkonvertierung E-Book:
Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-2165-1
Sie finden uns im Internet unter
www.luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlichder gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Bentley Grove 11, Cambridge
OBERGESCHOSS
NICHT MASSSTABSGETREU: Nur zur Orientierung gedacht
Auf die korrekte Wiedergabe der abgebildeten Grundrisse wurde große Sorgfalt verwendet, dennoch sind alle Maßangaben lediglich als Näherungswerte zu betrachten. Es wird keine Garantie für eventuelle Fehler, Auslassungen oder die falsche Wiedergabe übernommen. Potentielle Käufer sollten berücksichtigen, dass die Grundrisse ausschließlich der grafischen Veranschaulichung dienen.
Bentley Grove 11, Cambridge
ERDGESCHOSS
Wohn- und Nutzfläche insgesamt (ohne Garage): 220qm
NICHTMASSSTABSGETREU: Nur zur Orientierung gedacht
oder die falsche Wiedergabe übernommen. Potentielle Käufer sollten berücksichtigen, dass die Grundrisse ausschließlich der grafischen Veranschaulichung dienen.
SAMSTAG, 24. JULI 2010
Man wird mich wegen einer Familie namens Gilpatrick umbringen.
Es sind vier: Mutter, Vater, Sohn und Tochter. Elise, Donal, Riordan und Tilly. Kit nennt mir ihre Vornamen, als hätte ich irgendein Interesse daran, auf Förmlichkeiten zu verzichten und sie alle besser kennenzulernen, obwohl ich nur eins will, schreiend weglaufen. Riordan ist sieben, sagt er. Tilly fünf.
Halt die Klappe, würde ich am liebsten brüllen, aber ich habe viel zu große Angst, den Mund aufzumachen. Er ist wie zugenäht, als würde kein Wort ihn je wieder verlassen, nie wieder.
Das war’s. Ich weiß jetzt, wo und wie und wann und warum ich sterben werde. Zumindest begreife ich jetzt endlich das Warum.
Kit hat ebenso große Angst wie ich. Viel größere. Deshalb redet er unablässig, denn er weiß, wie alle, die jemals in Schrecken ausharren mussten – wenn Angst und Schweigen zusammenwirken, bilden sie ein Gemisch, das tausend Mal fürchterlicher ist als die Summe seiner Teile.
Die Gilpatricks, sagt er, und Tränen laufen ihm über das Gesicht.
Ich beobachte die Tür im Spiegel, der über dem Kamin hängt. So wirkt sie kleiner und weiter entfernt, als sie es täte, wenn ich mich umdrehen und sie direkt anblicken würde. Der Spiegel hat die Form eines mächtigen Grabsteins: drei gerade Seiten mit einem Rundbogen oben.
Ich habe nicht geglaubt, dass es sie wirklich gibt. Der Name klang erfunden. Kit lacht und schluchzt erstickt auf. Alles an ihm zittert, auch seine Stimme. Gilpatrick, so einen Namen würde man sich ausdenken, wenn man jemanden erfinden will. Mr Gilpatrick. Wenn ich nur geglaubt hätte, dass es ihn gibt, wäre nichts von alledem passiert. Wir wären in Sicherheit gewesen. Wenn ich nur …
Er verstummt und weicht von der geschlossenen Tür zurück. Er hat die Schritte gehört, die auch ich höre – schnelle Schritte, ein wilder Ansturm. Sie sind hier.
Eine Woche zuvor
SAMSTAG, 17. JULI 2010
Ich liege auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, und warte darauf, dass Kits Atmung sich ändert. Dabei täusche ich selbst genau die langsamen, tiefen Atemzüge vor, die ich von ihm hören möchte, damit ich wieder aufstehen kann – einatmen und Pause, ausatmen und Pause –, und versuche mir einzureden, dass es eine harmlose Täuschung ist. Bin ich die einzige Frau, die so etwas macht, oder spielt sich das in Häusern überall auf der Welt so ab? Wenn ja, dann bestimmt aus anderen Gründen, normaleren Gründen – eine Ehefrau oder Freundin, die fremdgeht, könnte so etwas machen, um unentdeckt ihrem Liebhaber eine SMS schicken zu können oder heimlich noch ein letztes Glas Wein zu trinken, obwohl sie bereits fünf intus hat. Normale Dinge. Ganz normale Dinge, die jemand unbedingt tun zu müssen glaubt.
Keine Frau auf der Welt hat sich je in der Lage befunden, in der ich mich zurzeit befinde.
Das ist doch albern. Du befindest dich in keiner Lage, abgesehen von der, die du dir zusammenfantasiert hast. Man nehme: Zufälle und Wahnvorstellungen.
Aber ich kann mir einreden, was ich will, es hilft nichts. Deshalb muss ich es auch überprüfen, um mich zu beruhigen. Es ist nicht verrückt, es zu überprüfen, verrückt wäre es, auf diese Gelegenheit, es überprüfen zu können, zu verzichten. Und wenn ich mit eigenen Augen gesehen habe, dass nichts zu finden ist, kann ich das Ganze vergessen und akzeptieren, dass alles nur in meinem Kopf stattgefunden hat.
Ach wirklich?
Es sollte nicht mehr allzu lange dauern, bevor ich loslegen kann. Normalerweise schläft Kit schon Sekunden, nachdem das Licht gelöscht wurde, tief und fest. Wenn ich bis hundert zähle … aber ich kann nicht. Ich schaffe es nicht, mich auf etwas zu konzentrieren, das mich nicht interessiert. Wenn ich es könnte, wäre ich auch in der Lage, das Gegenteil zu tun und Bentley Grove 11 aus meinen Gedanken zu verbannen. Werde ich das je können?
Während ich warte, übe ich schon mal für die Aufgabe, die vor mir liegt. Mal angenommen, ich würde uns nicht kennen – was würde dieses Schlafzimmer über Kit und mich verraten? Riesiges Bett, ein gusseiserner Kamin, identische Nischen zu beiden Seiten des Kaminsimses, in denen unsere beiden identischen Kleiderschränke stehen. Kit mag Symmetrie. Als ich vorschlug, als Ersatz für unser normales Doppelbett das größte Bett zu kaufen, das wir finden konnten, meldete er Bedenken an, weil dann nicht genug Platz für unsere identischen Nachttische bleiben könnte. Ich erklärte mich bereit, auf meinen zu verzichten, aber Kit sah mich an, als wäre ich eine anarchistische Agitatorin, die auf die Zerstörung seiner wohlgeordneten Welt aus sei. »Man kann nicht auf der einen Seite des Betts einen Nachttisch stehen haben und auf der anderen Seite nicht«, erklärte er. Schließlich kamen beide weg. Nachdem er mir das Versprechen abgenommen hatte, es niemandem weiterzuerzählen, sagte er, so unpraktisch es auch sei, sich hinunterbeugen zu müssen, um Buch, Uhr, Brille und Handy unters Bett zu legen, ein Schlafzimmer, das »nicht richtig« aussähe, würde ihn noch weit mehr irritieren.
»Bist du sicher, dass du ein waschechter Hetero bist?«, neckte ich ihn.
Er grinste. »Entweder ja, oder ich tue nur so, damit jemand jedes Jahr für mich meine Weihnachtskarten schreibt und zur Post bringt. Du wirst die Wahrheit wohl nie erfahren.«
Bodenlange, cremefarbene Seidenvorhänge. Kit wollte Jalousien, aber ich setzte mich durch. Seidenvorhänge im Schlafzimmer, das war mein Wunsch, seit ich klein war – eins dieser »Sobald ich meine eigene Wohnung habe«-Versprechen, die ich mir selbst gegeben hatte. Und im Schlafzimmer müssen Vorhänge bis auf den Boden reichen, das ist meine Vorstellung davon, wie etwas sein muss, damit es richtig aussieht. Ich nehme an, jeder hat mindestens eine solche Regel, und wir alle halten unsere eigenen Regeln für vernünftig und die der anderen für völlig absurd.
Über dem Kamin hängt eine gerahmte Stickarbeit, die ein rotes Haus zeigt, umgeben von einem grünen Rechteck, das den Garten darstellen soll. Anstelle von Blumen wird das geschlossene Grün des Rasens von gestickten Worten in Orange aufgelockert: »Melrose Cottage, Little Holling, Silsford«. Darunter steht in kleineren gelben Buchstaben »Connie und Kit, 13. Juli 2004«.
»Aber Melrose ist überhaupt nicht rot«, pflegte ich regelmäßig zu protestieren, bevor ich es aufgab. »Es ist aus weißem Kalkstein erbaut. Glaubst du, Mutter hat sich ausgemalt, wie es wohl in Blut getaucht aussehen würde?« Als frischgebackene Hausbesitzer nannten Kit und ich unser Cottage »Melrose«. Inzwischen, nach all den Jahren, die wir hier leben, kennen wir es wie unsere Westentasche und nennen es nur noch »Mellers.«
Was würde ein unvoreingenommener Beobachter von der Stickarbeit halten? Würde er glauben, Kit und ich seien so bescheuert, dass wir unsere Namen vergessen könnten und das Datum des Hauskaufs? Dass wir uns deshalb diese Stickerei als Gedächtnisstütze an die Wand gehängt hätten? Würde er darauf kommen können, dass es ein selbst gemachtes Einzugsgeschenk von Connies Mutter ist, und dass diese Connie es kitschig und total krass findet und hart darum gekämpft hat, es auf den Dachboden zu verbannen?
Kit war es, der darauf bestanden hatte, dass wir es aufhängen, aus Loyalität gegenüber unserem Haus und meiner Mutter. Er meinte, unser Schlafzimmer sei der perfekte Platz dafür, da unsere Gäste es dort nicht zu Gesicht bekämen. Ich glaube, er nimmt das Stickbild gar nicht mehr wahr. Ich schon – jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen beim Aufwachen. Es deprimiert mich aus einer ganzen Reihe von Gründen.
Wenn jemand in unser Schlafzimmer spähte, würde er nichts von alledem sehen – nicht die Diskussionen, nicht die Kompromisse. Er würde Kits fehlenden Nachttisch nicht sehen oder das Bild, das ich gern über den Kamin gehängt hätte, wenn die grässliche Stickerei mit dem roten Haus nicht wäre.
Was beweist, dass es einem gar nichts verrät, wenn man einen Blick in das Haus eines anderen wirft. Und somit hat auch das, was ich gleich tun werde, sobald Kit fest schläft, keinen Sinn. Eigentlich sollte ich einfach schlafen.
So leise ich kann, schlage ich meine Seite der Decke zurück, steige aus dem Bett und schleiche mich auf Zehenspitzen ins zweite Schlafzimmer, das wir in ein Büro umgewandelt haben. Wir leiten unsere Firma von hier aus, was ein bisschen absurd ist, wenn man bedenkt, dass das Zimmer gerade mal sieben Quadratmeter groß ist. Wie unser Schlafzimmer hat es einen Kamin. Es ist uns gelungen, zwei Schreibtische hineinzuzwängen, einen Bürostuhl für jeden von uns und drei Aktenschränke. Als die Eintragungsurkunde von der Handelsregisterbehörde eintraf, kaufte Kit einen Rahmen und hängte das Dokument an die Wand gegenüber der Tür, sodass der Blick zuerst darauf fällt, wenn man den Raum betritt. »Das ist gesetzlich vorgeschrieben«, erklärte er, als ich mich darüber beklagte, wie uninspirierend und bürokratisch das wirke. »Die Urkunde muss im Hauptsitz des Unternehmens ausgehängt werden. Willst du etwa, dass Nulli sein Leben als Gesetzloser beginnt?«
Nulli Secundus Ltd. Das bedeutet »unerreicht« oder »unübertroffen« und war Kits Wahl. »Damit fordern wir nur das Schicksal heraus und verurteilen uns zum Scheitern«, wandte ich ein, als wir besprachen, wie wir uns nennen sollten, denn ich stellte mir vor, wie viel schlimmer eine Insolvenz mit einem solchen Firmennamen sein würde. Mein Vorschlag war »C & K Bowskill Ltd.«. »Das sind doch unsere Namen!«, lautete Kits vernichtende Antwort, als wüsste ich das nicht. »Beweis doch mal ein bisschen Fantasie, um Himmels willen. Gründen wir das Unternehmen etwa, um pleitezugehen? Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich persönlich will, dass es ein Erfolg wird.«
Aus was hast du noch einen Erfolg gemacht, Kit? Von dem ich nichts weiß?
Das ist lächerlich, Connie. Deine Lächerlichkeit ist unerreicht.
Ich berühre das Touchpad meines Laptops, und er erwacht zum Leben. Die Startseite von Google erscheint. Ich gebe »Haus kaufen« in die Suchmaske ein, drücke die Enter-Taste und warte. Der erste Treffer ist Roundthehouses.co.uk, das sich zum führenden Immobilienportal Großbritanniens erklärt. Ich klicke die Seite an und denke dabei, dass die Roundthehouses-Leute eher Kits Denken anhängen als meinem: Sie machen sich keine Gedanken über die Demütigung, die eine Insolvenz für sie bedeuten würde.
Die Seite lädt: Außenaufnahmen von zum Verkauf stehenden Häusern unter einem dunkelroten Band mit winzigen Bildern von Lupen darin, durch die körperlose Augenpaare blicken. Die Augen wirken unheimlich, fremdartig und erinnern mich an Menschen, die sich im Dunkeln verbergen, um einander auszuspionieren.
Ist das nicht genau das, was du gerade auch tust?
Ich gebe »Cambridge« in das Feld für den Ort ein und klicke in der Spalte »Immobilien suchen« auf »Kaufen«. Ein neues Fenster erscheint und bietet mir weitere Wahlmöglichkeiten. Ich arbeite mich ungeduldig hindurch – Suchradius: nur dieser Ort; Immobilienart: Einfamilienhaus; Anzahl der Schlafzimmer: egal; Kaufpreis: egal; seit wann auf dem Markt? Wann wurde Bentley Grove 11 wohl dem Makler übergeben? Ich klicke auf »in den letzten sieben Tagen«. Das Verkaufsschild, das ich heute auf dem Grundstück gesehen habe – oder vielmehr gestern, da es jetzt Viertel nach eins ist –, stand vor einer Woche noch nicht da.
Ich klicke auf »Suchen«, trommle mit meinen bloßen Füßen auf den Boden und schließe kurz die Augen. Als ich sie wieder öffne, sind mehrere Häuser auf dem Monitor zu sehen: ein Haus in der Chaucer Road für 4 Millionen Pfund und eins in der Newton Road für 2,3 Millionen. Ich kenne beide Straßen, sie gehen von der Trumpington Road ab, und der Bentley Grove ist ganz in der Nähe. Sie sind mir auf meinen vielen Fahrten nach Cambridge aufgefallen, von denen keiner etwas weiß.
Bentley Grove 11 ist das dritte Haus auf der Liste. Angeboten wird es für 1,2 Millionen Pfund. Es überrascht mich, dass es so teuer ist. Das Haus ist relativ groß, aber nichts Spektakuläres. Offensichtlich gilt dieser Teil von Cambridge als bevorzugte Lage, obwohl die Gegend auf mich immer einen ziemlich normalen Eindruck gemacht hat und der Verkehr auf der Trumpington Road häufiger stockt als fließt. Es gibt einen Waitrose-Supermarkt, ein indisches Restaurant, einen gehobenen Weinladen und etliche Immobilienmakler. Und etliche enorm teure Villen. Wenn der Preis für alle Häuser in diesem Teil der Stadt in die Millionen geht, bedeutet das doch, es muss genug Leute geben, die es sich leisten können, so viel zu bezahlen. Wer sind diese Leute? Sir Cliff Richard kommt mir in den Sinn, keine Ahnung warum. Wer sonst noch? Leute, denen Fußballvereine gehören oder die Ölquellen im Garten haben? Ganz bestimmt nicht ich oder Kit, und bei uns läuft es so gut, geschäftlich gesehen, wie wir es uns nur erhoffen können.
Ich schüttle diese Gedanken ab. Du bist doch verrückt. Du solltest jetzt schlafen, aber stattdessen hockst du im Dunklen über einen Computer gebeugt und fühlst dich Cliff Richard unterlegen. Reiß dich am Riemen, Frau!
Um die Details aufzurufen, klicke ich das Bild des Hauses an, das ich so gut kenne und doch überhaupt nicht. Ich glaube, kein Mensch auf der Welt hat so viel Zeit damit zugebracht, auf die Front dieses Hauses zu starren wie ich. Ich kenne jeden Ziegel. Es ist seltsam, schockierend fast, ein Foto des Hauses auf meinem Computer zu sehen – in meinem Haus, wo es nicht hingehört.
Du lädst dir den Feind ins Haus ein …
Es gibt keinen Feind, sage ich mir entschieden. Sei vernünftig, bring es hinter dich und geh wieder ins Bett.
Kit hat angefangen zu schnarchen. Gut. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, wenn er mich bei dieser Aktion erwischen würde, die sicherlich starke Zweifel an meiner geistigen Gesundheit aufkommen lässt.
Die Seite wird geladen. Ich habe kein Interesse an dem großen Foto links, das von der anderen Straßenseite aufgenommen wurde. Was ich sehen will, ist das Innere des Hauses. Eins nach dem anderen klicke ich die kleinen Bilder auf der rechten Seite des Bildschirms an, um sie zu vergrößern. Erst eine Küche mit Arbeitsflächen aus Holz, eine doppelte Spüle, blau gestrichene Fronten, eine Insel mit Holzplatte und blauen Fronten …
Kit hasst Kücheninseln. Er findet sie hässlich und angeberisch – ein aus den USA importierter affektierter Wohntrend. Bald werden sie so out sein wie avocadogrüne Badezimmer, sagt er. In unserem Haus stand auch eine Kücheninsel, die hatte er schon vierzehn Tage nach unserem Einzug entsorgt, um dann bei einem Tischler aus der Gegend einen großen runden Eichentisch in Auftrag zu geben.
Die Küche, auf die ich jetzt schaue, kann also nicht Kits Küche sein, nicht, wenn eine Insel darin steht.
Natürlich ist das nicht Kits Küche. Kits Küche ist unten – und zufällig auch unsere gemeinsame Küche.
Ich klicke ein Bild des Wohnzimmers an. Ich habe es schon einmal gesehen, wenn auch nur kurz. Bei einem meiner Besuche war ich so mutig – oder so dämlich, wie man’s nimmt –, das Gartentor zu öffnen, den langen Weg hochzugehen, der auf beiden Seiten von Lavendel gesäumt ist und den Vorgarten in zwei Teile teilt, um durchs Fenster zu spähen. Ich hatte solche Angst, beim unbefugten Betreten des Grundstücks erwischt zu werden, dass ich mich gar nicht richtig konzentrieren konnte. Ein paar Sekunden später trat ein alter Mann mit den dicksten Brillengläsern, die ich je gesehen habe, aus dem Nachbarhaus und wandte seine enorm vergrößerten Augen in meine Richtung. Ich hastete zum Auto zurück, bevor er mich fragen konnte, was ich hier zu suchen hätte. Und so blieb mir von dem Zimmer wenig mehr in Erinnerung als weiße Wände und ein graues, L-förmiges Sofa mit komplizierten roten Stickereien darauf.
Jetzt betrachte ich ebendieses Sofa auf meinem Computerbildschirm. Es ist eigentlich nicht grau, sondern mehr eine Art wolkiges Silber. Es sieht teuer aus, wie ein Unikat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch mehr solcher Sofas gibt.
Kit liebt Unikate. Soweit es irgendwie möglich ist, meidet er Massenprodukte. Alle Becher in unserer Küche sind individuell von einer Töpferin aus Spilling gefertigt und bemalt.
Jedes einzelne Möbelstück in dem Wohnzimmer auf meinem Monitor wirkt wie ein Einzelstück: ein Stuhl mit enormen geschwungenen Armlehnen, die aussehen wie die Unterseiten eines Ruderboots, ein ungewöhnlicher Glastisch mit so etwas wie einem liegenden Schaukasten mit sechzehn Fächern unter der Glasplatte. Jedes Fach enthält eine kleine Blüte mit einem roten Kreis in der Mitte und blauen Blütenblättern, die nach oben Richtung Glasplatte zeigen.
Alle diese Möbel würden Kit gefallen. Ich schlucke und sage mir, dass das gar nichts beweist.
Es gibt einen gekachelten Kamin, über dem eine große gerahmte Landkarte hängt, einen Kaminsims, Nischen zu beiden Seiten. Ein symmetrischer Raum, ein Raum ganz nach Kits Geschmack. Mir ist leicht übel.
Herrgott noch mal, das ist doch verrückt. Wie viele Wohnzimmer sind in diesem Land nach demselben Grundmuster gebaut: Kamin, Kaminsims, Nischen rechts und links davon? Es ist ein klassisches Design, auf der ganzen Welt verbreitet. Kit spricht es an, ebenso wie Millionen anderer Leute auch.
Es ist schließlich nicht so, als würde seine Jacke über dem Treppengeländer hängen oder sein gestreifter Schal auf einem Stuhl liegen …
Rasch, weil ich mit dieser Aufgabe fertig werden will, die ich mir selbst auferlegt habe, – im Bewusstsein, dass ich mich dadurch nicht besser fühle, sondern schlechter –, arbeite ich mich durch die übrigen Zimmer und vergrößere die Fotos. Flur und Treppe, mit beigem Teppichboden ausgelegt, ein klobiges Treppengeländer aus dunklem Holz. Ein Hauswirtschaftsraum mit himmelblauen Schrankfronten wie die in der Küche. Honigfarbener Marmor im Badezimmer – sauber und ostentativ teuer.
Ich klicke ein Bild des Gartens an. Der Garten hinter dem Haus ist viel größer, als ich erwartet hätte, schließlich habe ich das Haus immer nur von vorne gesehen. Ich scrolle zum Text unter den Fotos und erfahre, dass er etwas über viertausend Quadratmeter groß ist. Es ist die Art Garten, die ich wahnsinnig gern hätte: es gibt eine Terrasse mit einem Tisch und Stühlen, eine Hollywoodschaukel, eine riesige Rasenfläche, Bäume und dahinter üppige gelbe Felder. Ein idyllischer Blick in die Landschaft, fußläufig zehn Minuten vom Zentrum von Cambridge entfernt. Allmählich fange ich an zu verstehen, warum das Haus 1,2 Millionen kosten soll. Ich versuche, das, was ich sehe, nicht mit unserem Garten zu vergleichen, der ungefähr so groß ist wie eine halbe Einzelgarage. Er bietet gerade mal genug Platz, um einen schmiedeeisernen Gartentisch, vier Stühle und ein paar Pflanzen in Terrakottatöpfen unterzubringen.
Das war’s. Ich habe mir alle Fotos angesehen. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gibt.
Und nichts gefunden. Bist du jetzt zufrieden?
Ich gähne und reibe mir die Augen. Gerade will ich die Roundthehouses-Website schließen und wieder ins Bett gehen, als mir unter dem Foto des Gartens eine Reihe von Buttons auffällt: »Street View«, »Grundriss«, »virtueller Rundgang«. Den Blick von der Straße aus brauche ich nicht– den habe ich in den letzten sechs Monaten reichlich genossen –, aber ich könnte mir den Grundriss ansehen, wenn ich schon mal dabei bin. Ich klicke auf den Button und fast sofort danach auf das x, um die Seite wieder zu schließen, die gerade erschienen ist. Es wird mir nicht helfen, wenn ich weiß, welcher Raum sich wo befindet, mit dem virtuellen Rundgang ist mir besser gedient. Werde ich das Gefühl haben, selbst durchs Haus zu gehen, in jedes Zimmer zu sehen? Ja, das würde ich gerne tun.
Damit werde ich mich dann auch zufriedengeben.
Ich drücke auf den Button und warte darauf, dass der Rundgang lädt. Ein neuer Button erscheint: »Video«. Ich klicke ihn an. Zuerst wird die Küche gezeigt. Ich sehe das, was ich bereits auf dem Foto gesehen habe, und noch etwas mehr, als die Kamera mit einer 360-Grad-Drehung den übrigen Raum erfasst. Es folgt noch eine Drehung und noch eine. Das schnelle Rotieren macht mich schwindelig, als wäre ich auf einem Karussell, das nicht anhalten will. Ich schließe die Augen, ich brauche eine Pause. Ich bin so müde. Die Fahrt nach Cambridge und zurück fast jeden Freitag tut mir nicht gut. Nicht die körperliche Anstrengung laugt mich aus, sondern die Heimlichtuerei. Ich muss nach vorne schauen, endlich loslassen.
Als ich die Augen wieder öffne, ist alles voll roter Farbe. Erst weiß ich gar nicht, was ich da sehe, und dann … O Gott. Das kann nicht sein. Scheiße. O Gott. Blut. Eine Frau liegt mitten im Raum, mit dem Gesicht auf dem Boden, und auf dem beigen Teppich ist Blut, eine riesige Blutlache. Kurz denke ich in meiner Panik, dass es mein Blut ist. Ich schaue an mir hinunter. Kein Blut. Natürlich nicht – das ist nicht mein Teppichboden, das ist nicht mein Haus. Sondern Bentley Grove 11. Das Wohnzimmer, es dreht sich. Der Kamin, die gerahmte Landkarte darüber, die Tür zum Flur steht offen …
Die tote Frau, das Gesicht in einem Meer von Rot. Als wäre alles Blut, das in ihr war, aus ihr herausgequetscht worden, jeder einzelne Tropfen …
Ich gebe einen Laut von mir, der ein Schrei sein könnte. Ich versuche, Kits Namen zu rufen, aber es gelingt mir nicht. Wo ist das Telefon? Nicht auf der Ladestation. Wo ist mein Blackberry? Soll ich 999 anrufen? Keuchend strecke ich die Hand nach irgendetwas aus, ich weiß nicht genau nach was. Ich kann den Blick nicht vom Bildschirm wenden. Dort dreht sich immer noch das Blut, die Tote dreht sich langsam. Die Frau muss tot sein, es muss Blut sein. Nach außen hin rot, fast schwarz in der Mitte. Schwarzrot, dick wie Teer. Mach, dass es aufhört, sich zu drehen.
Ich stehe auf und werfe meinen Stuhl um. Mit einem dumpfen Aufschlag landet er auf den Boden. Ich weiche von meinem Schreibtisch zurück, will nur noch weg. Raus hier, raus hier, schreit eine Stimme in meinem Kopf. Ich stolpere in die falsche Richtung, ich bin nicht einmal in der Nähe der Tür. Sieh nicht hin. Nicht mehr hinsehen. Ich kann nicht anders. Mein Rücken stößt gegen die Wand, etwas Hartes drückt sich in meine Haut. Ich höre ein Krachen und trete auf etwas, das knirscht. Ein stechender Schmerz jagt durch meine Fußsohlen. Ich schaue hinunter und sehe zersplittertes Glas. Blut. Mein Blut diesmal.
Irgendwie schaffe ich es, aus dem Raum zu kommen und die Tür hinter mir zu schließen. Besser. Jetzt ist etwas zwischen dem und mir. Kit. Ich brauche meinen Mann. Ich stürze in unser Schlafzimmer, schalte das Licht ein und breche in Tränen aus. Wie kann er es wagen zu schlafen? »Kit!«
Er stöhnt. Blinzelt. »Licht aus«, murmelt er, benommen vom Schlaf. »Scheiße, was is’ los? Wie spät ist es?«
Ich stehe weinend da, und meine Füße bluten auf den weißen Teppich.
»Con?« Kit setzt sich schwerfällig auf und reibt sich die Augen. »Was ist los? Was ist passiert?«
»Sie ist tot«, sage ich zu ihm.
»Wer ist tot?« Er ist jetzt hellwach. Er langt unter das Bett, greift nach seiner Brille und setzt sie auf.
»Ich weiß nicht! Eine Frau«, schluchze ich. »Auf dem Computer.«
»Was für eine Frau? Wovon redest du?« Er wirft die Bettdecke von sich und steht auf. »Deine … Was hast du mit deinen Füßen angestellt? Sie bluten.«
»Ich weiß nicht.« Mehr bringe ich nicht heraus. »Ich habe einen virtuellen …« Es fällt mir schwer, zu atmen und gleichzeitig zu sprechen.
»Sag mir nur, dass es allen gut geht. Deiner Schwester, Benji …«
»Was?« Meine Schwester? »Es hat nichts mit ihnen zu tun, es ist eine Frau. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen.«
»Du bist ja weiß wie ein Laken, Con. Hattest du einen Albtraum?«
»Auf meinem Laptop. Sie ist dort, jetzt«, schluchze ich. »Sie ist tot. Sie muss tot sein. Wir sollten die Polizei rufen.«
»Schatz, da ist keine tote Frau auf deinem Laptop.« Kit will mich beruhigen, aber ich höre die Ungeduld aus seiner Stimme heraus. »Du hast schlecht geträumt.«
»Geh doch hin und sieh selbst!«, schreie ich ihn an. »Es ist kein Traum. Geh da rein und sieh selbst!«
Er schaut wieder auf meine Füße, auf die Blutspuren auf dem Teppich und den Dielen – eine gepunktete rote Linie, die zur Schlafzimmertür führt. »Was ist mit dir passiert?«, fragt er. Wirke ich schuldbewusst? »Was ist hier los?« Der besorgte Tonfall ist verschwunden, seine Stimme ist hart und voller Misstrauen. Ohne meine Antwort abzuwarten, marschiert er in Richtung Gästezimmer.
»Nein!«, stoße ich hervor.
Er bleibt im Flur stehen. Dreht sich um. »Nein? Ich dachte, du wolltest, dass ich mir deinen Computer ansehe.« Ich habe ihn wütend gemacht. Alles, was seinen Schlaf stört, macht ihn wütend.
Ich kann ihn nicht gehen lassen, bevor ich es erklärt habe oder zumindest versucht habe, es zu erklären. »Ich habe einen virtuellen Rundgang durch ein Haus gemacht. Durch Bentley Grove 11«, sage ich.
»Was?! Was soll der Scheiß, Connie!«
»Hör mir zu. Hör einfach zu, ja? Das Haus steht zum Verkauf. Bentley Grove 11 steht zum Verkauf.«
»Woher weißt du das?«
»Ich … ich weiß es einfach, okay?« Ich wische mir das Gesicht ab. Wenn ich angegriffen werde, darf ich nicht weinen. Ich muss mich darauf konzentrieren, mich zu verteidigen.
»Das ist einfach … Connie, das ist dermaßen abgefuckt, ich weiß gar nicht, wo ich …« Kit schiebt sich an mir vorbei, er will zurück ins Bett.
Ich packe ihn am Arm. »Du kannst nachher wütend sein, aber erst hör mir zu. Ja? Das ist alles, was ich von dir verlange.«
Er schüttelt mich ab. Ich hasse es, wie er mich ansieht.
Was hast du denn erwartet?
»Ich höre dir zu«, entgegnet er ruhig. »Du sprichst seit einem halben Jahr von Bentley Grove 11, und ich höre dir zu. Wann wird das endlich ein Ende haben?«
»Das Haus steht zum Verkauf«, erkläre ich so beherrscht wie möglich. »Ich habe es bei Roundthehouses gesehen, einem Immobilienportal.«
»Wann?«
»Eben gerade, kurz … vorher.«
»Du hast gewartet, bis ich eingeschlafen war?« Kit schüttelte angewidert den Kopf.
»Es gibt einen virtuellen Rundgang durch das Haus, und ich … ich dachte, ich könnte ja mal …« Es ist besser, wenn ich es nicht ausspreche. Obwohl er sich natürlich denken kann, was ich mir gedacht habe. »Da war eine Frau, im Wohnzimmer, sie lag mit dem Gesicht auf dem Boden, und alles um sie herum war voller Blut, eine riesige Blutlache …« Von der Beschreibung wird mir so übel, dass ich mich fast übergeben muss.
Kit tritt einen Schritt zurück und schaut mich an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen. »Also, damit wir uns richtig verstehen: Du bist auf die Roundthehouses-Seite gegangen, hast dir den virtuellen Rundgang von Bentley Grove 11 angesehen, einem Haus, das, wie du zufällig weißt, zum Verkauf steht, und dabei hast du eine tote Frau in einem der Zimmer entdeckt?«
»Im Wohnzimmer.«
Er lacht. »Das ist originell, sogar für dich.«
»Es ist noch auf dem Monitor«, entgegne ich. »Geh doch hin und überzeug dich selbst, wenn du mir nicht glaubst.« Ich zittere, mir ist plötzlich eiskalt.
Er wird sich weigern. Er wird ignorieren, was ich gesagt habe, und sich wieder hinlegen, um mich zu bestrafen, und weil es unmöglich wahr sein kann. Es kann keine Tote auf der Roundthehouses-Website geben, die in einer Riesenlache ihres eigenen Bluts liegt.
Kit seufzt. »Gut«, sagt er. »Ich sehe es mir an. Offensichtlich bin ich wirklich der Riesentrottel, für den du mich hältst.«
»Ich denke mir das nicht aus!«, rufe ich hinter ihm her. Ich will mit ihm gehen, aber mein Körper weigert sich. Jede Sekunde wird Kit das sehen, was ich gesehen habe. Ich kann das Warten kaum ertragen, da ich weiß, was gleich geschehen wird.
»Klasse«, höre ich Kit sagen. Er redet mit sich selbst. Oder vielleicht redet er auch mit mir. »Ich wollte mir schon immer mal mitten in der Nacht die Geschirrspülmaschine irgendwelcher fremder Leute ansehen.«
Geschirrspülmaschine. Es muss eine Programmschleife sein. Während ich weg war, hat das Video wieder von vorn angefangen. »Die obligatorische Kücheninsel«, murmelt Kit. »Warum machen die Leute das nur?«
»Das Wohnzimmer kommt nach der Küche«, sage ich und zwinge mich, auf den Flur hinauszutreten. Noch näher herangehen will ich nicht. Ich kann kaum atmen. Der Gedanke, dass Kit gleich das sehen wird, was ich gesehen habe, ist kaum auszuhalten – niemand sollte so etwas sehen müssen. Es ist zu schrecklich. Gleichzeitig ist es notwendig, dass er …
Dass er was? Dir bestätigt, dass es real ist, dass du es dir nicht nur eingebildet hast?
Ich bilde mir keine Dinge ein, die gar nicht da sind. Das tue ich nicht. Manchmal ängstigen mich Dinge, die mir vielleicht keine Angst machen müssten, aber das ist nicht dasselbe. Ich weiß, was wahr ist und was nicht. Mein Name ist Catriona Louise Bowskill. Wahr. Ich bin vierunddreißig Jahre alt. Wahr. Ich wohne im Melrose Cottage in Little Holling, Silsford, mit meinem Mann Christian, der immer schon Kit genannt wurde, genau wie ich immer Connie genannt wurde. Wir haben eine eigene Firma – sie heißt Nulli Secundus. Wir sind Daten-Management-Berater, oder vielmehr, Kit ist es. Mein offizieller Titel ist Finanzdirektorin und Geschäftsführerin. Kit arbeitet Vollzeit für Nulli Secundus. Ich Teilzeit, drei Tage die Woche. Dienstags und donnerstags arbeite ich im Geschäft meiner Eltern, Monk & Sons Fine Furnishings, unter einer altmodischeren Berufsbezeichnung: Buchhalterin. Meine Eltern heißen Val und Geoff Monk. Sie wohnen ein Stückchen weiter die Straße hinunter. Ich habe eine Schwester, Fran, die zweiunddreißig ist. Sie arbeitet ebenfalls für Monk & Sons: sie leitet die Gardinen- und Jalousien-Abteilung. Sie hat einen Lebensgefährten, Anton, und beide haben einen fünfjährigen Sohn, Benji. Alle diese Dinge sind wahr, und es ist ebenfalls wahr – auf genau dieselbe Weise wahr –, dass ich vor weniger als zehn Minuten einen virtuellen Rundgang durch ein Haus unternommen habe, Bentley Grove 11 in Cambridge, und eine tote Frau auf einem blutgetränkten Teppich liegen sah.
»Bingo: das Wohnzimmer«, höre ich Kit sagen. Als ich seinen Ton höre, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Wie kann er so gedankenlos daherreden, es sei denn …
»Interessanter Couchtisch. Etwas bemüht allerdings, würde ich sagen. Keine Tote, kein Blut.«
Was? Wovon redet er? Er irrt sich. Ich weiß doch, was ich gesehen habe.
Ich schiebe die Tür auf und zwinge mich, das Arbeitszimmer zu betreten. Nein. Das ist unmöglich. Auf dem Bildschirm dreht sich langsam das Wohnzimmer, aber es ist keine Leiche darin – keine Frau mit dem Gesicht nach unten, keine riesige rote Lache. Der Teppichboden ist beige. Als ich näher trete, sehe ich einen Flecken in der Ecke, aber … »Es ist nicht da«, sage ich.
Kit steht auf. »Ich gehe wieder ins Bett.« Seine Stimme ist eisig vor Wut.
»Aber … wie kann das einfach verschwinden?«
»Tu das nicht.« Er ballt die Hand zur Faust und schlägt gegen die Wand. »Wir werden das jetzt nicht ausdiskutieren. Ich habe eine gute Idee: reden wir nie wieder davon. Tun wir einfach so, als wäre es nie passiert.«
»Kit …«
»Ich kann so nicht weitermachen, Con. Wir können so nicht weitermachen.«
Er drängt sich an mir vorbei. Ich höre die Schlafzimmertür zuknallen. Zu geschockt, um zu weinen, setze ich mich auf den Stuhl, der noch warm ist von Kits Körper, und starre auf den Monitor. Als das Wohnzimmer verschwindet, warte ich, bis es wieder erscheint, für den Fall, dass die Tote und das Blut ebenfalls wieder auftauchen. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber das, was bereits geschehen ist, ist ebenfalls unwahrscheinlich, und es ist trotzdem passiert.
Ich sehe mir den virtuellen Rundgang vier Mal an. Jedes Mal, wenn die Küche ausgeblendet wird, halte ich den Atem an. Jedes Mal erscheint ein makelloses Wohnzimmer ohne Tote, ohne Blut. Schließlich, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, klicke ich auf den x-Button in der rechten oberen Ecke des Bildschirms, um den Rundgang abzubrechen.
Das ist unmöglich.
Ein letztes Mal, diesmal ganz von vorn. Ich starte den Internet Explorer neu, gehe wieder zu Roundthehouses, vollziehe jeden meiner Schritte nach: finde erneut das Objekt Bentley Grove 11, klicke auf den Video-Button, setze mich hin und schaue es mir an. Keine Frau. Kein Blut. Kit hat immer noch recht. Ich liege immer noch falsch.
Ich knalle den Laptop zu. Ich sollte die Scherben auffegen und die echten Blutspuren auf meinem eigenen Teppich beseitigen. Ich starre auf die Eintragungsurkunde von der Handelsregisterbehörde, die in ihrem zersplitterten Rahmen auf dem Fußboden liegt. In meinem Schock über den Anblick der Toten muss ich sie von der Wand gerissen haben. Kit wird sich darüber aufregen. Als ob er nicht schon genug Gründe hätte, sich aufzuregen.
Eine Urkunde neu rahmen zu lassen ist leicht. Zu entscheiden, was ich wegen einer Toten unternehmen soll, die verschwunden ist, und die ich mir vielleicht sowieso nur eingebildet habe, ist nicht so einfach.
Soweit ich sehen kann, habe ich zwei Alternativen. Entweder versuche ich, es zu vergessen und mir einzureden, dass die grauenhafte Szene, die ich gesehen habe, nur in meinem Kopf existiert. Oder ich rufe Simon Waterhouse an.
Asservaten-Nr. : CB13345/432/19IG
CAVENDISH LODGE GRUNDSCHULE
Elternbrief Nr. 581
Datum: Montag, 19. Oktober 2009
Herbstgedanken von Mrs Kennedys Klasse
KASTANIEN SIND …
Seidenglatt,
Samtig und schokoladenbraun
Und außen rostig rot.
Ihre schimmernden Schalen sind hart,
Cremig und fühlen sich kühl an.
Ich liebe den Herbst, weil
Im Herbst die Kastanien von den Bäumen fallen.
Ich liebe Kastanien SO sehr!
von Riordan Gilpatrick
KASTANIEN
Sie fallen von den Bäumen
Und treffen einen am Kopf.
Man kann sie auf Bindfaden aufziehen,
Mit ihnen kämpfen,
Man kann sie sammeln,
Und aufs Regal legen.
Grün-braun-orangerot, das ist die Farbe von
Kastanien!
von Emily Sabine
Gut gemacht, ihr beiden – ihr habt wirklich den Herbst in unseren Köpfen lebendig werden lassen!
Danke!
17. 07. 10
DC Chris Gibbs, der gern wettet, hätte tausend zu eins dagegen gesetzt, dass es Olivia gelingen würde, den Concierge zu überreden, ihnen noch einen Drink zu servieren, obwohl die Hotelbar offiziell längst geschlossen hatte. Glücklicherweise hätte er damit falsch gelegen.
»Nur noch einen klitzekleinen Absacker«, hauchte sie, als würde sie jemandem ein Geheimnis anvertrauen. Was für eine Stimme. Sie wirkte irgendwie unnatürlich. Nichts an Olivia schien ganz natürlich zu sein.
»Also, vielleicht ja auch nicht so ganz klitzeklein«, berichtigte sie sich rasch, nachdem sie sich die prinzipielle Zustimmung gesichert hatte. »Einen doppelten Laphroaig für Chrissy und einen doppelten Baileys für mich, schließlich haben wir was zu feiern.«
Gibbs erstarrte. Noch nie hatte jemand ihn »Chrissy« genannt. Er betete, dass es nicht wieder vorkommen möge, wollte aber kein großes Ding daraus machen. Mist! Ob der Concierge jetzt wohl glaubte, dass er sich selbst Chrissy nannte? Hoffentlich machte sein Äußeres klar, dass er das nicht tat und auch nie tun würde.
Olivia lehnte sich dekorativ über die Bar, während sie wartete, wobei sie noch mehr von ihrem Weltklasse-Busen enthüllte. Gibbs merkte, dass der Concierge guckte, obwohl er so tat, als würde er das nicht tun. Alle Männer machten das, aber niemand so geschickt wie Gibbs, seiner nicht sehr bescheidenen Meinung nach.
»Kein Eis«, sagte Olivia. »Oh, und natürlich auch noch einen von dem, was Sie trinken wir wollen doch den Mann hinter dem Tresen nicht vergessen! Einen doppelten von irgendwas leckerem Hochprozentigen für Sie!«
Gibbs war froh, dass sie ebenso betrunken war wie er. Nüchtern war sie ein bisschen viel für ihn gewesen, aber wie man mit Betrunkenen umging, wusste er. Er hatte schon genug Besoffene verhaftet. Zugegeben, die meisten trugen keine sonderbar geschnittenen Kleider aus Goldstoff, die zweitausend Pfund gekostet hatten. Er hatte es nicht glauben wollen, als sie es vorhin erwähnte, und das auch gesagt, aber sie hatte nur gelacht.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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