Der wunderbare Garten der Mrs P. - Helen Frances Paris - E-Book

Der wunderbare Garten der Mrs P. E-Book

Helen Frances Paris

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Beschreibung

Von fiesen Pflanzen, guten Freundinnen und zweiten Chancen Geheimagentin im Schrebergarten: Janet Pimm rettet die Welt Janet Pimm, 72, hat seit ihrer Pensionierung vom Geheimdienst ihren Hang zu Gründlichkeit und Hartnäckigkeit auf ihren Schrebergarten verlagert. Er ist ihr ganzer Stolz. Als in der Gartenanlage japanischer Knöterich entdeckt wird – eine invasive Art, die binnen kurzem alle anderen Pflanzen verdrängt – will die Stadt gleich die ganze Anlage dichtmachen. Doch Janet, die sich in der Botanik auskennt, vermutet Sabotage. Der Knöterich wurde eindeutig absichtlich eingepflanzt – aber von wem? Janet beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, denn als Baugrund wäre die Gartenanlage Millionen wert. Gemeinsam mit Nachbarin Beverley macht sie sich auf Spurensuche: nächtliche Sprühdosen-Aktionen und illegale Wohnungsdurchsuchungen inklusive … Eine herzerwärmende Geschichte über Freundschaft und zweite Chancen im Leben. Bei dtv ist außerdem ›Das Fundbüro der verlorenen Träume‹ von Helen Frances Paris erschienen.

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über das Buch

Janet Pimm fühlt sich unsichtbar. Seit sie aus dem Geheimdienst ausgeschieden ist, scheint sie für ihre Umwelt kaum mehr zu existieren. Doch ohnehin gehen ihr andere Menschen hauptsächlich auf die Nerven. Insbesondere ihre Nachbarin Beverley, die mit ihrem unaufhörlichen Gequatsche Janets Geduldsfaden strapaziert. Das Einzige, was Janet wirklich etwas bedeutet, ist ihr geliebter Schrebergarten. Doch als dort eines Tages Japanischer Staudenknöterich entdeckt wird, gehen alle Alarmglocken an. Denn wie ist diese invasive Art in die beschauliche Siedlung geraten?

Janet merkt schnell, dass sie Verbündete braucht, um das Rätsel zu lösen – zur allergrößten Not auch die nervige Beverley.

 

Von Helen Frances Paris ist bei dtv außerdem erschienen:

Das Fundbüro der verlorenen Träume

Helen Frances Paris

Der wunderbare Garten der Mrs P.

Roman

Deutsch von Sophie Zeitz

Für Juelette Avril Paris, meine geliebte Mum

1

Janet Pimms Chance auf ein neues Leben wäre um ein Haar mit dem Recyclingmüll entsorgt worden. Sie kauerte gerade auf dem Bürgersteig und sortierte hastig Papier und Dosen auseinander, bevor ihre Nachbarin Bev wieder einen ihrer Seniorenhilfe-Anschläge auf sie verüben konnte, als ihr eine Anzeige in einer alten Zeitung ins Auge sprang. Vorsichtig strich sie die Seite glatt und entfernte ein Blättchen Assam, das es nicht in den Komposteimer geschafft hatte. Und da stand es. Ihr Finger zitterte leicht, als sie die Worte nachfuhr.

 

Sind Sie im Ruhestand? Gärtnern Sie gern?

Und haben Sie Interesse, Ihre Begeisterung für Hortikultur

und historische Landschaften mit anderen zu teilen?

Dann haben wir genau die richtige Stelle für Sie!

 

Fast schien das vertraute Logo – die lieben, stupsnasigen Eichenblätter – ihr persönlich zuzuwinken. Janet las die Anzeige laut, ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen und ergänzte sie hier und da.

»Ihre Begeisterung für und Ihre umfassenden Kenntnisse der Hortikultur, insbesondere auf dem Gebiet der Heilkräuter und Immergrünen, mit anderen zu teilen.«

Und dann natürlich die beiden Wörter über der Anzeige, süß wie Geißblattnektar:

NATIONAL TRUST.

Die altehrwürdige Stiftung für Denkmalpflege und Naturschutz. Welch euphorischen Rausch der Name auslöste! Welch idyllische Meisterwerke der Gartenkunst er heraufbeschwor! Es war Nancy gewesen, die ihr den National Trust nähergebracht hatte. Janet, zur Sparsamkeit erzogen, war vor den Eintrittspreisen zurückgeschreckt, aber Nancy hatte ihren Protest weggewischt, und bald hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Wochenendwanderungen mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Walnusskuchen in einem der National-Trust-Gärten abzurunden.

Janet wusste, dass diese Stelle für sie bestimmt war, sie wusste es tief im Herzen. Sie spürte es als eine Sehnsucht, die aus der Brust den Hals heraufstieg bis zu den Lippen, die sich voller Vorfreude leicht öffneten und einen leisen Seufzer entließen. Seit die Sehnsucht in ihrer Brust Wurzeln geschlagen hatte, schritt Janet mit einem neuen Gefühl von Sinn durch ihr ruhiges, ausgedünntes Leben. Sie spürte, wie ihre Schultern sich strafften, sodass sie vielleicht nicht direkt übermütig, aber zumindest rüstig wirkte, und wenn sie auch nicht gerade leichtfüßig unterwegs war, so legte sie doch ein gewisses Tempo vor.

Unverzüglich rief sie die in der Anzeige angeführte Nummer an, nannte ihren Namen und erfuhr, dass Bewerberinnen und Bewerber zu einem zwanglosen Gespräch eingeladen wurden, nachdem sie ein kurzes Online-Formular ausgefüllt hatten. Den Link zu dem Formular werde sie in Kürze per E-Mail erhalten. In Kürze? Es konnte jeden Moment so weit sein! Janet rannte nach oben in das kalte Gästezimmer, zog das schützende Tuch von dem grauen Kasten ihres Computers und spähte von da an regelmäßig in ihren Posteingang, der hartnäckig leer blieb.

 

Bis heute.

 

Als sie ihr Frühstück hinuntergeschlungen hat, zieht Janet ihren alten Fischerpullover über, bewaffnet sich mit einer Tasse Assam und läuft hinauf ins Gästezimmer, zwei Stufen auf einmal nehmend, trotz ihrer Knie und des Tees, der in die Untertasse schwappt.

 

Frage 1: Warum bewerben Sie sich auf diese Stelle?

 

bietet Multiple-Choice-Antworten an, von

 

Um meine Kenntnisse und Interessen zu vertiefen

 

bis

 

Um mich für die Umwelt zu engagieren.

 

Doch Janet bleibt hängen an

 

Um Gleichgesinnte kennenzulernen und Freundschaften zu knüpfen.

 

Sie denkt eine Weile darüber nach. »Gleichgesinnte«, murmelt sie, starrt in den Dampf, der aus ihrer Teetasse aufsteigt, und streicht sich mit den Fingerspitzen über die Lippen.

Es gibt noch weitere Optionen, die mit »Zeit« und »Nützlichkeit« zu tun haben, doch Janet ignoriert sie.

Dann klickt sie »Sonstige« an, worauf sich ein kleiner Kasten öffnet, in den sie ihre eigene Antwort eintragen kann.

Sie nimmt die Schultern zurück, lässt die Finger spielen und kommt bis Um meine umfassenden Pflanzenkenntnisse, insbesondere auf dem Gebiet der Immergr…, als sich ein Warnhinweis öffnet, der sie darüber informiert, dass sie die »Zeichengrenze« erreicht habe.

Janet richtet eine Auswahl handfester, anschaulicher Kommentare an den Bildschirm, einschließlich der Feststellung, dass man offensichtlich die Kunst des verflixten Haikus beherrschen müsse, um dieses Formular auszufüllen.

Die Lage wird bedeutend besser, als sie zur nächsten Frage kommt:

 

2. Verfügen Sie über relevante Erfahrungen und Qualifikationen?

 

»Na, und ob!« Janets Finger tanzen glücklich über die Tasten.

Endlich ist alles ausgefüllt, und Janet lehnt sich zurück, liest alles noch einmal durch, und dann noch einmal, während ihr Puls schwirrt wie ein schnellfliegendes Bestäuberinsekt. Wann hat sie sich das letzte Mal so energiegeladen gefühlt? Letzten Mai, als ihre kleine Daphne odora den Wachstumsschub hatte?

Wann noch?

Nein, ihr fällt beim besten Willen nicht ein, wann sie das letzte Mal so viel … so viel … was spürt sie eigentlich?

Leben.

Sie hat, wird ihr plötzlich klar, im Schatten gelebt, eingerollt wie eine Farnspitze. Doch diese neue Berufung lockt sie aus ihrer Versenkung dem Licht entgegen. Vielleicht kommt jetzt der ersehnte Regen und stillt ihren Durst. Wäscht sie von ihren Sünden rein.

Endlich.

Sie drückt auf Senden und geht nach unten, um sich etwas zu essen zu machen. Dann bricht sie mit beschwingtem Schritt zur Kleingartenkolonie auf.

 

Janet arbeitet täglich von Punkt eins bis Punkt sechs in ihrem Garten und macht jedem, den es interessiert, deutlich, dass sie vormittags und abends an mehreren anderen Orten gebraucht wird. Um zwölf Uhr mittags isst sie ein Käse-Tomaten-Sandwich, das sie gewissenhaft kaut, und trinkt dazu eine Tasse Tee in kleinen Schlucken. Erst wenn die Uhr halb eins schlägt, bindet sie sich die Wanderschuhe zu, packt ihre Thermosflasche ein, legt zwei trockene Bath-Oliver-Cracker in die Snackbox und macht sich auf den Weg zu ihrer Parzelle in Seaview.

Ordnung und Routine. Das A und O seit ihrer Pensionierung. Nimm Ordnung und Routine weg, und du hältst dich vielleicht noch einen Moment lang auf den Beinen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis du stürzt, kopfüber ins Chaos, und dir den Oberschenkelhalsknochen brichst. Aufrecht und Immergrün, das ist Janets Motto.

Sobald sie im Garten ist, kann sie ihre Aufgaben mühelos über den ganzen Nachmittag ausdehnen. Es gibt immer etwas zu tun, das ist einer der Gründe, warum das Gärtnern so erfreulich ist. Es hält dich in der Gegenwart.

Und genau da will Janet sein.

Heute hat sie mit den Wolfsmilchgewächsen zu tun. Während sie sich um die Stauden kümmert, geht ihr die Bewerbung beim National Trust durch den Kopf, und ihre Gedanken steigen hoch wie Baumsäfte, als sie an ihre Antworten denkt und überlegt, wann und wo das Vorstellungsgespräch wohl stattfindet.

In der Seaview-Kolonie huschen die Pächterinnen und Pächter zwischen den Parzellen umher und plaudern miteinander. Nur nicht mit Janet.

»Das ist ein Wetter zum Jubilieren!«, flötet das Powerballaden-Paar von Parzelle 35 über Janets Garten hinweg zu dem Paar von Parzelle 33.

»Und Frohlocken!«, ruft es von der 33 über die Hecke zurück. »Frühling liegt in der Luft.«

Im Frühling spielen alle verrückt, denkt Janet, greift in die Gärtnerschürze, nimmt die Gartenschere heraus und entsperrt sie. Erwachsene Leute geraten wegen ein paar Knospen und Blüten in Verzückung. Menschen, die sonst keinen Schimmer von Natur haben, kriegen feuchte Augen wegen des »Farbenspiels« und machen unaufhörlich Fotos von Fliederrispen in Parmaveilchen-Lila. Jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung vom Gärtnern hat, weiß, dass das Farbenspiel kein Spiel ist; es geht um Sex und Tod. Nicht, dass Janet etwas gegen den Frühling hätte. Im Gegenteil, sie begrüßt seine Direktheit sogar.

Besonders beeindruckt sie das Verhalten der Blumen gegenüber ihren Bestäubern. Ihre Lieblingsblume ist der Bienen-Ragwurz mit seinen silbrig schimmernden Blättern, der so lange wartet – die Pollen zurückhält –, bis sein Bestäuber, die schneidige männliche Holzbiene, die Flügel exakt auf der Schwingungsfrequenz des C vibrieren lässt. Erst wenn die Biene den gewünschten Ton erreicht hat, lässt sich der Ragwurz erweichen und gibt einen Schwall seines goldenen Blütenstaubs frei.

»Bravo!«, sagt Janet, als sie bei der Hege der Wolfsmilch innehält und sich die Szene vorstellt. Vielleicht ist es so ähnlich, wie zu Chopins Nocturne in cis-Moll Liebe zu machen?

»Janet, hätten Sie einen Moment?« Am grasbewachsenen Rand von Janets Parzelle steht Patrice, die Vorsitzende der Seaview-Kolonie.

Janet zuckt zusammen und wird rot. Wie lange steht Patrice schon da? Patrice ist eine richtige Gärtnerin. Gelegentlich verweilt Janet vor Patrice’ Parzelle, bewundert das stattliche Grün ihres Grünkohls, die üppige Pracht ihres Blumenkohls und den ehrgeizigen Eifer ihres Wasabi. Patrice ist Mitte sechzig, also ein paar Jahre jünger als Janet. Sie zieht sich auch an wie eine richtige Gärtnerin: erdfarbene Cordhosen, Arbeitshemden aus ungebleichtem Baumwolldrillich, robuste Lederstiefel. Vielleicht möchte sie sich Janets Magnolia grandiflora ansehen? Die sieht heute Nachmittag besonders schön aus, die kupferfarbene Unterseite der Blätter glänzt wie das Seidenfutter einer eleganten Smokingjacke. Janet fährt sich schnell mit der behandschuhten Hand über das silberne Haar, hofft, dass sie sich dabei keinen Matsch auf die Stirn geschmiert hat, und geht auf Patrice zu.

Aber Patrice’ sonst so freundliches Gesicht ist angespannt, und ihre Augen – ein richtiges frühherbstliches Esskastanienbraun – wirken besorgt.

»Leider gab es eine … Beschwerde. Von Nick und Mary.«

Verdammt, wer sind noch gleich Nick und Mary? Janet runzelt die Stirn, und Patrice zeigt auf Parzelle 33. Ah, die Nachbarn im Osten.

»Offenbar haben Sie ihnen einen ›Haufen Scheiße‹ in den Garten gestellt?«

Janet nickt begeistert. Ja, das hat sie (und der Dank steht noch aus!).

»Ich habe erste Anzeichen von Mehltau an ihren Tomaten bemerkt, also habe ich einen Topf meines Rinderdung-Tees für sie angesetzt – dachte, sie könnten die Pflanzen noch retten, wenn sie ihnen eine kräftige Dusche damit geben.«

»Ach so. Ich verstehe.« Unbehaglich tritt Patrice von einem Bein aufs andere. »Das Problem ist, haben Sie das Nick und Mary auch erklärt? Weil sie offenbar denken, Sie hätten ihnen den Eimer hingestellt … um sie zu ärgern.«

»Sie zu ärgern?« Janet zieht die Stirn kraus. Es war nicht nur ein besonders guter Rinderdung-Tee – wie man schon am stechenden Geruch erkannte –, sie hat auch mehrere wichtige Aufgaben auf ihrer eigenen Parzelle vernachlässigt, um ihn zuzubereiten. Außerdem hatte sie ihn den beiden in ihrem besten geriffelten Zinkeimer kredenzt, den sie, möchte sie anmerken, immer noch nicht zurückbekommen hat.

»Anscheinend hat es kürzlich eine … Auseinandersetzung gegeben. Wegen der Hecke?« Patrice zeigt auf den Weißdorn, der zwischen beiden Parzellen wächst.

»Wir sind nicht handgreiflich geworden, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe sie nur darüber informiert, dass sie die Hecke nach Beginn der Nistzeit nicht schneiden dürfen, weil sonst die Spatzen nicht zu ihren Nestern zurückkehren, und …« Janet hält inne, ballt die Hände in den Handschuhen zu Fäusten und räuspert sich. »Und damit haben sie die Jungvögel praktisch ermordet.« Sie sieht es vor sich: die hungrigen, im Stich gelassenen Jungvögel, die nach ihrer Mutter rufen. Doch die kommt nie mehr zurück. Janet muss schlucken.

»Ich verstehe.« Patrice nickt, aus ihrem Blick spricht Mitgefühl. »Es ist nur so, dass sie wohl dachten, die Schei-, ich meine der Dungtee wäre eine Art … Rache. Dass Sie sich einen Scherz erlaubt hätten.«

Janet starrt Patrice an. Warum sollte ihr in so einer Sache nach Scherzen zumute sein?

»Ich weiß, dass Sie es nicht böse gemeint haben«, sagt Patrice mit ihrer wunderschönen warmen Stimme. Sie streckt ihr die Hand entgegen.

»Nicht anfassen!«, schreit Janet und weicht zwei große Schritte zurück. Wolfsmilchsaft ist extrem unangenehm, wenn man ihn in die Augen bekommt. Sie ist durch Handschuhe und Schutzbrille geschützt, Patrice nicht.

Patrice lässt die Arme sinken, und ihre Stimme klingt nicht länger wie eine wärmende Strickjacke. »Das Problem ist, es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Da war der Vorfall mit Lakshmis Rosen. Mit Mickeys Unkraut.«

Daher weht der Wind.

Als Janet mitbekommen hatte, wie Lakshmi mit der Schlagkraft und dem Eifer des Henkers aus dem Londoner Tower ihre Lady-Jane-Grey-Rosen köpfte, hat sie aus Leibeskräften STOPP! gebrüllt. Im Nachhinein betrachtet war ihr Ton vielleicht schärfer ausgefallen, als sie beabsichtigt hatte. Natürlich wollte sie Lakshmi nicht erschrecken, und vor allem wollte sie nicht, dass Patrice schlecht von ihr denkt. Dabei konnte ein Hagebuttentee bei Lakshmis Gelenkschmerzen Wunder wirken. Die Frau ist ausgesprochen fleißig, aber Janet kann gar nicht mehr zählen, wie oft sie schon gesehen hat, dass Lakshmi innehält, um sich die schmerzenden Handgelenke und Schultern zu massieren. Wenn Lakshmi ihre Rosen köpft, kann sie niemals die kostbaren heilkräftigen Hagebutten ernten.

Mickey und seine verdammten Stachelbeeren hingegen sind eine ganz andere Geschichte.

»Mit seiner Neigung, Dinge zu vernichten, erinnert der Mann mich an Stalin!«, sagt Janet, um Patrice auf ihre Seite zu ziehen. »Der Kerl hat die Brennnesseln ausgerissen, als würde er einen Pfad durch den Dschungel auf Borneo schlagen.« Janet hatte den Mund gehalten, solange sie konnte. Und dann konnte sie nicht mehr. »ES. GIBT. KEIN. UNKRAUT. IN. DER. NATUR«, hatte sie Mickey angeschrien. Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Stimmung danach getrübt war.

Janet will, dass Patrice versteht. Wie gerufen summt eine gefällige Biene vorbei, die pollenselig von Löwenzahn zu Tulpe fliegt. »Hier, sehen Sie! Bestäuber diskriminieren nicht! Nur die Menschen sind davon besessen, ›Kraut‹ von ›Unkraut‹ zu unterscheiden und zu bestimmen, wer bleiben darf und wer gehen muss! Das ist völlig willkürlich! Brennnesseln haben so viele gute Eigenschaften!« Sie zählt sie an den behandschuhten Fingern ab. »Blutdruck, Muskelschmerzen, ganz zu schweigen von der Prostata, wie ich Mickey extra erklärt habe.« Janet starrt Patrice durch die Schutzbrille an. »Gerade in seinem Alter und bei seinem Bauchumfang können ihm Brennnesseln nur guttun.«

»Ich verstehe Ihren Standpunkt«, sagt Patrice und nickt bedächtig. »Es ist nur so … wir müssen den Leuten hier zugestehen, dass sie auf ihren Parzellen ihre eigenen Entscheidungen treffen.«

Eine Pause entsteht, und Janet befürchtet, dass sich Patrice gleich umdreht und geht. Doch Patrice streckt die Hand aus, um Janets Artischocke zu berühren. Das silbrige Grün leuchtet förmlich vor ihrer dunklen Haut. »Nicht alle sehen die Pflanzen so wie Sie, Janet«, sagt Patrice leise, bevor sie sich verabschiedet.

Janet sieht ihr nach, wie sie auf dem grasbewachsenen Weg zwischen den Parzellen davongeht und schließlich hinter einer Reihe von Geräteschuppen verschwindet.

 

Als Janet die Wolfsmilch endlich versorgt hat, hält sie noch Ausschau nach Weißen Fliegen, dann nimmt sie die Brille ab und zieht die Handschuhe aus, setzt sich in den Gartenstuhl und holt die karierte Thermosflasche heraus. Tee plätschert in den Becher. Nicht alle sehen die Pflanzen so wie Sie, Janet. Ist das gut? Sie hofft es. Seit sie die Parzelle in Seaview übernommen hat, hat Janet versucht, ihre Kenntnisse mit der Kleingärtnergemeinde zu teilen, ihr Wissen um die unendlichen Möglichkeiten und Wunder der Pflanzenwelt wie Pollen zu verbreiten. Und wie sie es versucht hat! Doch trotz bester Absichten scheinen ihre Bemühungen immer nach hinten loszugehen. Janet schüttelt den Kopf und tunkt einen Bath-Oliver-Cracker in den Tee. Die Sonne wärmt ihre schmalen Wangen, und sie atmet den freundlichen Duft des Salbeis ein. Um sich von den verschiedenen Vorfällen abzulenken, bei denen sie die anderen möglicherweise vor den Kopf gestoßen hat – und was am schlimmsten ist, Patrice –, konzentriert sich Janet auf ihre künftige Stelle beim National Trust und auf all die Menschen, die sie dort kennenlernen wird. Plötzlich entfaltet sich vor ihr eine Zukunft voller Möglichkeiten. Dabei wäre ihr die Anzeige an jenem Tag fast entgangen, entfleucht wie ein Löwenzahnsame, der aus ihrem Blickfeld davonschwebt. Die Vorstellung, wie leicht ihr diese Chance hätte entgehen können, bereitet ihr körperliche Schmerzen.

Lachen klingt über die Hecken herüber. Janet beschirmt die Augen und sieht sich um. In der Nähe des vorderen Eingangs, nicht weit von Patrice’ Parzelle und dem Schuppen, wo Rasenmäher, Motorsensen und Schubkarren ausgeliehen werden können, hat sich eine ziemlich große Gruppe im Halbkreis niedergelassen und lauscht einem Vortrag. Wahrscheinlich irgendein Blödsinn, den diese schreckliche Felicity Kendal und ihre Clique angezettelt haben, und auf jeden Fall nichts, was Janet interessieren würde, hätte sich jemand die Mühe gemacht, sie einzuladen. Kreative Körbchen-Kunstwerke!, Pfiffige Pfingstrosenwunder! oder womöglich Herrliche Hängekörbe – entzücken, ohne sich zu bücken! Bedauerliche Basteleien aus abgedroschenen Adjektiven. Ganz zu schweigen von der schmerzhaften Ausrufezeichenschwemme. Was zum Kuckuck hat das mit Gartenarbeit zu tun? Warum dann nicht gleich Pulsierende Pracht promisker Petunien! Außerdem, was da auch Dämliches los sein mag, Janet hat sowieso keine Zeit.

Wieder wird Gelächter über die Gärten getragen, und Janet späht genauer hin. Du liebe Güte, werden da etwa Erfrischungen gereicht? Kuchen? Ihr Magen knurrt. Janet hat eine Schwäche für ein schönes Stück Walnusskuchen. Sie wischt sich die bleichen Krümel des Crackers von der Schürze. Bla bla blöder Blechkuchen bla. Wenn sie erst ihren neuen Job hat, warten gleich mehrere Vergünstigungen auf sie: Nicht nur wird ihr die Uniform kostenfrei gestellt, außerdem können Mitarbeitende in den Cafés des National Trust Speisen und Getränke mit einem erheblichen Preisnachlass erwerben! Und das bedeutet, dass Janet stets eine köstliche Auswahl qualitativ hochwertiger Backwaren zur Verfügung stehen wird. Juhu! Beim National Trust kann Janet noch einmal ganz neu anfangen, ein neues Kapitel aufschlagen an einem Ort, wo ihre Kenntnisse der Pflanzenwelt willkommen sind. Dort wird alles anders werden.

Jetzt, da das Online-Formular abgeschickt ist, muss sie sich auf die nächste Phase der Bewerbung vorbereiten: das Vorstellungsgespräch. Auch wenn von »zwanglos« die Rede war, weiß Janet, dass man nie zu gut vorbereitet sein kann. Weswegen sie längst damit begonnen hat, im Geiste an einem ausführlichen Vortrag zu feilen. Denn man kann immer noch ein bisschen mehr tun, sich ein bisschen mehr anstrengen. So hat es Janet stets gehalten. Hart arbeiten, Überstunden machen, sich ins Zeug legen. Diese Strategie hat sich bei ihr in jungen Jahren bewährt – Bestnoten in der Schule, die Erste in der Familie, die an die Uni ging, danach direkt eine gute Stellung beim GCHQ, dem britischen Nachrichten- und Sicherheitsdienst. All die Jahre bei der Behörde, in denen sie über jedes i-Tüpfelchen wachte, nichts dem Zufall überließ. Alles lief wunderbar.

Bis alles auseinanderfiel.

Aber das wird diesmal nicht passieren. Diesmal wird alles gut ausgehen. Es muss.

Janet sitzt kerzengerade da. Sie weiß genau, was sie zum Vorstellungsgespräch tragen wird: das Tweedkostüm, das zufälligerweise exakt den gleichen Grünton wie die Uniform des National Trust hat, womit sie unterschwellig die Botschaft sendet, sie würde schon dazugehören. Elementare Psychologie! Sie hebt die Tupperware-Tasse zu einem kleinen Toast.

Janet Pimm hat nichts verlernt.

 

Seit dem Vorstellungsgespräch ist über eine Woche vergangen, und Janet schiebt stirnrunzelnd eine Schubkarre mit Kompost zu ihrer Parzelle.

»Alles in Ordnung, Janet?«, ruft Patrice. Aber Janet hört sie nicht. Sie starrt auf das wackelige Häufchen Kompost.

Sie hätte längst vom National Trust hören müssen. Kurz bleibt sie stehen, stellt die Schubkarre ab und ruft sich den Tag des Gesprächs in Erinnerung. Sie war in ihr jagdgrünes Kostüm und die blitzblank geputzten Oxfordschuhe geschlüpft, hatte die ausgebleichte lederne Aktentasche abgestaubt und einen Kugelschreiber, einen Spiralblock und Reiselektüre eingepackt – auch wenn sie natürlich jede Minute der Zugfahrt dazu nutzte, ihre Notizen für das Vorstellungsgespräch durchzugehen. Ja, sie hatte gehofft, die Formalitäten würden auf einem der stattlichen Anwesen stattfinden – in Scotney Castle vielleicht, einem hervorragenden Beispiel für den pittoresken Stil, oder in einem Park wie Emmetts Garden mit seinen besonders hübschen exotischen Gewächsen. Selbst Kiplings alter Tummelplatz Bateman’s wäre nicht schlecht gewesen. Dagegen war die Regionalverwaltung des National Trust in einem Fertigbau-Konferenzzentrum in Icklesham eine ziemliche Enttäuschung.

Beim Vorstellungsgespräch legte sie dar, dass sie gern Führungen machen und deren Inhalt selbst gestalten würde. Sie würde sich nicht mit unnützen Belanglosigkeiten aufhalten wie den Namen elisabethanischer Erben, dem Datum, zu dem der National Trust die Verwaltung des Anwesens übernommen hatte, wie viele Billardtische und Perückenzimmer es gab und ähnlichem Blabla. Nein. Das Hauptaugenmerk von Janet Pimms Führungen würde auf Immergrünen und Heilkräutern liegen. Sie hatte von sich aus vorgeschlagen, dass sie zwischen verschiedenen National-Trust-Anwesen pendeln könne, um eigens konzipierte saisonabhängige Gartentouren durchzuführen (wofür sie nur einen bescheidenen Reisekostenzuschuss verlangen würde). Sie könne, hatte sie ausgeführt, ausführlich über die Buchsbaumhecke in Hidcote sprechen, die zu Säulen gestutzten Eiben in Pillar Garden, die Koniferen, die pfahlartige Palisaden-Wolfsmilch. In Sissinghurst könne sie detailliert auf den winterharten Sternjasmin mit seinen glänzenden ovalen Blättern eingehen. Sie hatte so viel Wissen zu vermitteln! So viele Geheimnisse zu teilen. Die Dame hatte sie sichtlich überwältigt angestarrt.

Janet hatte sich in ihrem grünen Zweiteiler so schick gefühlt, und es war so erfrischend gewesen, endlich einmal Aufmerksamkeit zu bekommen. Was für ein Tag! Es hätte wirklich nicht besser laufen können. Also, wo bleibt der Brief? Janet packt die Schubkarre fester und trottet mit schweren Schritten zu ihrer Parzelle. Auch wenn man zwei Tage einrechnete, die der Papierkram braucht, um bei der Personalabteilung zu landen, und dann einen Tag in der Post – höchstens zwei, falls er zweiter Klasse geschickt wird (aber mal ehrlich? Der National Trust?) –, hätte der Brief vor drei Tagen ankommen müssen. Immer wieder hat Janet irgendeinen Grund gefunden, nach unten in den ungeheizten Flur zu laufen – weil sie die Strickjacke aus dem Garderobenschrank brauchte, weil sie nachsehen wollte, ob das Licht in der Toilette wirklich ausgeschaltet war – und einen Blick auf die Fußmatte aus Kokosfaser unter dem Briefschlitz zu werfen. Sie hat mit einem gelben Staubtuch in der Hand am großen Fenster im Wohnzimmer gestanden und auf den Briefträger gewartet. Doch während die Fensterbank inzwischen glänzt, hat sich der Brief mit dem Eichenblatt-Logo bisher nicht eingestellt.

Als sie gestern in der Küche zu Mittag aß, hörte sie eindeutig das Quietschen der Briefkastenklappe und stürzte mit dem Sandwich in der Hand in den Flur. Und welche Freude! Aus dem Schlitz ragte ein weißes Dreieck wie das gehisste Segel einer Jacht, die neuen Abenteuern entgegenstrebt. Aber es war nicht der Brief vom National Trust. Es war ein Flyer, der eine in Kürze anstehende Inszenierung der Mausefalle durch die East Sussex Players ankündigte, mit einem Foto des örtlichen Metzgers samt falschem Schnurrbart und Homburg, der durch ein Monokel einen blutigen Dolch anstarrt. Auf der Rückseite stand in unordentlicher Kugelschreiberschrift: KÖNNTE LUSTIG WERDEN! BEV.

Janet knüllte den Flyer so heftig zusammen, dass sie dabei ihr Sandwich fallen ließ. Die Brotscheiben flogen auseinander, geriebener Cheddar schneite auf den Boden, und die Tomatenscheiben klatschten auf die kalten Fliesen.

Heute ist sie sogar hinaus zum Tor gegangen, als der Briefträger vorbeikam, und hat ihm hinterhergerufen.

Ob er sicher sei? Vollkommen sicher? Gar nichts für Hausnummer 11?

Der Briefträger zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.

Vielleicht liegt die Verzögerung an einem Verwaltungsrückstau, ist bloß eine dieser banalen bürokratischen Hürden. So etwas kommt vor. Also schön, sei's drum. Morgen? Ja, Janet nickt zuversichtlich, morgen ganz sicher. Sie gibt dem Schubkarren einen kräftigen Stoß und biegt in den Grasweg ein, der zu ihrer Parzelle führt. Morgen. Sobald sie das offizielle Schreiben in Händen hält, ist alles gut. Wahrscheinlich wollen sie, dass sie sofort anfängt. Sie wird um eine Arbeitszeit von Donnerstag bis Sonntag bitten, damit sie von Montag bis Mittwoch den ganzen Tag im Garten arbeiten kann. Den Garten würde sie natürlich niemals aufgeben.

Ob ihr die Uniform vorher per Post zugestellt wird, damit sie sie bei Amtsantritt tragen kann, oder wird sie an ihrem ersten Tag zum Abholen bereitliegen? Vielleicht hängen schon eine grüne Schürze und Gärtnerhosen mit Kniepolstertaschen in Sissinghurst für sie am Haken! Die Schubkarre rattert fröhlich über den Weg. Janet stellt sich vor, wie die Gruppe am Treffpunkt auf sie wartet, bereit, ihr zu folgen, jedem ihrer Worte zu lauschen. Großmütig wird sie eine oder zwei Minuten auf Zuspätkommende warten, aber sobald sie aufbrechen, wird sie auf ein zügiges Tempo achten, damit den Leuten klar wird, dass sie Teil von etwas Wichtigem sind, von etwas, das es zu würdigen gilt. Janet wird ihren Schäfchen nichts vorenthalten. Sie wird ihnen alles erzählen, was sie über Pflanzen weiß.

Dann wird ihr tiefsinnigster sozialer Austausch der Woche nicht länger in der Beantwortung von Fragen bei Gardeners’s Question Time bestehen – wenn etwa Leroy aus Pontypridd sich im Radio nach der besten Methode erkundigt, um wilden Knoblauch loszuwerden: »Iss ihn auf, du Blödmann!«

Nein, JP schlägt ein neues Kapitel auf. Endlich.

 

Gleichgesinnte kennenlernen und Freundschaften knüpfen?

 

O ja, bitte.

2

In den vierzehn Tagen seit Janets Vorstellungsgespräch hat sich der Koriander ausgebreitet, und die Zitronenmelisse erfüllt die Luft mit ihrem Duft, doch der Brief vom National Trust lässt auf sich warten. Janet bleibt zuversichtlich. Lenkt sich ab, werkelt eifrig. Allein heute Nachmittag hat sie Borretsch gepflanzt, Brennnessel-Beinwell-Dünger angesetzt und den Boden für ein neues Kräuterbeet vorbereitet. Sie sticht das Spatenblatt in die Erde und lockert schwere Lehmklumpen. Stechen und wenden, stechen und wenden. Sie spürt ein Ziehen im Bizeps, ein Brennen in den Oberschenkeln. Beim Umgraben stellt sich Janet vor, wie sie ihre wissbegierige Gruppe an den Staudenrabatten von Biddulph Grange entlangführt und mit ihren neuen Kollegen Gärtner-Anekdoten austauscht. Stechen und wenden, stechen und wenden. Jeden Tag kann es jetzt so weit sein, der Brief wird kommen.

»Wir haben eure Rettich-Rekordernte bewundert!« Das Powerballaden-Paar wirft Plauderfetzen über Janets Kopf hinweg zu dem Rinderdung-Pärchen auf ihrer anderen Seite.

»Wir teilen gerne!«, werfen die Rinderdungs zurück.

Die Sache beim Altwerden, denkt Janet beim Schaufeln, ist, dass man mit dem Alter unsichtbar wird. Vor allem, wenn man eine Frau ist.

WIE WÄR’S DAMIT?, hatte ihre Nachbarin Bev auf den neuesten Flyer gekritzelt, den sie ihr heute Morgen in den Briefschlitz gesteckt hat. »Ganz bestimmt nicht«, murmelt Janet und wirft den Flyer in den Mülleimer. Diesmal ist es die Theateradaption von Paradise Lost: ein Hochglanzbild von Eva (als Schlampe), Satan in Form einer Schlange (mit Wampe) und einem Apfel (ein Bramley! Ausgerechnet ein Kochapfel!). Bev scheint unter dem falschen Eindruck zu stehen, Janet wäre ein tattriges, verhutzeltes Weiblein, das dringend unter Leute muss, eine einsame Alte, die sich so sehr nach Gesellschaft sehnt, dass sie sich sogar die nächste abgedroschene Farce der örtlichen Amateurtheatergruppe ansehen würde, altbacken wie eine Biskuitrolle vom Silbernen Thronjubiläum. Was weiß Bev schon vom Altwerden? Wahrscheinlich ist sie noch keine fünfzig. Versuch’s mal mit zweiundsiebzig! Janets Fingerknöchel werden weiß, während sie den Spatenstiel im Würgegriff hält. Gemeindezentren, Bingo-Abende, Kirchentreffen – wie kommen die Leute darauf, dass alte Menschen so was mögen? Ständig werden sie abgeführt an Orte, die dringend mal durchgeputzt gehörten und wo die Milch immer kurz vor dem Sauerwerden ist. Bis auf ihre Knie ist Janet in hervorragender Verfassung, und das nicht nur für ihr Alter, vielen Dank! Bevs Mitleidsgedöns hat sie nicht nötig. Ihr Gehirn funktioniert noch einwandfrei. Sie hat eine aufregende Karriere hinter sich – ist seinerzeit hinter den Eisernen Vorhang gereist! Aber das sieht ja keiner. Tatsächlich gibt es Tage, an denen überhaupt niemand Janet zu sehen scheint. Janet beißt die Backenzähne so fest zusammen, dass ihre Plomben klingeln. Unter dem widerspenstigen silbernen Haar wird ihr Gesicht noch etwas kantiger.

Das war einer der Aspekte, die Janet an der National-Trust-Anzeige so angesprochen haben. Sie waren explizit auf der Suche nach älteren Menschen; sie wissen die Erfahrung und die Expertise, die diese zusätzlichen Jahre mit sich bringen, zu schätzen. In der Pflanzenwelt, denkt Janet, als sie sich einen Moment auf den Spaten stützt, um ihren schmerzenden Rücken zu entlasten, wird das Alter verehrt. Man muss sich nur ansehen, wie die Leute in die Redwood-Urwälder strömen oder wegen uralter Eichen verrücktspielen, und erst der Aufstand, den sie wegen der fünftausendjährigen Fortingall-Eibe machen! Bei Gärtnerinnen ist es doch ähnlich – Erfahrung ist ein Vorzug. Hat sie nicht erst neulich in der Zeitung von einem Hundertvierjährigen gelesen, der nicht nur immer noch im Garten arbeitet, sondern auch auf Social Media seine besten Tipps mit einer neuen Generation teilt?

Janet nickt zufrieden, wischt sich die Stirn ab und nimmt sich einen Moment Zeit, um ihre immergrünen Pflanzen zu bewundern. Wie viel Freude sie ihr bringen. Die Beziehung, die man mit Pflanzen eingeht, ist symbiotisch – ein Geben und Nehmen. Eigentlich ist es, wie Kinder großzuziehen, überlegt sie, vor allem am Anfang, wenn der Setzling vollkommen abhängig von dir ist, deine ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit verlangt. Das liebe wackelige Köpfchen, das gestützt werden muss, der kleine zerbrechliche Körper, für dessen Nahrung und Schutz du verantwortlich bist. Wie hypnotisiert fieberst du bei allen ersten Malen mit: der erste Trieb, das erste Blatt, die erste Knospe. Du befestigst den schlaksigen, wachsenden Körper an einem Stecken und siehst zu, wie er lossprießt, wie ein Kind bei seiner ersten Fahrradfahrt mit Stützrädern. Wusch! Janet bückt sich, um einen jungen Pfefferminzwedel zu streicheln, der sie an der Wade kitzelt. Sie fährt mit den Fingern über den weichen Flaum des neuen Blatts, atmet den vertrauten Geruch ein, frisch wie Zahnpasta. Sie schließt die Augen und verliert sich kurz in Erinnerungen. Dann richtet sie sich mit einem tiefen Seufzer wieder auf. Auch wenn sie groß sind, bleiben die Pflanzen genau da, wo du sie eingepflanzt hast. Ihre Immergrünen werden sie nie verlassen.

Sie brauchen nur ein bisschen Liebe. Ist das zu viel verlangt? Janet schenkt all ihren Pflanzen Liebe, von der Ackerwinde bis zur Zinnie. Aber sie kann es nicht leugnen: Ihr Herz schlägt besonders für die Immergrünen. Natürlich erfreut sie sich wie jeder andere auch an der Schönheit der herbstlichen Laubfärbung, doch das rostrote Aufleuchten, das letzte orangefarbene Aufbäumen, das magentafarbene Flackern, das im Fallen bereits verblasst, hat für Janet auch etwas zutiefst Trauriges. Das lateinische Wort deciduus für laubabwerfende Pflanzen kommt von decidere – fallen, schwinden, sterben. Janet mag es nicht, wenn Dinge fallen. Janet will, dass alles aufrecht und robust bleibt. Immergrüne Pflanzen sind perfekt; sie verlieren nicht mit den Jahreszeiten ihr Kleid und stehen nie ohne irgendeine Form von Blättern da. Sie bleiben, wie sie sind, und behalten ihre Farbe. Immergrün ist lebenslang, eben für immer. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Also gut, was jetzt? Janet braucht schnell die nächste Aufgabe, um nicht zum x-ten Mal über den ausbleibenden National-Trust-Brief zu grübeln. Noch etwas säen? Ja, Säen wäre eine schöne Abwechslung zum Graben. Janet bindet sich die Gärtnerschürze neu und geht das bunte Sortiment in ihrer Schürzentasche durch: Gartenschere, Pikierstab, Gartenschnur, Pflanzkelle. Als sie tiefer hineingreift, umschließt sie eine Handvoll Samen, warm von ihrem Körper. Sie hat gern Saatgut in der Schürze, mag die Möglichkeit neuen Lebens, die sie immer bei sich trägt. Mit Daumen und Zeigefinger zählt sie einige Samen ab und drückt sie in einer Anzuchtschale in dunkle Erde, die reichhaltig wie Schokolade ist. Mit Adams altem Babylöffel misst sie den Algendünger ab, den sie in die Gießkanne gibt, dann gießt sie die Samen an und stellt sie vorsichtig unter eine ihrer selbstgebauten Frühbeethauben.

 

Als Janet das nächste Mal aufsieht, wirft die Spätnachmittagssonne lange Schatten über Seaview. An den Rändern der Kleingärten stehen Geräteschuppen und Gewächshäuschen wie die Häuser auf einem Monopoly-Brett. Am Horizont erhebt sich dräuend Beachy Head über dem Wasser wie ein Geheimnis, das einem keine Ruhe lässt.

Janet beobachtet, wie die anderen Gärtnerinnen und Gärtner sich gegenseitig besuchen und angeregt plaudern. Krethi und Plethi nennt sich heutzutage Gärtner, aber wissen sie überhaupt, was Hege und Pflege bedeuten? Nein, ganz sicher nicht. Sobald eine Pflanze vermeintliche Anzeichen von Schwäche zeigt, reißen sie sie heraus und stopfen eine neue in das Loch, etwas Jüngeres, Frischeres. Die Leute verstehen nicht, dass es beim Gärtnern um Hingabe geht. Um Treue. Statt Leben zu fördern, verbringen sie ihre Zeit damit, penibel ihre Grenzen abzustecken, ihr Gebiet zu markieren. Im Herzen immer noch Kolonialisten, denkt Janet mit einem verächtlichen Schnauben.

Janet sieht zu Parzelle 40 gegenüber. Die wie mit einem Lineal gezogene Einfassung sagt schon alles. Es gibt nichts Schöneres für Mickey, als mit einer Halbmondklinge an seinem Grasrandstreifen herumzuschneiden, sein Territorium kenntlich zu machen. Erde siebt er mit der Hand, du lieber Himmel. Und seine Pflanzen? Kein bisschen Fantasie. Frühling, Sommer, Herbst und Winter – immer schnippelt er an seinen Stachelbeersträuchern herum. So vorhersehbar wie Vivaldi.

Nicht, dass Janet etwas gegen Vivaldi hätte. Bei dem Gedanken an Musik schweift ihr Blick von Mickeys manikürtem Grenzstreifen zu Parzelle 35, wo eine Reihe silberner CDs von Bambusstecken im Wind baumeln, um die Vögel zu vertreiben. Céline Dion, Bonnie Tyler und Jennifer Rush schwingen und tanzen in der Brise. Janets Mundwinkel rutschen nach unten. Dem Powerballaden-Paar von Nummer 35 scheint es überhaupt nicht peinlich zu sein, Gott und der Welt ihren Geschmack zu präsentieren. Das ist doch keine Musik, Leute – das sind Menschen, die ihre Gefühle öffentlich zur Schau stellen! Aber auch Janet hat eine musikalische Vorliebe: Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2. Oh, diese Leidenschaft, die Sehnsucht in jeder Note! Sie zieht den Spaten aus der Erde, drückt ihn an die Brust. Schließt die Augen. Ihr Lieblingsteil ist der zweite Satz. Erst das Klavier, da da da dam dam dam da da, dann die Flöte – die reine Schönheit tönender Luft, perfekt kontrolliert durch das filigrane Mundstück, unbefleckt wie ein erster Kuss. Janets Lippen bewegen sich.

»Huhu!« Eine schrille Stimme platzt dazwischen.

Janet zuckt zusammen, stößt den Spaten schnell wieder in die Erde, und als sie sich umsieht, entdeckt sie Feliziege Kendal, die in ihrem Rüschenkleid aussieht wie eine aufgeblasene Großkopf-Hortensie. In einem handgeflochtenen Weidenkorb, der an ihrem Arm hängt, trägt sie einen perfekt arrangierten, im Laden gekauften Blumenstrauß spazieren. Felicity mustert Janets Garten und verzieht das Gesicht.

»Oje, Ihr Unkraut ist in diesem Frühjahr ja ganz außer Rand und Band! Ich schätze, es ist eine Menge Arbeit für Sie ganz allein«, flötet Felicity und zeigt dabei all ihre perlweißen Zähne.

Feliziege Kendal und ihre geblümten Freundinnen haben ihre Gärten in einer Ecke der Kolonie, die Janet für sich »Belgravia« nennt, unschwer zu erkennen an den pistaziengrünen Royal-Horticultural-Society-Bänken und den lächerlich unpraktischen Cath-Kidston-Utensilien mit Blumenmotiven. Die Belgravia-Clique taucht meistens dann auf, wenn der Gemeinschafts-Pizzaofen angeheizt wird oder wenn die Sonne scheint, um hier die Stunden zu verbummeln, während einer der Männer ihre Grasstreifen mäht.

Das nennt man Tratschen, nicht Gärtnern, Leute.

Janet kommt bei jedem Wetter in den Garten. Wie Patrice ist sie Kleingärtnerin mit Leib und Seele, nicht nur halbherzig dabei. Janet würde man nie dabei erwischen, wie sie herumsteht und über Erdbeer-Baisers schwadroniert oder was zum Teufel sonst sie da schwatzen. Janet ist viel zu beschäftigt.

»Ich liebe meinen Garten im Frühling!«, sagt Felicity. »Farben in Hülle und Fülle!«

FZKs Gartenkenntnisse sind so beschränkt wie ihre Redewendungen. Wortwahl! würde Janet am liebsten in Rot auf einen Zettel schreiben, doppelt unterstrichen, und ans Fenster von Felicitys pistaziengrünem Schuppen kleben.

»Ein rosa Akzent hier und da würde Ihren Garten auch gleich fröhlicher machen, meinen Sie nicht?«, zwitschert FZK weiter. »Vielleicht in dem trübseligen Beet da vorne.« Sie zeigt mit dem manikürten Finger vorwurfsvoll auf Janets Fatsia japonica, die im Spätnachmittagslicht in einem zarten Chartreuse-Ton schimmert, Wassertropfen funkeln auf den fingerförmigen Blättern. »Ein hübscher Farbtupfer hier und da kann wirklich Wunder wirken!« Felicity strahlt.

Trübseliges Beet? Janets Parzelle sprüht doch nur so vor Farben! Sieht denn Felicity die Grüntöne nicht: Jagdgrün, Kellygrün und Pariser Grün? Was ist mit dem Apfelgrün? Dem Limettengrün? Dem Smaragd- und dem Lindgrün? Die Frau muss doch das Meergrün, das Tannengrün und das Irischgrün wahrnehmen, direkt vor ihrer Nase? Salbei, Kiwi, Petrol und Jade? Janet öffnet den Mund, um Felicity auf die Fülle von Grüntönen aufmerksam zu machen, auf die unendlichen Möglichkeiten, die in ihnen stecken, das Einatmen vor dem Ausatmen … aber Felicity verweilt nicht. Sie hat ihre pastellfarbenen Worte der Weisheit verteilt wie eine Handvoll invasiver Sporen und trippelt weiter.

Na gut, denkt Janet, während ihr Mund wieder zuklappt und die Lippen sich zu einer dünnen weißen Linie zusammenpressen. Sie kann warten. Sie ist Warten gewohnt. Wenn der November kommt und sich Felicitys Garten in eine matschige, hässliche braune Schlammgrube verwandelt, wird Janets Garten immer noch strahlend grün sein. Immergrün.

Und zwar in Hülle und Fülle.

Janet muss nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass es fast sechs ist. Sie spürt es in der Magengrube, wie eine graue Kälte. Zeit, nach Hause zu gehen.

Hat sie noch ein paar Minuten? Zeit genug, um ein paar Samen auszusäen? Noch ein Stück des neuen Kräuterbeets umzugraben?

Doch der Ruf der Kirchenglocken schlägt ihr die Stunde.

Zeit. Dass. Du. Nach. Hause. Gehst.

Die Kälte zieht von ihrem Magen in die Brust.

Das Powerballaden-Paar macht sorgfältig einen Bogen um Janets Garten und unterhält sich gurrend. Kurz bleiben sie stehen, um sich mit den Rinderdungs auszutauschen. Die vier lachen über irgendetwas.

»Habt einen wunderschönen Abend!«, rufen die Powerballaden, als die Rinderdungs weitergehen.

»Ihr auch!«, antworten die Rinderdungs.

Janet fragt sich, was einen Abend wunderschön macht. Ein gutes Essen kochen, Gesellschaft … eine Flasche Wein, beschlagen von der Kühlschrankkälte. Zwei Gläser. Brathähnchen und junge Kartoffeln mit Butter, einem Zweig Estragon. Vielleicht sogar ein Nachtisch, warum nicht! Janet reibt sich die Hände. Und nach dem Nachtisch? An dieser Stelle wird Janets Vorstellung von einem wunderschönen Abend etwas nebulös. Gespräche natürlich – Wörter, die hervorsprudeln, kollidieren, sich überschneiden mit der Sehnsucht nach … Verbindung. Und dann … und dann … ein Innehalten, ein Blick … zwei Münder, die einander näher kommen, noch näher … Überblendung zum nächsten Morgen, beim Aufwachen jemanden hören, der im Bad pfeift. Janet hatte schon immer eine Schwäche für Menschen, die gut pfeifen können – ein so wahrer und ehrlicher Klang, auch wenn heute nur noch wenige Menschen die Kunst des Pfeifens beherrschen. Der Duft von frischem Kaffee, der Himmel hell, ein Tag zu zweit bricht an … ach ja, das wäre wirklich wunderschön.

Janet denkt an ihr leeres Haus und seufzt. Dann bindet sie die Gartenschürze enger, stellt den Spaten in den Schuppen und reißt sich zusammen. Sie hat ihre Parzelle, ihre Pflanzen und bald noch etwas anderes. Etwas, das glänzt wie ein Collier aus Morgentau auf ihrem geliebten Rosmarin. Ihr neuer Job beim National Trust. Bald wird alles anders. Bald wird ihre Welt wieder weiter werden.

3

Endlich! Der Brief landet mit einem leisen Säuseln auf der Kokosmatte. Das Eichenblatt winkt ihr zu wie eine ausgestreckte Hand.

Strahlend setzt Janet den Kessel auf, steckt summend das Brot in den Toaster und greift schmunzelnd nach der Orangenmarmelade im Kühlschrank, überlegt es sich dann anders und holt stattdessen ein Glas Kirschkonfitüre vom obersten Regal in der Speisekammer. Sie wischt den Staub vom Deckel und öffnet das Glas mit einem befriedigenden Ploppen. Neuer Job, neue Konfitüre!

Ihre mintgrüne Tasse erbebt leicht auf der Untertasse, als sie sie aus dem Schrank nimmt. Heißes Wasser strömt in die Teekanne, das silberne Teesieb passt perfekt in die Porzellanöffnung der Tasse, und in Gedanken führt sie schon ihre aufmerksame Gruppe durch Trengwainton, Nymans, Dorneywood. Sissinghurst! Sie pfeift das Klarinetten-Arpeggio aus Rach 2, und ihr Herz schlägt höher. Diese Passage des Konzerts erklingt in dem Film Begegnung in der Szene, in der Trevor Howard Celia Johnsons Hand nimmt und man ohne den geringsten Zweifel weiß, wie tief seine Liebe ist. Janet hat den Überblick darüber verloren, wie oft sie den Film schon gesehen hat. Sich eine Schachtel After Eight gegönnt, die Vorhänge zugezogen und sich in die Liebesgeschichte versenkt hat, in die subtile Leidenschaft, nur einmal noch.

 

Ein Schuss Milch, eine Prise Zucker, der Toast springt warm und golden aus dem Toaster, und Janets Zehen räkeln sich in den Pantoffeln. Sie nimmt einen großzügigen Löffel Konfitüre und greift nach dem Umschlag.

Wir danken Ihnen herzlich für Ihr Interesse am National Trust.

Der Tee dampft in der Tasse, die Butter schmilzt auf den Toastdreiecken.

Bedauerlicherweise …

Die Wörter verschwimmen und tanzen vor ihren Augen.

Nicht ganz … bla bla … bedauerlicherweise … bla bla bla.

Janet blinzelt. Der Tee in der mintgrünen Porzellantasse wird kühl.

Die Frühlingssonne wandert hinten um das Haus, flutet durch das Küchenfenster, wärmt die Schränke, die Arbeitsplatte.

Aber Janet ist kalt. Eiskalt.

Die Uhr im Flur schlägt die Stunde.

Nicht ganz … bedauerlicherweise …

Als die Uhr ein Viertel schlägt, hat Janet weitere Worte entdeckt, weiter unten auf der Seite, und diese Worte ändern ihre Körpertemperatur. Bei dem Satz Wir möchten die Gelegenheit nutzen, Ihnen die Mitgliedschaft beim National Trust ans Herz zu legen … beginnt die Kälte in ihrem Bauch in Hitze umzuschlagen. Bei Wir freuen uns, Sie über unseren 25 %-Rabatt der Jahresmitgliedschaft für Seniorinnen und Senioren zu informieren … kocht es in ihrer Brust. Bei Sonderangebote in unserem Souvenirladen! … brennen ihre Wangen, und das Papier in ihrer Hand knistert und reißt.

»Mitgliedschaft?« Janets vor Bitterkeit ausgedörrte Stimme peitscht durch die Küche. »MITGLIEDSCHAFT?« Das Wort knallt an die Schranktüren, klirrt gegen die Milchflasche.

»Mit einem Haufen alter Leute – oh, pardon – Seniorinnen und Senioren durch ein abgetakeltes Herrenhaus humpeln, die auf ausgetretene Teppiche und eingestaubte Gemälde starren, die Stimmen voller Verachtung, die Gesichter voller Neid?« Inzwischen ist Janet auf den Beinen, den zerknüllten Brief in der Hand. »Und dann in der Teestube Schlange stehen für einen Tee mit viel zu viel Milch und … und … und … einen verfluchten Brownie!« Sie schlägt mit der Faust auf den Tisch, skandiert ihre Worte. »›Brownie?‹ Warum nicht gleich einen Windbeutel ›Whitie‹ nennen und eine Pistazienschnitte ›Greenie‹?« Ihre Kehle ist eng, in ihren Augen brennen Tränen. »Ihr könnt euch eure blöden Brownies sonst wohin stecken! Und euren verfluchten Rabatt auch! Denkt ihr, ich reiße mich um eure überteuerten Souvenirs? Denkt ihr, ich will ein Glas ›Borretsch-Honig mit Zimt‹ für ZEHN PFUND? Nur weil der ›National-Trust-Twizzle-Stick‹ dabei ist? Meint ihr, mich interessiert der Sonderband ›101 Ideen, was man mit Lavendel machen kann‹? WELCHER TROTTEL BRAUCHT DENN HUNDERTEINS IDEEN FÜR LAVENDEL?«

Die Worte brechen mit solcher Macht aus ihr hervor, dass sie Janet rücklings auf den Stuhl werfen, wo sie sprachlos sitzen bleibt und die perfekten Dreiecke des kalt gewordenen Toasts mit der antrocknenden Konfitüre anstarrt. Da ist sie wieder, die vertraute Sehnsucht, die sie seit Jahren heimsucht, der Wunsch, die Uhr zurückzudrehen, zurückzukehren zu dem Moment davor. Bevor alles schiefgegangen ist. Als noch alles möglich war.

Wie stolz sie war, als sie am Computer saß und das Bewerbungsformular ausfüllte. Wie selbstgefällig sie war, als sie sich das Kostüm zurechtlegte und sich auf dem Weg zum Bahnhof am eleganten Klappern ihrer Schuhe erfreute, sich beeilte, obwohl sie viel zu früh dran war für das Vorstellungsgespräch. Voller Erwartungen.

Hat sie denn gar nichts aus der Vergangenheit gelernt?

Janet sitzt mit nassen Wangen in der Küche, wie versteinert, während sich auf dem Tee ein Film bildet. Sie hätte es wissen müssen. Wie dumm, wie lächerlich von ihr, zu glauben, es könnte sich alles ändern. Sie ist eine kindische alte Närrin.

Sie hat schon drei Führungen geschrieben. Sie ausgedruckt und ordentlich auf der Küchenkommode bereitgelegt. Janet rappelt sich hoch, stolpert zur Kommode, nimmt die erste Seite und reißt sie in der Mitte durch. Dann reißt sie sie noch einmal in der Mitte durch, und noch einmal, schreddert ihre sorgsam gewählten Worte. Das Gleiche tut sie mit den anderen Seiten, bis ein Schauer aus Papierfetzen wie Blütenblätter über dem Küchenboden niedergeht.

 

Am nächsten Tag im Garten zieht sich Janet müde die langen Falknerhandschuhe über, um der Weinraute zu Leibe zu rücken. Selbst kleinste Mengen Rautensaft können zu unangenehmen Reizungen führen. Der Verzehr kann im schlimmsten Fall tödlich sein. Mit der Weinraute ist nicht zu spaßen. Janet holt ihre Gartenschere aus der Schürzentasche.

»Ganz allein heute?«, singen die Powerballaden, die unversehens hinter der Hecke auftauchen. »Lust auf Gesellschaft?«

Überrascht hebt Janet den Kopf, dreht sich langsam um und will gerade antworten.

»Ja, heute bin ich Strohwitwer«, sagt der Rinderdung-Mann von Parzelle 33, der den Weg herunterkommt. »Mary besucht ihre Schwester. Das ist meine Chance, meine Erbsen einzupflanzen, bevor sie mit ihren Bohnen anrückt!«

»Manchmal ist es ganz schön, ein bisschen ›Ich-Zeit‹ zu haben, oder?«, trällern die Powerballaden.

Janet entsperrt die Schere, öffnet die Klingen und schiebt sie über ein Büschel Raute. Vorsichtig drückt sie die Griffe zusammen, und das scharfe Metall kappt die schmalen Stängel. Die abgeschnittene Raute fällt in ihre durch den Handschuh geschützte Handfläche, und die Fragen aus dem Bewerbungsbogen rumoren in ihrem Kopf. Die Worte, die sie ignoriert hatte, als sie den Bogen ausfüllte.

 

1. Warum bewerben Sie sich auf diese Stelle?

Um sich nützlich zu fühlen?

Um etwas mit Ihrer Zeit anzufangen?

 

Schnippschnapp, macht die Schere, grimmiger jetzt, als könnte sie die Worte wegschneiden. Diese Demütigung. Einsame Menschen, die nach einer Betätigung suchen, einer Möglichkeit, die langen, leeren Stunden zu füllen. Die freiwillig und kostenlos ihre Zeit zur Verfügung stellen, nur für die Verheißung von ein wenig Gesellschaft. Das ist das Schlimmste. Die Tatsache, dass es ein Ehrenamt ist. Janet fällt die Schere aus der zitternden Hand. Sie greift durch die Raute, hebt sie auf und wartet, bis ihre Hand sich beruhigt hat, bevor sie mit dem Schneiden fortfährt. Janet hätte dem National Trust alles gegeben, was sie zu bieten hat, unentgeltlich. Sie hätte es mit Freuden getan, nur um das Logo am Revers zu tragen und ein Ziel zu haben. Einen Ort, wo man sie schätzte, ihr zuhörte, wo man sie sah.

Aber der National Trust wollte nicht, was Janet zu bieten hatte, nicht einmal umsonst.

Sie wendet sich dem nächsten Büschel Raute zu.

Alleinsein ist etwas anderes als ein Tag, an dem man ohne Gesellschaft zu Mittag isst oder ungestört Erbsen pflanzt. Alleinsein heißt, jede Minute, jede Stunde, rund um die Uhr allein zu sein. An jedem Geburtstag und zu jedem Weihnachtsfest, an jedem lauen Sommerabend und jedem dunklen Wintertag. Alleinsein heißt, am Fastnachtsdienstag keine Pfannkuchen zu backen und an Feiertagen keine Pläne zu haben. Es heißt, nie eine Mahlzeit zu essen, die man nicht selbst gekocht hat. Allein sein heißt, das Telefon liegt stets stumm wie eine Nacktschnecke auf dem Tisch. Es heißt, vor dem Kamin in einem der beiden Sessel zu sitzen und den leeren anderen anzustarren. Wenn man allein ist, vergeht die Zeit langsamer. Sie verfliegt nicht, und man vergisst sie auch nicht. Sie schlurft in Pantoffeln dahin. Alleinsein und Einsamkeit gehören zusammen, denkt Janet, als sie die Weinraute abschneidet. Das eine sitzt hohl im anderen.

Es war nicht immer so. Früher hat sie Freunde gehabt. So liebe Freundinnen.

JP ist da!, riefen sie, wenn sie freitagabends die Tür zum Pub aufstieß, die Wangen rot von der Radfahrt vom College herüber, die Augen funkelnd von all den Ideen in ihrem Kopf. Jetzt wird's lustig!, riefen sie. Sie rutschten enger zusammen, um ihr Platz zu machen, stellten ihr ein Glas Gin and It mit klimpernden Eiswürfeln hin und wandten ihr erwartungsvoll die Gesichter zu, neugierig und für jeden Spaß zu haben.

Nancy, Alice, Rajni.

Janet wirft eine Handvoll Raute in den Eimer, nimmt sich die nächste Pflanze vor. Im Frühjahr muss man die Raute kräftig zurückschneiden, damit sie nicht die ganze Zeit blüht.

Janet weiß, wie es sich anfühlt, allein zu sein, in jedem Zimmer ihres Hauses. Das schweigende Mittagessen vor der Vitrine mit dem »kompletten Tafelservice«, all die leeren Teller, die sie anstarren, die dämlichen unbenutzten Schalen. Mit Einsamkeit kennt Janet sich aus. Jeden Morgen kostet sie die scharfe, klare Kälte des Alleinaufwachens, schmeckt die dunklen, schemenhaften Nuancen eines weiteren Abends allein, der in eine endlose einsame Nacht mündet. Und auch da ist es natürlich, das Alleinsein. Ins Bett gekuschelt, gleich neben ihr.