Das Fundbüro der verlorenen Träume - Helen Frances Paris - E-Book + Hörbuch

Das Fundbüro der verlorenen Träume Hörbuch

Helen Frances Paris

4,6

Beschreibung

Wer nichts sucht, kann auch nichts finden Seit dem bitteren Verlust, der ihr Leben erschütterte, hat sich Dot von der Welt zurückgezogen. Sie vergräbt sich in ihrer Arbeit im Londoner Fundbüro und geht ganz in ihrem Job als Hüterin verlorener Dinge auf. Ihre größte Freude ist es, wenn sie jemandem einen vermissten Gegenstand wiedergeben kann. Denn hinter ihrer stachligen Fassade schlägt ein sehr großes Herz. Als ein bekümmerter älterer Herr in ihr Fundbüro kommt, der eine Tasche mit einem Andenken an seine verstorbene Frau darin verloren hat, setzt Dot alles daran, Mr. Applebys Tasche wiederzufinden. Dabei findet sie schließlich auch etwas, womit sie gar nicht gerechnet hätte: Sich selbst und ihr wirkliches Leben.

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Zeit:10 Std. 19 min

Veröffentlichungsjahr: 2022

Sprecher:Julia Meier

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Kathrinschroeder

Nicht schlecht

„Das Fundbüro der verlorenen Träume“ Dot arbeitet im Fundbüro, fühlt sich schuldig und einsam wegen des Selbstmords ihres Vaters und liebt es Dinge den Besitzern zurückzugeben. 1. Drittel Fundbüro: Charmante Idee, Fundsachen als Kapitelüberschrift, Personen zu verlorenen Gegenständen denken usw. Doch die Idee versandet bald. Die Person „Dot“ wirkt stellenweise nicht ganz zuendegedacht. 2. Drittel: Dots Vergangenheit und Gegenwart, die Familie – ich kann dem Gedanken folgen, doch dieser Teil nimmt mich nicht ganz mit. Die Personen sind oft zu einem wesentlichen Teil eher Stereotype und aus dem Hut gezaubert. Dot ist seit Paris beziehungsunfähig, hat eigentlich nie private Kontakte oder Unternehmungen, dann taucht der attraktive Physio im Pflegeheim auf – und der Ausgang ist klar, obwohl die Personen und ihre Eigenschaften es nicht nachsagen 3. Drittel: Neue Leitung, neue Regeln. Chef baggert, Schwester wälzt das eigene Leben um – Dots Leben kippt. Konfrontation, Angriff/Flucht, die Su...
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Helen Frances Paris

Das Fundbüro der verlorenen Träume

Roman

Deutsch von Sophie Zeitz

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Leslie,

aus tiefstem Herzen

Prolog

Es ist wie in einer Kirche hier unten, dämmrig und mit einer etwas seltsamen Gemeinde: Weinflaschen, Kinderwagen, eine Urne. Wenn die Neonröhren summend zum Leben erwachen, schimmern die Farben auf wie Licht, das durch Buntglasfenster fällt, Gelb, Bernsteinfarben, Türkis, erstaunlich viel Fuchsia. Es ist das Gelb, das zuerst ins Auge fällt. Senfgelb. Der Senf eher Dijon als Coleman’s Powder. Im Fundbüro muss man präzise sein, stets die exakte Beschreibung finden und auf den kleinen dijonsenfgelben Anhänger notieren, den jeder hier gelagerte Gegenstand bekommt. »Damenhandtasche, weinrot, gesprenkelt« statt »Damenhandtasche, rot« macht vielleicht den Unterschied, ob die Tasche zu ihrer Besitzerin zurückfindet oder für immer im Fundbüro verstaubt. Ledergriff, sagen Sie? Welche Art von Griff?, frage ich. Henkel? Schlaufe? Mit Schnalle? Angekaut? Ich gebe zu, es ist eine Herausforderung, den einen schwarzen Taschenschirm vom anderen zu unterscheiden, aber ich gebe mir alle Mühe. Ich lege Wert auf die Details.

Zwischen den Regalen voll verlorener, vergessener, verlassener Dinge arbeite ich, Dot. Sie hören mich, bevor Sie mich sehen; ich habe die Füße meines Vaters (platt) an den Fesseln meiner Mutter (schmal). Ich bin oft hier unten am Werk, sortiere und etikettiere, und manchmal, wenn die anderen Feierabend haben, stehe ich nur da, wie angewurzelt auf meinen Stammbaumfüßen, und starre auf Reihen über Reihen des Verlusts.

1

VERLOREN Kleine Reisetasche

BESCHREIBUNG Leder (honigfarben)

Inhalt: Damenportemonnaie (fliederblau), Blumenzwiebeln (Tulpe), Setzschaufel

ORT 73er Bus

 

Verlust ist saisonabhängig. Draußen gießt es wie aus Eimern; drinnen steigt die herbstliche Flut der Regenschirme, die registriert und etikettiert werden müssen. Der Kundenbereich ist rappelvoll. Vor dem Schalter bildet sich eine feuchte Schlange von Menschen in dampfenden Wolljacken, die vorübergehend im Fundbüro Zuflucht suchen, um nach Dingen zu fragen, die sie verloren haben, oder um Dinge, die sie gefunden haben, abzugeben.

Ich sitze am Ende der Theke und statte verlorene Schirme mit Anhängern aus, während Anita die Kunden bedient, wobei sie allerdings, als ich zu ihr hinübersehe, wie üblich in ihrer riesigen Handtasche wühlt.

»Mist, wo ist mein Stift?«, ruft sie. Persönliche Gegenstände der Mitarbeiter sind im Kundenbereich nicht gestattet. »Er muss hier irgendwo sein.« Sie gräbt tiefer im gähnenden Schlund ihrer Tasche. Es ist ein abgewetzter weißbrauner Wildlederkoloss, den sie immer dabeihat, scheppernd und rasselnd wie Jacob Marleys Geist. Jedes Mal, wenn ich Anita ansehe, stecken ihre Arme bis zum Ellbogen in der Tasche, als würde sie eine Kuh entbinden, ewig auf der Suche nach einem Diät-Riegel oder einem Spritzer Parfum. Ich habe schon überlegt, ob ich ihr raten soll, es mit einem kleineren Modell zu versuchen – einer Satteltasche mit Schnallen vielleicht? Ständig räume ich hinter ihr her, wenn sie wieder einen Schal in der Toilette, eine Bürste auf dem Tresen zurückgelassen hat. »Ach, danke, Dot! Ich würde noch meinen Kopf vergessen, wenn er nicht festgeschraubt wäre.«

Wie wahr.

Ich ziehe meinen zweitbesten Sheaffer aus der Jackentasche, wo ich ihn immer festgeklipst habe, und reiche ihn ihr.

»Du bist ein Engel«, sagt sie und wendet sich wieder ihrem Kunden zu.

Das bin ich definitiv nicht, und ich hege wenig Hoffnung, dass der Sheaffer zurück ins Körbchen findet, was schade ist, denn er ist neu, ein Geschenk von mir an mich zu meinem Geburtstag.

Als Anita im Fundbüro anfing, fragte ich sie, wie es sie hierher verschlagen hatte – ganz offensichtlich hat sie ja schon Schwierigkeiten, auf ihre eigenen Sachen aufzupassen, geschweige denn auf die anderer Leute. »Ich hab meine Qualifikationen beim Jobcenter angegeben«, erklärte sie mir über einem schaumigen Kaffee beim Italiener nebenan, während sie aus einem Döschen, das sie aus der geräumigen Tasche herausbefördert hatte, zwei weiße Kügelchen in ihre Tasse schoss. »Ich habe mein Kosmetik-Diplom und meinen Businessplan vorgelegt, und die haben mich hierhergeschickt! Möchte wissen, wieso ein Stufe-3-Nagelpflege-Diplom sie auf die Idee bringt, ich wäre gut darin, mich hauptberuflich um den Scheiß anderer Leute zu kümmern?«

Doch inzwischen ist Anita schon fast so lange hier wie ich. Anders als die anderen, die kommen und gehen, ist Anita geblieben. Vielleicht ist ihr Nagelpflege-Businessplan nicht aufgegangen. Sie hat nie wieder davon gesprochen, und ich werde sie nicht fragen – wir hatten alle mal Träume. Als ich klein war, wollte ich Bibliothekarin werden. Wie oft habe ich in der stillen Ordnung der Stadtbibliothek Zuflucht gesucht und mich an der souveränen Gestik der Bibliothekarin erfreut, wenn sie ein Buch für mich aufschlug, am Zellophan-Knistern des Einbands. Am meisten liebte ich den zuversichtlichen Datumsstempel und wie die rosa Karte sanft aus der Papptasche glitt, das wohltuende Wissen, dass die Bibliothekarin sie bis zu meiner Rückkehr sicher in ihrem Karteikasten verwahren würde.

Inzwischen hat man die meisten Bibliotheken geschlossen, und am Ende war das Fundbüro der richtige Ort für mich. Wir sind die Treuhänder all der Gegenstände, die in Londons Bussen, Taxis, U-Bahnen und Zügen verloren gehen; wir bekommen jeden Tag hunderte davon. Verlust wird es immer geben; darauf kann man sich verlassen. Und die Arbeitszeiten sind angenehm. Gelegentlich müssen wir zu Tagungen, die von unserer Dachorganisation Transport for London veranstaltet werden, wo wir auf Flipcharts starren und nach billigem Aftershave riechenden Milchgesichtern in maschinenwaschbaren Anzügen zuhören, die ständig »Kein Problem« sagen. Was wissen sie von den Feinheiten des Fundbüros? Vom Verlust und den unzähligen Problemen, die er nach sich zieht? Sie interessieren sich bloß für Personalentwicklung und -rekrutierung. Dabei sind wir im Rekrutieren ziemlich gut. Rekrutieren ist für uns »kein Problem«. Ha. Wir rekrutieren eine endlose Prozession von Aushilfen – meistens Studierende –, die immer nur kurz bei uns sind, wegen der Lohntüte und dem Job in der Stadt. Sie nehmen, was immer das Jobcenter für sie findet.

Ich hatte mich damals beworben.

Denn ich kenne mich mit Verlust aus. Ich kenne seine Gestalt, seine Schwächen, seine Ecken und scharfen Kanten. Ich habe seine Koordinaten gespürt. Man kann sagen, ich kenne ihn in- und auswendig.

Als ich mit der Beschriftung der Regenschirme fertig bin, nehme ich mir die Kiste vor, die gestern vom Depot des Victoria-Busbahnhofs kam. Hinter dem Kundenbereich befindet sich die Verwaltung, wo Gabrielle (französische Gaststudentin) und Sukanya (Schauspielschule) die telefonischen Anfragen beantworten, und ich lasse mich beim Sortieren von dem angenehmen Summen ihrer Stimmen einlullen, die durch die Tür dringen.

»Sechs langstielige Weingläser von John Lewis? Genau wie Sie beschrieben haben, Madam. Der Taxifahrer hat sie gestern abgegeben.«

»Sie sind an der Tottenham Court Road von der Central Line in die Northern Line umgestiegen? … Ich weiß, die Rolltreppen sind seit Ewigkeiten kaputt – es ist schlimm, eine richtige Tragödie.«

Ehrlich gesagt könnte Sukanya es mal mit weniger Drama und mehr sotto voce versuchen – ich verstehe ja, dass sie für die Bühne übt, aber es gibt so etwas wie Überidentifikation.

In meiner Kiste liegt eine Damenstrickjacke in einem hübschen Lavendelblau. Sieht handgestrickt aus – die Perlknopfreihe unterstreicht die Farbe wunderbar. Ich schätze, die Besitzerin ist schon älter, Haar wie ein Sahnehäubchen und Archipele von Pigmentflecken. Natürlich könnte die Trägerin auch ein Teenager sein, der mit einem Retro-Look experimentiert … Nein, ich erschnuppere den pudrigen Duft von Maiglöckchen. Mein erster Tipp hat gestimmt, wie meistens. Ich fülle den dijonsenfgelben Anhänger aus und befestige ihn sicher an einem der Perlknöpfe, dann nehme ich mir einen schmuddeligen grünbraunen Herrenparka vor, dessen Taschen eine halbe Rolle Polo-Mints und eine mit Bleistift verfasste Einkaufsliste enthalten. Diesmal ist der Geruch weniger eindeutig, ein Bouquet von Minze, Schimmel und einem Hauch Bratensoße. Aber die Jacke ist heißgeliebt; er wird bestimmt traurig sein, dass er sie verloren hat. Ich fülle den Dijon-Anhänger aus, befestige ihn mit einem Doppelknoten am Reißverschluss. Wer ist als Nächstes dran? Eine Handtasche, eine ziemlich schicke. Doch mit der kaputten Schließe hat die Besitzerin das Schicksal herausgefordert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas rausfällt und verloren geht. Trotzdem, Menschen, die ihre Handtasche nicht beim ersten Anzeichen von Verschleiß wegwerfen, verdienen Respekt. Die meisten Menschen kennen solche Loyalität nicht mehr.

Es ist nicht viel drin – Anita, nimm dir ein Beispiel –, Taschentuch, Lippenstift, ein paar Kassenbons. Falls Geld oder Kreditkarten dabei waren, wurden sie schon entnommen und bei der Wertsachenverwahrung eingeschlossen. Allerdings – was ist der wahre Wert eines Gegenstands?, frage ich mich immer. Die Tasche ist aus feinem Leder, vielgetragen, aber gut behandelt. Ich kenne mich mit Qualität aus. Das ist keine Prahlerei. Wenn man sich den ganzen Tag mit den Sachen anderer Leute beschäftigt, entwickelt man ein Gespür dafür.

In der Regel zieht eine endlose Parade von Handys, Monatskarten und eselsohrigen Thrillern an mir vorbei, wenn also mal etwas Besonderes hereinkommt, merke ich auf und sonne mich ein wenig in seinem Glanz. Das Taschentuch ist exquisit – aus Leinen mit Original-Liberty-Muster, dem schönsten, würde ich sagen. Nur der Lippenstift ist eine Überraschung. Ich trage keine Schminke – ich habe den Dreh nie rausgekriegt –, aber Red Hot Poker? Die Farbe passt weder zur Tasche noch zum Taschentuch. Ich ziehe den Deckel ab und drehe ein paar grellrote Zentimeter heraus. Hmmm, keine unberührte Diamantspitze, sondern vom Gebrauch abgerundet und ein bisschen verschmiert. Ach, der unpassende Lippenstift wird mich den Rest des Tages verfolgen, wie ein Mohnkörnchen zwischen den Zähnen.

 

»Wie ich sehe, war dein Verehrer wieder da, Nita.« Ed macht eine Kopfbewegung zu dem Kunden hin, der gerade am Stock zur Tür humpelt. Eigentlich arbeitet Ed in der U-Bahn-Station Baker Street, aber einen großen Teil seiner Schicht verbringt er bei uns an den Schalter gelehnt, um mit Anita Zweideutigkeiten auszutauschen und beängstigend milchigen Tee aus einem angeschlagenen rot-weißen Arsenal-Becher zu trinken.

»Hör auf, das ist doch kein Verehrer«, sagt Anita und exhumiert aus ihrer Tasche ein Döschen Erdbeerlipgloss. Persönliche Gegenstände der Mitarbeiter sind im Kundenbereich … Ich stehe hier auf verlorenem Posten, das weiß ich wohl. Andächtig wie eine Figur in Botticellis Anbetung der Könige sieht Ed zu, wie Anita mit langsamen Bewegungen eine dicke Schicht schimmernden Gloss auf ihre Lippen aufträgt.

»Dann ist er ein Wiederholungstäter.« Ed prustet wenig attraktiv durch die Nase.

»Du musst es ja wissen.« Anita schürzt die Lippen zu einem Kussmund. »Zigarette?«

»Sag ich nicht nein …«

»Hiya.« Auf Highheels, von deren bloßem Anblick ich höhenkrank werde, stöckelt Sheila aus der Verwaltung herein, unser Neuzugang von SmartChoice-Zeitarbeit.

Ed reißt den Kopf herum.

»Na? Worüber redet ihr?« SmartChoice schiebt ihren winzigen Hintern auf die Theke und verzwirbelt die schwarzbestrumpften Beine wie eine Lakritzstange.

Ed staunt mit offenem Mund.

Anita feuert den Lipgloss in die Tasche. »Nichts. Bloß ein alter Knacker, der alle paar Monate vorbeikommt, um den ›Verlust‹ seines Gehstocks zu melden.« Anita markiert das Wort »Verlust« mit ihren Zeigefingern, von denen einer unangenehm klebrig aussieht.

»Der muss ja echt vergesslich sein, was?«, sagt SmartChoice und zwinkert Ed zu, der vor Schreck seinen Tee verschüttet.

Ich wische Eds milchiges Spülwasser mit dem Taschentuch auf, das ich stets mit einer Sicherheitsnadel an der Innentasche meines Jacketts befestigt dabeihabe. Der betreffende Kunde kann präzise alle Cricket-Ergebnisse seit 1997 aufzählen, dem Jahr, in dem das England and Wales Cricket Board die Verbandstätigkeit vom Marylebone Cricket Club übernahm. Er weiß auch, wann die beste Zeit ist, um Spargel und Saubohnen anzupflanzen, und kennt die vollständige Taxonomie der Drossel. Er ist kein bisschen vergesslich. Er ist einfach nur einsam, fürchte ich.

»Und was machst du, wenn der Mann nach seinem Stock fragt?«, will SmartChoice wissen.

»Ich geh runter und hol ihm einen von denen, die nie abgeholt wurden«, antwortet Anita.

»Oooh, ist das erlaubt?«, fragt SmartChoice mit Rehaugen.

»Was spricht dagegen?«, sagt Anita. »Wir ersticken in Stöcken, Krücken, Gehhilfen – was du willst. Wir haben auch einen Haufen Prothesen, von falschen Zähnen und Glasaugen ganz zu schweigen. Ich frag mich ja, wie jemand aus dem Zug steigen und versehentlich seine Beinprothese liegen lassen kann. Wunderheilung auf der Metropolitan Line? Kein Wunder, dass die Fahrkarten so teuer sind.« Ein kehliges Kichern, und schon liegt Ed ihr wieder zu Füßen.

Ich werfe einen Blick zur Tür; im Moment herrscht Flaute, aber es könnte jederzeit eine Kundin oder ein Kunde auf der Suche nach einem verlorenen Gegenstand auftauchen und uns dabei ertappen, wie wir hier den Tag verbummeln. Eindeutig bin ich die Einzige, die sich darüber Gedanken macht.

»Wetten, heute waren wieder ein paar Umbrella-Girls da, oder, Nita?«, fragt Ed.

»Na klar«, sagt Anita. Sie lächelt Ed verschwörerisch zu, beugt sich vor und sagt näselnd: »Entschuldigen Sie, meine Liebe, mir scheint, ich habe meinen Schirm verloren.« Ed lacht, und Anita fährt ermutigt fort: »›Können Sie den Schirm beschreiben?‹ ›Selbstverständlich‹, sagt sie. ›Er war schwarz und hatte einen Griff.‹ ›Schwarz mit Griff?‹, sage ich. ›Ich glaube, heute Morgen wurde einer abgegeben, der genau auf Ihre Beschreibung passt. Ich lauf schnell runter und hole ihn.‹«

»Unglaublich, dass du das sofort wusstest«, sagt SmartChoice. Die Kleine ist offenbar nicht der hellste Stern am Firmament.

»Kommst du mit rauchen, Ed?«, fragt Anita.

»Ich glaube, ich muss zurück an die Arbeit«, sagt Ed, ohne sich zu rühren. Anita bleibt kurz stehen, dann beißt sie sich auf die glänzenden Lippen und hievt das Ledernilpferd über ihre Schulter.

»Dot, springst du kurz für mich ein? Bin fünf Minuten weg.«

Wohlwissend, dass es eher fünfzehn Minuten werden, lasse ich meine Kiste stehen und nehme Anitas Platz am Schalter ein, die erhobenen Kopfes davonstolziert, um sich zu den durchweichten Rauchern auf der Feuerleiter zu gesellen.

Ich sehe SmartChoice an. »Falls du nicht unter ›Sonstiges‹ abgelegt werden willst, schlage ich vor, du gehst auch wieder an die Arbeit.«

»Na, bis dann.« SmartChoice entwirrt ihre Beine und stakst in die Verwaltung zurück. Seufzend blickt Ed ihr hinterher, dann schleicht er sich davon.

Ich ordne den Stapel der Suchformulare und ziehe mir das Jackett zurecht, bereit für den nächsten Kunden. Auch wenn ich Anitas laxen Umgang mit Gehstöcken und Schirmen, die sie nach Gutdünken verteilt, nicht billige, weiß ich, sie hat es in letzter Zeit nicht leicht gehabt. Nachdem sie sich jahrelang die Eskapaden und den semipermanenten Rauschzustand ihres schweinsgesichtigen Ehemanns hatte gefallen lassen, hat sie ihn jetzt endlich vor die Tür gesetzt. Kürzlich war er sternhagelvoll und in einer Wolke von Provocative Woman nach Hause gekommen, worauf sie ihn hochkant rauswarf und eine Platte frittierte Hackfleischbällchen gleich hinterher. »Ich habe das Wochenende mit Gordon und seinem besten Freund Tonic auf dem Sofa verbracht«, schniefte Anita mit Panda-Augen, als sie mir die Neuigkeiten anvertraute. Offenbar waren auch Harveys Bristol Cream und Napoleon Brandy mit von der Partie gewesen. Doch ich verurteile Anita nicht. Ich habe hin und wieder ähnliche Gesellschaft gesucht. Ich machte ihr eine Tasse Lapsang Souchong und schmuggelte ihr Die griechischen Inseln entdecken in die Tasche (einen wirklich erstklassigen Reiseführer).

Die Tür des Fundbüros geht auf, und ein älterer Herr in einem weichen zementgrauen Regenmantel und mit Tweedmütze kommt zögernd auf den Schalter zu.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?«, frage ich.

»Ich komme mehr in Hoffnung als in Erwartung.« Regenwasser rinnt durch die Falten in seinem Gesicht und schmückt seine buschigen grauen Augenbrauen mit Perlen. »Es ist allein meine Schuld«, fährt er fort. »Es geht um meine Tasche.«

Ich befeuchte Daumen und Zeigefinger, klaube ein Suchformular vom Stapel, zücke den silbernen Sheaffer, der an meiner Jacketttasche klemmt.

»Eine Tasche?«

»Ja. Eine kleine lederne Reisetasche. In einem goldenen Honigton. Sie ist schon alt, aber noch gut in Schuss. Besser als ich.« Er lacht ein trockenes Lachen, das zum Husten wird.

Seine Mütze ist an drei Stellen gestopft; wer immer das gemacht hat, hat genau die richtige Zwirnfarbe gewählt.

»Entschuldigen Sie.« Er faltet ein zerknittertes Taschentuch auseinander. Von seinem Mantel sprühen Regentropfen auf den Tresen. Einer landet auf meinem Jackenärmel.

»Letzten Freitag habe ich den Bus genommen«, erklärt der alte Mann.

»Welchen Bus?«

»Von Stoke Newington zur Oxford Street.«

Ich nicke, schreibe »73« in das Formular.

»Was befand sich in der Ledertasche?«

»Mal sehen … das Portemonnaie, Tulpenzwiebeln, eine Schaufel …«

»Können Sie das Portemonnaie beschreiben?«

»Es ist blau.«

»Was für ein Blau? Himmelblau? Marineblau? Tintenblau?«

»Eher fliederblau, mit einem goldenen Schnappverschluss.«

»Ein Damenportemonnaie?«

»Ja, das Portemonnaie von Joan. Meiner Frau.«

»Und wie viel, würden Sie sagen, war darin?«

»Wie viel?« Er runzelt die Stirn.

»Geld.« Meine Hand schwebt über dem Formular.

»Ach so, nicht viel. Es war ihr Lieblingsportemonnaie, verstehen Sie, und ich habe es einfach gern bei mir.«

»Ich verstehe.«

Ich verstehe wirklich.

»Sie sagten Tulpenzwiebeln? Eine Schaufel?«

»Ich gehe häufig auf den Abney-Park-Friedhof. Ich habe die Times dabei und löse das Kreuzworträtsel. Ich mache lieber das herkömmliche Kreuzworträtsel, aber Joanie, die war unglaublich gut im Um-die-Ecke-Denken. Sie hatte es immer sofort raus, wenn es um Ana… wie heißen die noch …«

»Anagramme?«

»Ja!« Ein liebenswürdiges Lächeln. »Die Anagramme hat sie sofort geknackt. War eine richtige Expertin. Vierundfünfzig Jahre lang hat sie keinen einzigen Fehler gemacht …« Sein Adamsapfel zuckt. »Und wenn ich allein beim Rätseln nicht weiterkomme, springe ich in den Bus nach Abney und mache es mit ihr zusammen.«

Ich senke den Blick; das Wort »Reisetasche« verschwimmt ein bisschen vor meinen Augen.

»Eigentlich will ich nur Joanies Portemonnaie zurückhaben. Es ist klein, etwa so …« Er legt die Hände aufeinander, als würde er einen kleinen Vogel halten, und öffnet und schließt sie. Seine Hände zittern ein bisschen, aber ich erkenne die Form des Portemonnaies, höre das helle Zwitschern der Schließe.

Tesafilm. Sicherheitsnadel. Sekundenkleber. Meine Spezialwörter. Ich wiederhole sie im Kopf und konzentriere mich dabei auf meine Atmung. Es sind Wörter so wohltuend wie Anisbonbons, verlässlich, sicher.

»Ich werde mein Bestes tun, Sir. Lassen Sie mich Ihre Kontaktdaten aufschreiben. Ihr Name?«

»Appleby, John Appleby.«

Als Mr Appleby gegangen ist, schaffe ich es gerade noch, die nächsten beiden Kunden zu versorgen, aber ich bin heilfroh, als das laute Klirren und Klappern ihrer überfüllten Handtasche Anitas Rückkehr verkündet.

»Du bist ein Schatz, Dots.«

»Ich muss das hier einsortieren«, murmele ich, packe die Kiste mit den Schirmen und suche Zuflucht im Magazin.

 

Ich durchforste alle Regale nach der Ledertasche, obwohl ich genau weiß, dass sie nicht hier ist. Ich suche trotzdem, weil ich weiß, wie es ist, wenn man etwas so dringend braucht, wie Mr Appleby sein zwitscherndes Portemonnaie braucht. Ich habe immer noch Dads Pfeife. Dunhill. Schildpatt-Korpus, schwarzes Ebenholz-Mundstück, und wenn ich die Nase in den Pfeifenkopf stecke – dieser Hauch von Kirschtabak … ich erlaube mir nicht mehr als ein kleines Schnuppern pro Tag. Einmal bin ich wegen dieses Geruchs einem fremden Mann von der Baker Street bis zum Marble Arch gefolgt. Hin und wieder schiebe ich mir das Mundstück zwischen die Lippen – wir haben den gleichen leichten Überbiss, Dad und ich. Meine Zähne finden die Rille, die seine Zähne gemacht haben, und so verankert hole ich Luft. Versuche ihn mit meinem Atem zurückzuholen.

2

VERLOREN Monatskarte

BESCHREIBUNG Oyster-Card (mit Guthaben) in Kazuo Ishiguro, Alles, was wir geben mussten

ORT 42er Bus

 

Jeden Morgen fahre ich mit einer Bahn und zwei Bussen und dann marschiere ich in flottem Tempo die Baker Street hinauf. Auf dem Weg zur Arbeit halte ich stets die Augen offen. Ich kann nicht anders, das ist der Beruf. Ich habe es im Gespür, wenn etwas im Begriff ist, verloren zu gehen, zu verschwinden. Da ist so eine bestimmte Stille. Ein Innehalten. Manchmal warte ich richtig darauf. Im Bus vier Sitze vor mir hält die Frau mit dem koriandergrünen Mantel zwar ihre Tasche umklammert, aber sie achtet nicht auf das Seidentuch, das ihr von den Schultern rutscht und über die Stange auf den Sitz dahinter fällt. Zum Glück bemerkt es das Mädchen mit den beeindruckend riesigen Kopfhörern, das neben ihr sitzt, und gibt ihr das Tuch zurück. Oder der junge Mann mit der nagelneuen Aktentasche, unter deren weichem Leder sich das Quadrat seiner Brotdose abzeichnet. In ein paar Wochen ist die Brotdose abgemeldet, wenn er erst mal begriffen hat, dass er, wenn er dazugehören will, mittags im Pub essen und die erste Runde übernehmen muss, statt sich mit einem selbstgeschmierten Brot auf eine Parkbank zu verkrümeln. Aber noch ist er neu, hoffnungsvoll. Nur dass er die Aktentasche zu fest hält. So gehen häufig Dinge verloren.

Wie üblich bin ich die Erste im Fundbüro. Ich schließe auf und mache mir eine Tasse Lapsang in der sogenannten Teeküche, die nicht viel mehr ist als eine Nische in der Verwaltung mit einem Wasserkessel und einer Schachtel Teebeutel für alle (ich bringe mir meinen eigenen losen Tee mit), aber zumindest ist Brian, unser Chef, großzügig mit den Keksen, wenn auch nicht sehr originell. Ich frage mich, ob die Ledertasche des netten Mr Appleby schon abgegeben wurde. Am Kundenschalter logge ich mich in den Computer ein. Wenn etwas in einem Londoner Bus liegen bleibt und vom Fahrer gefunden wird, bleibt es drei Tage im Busdepot, bevor es zu uns kommt. Ich überfliege die Online-Einträge. Mein Interesse ist eine Spur übertrieben, das gebe ich zu – wenn ich mir bei jedem verlorenen Gegenstand so viel Mühe machen würde, wo kämen wir da hin? Wir würden in einem Meer unregistrierter Regenschirme ertrinken. Es ist bloß … na ja … es wäre einfach so schön, ihn anrufen und ihm die gute Nachricht übermitteln zu können. Ich suche unter »Appleby«, dann unter »Reisetasche« und sicherheitshalber unter »Tasche« (»Sport-«, »Wochenend-«, »Schultertasche«), »Gepäck«, »Leder«. Das Ergebnis ist ein Ledergürtel mit einer Schnalle in Form von Texas und ein perlenbesticktes Damenhandtäschchen. Nichts für Mr Appleby. Enttäuscht logge ich mich wieder aus. Vielleicht hat ein Fahrgast die Tasche gefunden; dann kommt sie möglicherweise im Lauf der Woche herein. Wenn etwas abgegeben wird, dann meistens recht schnell. Einstecken und austeilen ist der Modus Operandi der Menschheit, im Guten wie im Bösen. Wohlgemerkt, ich habe kein schlechtes Wort über Leute zu sagen, die Fundsachen zurückbringen. Letztes Jahr wurden über dreizehntausend Schlüssel abgegeben, von denen bloß ein Bruchteil abgeholt wurde – eine Diskrepanz, die für zwei Tendenzen steht: 1) den herzerwärmenden Wunsch zu helfen und 2) völlige Hoffnungslosigkeit.

Es ist kaum halb neun, das Fundbüro öffnet erst in einer halben Stunde, und es sind noch keine Kollegen da. Ich fahre mit dem Lastenaufzug hinunter ins Magazin und verbringe zwanzig sehr entspannende Minuten damit, die neu registrierten Artikel von gestern in die Regale einzusortieren. Einsortieren ist wie Meditation für mich. Die lavendelblaue Damenstrickjacke kommt in Regal fünf – »Damenkleidung: Pullover und Strickwaren« –, wo sie einen fröhlichen Kontrast zu dem verblichenen gelben Rippenstrickpullover abgibt. Die Damenhandtasche mit der kaputten Schnalle kommt in Regal sieben – »Diverse Taschen, Aktenkoffer, Trolleys« –, wo sie neben der extravaganten Kork-Schultertasche mit dem Stempel »Made in Portugal« auf dem Riemen zu einer, wie ich finde, ziemlich gelungenen Shabby-Chic/Cosmopolitan/Bohémien-Fusion beiträgt.

Es dauert einen Moment, bis ich im Regal »Jacken und Outdoor-Kleidung« den richtigen Ort für den Parka mit den Polo-Mints finde. Der Platz neben der kiloschweren kugelsicheren Armeejacke in Tarnfarben wäre völlig falsch. Nein, nein, nein. Der organisatorische Umgang mit Verlust ist eine Kunst, das sollte man wissen, es ist eine Welt, die ihre eigenen Heldinnen und Helden hat. Meine héroïne veritable ist Phyllis Pearsall, die, nachdem sie sich mit einem suboptimalen Stadtplan in London verirrt hatte, den berühmten London A–Z erfand. Welche Pionierin! Eine wahre Pfadfinderin. Sie hat einen unübertroffenen Beitrag im Kampf gegen den Verlust der Orientierung geleistet und hilft uns bis heute, den Weg durch die Metropole zu finden. Natürlich fingen die Leute sofort an, ihre A–Zs zu verlieren. Früher hatten wir zwei ganze Regale voll: Hardcover, Softbacks und – weniger attraktiv, aber unleugbar praktisch – mit Spiralbindung. Heute kommen kaum noch welche rein, weil die Menschen lieber gesenkten Hauptes einem beweglichen Punkt auf ihrem Smartphone durch die Stadt folgen, und inzwischen sind es die Smartphones, die die Regalfächer bei den Wertsachen füllen. Wie gesagt, Verlust gibt es immer. Aber wenn ich daran denke, dass Phyllis Pearsall bei ihrer Mission, uns vor Verirrungen zu bewahren, dreitausend Meilen zu Fuß ging, um persönlich nachzusehen, ob die an den Hauptstraßen eingezeichneten Hausnummern an der richtigen Stelle waren, bin ich ihr für ihre Akribie und Sorgfalt ewig dankbar. Sanft schiebe ich den Parka zwischen eine kirschrote Kapuzenjacke und einen azurblau glänzenden Regenmantel mit Gürtel, trete einen Schritt zurück und bewundere das Triptychon. Ich hoffe, dass ich auf meine eigene Art für die verlorenen Dinge in meiner Obhut etwas bewirke.

»Na, wie geht’s uns heute?« Nach dem übergriffigen Gebrauch der ersten Person Plural zu schließen, kann das nur Neil Burrows sein.

Ich drehe mich um, und richtig, da lauert er hinter mir.

»Sie sind ja früh dran«, sage ich und sehe mich instinktiv nach einem Fluchtweg um. Der Gang zwischen den Regalen sechs und sieben sieht gut aus, bis auf einen karierten Einkaufstrolley, der ungeordnet im Weg steht.

»Ich habe ein wichtiges Meeting mit Brian«, erklärt er. »Bei den Verkehrsbetrieben gibt es einige interessante Entwicklungen.«

Wenn ich Neil Burrows bei seinem Rundgang sehe, mit geschwellter Brust, dem rasselnden Bund mit den sechs Schlüsseln am Gürtel und einer Haltung, als unterstünde ihm das ganze Fundbüro statt nur die bescheidene Wertsachenverwahrung, muss ich unwillkürlich an Miss Hydes Derbyshire-Redcap-Hahn mit Namen Chaunticleer denken.

Ein paar misstönende Jahre lang wurde ich zu Miss Hyde in die Klavierstunde geschickt. Der Hahn Chaunticleer stakste verdrießlich im Garten ihrer Doppelhaushälfte aus den fünfziger Jahren herum und scharrte halbherzig in den Ritzen zwischen den rosa Terrassenplatten. Altersbedingt war sein Nacken kahl und entblößte breite Schneisen gelber, narbiger Haut. Wie oft blickte ich durch Miss Hydes Terrassentür, wenn sie wegen einer falschen Note oder Antwort auf mir herumhackte (»Presto? Ich wünschte, du wärst ein bisschen mehr presto beim Verstehen, junge Dame!«), beobachtete Chaunticleer, der sich kratzte, und tröstete mich mit dem Gedanken, dass sein Los noch schlimmer war als meins.

Eines Tages, gewappnet für eine weitere quälende Stunde Clair de lune, fand ich Miss Hyde am Fenster stehen und selbst wie hypnotisiert in den Garten starren.

»Dot! Komm und sieh dir meine Mädels an!« Eine Galgenfrist witternd, bevor es ernst wurde mit Debussy, eilte ich zu ihr. Zu meiner Überraschung drängte sich ein halbes Dutzend neue Hühner im Hof wie fluffige braune, weiße und orangefarbene Bälle.

»Ich habe sie nach den Suffragetten benannt«, erläuterte Miss Hyde mit vornehm hochgezogenen Augenbrauen. »Dann haben sie ein Ziel, das sie anstreben können, verstehst du?« Eifrig folgte ich dem feuchten Blick der Klavierlehrerin auf Lady Constance Lytton, General Flora Drummond und die vier Pankhursts Emmeline, Christabel, Sylvia und Adela. Miss Hydes Mädels waren ein lustiger Haufen und brachten in ihr einen Hauch Ausgelassenheit zum Vorschein, von der ich bis dahin nichts geahnt hatte. Doch Miss Hydes Verwandlung war nichts im Vergleich zu der von Chaunticleer. Der alte Hahn war kaum wiederzuerkennen. Der mürrische Schlurfgang gehörte der Vergangenheit an, stattdessen scharwenzelte er krakeelend im Walzerschritt um seine Mädels, mit leuchtenden Augen, erwartungsvoll und hoch aufgerichtet.

Ja, Neil Burrows ist das Ebenbild von Chaunticleer.

»Brian und ich sind so eng«, er wickelt den Mittelfinger um den Ringfinger. Dann macht er einen Schritt auf mich zu und sagt mit einem Schwall Mundgeruch: »Wenn Sie wollen, lege ich ein gutes Wort für Sie ein.«

»Nein danke, nicht nötig.« Ja, an dem karierten Trolley vorbei ist die schnellste Route, dann zum Ende der Regale und mit dem Aufzug hoch zum Kundenbereich.

»Denken Sie darüber nach. Ich sehe Sie in einer Position mit mehr Verantwortung. Vielleicht gehen wir mal was trinken, um Strategien zu besprechen?« Er rasselt mit den Wertsachen-Schlüsseln und macht noch einen Schritt auf mich zu.

In exakt demselben Moment schwinge ich mich im Wiegeschritt wie bei einem komplizierten Squaredance zur Seite und an ihm vorbei.

»Ich muss hoch«, japse ich und ergreife die Flucht.

 

»Alles klar, Dots?« Zwei Sekunden, bevor die Tür für die Öffentlichkeit aufgeht, kommt Anita hereingeklappert und setzt sich an den Schalter. Die Frau lebt wahrlich nah am Abgrund. »Hast du gestern noch was Aufregendes gemacht?«, fragt sie, bereits halb in ihrer Tasche verschwunden.

»Nein, nur ein ruhiger Abend zu Hause.«

»Pläne für heute?«

»Nichts Besonderes.« Ich bewundere Anitas Beharrlichkeit. Jeden Tag stellt sie mir wieder genau die gleiche Frage, obwohl sie immer die gleiche Antwort bekommt.

»Hast du vielleicht Lust, mit mir zu einem Tanzkurs zu gehen? Es gibt da einen in Camden in ein paar Wochen, der richtig gut aussieht. Ich wollte es mal ausprobieren.«

Bevor ich ihr überraschendes Angebot im Keim ersticken kann, hat Anita den Kopf aus dem Nilpferd gezogen und sieht mich mit roten Augen und einer Extra-Schicht Gloss auf den Lippen an. Ein zusätzliches Polster, um den Tag zu überstehen.

Früher habe ich für mein Leben gern getanzt, die altmodischen Sachen, Foxtrott, Wiener Walzer, Cha-Cha-Cha. Meine Füße auf Dads Pantoffeln. Einmal hat er sich das ganze Kleingeld aus den Hosentaschen getanzt; eine silberne Fontäne, als er mich durchs Zimmer wirbelte. Ich habe schon sehr lange nicht mehr getanzt.

»Ach bitte, Dots!«, sagt Anita.

Ich nicke und hoffe, bis es so weit ist, hat sie es längst vergessen.

 

Nach der Mittagspause weise ich SmartChoice in die Abläufe des Kundenservice ein. Den ersten Tag hat sie in der Verwaltung verbracht und gelernt, wie man Online-Formulare ausfüllt, heute sind die Feinheiten des Etikettierens, Auszeichnens und Registrierens an der Reihe. Ich freue mich, ihr etwas beizubringen, und sie scheint wissbegierig – auf jeden Fall ist sie von meiner Uniform beeindruckt.

»Und das ziehst du freiwillig an?«, fragt sie.

Seit 1947 gibt es im Fundbüro keine Dienstkleidung mehr. Gleichwohl trage ich eine selbstgewählte Uniform, bestehend aus Faltenrock und passendem Jackett. Aus Loden. Loden kennt seine Form, er gibt nicht nach oder leiert aus wie diese billigen synthetischen Fasern. Loden steht für sich selbst. Nur ein Gürtel fehlt noch, um die Uniform perfekt zu machen. Etwas Robustes. Ein Kummerbund? Neben Glamour Girl Anita in ihren Lycra-Leggings und durchsichtigen Bauschblusen und SmartChoice, heute in briefmarkengroßem Minirock und Wolkenkratzer-Stilettos, bin ich wohl die Exotin hier. Nichtsdestotrotz.

»So ist es, Sheila, denn eine Uniform ist ein Zeichen des Respekts: dir selbst gegenüber, dem Job gegenüber und dem Eigentum anderer Leute gegenüber. Hier lang, bitte, machen wir weiter mit der Einführung.«

Ich führe sie hinter den Schalter und halte einen Stapel Dijon-Anhänger hoch.

»Fundsachen werden von Taxifahrern, von Bahn- und U-Bahn-Personal bei uns abgegeben oder von den Londoner Busdepots hergeschickt. Auch Privatleute bringen Fundsachen her. Und wenn ein Gegenstand abgegeben wird, egal von wem, musst du immer zuallererst, ohne Ausnahme, einen solchen Anhänger ausfüllen.« Ich gebe ihr einen Dijon-Anhänger. Die Geste fühlt sich bedeutsam an, als würde ich eine Fackel an sie weiterreichen, ihr ein Amt übertragen.

SmartChoice nimmt den Anhänger mit ausgestrecktem Arm, lässt ihn am Faden baumeln und rümpft die Nase. »Warum machen wir nicht einfach alles online? Oder mit einer App?«

Ich nehme ihr den Anhänger weg und hole Luft.

»Fundsachen müssen manuell ausgezeichnet werden, bevor sie ins Magazin kommen. Die Anhänger sind extrem wichtig. Hier schreibst du das Datum hin, wann sie gefunden wurden« – ich deute auf die entsprechende Zeile –, »hier den Ort, wo sie gefunden wurden, und auf den restlichen Platz hier kommt eine präzise Beschreibung der Fundsache. Sobald der Anhänger ausgefüllt ist, wird er an der Fundsache befestigt. Ich empfehle dringend einen Doppelknoten – so. Sobald die Fundsache ausgezeichnet ist, gibst du die betreffenden Daten in den Computer ein, damit sie gefunden werden kann, dann bringst du sie nach unten ins Magazin und sortierst sie ins richtige Regal. Komm mit.«

SmartChoice folgt mir mit klackernden Absätzen vom Kundenbereich durch die Verwaltung, vorbei an der Teeküche und den Personaltoiletten.

Ich führe sie zum Lastenaufzug und drücke auf Magazin. Unten angekommen, schalte ich das Licht an. SmartChoice schnappt nach Luft und sieht sich staunend um. Ich gebe zu, dass ich von ihrer Reaktion überrascht und erfreut bin.

»Nicht wahr?«, nicke ich. »Beeindruckend.«

»Gucci!«, quiekt sie und zeigt auf ein Regal mit Handtaschen. »Wer verliert so was? Und das ist eine echte, kein Fake!«

»Die Regale sind nach Kategorien angeordnet.« Hastig durchschreite ich den nächsten Gang und zeige ihr die verschiedenen Bereiche. »Herrenbekleidung«, »Gehstöcke und Krücken«, »Kinderwagen und Buggys«, bis hin zur Abteilung »Verschiedenes« ganz hinten. »Wie du siehst, ist das Magazin so groß wie ein Flugzeug-Hangar – je schneller du dich mit dem Grundriss vertraut machst und lernst, was wo hinkommt, desto besser. Nicht dass uns hier unten eine Mitarbeiterin verloren geht!« Ich drehe mich um, um zu sehen, ob sie meinen kleinen Witz verstanden hat, aber sie ist mehrere Gänge hinter mir und starrt mit großen Augen alles an.

»O mein Gott. Ich kann echt nicht fassen, wie viel Zeug hier unten ist. Ich meine, ich hab nicht mal gewusst, dass es so was gibt, bis die Agentur mir den Job vorgeschlagen hat.«

»Das Fundbüro befindet sich seit 1933 an dieser Stelle«, erkläre ich und richte mich in meiner Uniform kerzengerade auf.

»Ist fast wie bei TK Maxx, oder? Nur mit ein paar echt gruseligen Sachen dazwischen«, sagt SmartChoice und zeigt auf den grünbraunen Parka.

Oh, Phyllis Pearsall, wo bist du?

»Sheila, deine Aufgabe ist es, jede Fundsache gewissenhaft zu registrieren und einzusortieren. Ich empfehle dir dringend, dich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen, damit du die Aufgabe deinen Fähigkeiten entsprechend so gut wie möglich erfüllen kannst.«

»Schon klar. Oooh, was ist das denn?« Sie marschiert auf das Regal mit »Kinderspielzeug« zu, zieht eine Plastiktüte aus einem Fach und liest vor, was auf dem Anhänger steht: »›Slime-Set, ausgemaltes Malbuch.‹ Glaubt ihr ernsthaft, dass das jemand abholt?«

Ich nehme ihr die Tüte aus der Hand und lege sie energisch an ihren Platz zurück.

»Wenn sich jemand die Mühe macht, eine Fundsache bei uns abzugeben, und sei es ein einzelner Handschuh, ein mittelmäßiger Englischaufsatz oder auch Schleim wie der hier, dann etikettieren wir sie, registrieren sie und sortieren sie in das richtige Regal ein. Für alles, was bei uns landet, tragen wir die Verantwortung, sind wir Rechenschaft schuldig.«

Eigentlich hatte ich mich auf den Exkurs gefreut, aber ich muss zugeben, ich bin erleichtert, als SmartChoice’ Orientierungsstunde vorbei ist und ich endlich wieder am Schalter sitze. Ich habe das Gefühl, sie ist nicht mit dem Herzen bei der Sache. Eine Phyllis wird wohl nicht aus ihr werden.

Der Nachmittag vergeht in einem angenehmen Kommen und Gehen verlorener Telefone, Schirme und Schals. Mein letzter Kunde vor Feierabend ist ein Schüler, der eine erschreckend schmierige Brille trägt. Knochig, kantig und nervös zappelt er vor dem Schalter herum.

»Guten Tag, junger Mann«, sage ich.

Er starrt mich durch den Nebel seiner Fingerabdrücke an. Ich widerstehe dem Drang, ihm mein Taschentuch anzubieten.

»Ich … ich … hab meine Monatskarte im Bus verloren.«

»Wo hattest du sie? In einem Geldbeutel? Einer Hülle?«

»Alles, was wir geben mussten.«

Mein Sheaffer zögert.

»Schullektüre«, sagt er. Das bringt mir keine Klarheit. »Das Buch, das wir im Leistungskurs lesen? Kazuo Ishiguro?«, sagt er mit der fragenden Hebung am Satzende, die sich die jungen Leute angewöhnt haben, als wäre alles völlig offensichtlich und gleichzeitig ultimativ verwirrend.

»Ah.« Ich schreibe diese wichtige Information in mein Formular.

»Ich hab die Karte in mein Buch gesteckt«, sagt er. »Wie ein Lesezeichen.« Mit den Händen auf der Theke beschreibt er pantomimisch, wie er ein kleines flaches Ding in ein buchförmiges Objekt legt, und dann schlägt er das buchförmige Objekt zu, indem er die Handflächen aufeinanderlegt – nur für den Fall, dass ich nicht weiß, wie man ein Lesezeichen in ein Buch legt. Ich nehme es nicht persönlich. Ich finde die kleinen Choreographien des Verlusts oft rührend, die Gesten, die einen Gegenstand plastisch werden lassen, seine Gegenwart im Moment vor dem Verlust nachzeichnen. Die Hände des Jungen sind lang und dünn; er muss erst noch hineinwachsen.

»Ich hab die Monatskarte in das Buch gesteckt, damit ich sie nicht verliere«, fügt er niedergeschlagen hinzu und schiebt die Brille auf dem Nasenrücken höher.

»Nur damit wir uns richtig verstehen, du hast deine Monatskarte und das Buch verloren?«

»Das Buch ist mir egal – Englisch ist voll öde –, aber Mum bringt mich um, wenn ich meine Oyster-Card verliere. Sie hat gerade das Guthaben aufgeladen.«

Ich halte meinen tapferen Sheaffer fester.

»Bücher sind deine Freunde«, mahne ich. Er zuckt die Schultern, nagt ein Stück Haut von seinem Daumen und schluckt. »Wo wären wir ohne Bücher?«, beharre ich. »Sie bringen uns an alle möglichen Orte.«

»Na ja, aber ohne meine Oyster-Card … komm ich nirgends hin.«

Bevor er geht, schiebe ich einen Pappstreifen über die Theke.

»Das ist sicherer als die Oyster-Card. Vom Welttag des Buches.« Mit abgenagten Fingernägeln klaubt er das Lesezeichen von der lackierten Oberfläche.

»Zum Behalten?«

»Ja, zum Behalten. Damit du beim nächsten Mal die Stelle wiederfindest.«

»Danke.«

Ich sehe mich selbst in seinem Alter, halb entfaltet, in den abgelegten Kleidern meiner Schwester, nichts passt richtig, am allerwenigsten ich selbst. Bei mir war immer alles etwas daneben, anders als bei den anderen Mädchen mit ihren schneeweißen Kniestrümpfen, den ordentlichen Sandwich-Dreiecken, den Chipstüten und den funkelnden Steckern in den Ohrläppchen. Ich saß immer irgendwo allein für mich auf dem Schulhof, mit den Domino-Sandwiches, die Dad für mich machte – halb weiße, halb dunkle Brotquadrate –, in Butterbrotpapier gewickelt und mit grünem Gärtnerzwirn zusammengebunden.

Ich schaue an meiner Uniform hinunter, auf mein festes Schuhwerk, und frage mich kurz, ob sich seitdem eigentlich irgendetwas verändert hat.

Ich mache immer noch Dads Domino-Sandwiches und nehme sie mit zur Arbeit. Bevor wir Mum in die Schattige Pinie brachten, habe ich morgens auch ein Pausenbrot-Päckchen für sie gemacht und in den Kühlschrank gelegt. Heute Morgen war ich so geistesabwesend, dass ich versehentlich zwei gemacht habe.

Also muss ich mir wenigstens keine Gedanken über das Abendessen machen.

3

VERLOREN Kehrblech und Handfeger (benutzt)

BESCHREIBUNG Metall, puderblau, herzförmige Delle am Besengriff

ORT Unbekannt

 

Donnerstag nach der Arbeit: Philippa hat mich einbestellt, um »die Orga für Mum« zu besprechen. Ich sehe sie zuerst durch die diamantförmige Strukturglasscheibe in der Haustür – eine verwirrende Farbfläche aus silbernen, rosa und blauen Glitzerpartikeln. Durch den Filter wirkt meine Schwester vorstellbar. Zugänglich. Dann geht die Tür auf, und sie rückt scharfumrissen in den Fokus. Sie trägt eisrosa Lippenstift und passenden Nagellack; ihre Lider sind von silbernen Halbmonden überdacht. Der Gesamteindruck erinnert an einen geeisten Krabbencocktail.

»Heute nicht, danke!« Sie tippt auf das Keramikschild neben der Haustür und gackert vor Lachen.

Keine unangemeldeten Besuche –

keine Vertreter –

keine religiösen Vereinigungen

Meine Schwester findet, in meiner Uniform sehe ich aus wie von der Heilsarmee. Zum Glück telefoniert sie gerade, so dass mir weitere Bonmots erspart bleiben. Sie winkt mich ins Wohnzimmer.

»Mach’s dir gemütlich.« Das ist mehr Herausforderung als Einladung, denn das Haus besteht nur aus scharfen Kanten und spitzen Winkeln – ihr selbst nicht unähnlich. Philippa telefoniert weiter.

»Nur Dot.« Sie spricht mit ihrer BBC-Telefonstimme und klingt wie eine Royal-Air-Force-Telefonistin im Zweiten Weltkrieg. Hallo, Tonbridge, Tango, Oscar, November, Bravo …

Ich steuere den einzigen annähernd bequem aussehenden Sessel an, auf dem zwei geschürzte Lederkissen balancieren.

»Nicht da – die habe ich gerade aufgeschüttelt«, gellt es aus dem Flur, bevor sie sich wieder ihrem Telefonat widmet.

Also lasse ich mich am Ende eines langen leberbraunen Sofas mit chrombewehrten Seitenteilen nieder, und schließlich drückt Philippa in einer Wolke von Puder und dem stechenden Dunst von L’Air du Temps ihre Wange an meine.

»Na, wie ist das Leben?«, fragt sie in einem Ton, als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob ich eins hätte.

»Alles tipptopp.«

Ihre Finger zucken. Immer in Bewegung, meine Schwester. Ein rasselnder Armreif, ein wippender Fuß. Ständig absprung- und aufbruchbereit zum nächsten Programmpunkt. Oder vielleicht ist sie nur bei mir so.

»Und der ›Job‹?« Ich sehe die Anführungszeichen aufglänzen wie frisch poliert. Philippa ist stets bereit, mir zu verdeutlichen, dass die von mir gewählte Laufbahn weder für Lukrativität noch für Prestige bekannt ist. Obwohl ich seit gut einem Jahrzehnt für das Fundbüro arbeite, ist meine Schwester immer noch auf der Suche nach einem »richtigen« Job für mich. Sie hat mir Stellenanzeigen für diverse unpassende Rollen geschickt, für die ich weder Interesse noch Talent habe: Bankkauffrau, Ernährungsberaterin, Radiologieassistentin. Das solltest du ausprobieren, Dot – es ist wie Fotografieren, bloß mit einer riesigen Kamera. Außerdem kannst du dann sagen, du arbeitest in der Medizin!

Ich weiß, dass Philippa ihre Freunde wegen meiner Arbeit anlügt. Bei einer ihrer Cocktailpartys unterhielt ich mich einen sehr öden Gin Tonic lang mit einem Börsenmaklerfreund ihres Mannes. Meine Schwester hatte schon länger vor, mich mit Geralds Kumpel zusammenzubringen – mein Single-Status ist ihr noch peinlicher als mein Beruf. Und Stafford erfüllte alle ihre Kriterien: großes Gehalt, großes Haus, großes Ego.

Er hatte mich in Philippas Wohnzimmer an der Glas- und Chromvitrine in die Enge getrieben und säuselte, wie aufregend mein Job sein müsse. Obwohl mich seine Nähe irritierte, gebe ich zu, dass ich von seinem Interesse an meiner Arbeit angenehm überrascht war – so etwas erlebe ich im Haus meiner Schwester selten.

»Mit Crossrail und den neuen Bahnverbindungen nach Reading haben Sie bestimmt gerade einen richtigen Boom«, sagte er.

»Ja, wir haben durchaus gut zu tun.«

Ich wurde erst stutzig, als er fragte: »Stimmt es, dass Catford das neue Hackney ist? Ist jetzt ein guter Zeitpunkt zum Investieren?«

»Ich habe nicht gelogen!«, protestierte Philippa später, als ich sie mit der Sache konfrontierte. »Ich sagte nur, dass du im Bereich ›Eigentumsmanagement‹ tätig bist – stimmt doch auch. Du bist immer so pedantisch.«

Es versteht sich von selbst, dass das die letzte ihrer Cocktailpartys war, bei der ich durch Anwesenheit glänzte.

»Der Job läuft gut«, sage ich jetzt.

Philippas Laserblick scannt den Couchtisch nach Staubkörnchen ab, dann schwenkt er über meine rechte Hand zu den Stellen, wo die ovalen Kuppen meiner Finger mit dem polierten Chrom ihres Sofas in Kontakt kommen. Ich greife noch etwas fester und abdruckintensiver zu und sehe, wie sie schaudert.

»Und, wie läuft es bei dir?«, frage ich versöhnlich.

Sofort legt sie los: der Anbau der Nachbarn (zu groß), Geralds Beförderung (nicht groß genug), Melanies Leistungskurswahl (Mathe, Mathe für Fortgeschrittene, Computerwissenschaften).

»Und Sam?«, frage ich.

Das ist der Trigger für das Armwedeln. Philippa hat einen sehr speziellen Tick. Mitten im Gespräch fängt sie an, die Arme zu bewegen, als würde sie Reinigungsspray aufsprühen und nachwischen. Sie kann nichts dafür. Am glücklichsten ist meine Schwester, wenn sie eine Flasche Sprühreiniger und ein Staubtuch in der Hand hält, Spuren beseitigt und Schmutz entfernt. Weswegen sie immer, wenn sie in eine herausfordernde oder emotionale Situation gerät – ein Labour-Kandidat an der Tür, Kaffee mit mir –, mit den Armen zu wedeln beginnt. Wenn man nicht weiß, wo es herkommt, hat es fast etwas Ballettartiges. Wenn man es weiß, ist es eine Beleidigung.

»Der Junge ist unmöglich.«

»Ist er noch in der Theatergruppe?«

»Oh, diese Geisteswissenschaften!«, wimmert sie, als wäre die Liebe meines Neffen zum Theater eine Katastrophe ähnlichen Ausmaßes wie der Absturz der Hindenburg. Ihre Arme rotieren mit doppeltem Tempo. »Was soll ihm das denn bringen?«

»Er ist doch erst zwölf.«

»Du hältst immer zu ihm, Dot. Du bist viel zu weich. Du bist genau wie …«

Ihre Arme erstarren mitten im Feudeln. Das Wort steht unausgesprochen zwischen uns im Raum.

Dad.

So sind wir, Philippa und ich, immer stoßen wir gegen unsere wechselseitigen Kanten und schlagen uns die Ecken an.

»Kaffee?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, flieht sie in die Küche und findet Trost im Trommelfeuer passenden Porzellans. Als sie wiederkommt, bleibt das Gespräch eine Weile schwankungsfrei, solange ich es durch die ruhigen Gewässer von Melanies Oxbridge-Potenzial und Philippas und Geralds letzter Kreuzfahrt steuere.

»Unsere Suite hatte bei weitem den größten Balkon, und wir waren jeden Abend an den Tisch des Kapitäns eingeladen. Es war richtig peinlich!«, schwärmt Philippa. »Und das Servicepersonal! Nichts war ihnen zu viel Mühe. Alles Polen und Rumänen, aber so was von freundlich. Und sehr großzügig beim Nachschenken.«

Doch es dauert nicht lang, und der Wind dreht sich. Ich gestehe, dass ich anfange.

»Was ich dich fragen wollte – hast du Mums Kehrblech und Besen gesehen?«

In Gedanken noch bei den berauschenden Freuden des Kapitänstischs, wedelt sie die Frage mit einer leichten Sprüh-und-Feudel-Geste weg, aber ich bleibe hartnäckig.

»Ihr altes puderblaues Kehrset – hast du es gesehen?«

»Warum sollte ich?«

»Als wir letzten Monat ihre Sachen für die Schattige Pinie gepackt haben?«

»Warum hätten wir das Ding mitnehmen sollen? Einer der Gründe, dass wir uns für die Schattige Pinie entschieden haben, ist die ausgezeichnete Hygiene dort. Du hast Mum doch hoffentlich gesagt, dass sie nicht selbst putzen muss, oder? Also wirklich!«

»Ich glaube, es geht mehr um das Ding an sich. An dem Tag, als wir sie hingebracht haben, hat sie ständig danach gefragt, weißt du noch? Ich würde es ihr gern mitbringen, wenn ich sie besuche.«

»Das alte Ding aus dem spinnwebigen Besenschrank unter der Treppe?«

Ich nicke.

»Igitt.« Philippa schaudert. »Nein, ich hab es nicht. Kannst du ihr nicht was Normales mitbringen, etwas, das sie gebrauchen kann? Was hast du gegen einen Topf Hyazinthen oder eine schöne Schale mit Trockenfrüchten für ihre Verdauung?«

»Nichts natürlich. Aber das Kehrset bedeutet ihr etwas, weil es ihr so vertraut ist, glaube ich. Sie hätte das Gefühl, ihre eigenen Sachen um sich zu haben …«

»Sie will etwas Vertrautes? Was ist mit Fotos? Büchern? Nippes – die beiden King-Charles-Spaniels aus Porzellan, die auf dem Kaminsims saßen. Potthässlich, aber doch besser als ein Kehrblech, oder?«

»Aber wenn sie das Kehrblech und den Besen hat, fühlt sie sich vielleicht mehr wie … wie sie früher war?«

»Wie soll das denn gehen? Warum bist du immer so … so …«

Jetzt geht’s los. Ich beobachte, wie meine Schwester das verbale Arsenal durchgeht, das sie für mich reserviert hat.

»Anomal? Scharfsinnig? Geistreich?«, schlage ich vor. Wir von der Heilsarmee helfen immer gern.

Sie schüttelt entnervt den Kopf. »Siehst du, du tust es schon wieder. Ständig sagst du solche Dinge. Du bist einfach irgendwie …«

Vorsicht.

»Verquer, Dot. Du bist so … verquer.«

Verquer? Ein neuer Rekrut im Arsenal.

Philippa schenkt mir Kaffee nach und dreht den Griff des Milchkännchens in meine Richtung. Bei all ihren Schwächen, die Tischmanieren meiner Schwester sind makellos. Ich stelle mir vor, wie sie auf ihren Kurztrips mit Gerald im Flugzeug wartet, bis alle Passagiere ihr Essen haben, bevor sie die Folie von dem Plastiktablett zieht und das Plastikbesteck aus der Zellophanhülle befreit.

»Bei meinem letzten Besuch hat Mum ständig von irgendeiner Maria geredet – wahrscheinlich eine der Pflegerinnen.« Philippa zwickt mit der silbernen Zange einen Zuckerwürfel ein. »Sie hat keine Ahnung, wer ihre Töchter sind, aber sie vermisst ihre alte Kehrschaufel.« In der Stille, die folgt, plumpst der Zuckerwürfel in Philippas Kaffeetasse. Wir sehen zu, wie er die Oberfläche durchschlägt, eine kleine Kanonenkugel, und zu Boden sinkt.

Es waren immer Mum und Philippa – und Dad und ich. Philippa hat Mums helle Farben und ihren zierlichen Körperbau. Ich habe Dads braune Augen und sein dickes dunkles Haar. Zwei hell, zwei dunkel, wie ein Domino-Sandwich. Am Wochenende gingen die beiden shoppen, und wir beide gingen im Garten auf Abenteuertour; freitagabends hörten wir Dads 78er-Platten, und sie sahen fern; beim Monopoly waren wir für die Gemeinschafts- und Ereigniskarten zuständig, während sie die Grundstücke und die Bank verwalteten. Eifrig leckte Philippa Zeigefinger und Daumen ab, wenn sie die bonbonfarbenen Banknoten auszahlte wie die Dame bei Barclays. Das Bankwesen machte ihr noch mehr Spaß als das Spiel.

So war es immer. Mum und Philippa, Dad und Dot.

»Wir müssen über die Besuchszeiten reden, einen Plan aufstellen«, sagt Philippa. »Wie wär’s, wenn du samstags kommst, Gerald geht sonntags mit den Kindern, und ich schaue zwischendurch vorbei, an meinen Flexi-Tagen.«

Keine Besprechung also, sondern vollendete Tatsachen.

»Und wir müssen über das Haus reden«, fährt Philippa fort, während sie die Zuckerzange öffnet und schließt, als wollte sie etwas damit fangen.

»Plant ihr noch einen Umbau?« Angesichts der neuen Terrasse ums ganze Haus und der Küchen-»Insel« wüsste ich nicht, was meine Schwester noch mit ihrem Haus tun könnte, außer vielleicht eine Flasche Champagner dagegenzuwerfen und den Kasten auf Jungfernfahrt zu schicken.

»Mums Haus«, sagt sie.

»Was ist damit?«

»Na ja, ich habe nicht das Gefühl, dass sie zurückkommen wird, du vielleicht?«

»Ich … wahrscheinlich nicht, aber …«

»Es ist genug Geld auf Mums Konto, um die erste Zeit in der Schattigen Pinie zu überbrücken, aber wir müssen an die Zukunft denken …« Die Zange schnappt auf und zu auf der Suche nach der richtigen Formulierung. »Im Moment haben wir einen Verkäufermarkt, und die Immobilie hat ein ausgezeichnetes Potenzial, um eine signifikante Dividende zu erzielen.«

In diesen Worten höre ich Gerald, laut und deutlich.

»Du hast schon mit Gerald darüber geredet?«

»Vielleicht habe ich es mal erwähnt. Immerhin kennt er sich mit Finanzen aus, und es könnte eine echte Chance für dich sein.«

»Für mich? Wenn wir die Maisonette verkaufen, bin ich obdachlos.«

»Na ja, aber du hättest Geld, um zu investieren, um dir etwas Eigenes zu kaufen. Es ist gerade die perfekte Zeit dafür.«

»Hast du nicht gerade gesagt, wir haben einen Verkäufermarkt?«

Sie seufzt. »Ich wusste, dass du es kompliziert machen würdest.«

»Ich wohne da, schon vergessen?«

»Ich weiß, ich weiß.« Die Zange zwickt schneller. »Aber du hast doch bestimmt nie gedacht, dass es für immer ist? Leute mit Demenz werden nicht wieder gesund. Wir wussten, dass wir früher oder später ein anderes Arrangement treffen müssen. Und als sie sich die Hüfte gebrochen hat …« Sie macht eine Pause vor dem Schlussplädoyer, lange genug, um mich daran zu erinnern, dass ich hier die Schuldige bin, dass Mum während meiner Wache gestürzt ist. »Na ja, dadurch kommt es jetzt eben etwas früher statt später.«

Schweigen. Die Zange schwebt. Philippa setzt einen Ausdruck auf, den sie für ein ermutigendes Lächeln hält. »Denk mal darüber nach – das könnte eine aufregende Chance für dich sein, eine Gelegenheit, dich zu verwirklichen … Ein neuer Anfang! Vielleicht an der Küste oder auf dem Land? Nichts hindert dich, ganz neue Wege zu gehen.«

»Bis auf die Tatsache, dass meine Arbeit in London ist.«

»Wie wäre es mit einer Wohnung in Paris?«

»Paris? Na ja, das Pendeln in die Baker Street wäre doch ein klein bisschen umständlich.«

»Ich meine, geh zurück nach Paris und mach etwas mit deinen Sprachen – du warst so gut darin. Und du warst dort doch glücklich.«

Der Saum eines pflaumenblauen Wintermantels, die herzzerreißende Schönheit der vom Frost in Spitze gehüllten Stadt. Die Frau vom Gemüsestand, die auf ihre kalten roten Finger hauchte. »Il fait froid!«, rief sie und stampfte mit den Füßen auf das eisige Pflaster. Dann Frühling, Paris in seiner ganzen Pracht, der Blumenkasten auf meinem Balkon im 14. Arrondissement voll starkduftender Geranien.

»Das ist eine Ewigkeit her. Ich erinnere mich kaum noch dran.«

Philippa seufzt. »Jedenfalls werde ich Greenridge, Cooper & Price anrufen, damit sie eine Schätzung machen. Sie sind extrem professionell.«

»Ich brauche noch Zeit …«

»Wir müssen da weiterkommen. Oder kannst du es dir leisten, Mums Kost und Logis zu zahlen?«

Eine Pause. Dann schnappt die Zange triumphierend zu.

»Gut«, sagte Philippa. »Also sind wir uns einig. Zeit für Veränderungen. Wir können nicht ewig auf der Stelle treten.«

Wir stehen gleichzeitig auf.

Sie bringt mich zur Tür, und wir verabschieden uns. Noch ein Stoß L’Air du Temps.

»Pass auf dich auf, Dot.« Es klingt wie eine Warnung. Am Ende der Einfahrt drehe ich mich um und sehe Philippas Silhouette in der Tür, anmutig im Abendlicht sprühend und feudelnd, als wäre ich noch da, ginge ihr auf die Nerven, machte Flecken.

 

Auf dem Heimweg bin ich etwas zittrig. Trost- und wärmebedürftig kehre ich im Laden an der Ecke ein und stocke meinen Suppenvorrat auf. Heute gibt es zwei Dosen »Suppen rund um die Welt« zum Preis von einer, und da ich weder an einem Schnäppchen noch an einer kulturellen Erfahrung einfach vorbeigehen kann, nehme ich zwei Dosen »Tandoori-Nights«.

In der winzigen Küche von Mums Maisonette ignoriere ich die Aufreißlasche und hole meinen Büchsenöffner heraus, dann wärme ich die Suppe auf und gehe mit meiner Suppenschale ins stille Wohnzimmer. Das letzte Puzzle, das Mum gekauft hat, liegt unvollendet auf dem Tisch. Es ist eine Alpenszene, ziemlich schwierig mit all dem Weiß. Perfekt, um eine aufgewühlte und angstvolle Seele zu beruhigen.

Ich setze die Berghänge zusammen, freue mich an den Nuancen von Grauweiß, Blauweiß und Weißweiß, aber selbst das majestätische Alpenpanorama kann mich nur teilweise zerstreuen. Ein Buch? Ja, vielleicht lenkt mich ein Buch von Philippas Neuigkeiten wegen des Hausverkaufs ab. Die Rettung sind meine Reiseführer. Ich habe eine sorgfältig kuratierte Auswahl liegen gebliebener Reiseliteratur aus dem Fundbüro. Reiseführer werden fast nie abgeholt, dabei sind es wahre Schätze. Ich muss gestehen, dass ich über die Jahre ein ziemliches Archiv angehäuft habe – alles dank der Piccadilly Line von Heathrow! Am schönsten sind die Bleistiftanmerkungen am Rand, die Eselsohren, die an besonders geschätzte Cafés erinnern, unterstrichene Lieblingsparks und -gärten, interessante Orte mit Ausrufezeichen, kleine Feuerwerke aus Sternen. Der gelegentliche traurige Smiley für das Café/den Spaziergang/das Hotel, die enttäuscht haben.