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Heimliche Briefe. Eine verlorene Liebe. Eine Reise, die alles verändert.
Als Marley nach dem Tod ihrer geliebten Tante Monia eine geheimnisvolle Kiste von ihr erbt, ahnt sie nicht, dass der Inhalt ihr Leben grundsätzlich verändern wird. Zwischen alten Tagebüchern und verblichenen Briefen entdeckt sie die tragische Romanze zwischen Monia und Tom, die von familiären Pflichten zerrissen wurde.
Doch Monias Vermächtnis ist mehr als eine Erinnerung. Sie bittet Marley, einen wertvollen Diamanten und einen Brief nach Amerika zu bringen und sie Tom zu überreichen. Trotz des Widerstands ihrer Familie macht sich Marley auf die Reise in die Kleinstadt in Indiana, in der einst die Legende James Dean aufwuchs.
Dort begegnet sie nicht nur den Schatten der Vergangenheit, sondern auch dem rebellischen Jayden, unerwarteten Gefühlen und der Herausforderung, ihren eigenen Weg zu finden …
“Das Funkeln der Erinnerung” von Cecilia Lilienthal ist ein bewegender Liebesroman über Familiengeheimnisse, unerfüllte Liebe, und den Mut, für sich selbst einzustehen. Dies ist die vollkommen überarbeitete Neuauflage von “Einmal Rebellin” von Nadine Stenglein (2020 erschienen).
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Verlag:
Zeilenfluss
Werinherstr. 3
81541 München
Deutschland
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Texte: Cecilia Lilienthal
Cover: MT-Design
Korrektorat: TE Language Services – Tanja Eggerth
Satz: Zeilenfluss Verlag
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ISBN: 978-3-96714-524-3
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Remember: Life is short, break the rules (they were made to be broken). Forgive quickly, kiss slowly, love truly, laugh uncontrollably. And never regret anything that makes you smile. The clouds are lined with silver and the glass is half full (though the answers won’t be found on bottom). Don’t sweat the small stuff. You are who you are meant to be. Dance as if’s no one’s watching. Love as if it’s all you know. Dream as if you’ll live forever. Live as if you’ll die today.
– James Dean –
Im Herzen bin ich Dir so nah wie noch keinem Menschen zuvor, auch wenn uns Tausende Meilen und das Schicksal trennen. Deine Zeilen haben mich tief berührt, und zugleich machen sie mich traurig. Ich mache Dir keinen Vorwurf, dass Du schreibst, ich soll nun besser versuchen, ohne Dich glücklich zu werden.
Ich blickte in den azurblauen Frühsommerhimmel, der sich vor meinem inneren Auge allmählich in einen sternenübersäten Nachthimmel verwandelte, je weiter meine Gedanken abschweiften. Monia hatte oft die Sterne betrachtet. Vor etwa zwei Monaten, mit nur sechsundvierzig Jahren, war sie selbst zu einem von ihnen geworden. Viel zu früh. Ihre helle, sanfte Stimme drang wie ein flüsternder Windhauch aus der Vergangenheit zu mir. Ich wünschte, ich hätte sie nicht nur in meinem Herzen festhalten können.
»Einer von ihnen gehört mir. Na ja, sozusagen«, hatte sie einmal gesagt und dabei geheimnisvoll gelächelt. Das Strahlen in ihren Augen hatte eine Ahnung in mir wachsen lassen, dass es da etwas gab, das sie in ihrem Herzen verschlossen mit sich herumtrug. Monia hatte die Weite des Himmels geliebt, die Sterne und ihr magisches Leuchten. Sie war nicht nur meine Tante, sondern auch eine wundervolle Freundin für mich gewesen – fast wie eine Mutter. Das würde sie für immer bleiben, bis wir uns hoffentlich eines Tages wiedersehen durften.
»Und das werden wir feiern wie kein Fest zuvor«, flüsterte ich, als wäre Monia bei mir. Meine Stimme kippte leicht. Ich dachte an den Tag, an dem ich sie zum letzten Mal in ihren Rosengarten begleitet und sie gefragt hatte: »Also, welcher von den Sternen gehört dir?« Die milde Nacht hatte uns wie ein wärmender Mantel umhüllt. Onkel Eugen hatte auf der nahegelegenen Terrasse gestanden und uns kopfschüttelnd nachgeblickt. Von Romantik verstand er leider genauso wenig wie vom Lachen.
»Das verrate ich dir ein anderes Mal. Wenn wir ganz unter uns sind. Oder ich vererbe dir das Geheimnis«, hatte sie geantwortet und es wieder sorgfältig in der Büchse der Pandora verschlossen.
Leider kamen wir nie wieder dazu darüber zu sprechen, als sollte es nicht sein. Seitdem entführte mich die Neugier an die wildesten Phantasieorte. Ich glaubte, dass meine Mutter Monias Geheimnis kannte, doch sie verhielt sich seltsam verschlossen und reagierte genervt, wenn ich auch nur entfernt an das Thema anknüpfte. Sie tat es als ›sentimentales Geschwätz‹ ab. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meine Neugierde in Songs zu verarbeiten. Bis jetzt waren es drei Lieder, die ich über das Geheimnis meiner Tante geschrieben hatte. Kreativ zu sein, in die Musik einzutauchen, half mir oft, die Trauer um Monia zu lindern. Zumindest für eine Weile.
Die einstigen Träume, nach dem Abitur Musik zu studieren, hatten meine Eltern, vielmehr meine Mutter,vereitelt. In regelmäßigen Abständen hatte sie gepredigt, dass ein sicherer, gut bezahlter Job wichtiger und sinnvoller sei. Genügend Geld zum Leben, das war Mutters feste Überzeugung, würde ich mit der Musik niemals verdienen können. Ich hatte ihr nie gezeigt, wie sehr mich ihre Worte getroffen hatten. Ein wenig später war mein Vater an Krebs gestorben. Er hatte uns einen Berg Schulden hinterlassen, was den Traum von einer Musikkarriere in eine noch unerreichbarere Sphäre katapultiert hatte.
Ich musste einsehen, dass es an der Zeit war, die Träume und Umstimmungsversuche endgültig aufzugeben. Monia allerdings wollte meine Musikkarriere unterstützen, was Eugen von Anfang an absolut untergrub. Außerdem wollte und konnte ich die Hilfe meiner Tante nicht annehmen. Seit dem Tod von Dad musste ich meiner Mutter noch mehr beistehen als zuvor. Sie litt an chronischer Migräne, fühlte sich auch psychisch immer weniger in der Lage, sich eine Arbeit zu suchen.
Seit ich denken konnte, war Mutter Hausfrau und hatte damit die Erwartungen ihrer Eltern erfüllt. Die hatten ihre beiden Töchter von Anfang an in diesem Sinn erzogen. Eleonor war zunächst mit dem bodenständigen Charlie verheiratet, dessen Eltern genauso dachten wie ihre. Meine Eltern hatten sich verlobt, im Jahre 1990 geheiratet, mich bekommen, ein kleines, hübsches Haus gekauft und einen Baum gepflanzt. Das perfekte Familien-Idyll. Zum Einrahmen und Aufhängen.
Dad hatte als Versicherungskaufmann immer gut verdient, aber irgendwann große Teile seines Einkommens verspielt und Schulden gemacht. Eine schleichende Sucht, die sich wie ein Geschwür immer weiter ausgebreitet und Mutters bis dahin geradliniges Leben auf den Kopf gestellt hatte. Sie verstand nicht, wie er so naiv sein konnte. Unüberlegtes Handeln war in ihrer Welt bis dahin für ihre fünf Jahre jüngere Schwester Monia reserviert gewesen.
Nur einmal hatte Dad erwähnt, dass man auch ab und zu etwas im Leben riskieren müsse, um zu fühlen, dass man noch lebendig sei. Als Mutter das gehört hatte, hatte sie ihm einen Vogel gezeigt und ihm geraten, einen Psychologen aufzusuchen. Danach hatte er sich komplett verschlossen und auch nicht mehr gekämpft. Leider hatte er auch mich kaum an sich herangelassen.
Seit seinem Tod wohnte ich mit meiner Mutter im Haus meiner Großeltern in der ehemaligen Westzone Berlins.
Ich konnte gut verstehen, dass sie nicht auch noch ihr Elternhaus verlieren wollte. Also unterstützte ich sie mit meinen zweiundzwanzig Jahren finanziell so gut es mir möglich war. Das erwartete sie auch, es war für sie selbstverständlich. Zudem hatte ich auch meinen Großeltern vor deren Tod auf nachdrücklichen Wunsch hin versprochen, mich um Mutter und die Erhaltung ihres Hauses zu kümmern, das sie einst, wie sie früher wiederholt betonten, mit viel Schweiß und Fleiß erbaut hatten. Sie waren kurz nacheinander, zwei Jahre nach meinem Vater, verstorben. Laut Mutter hatten sie uns nicht viel mehr als ihre vier Wände hinterlassen.
Nachdenklich blickte ich auf die alte Holzkiste, die mir Dr. Bergler, der Notar, vor ein paar Stunden zusammen mit einem winzigen Schlüssel überreicht hatte. Sie war mit einem kleinen, silbernen Schloss und schwarzen, ledernen Verstrebungen versehen. »Ein persönlicher Schatz für meine Lieblingsnichte. Sicher erinnerst du dich noch, was ich dir früher einmal erzählt habe, und ich weiß, dass er bei dir in guten Händen ist«, hatte Dr. Bergler mir im Auftrag meiner Tante gesagt. Eugen flüsterte mit Mutter. Die beiden bekamen einiges von Monias Vermögen. Traurig, dass es ihnen merklich zu wenig war. Dabei hatte Mutter Monias Hilfe aus Stolz früher immer ausgeschlagen. Jedenfalls sahen für mich zufriedene Gesichter anders aus. Sie sollten froh sein, dass sie überhaupt etwas bekamen. Mit seinen breiten Schultern baute sich Eugen vor mir auf und riss mich damit aus meiner gedanklichen Karussellfahrt. Mit zwei Fingern strich er sich über seinen grauen Schnäuzer, der seinen schmalen Mund wie einen Rahmen zierte und sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der geraden, spitzen Nase noch schmaler wirken ließ. Wie immer stand er kerzengerade. Seit Monias Tod war ihm noch kein Wort der Trauer über den Verlust über die Lippen gekommen, und auch Mutters Reaktion war verhalten ausgefallen.
»Wo ist er?«, fragte er und zog die kaum sichtbaren Brauen nach oben. Die wenigen Härchen besaßen dieselbe weiße Farbe wie sein gescheiteltes Haar. Eugens hellblaue Augen scannten jede Regung meiner Mimik. Ich wusste wirklich nicht, wovon er sprach.
»Wer?«, fragte ich deshalb.
»Der größte Teil von Monia.« Sein Gesicht verfinsterte sich, als er auf die Holzkiste blickte. Wiederholt schüttelte ich den Kopf. Was war los mit ihm? Wurde Eugen langsam verrückt? Konnte Gier wahnsinnig machen? Ich hatte darüber schon einmal etwas gelesen.
»Er meint den Diamanten«, flüsterte Mutter mir zu und seufzte tief. Sie und Eugen sprachen seit Jahren kaum miteinander. Dieses Thema schien ihr sonstiges gegenseitiges Schweigen gebrochen zu haben.
»Welcher Diamant?«
Da fiel mir ein, dass Monia einmal erwähnt hatte, sie wolle ihre sterblichen Überreste vielleicht als Schmuckstück weiterexistieren lassen, in dem sich das Licht ihrer Seele spiegeln konnte. Ich hielt das Ganze zuerst für einen ihrer Witze. Als Eugen und Mutter, die alles gehört hatten, damals dazukamen, hatte sie gelacht und es vor ihnen als Scherz abgetan. Aber das war es nicht, wie sie mir später sagte. »Das wäre ja auch völliger Blödsinn, absolut verrückt«, hatte Eugen die Idee damals kommentiert.
Ich fand die Idee von Anfang an rührend.
Eugen klopfte mit einem Finger auf die Holzkiste. »Der muss da drin sein. Die Urne hatte nur einen kleinen Teil ihrer Asche für die Beerdigung enthalten. Öffne die Kiste mal. Er gehört mir, das ist doch wohl klar. Im Grunde war es ja sowieso mein Geld, das sie für diesen Lab-grown Diamanten aus dem Fenster geworfen hat. Ich kann nicht glauben, dass sie das wirklich durchgezogen hat. So ein Irrsinn.« Er stierte mich auffordernd an.
»Ich weiß nicht, was drin ist«, sagte ich schnell.
Mutter rückte ihren roten Hut zurecht und schüttelte ihre Locken über die Schultern, die genauso naturblond waren wie meine. »Du hast doch gehört, was Doktor Bergler gesagt hat. Der Inhalt ist allein für Marley bestimmt, Eugen. Interessieren würde er mich aber auch.«
Eugen schnaubte. »Das kann schon sein. Aber es ist mein Recht, an Marleys Verstand und Gewissen zu appellieren.«
Mutter spitzte die Lippen und schaute zu mir her. Ich hielt den Atem an, um nichts Falsches herauszuposaunen.
»Hast du keine Stimme mehr?«, fragte Mutter.
»Ich werde mir den Inhalt zu Hause in Ruhe ansehen und dich dann anrufen«, erwiderte ich letztendlich und lächelte Eugen freundlich zu. Das war besser. Er war schließlich nicht nur mein Onkel, sondern eben auch mein Boss und Besitzer einer mehrfach modernisierten Kfz-Werkstatt mit Bürotrakt. Die Büroarbeit war für mich, wenn auch wenig kreativ und erfüllend, in Ordnung, die Launen meines Onkels hingegen schwer zu ertragen. Ich hoffte, dass meine neuen Bewerbungen ein positives Feedback einbrachten und ich bald von dort entkommen konnte. Mutter wusste noch nichts davon, und auch Eugen wollte ich natürlich (noch) nicht auf die Nase binden, dass ich bereits auf dem Absprung war. Die Zeit für diesen Schritt war längst überreif.
»Wenn er da drin ist, dann gib ihn mir. Ich leihe ihn dir auch hin und wieder, wenn du möchtest«, schlug Eugen vor.
Für mich roch die Sache faul. Warum konnte er Monias Wunsch nicht einfach respektieren? Ich befürchtete, dass er ihn sogar verscherbeln würde. Die Gedanken jagten mir ein Frösteln durch die Adern und mitten ins Herz. Seit ich wusste, dass Eugen seine eigene Mutter in die Geschlossene hatte einliefern lassen, nur weil diese einen verständlichen Wutanfall bekommen hatte, nachdem er sie für Stunden eingesperrt hatte, traute ich ihm vieles zu. Außerdem schien Geld sein zweiter Vorname zu sein, wenn nicht sogar sein Gott. Das jedenfalls, erinnerte ich mich, hatte Monia einmal gesagt, obwohl sie ansonsten kaum böse Worte gegen ihn fand. Vielmehr hatte sie fast immer Mitleid mit ihm gehabt. Ich fragte mich, warum sie ihn überhaupt geheiratet hatte. Darüber wollte meine Tante nie wirklich reden. Einmal sagte sie: »Tief in sich hat er auch gute Seiten.«
Erleichtert atmete ich auf, als David mit seinem weißen Cabrio auftauchte, hupend ein paar Meter entfernt parkte, auf den Fahrersitz sprang und mir zuwinkte. Er kaute Kaugummi und spähte über den Rand seiner Sonnenbrille. David war ein verrückter, liebenswerter Möchtegernmacho und der beste Freund, den ich mir vorstellen konnte.
»Ich muss los«, sagte ich, reichte anstandshalber Eugen die Hand und gab meiner Mutter einen ehrlich gemeinten Kuss auf die rechte Wange.
Diese nickte. »Okay, dann geh schon.«
Ich eilte zu David, die Kiste fest gegen die Brust gedrückt.
»He, was soll das, junge Dame? Wir sind noch nicht fertig. Denk daran, ich bin nicht nur dein Onkel, sondern auch dein Chef.«
Es war widerlich, wie oft Eugen das heraushängen ließ. Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört. David rutschte zurück auf den Fahrersitz und lächelte mir zu. Schnell, aber vorsichtig, stellte ich die Holzkiste auf die Rückbank und sah ihn an. Seine Zähne blitzten noch weißer als bei unserem letzten Treffen vor drei Tagen. Mich überkam da so eine Ahnung.
»Hallo, hübsche Frau«, begrüßte er mich und nickte Eugen und meiner Mutter zu.
»Hi du. Ich bin echt froh, dass du da bist.«
Ich stieg ein.
David hob das Kinn. »Was ist mit deinem Onkel los? Er sieht aus, als hätte er an einer besonders sauren Zitrone genascht.« Mit seinem auffälligen Charme winkte er den beiden zu und rief ein übertriebenes: »Hiiiiii.«
Ich starrte stur nach vorne, weil ich mir lebhaft vorstellen konnte, wie sich die Miene meines Onkels dabei verzog. Er hatte nur einmal trocken über David gesagt: »Sag mir, mit wem du dich umgibst, und ich sag dir, wer du bist.«
»Der Termin hat ihn wohl mitgenommen. Ich brauche erst mal einen Kaffee. Fahr bitte los.« Ich lehnte mich zurück.
David ließ sich das nicht zweimal sagen und gab Gas. Dabei schielte er verdächtig oft in den Innenspiegel, um seine Zähne zu begutachten. »Vielleicht lieber auf die Straße schauen?« schlug ich vor.
»Kein Problem, ich könnte sogar blind fahren.«
»Dir traue ich ja einiges zu, aber das sicher nicht.«
Er lachte und hörte auf mich, immerhin.
Wir hielten an einem kleinen Café und setzten uns auf die Terrasse an einen der runden, weißen Tische. Der Julihimmel war azurblau, die Sonne strahlte, und ein milder Wind wehte den Duft von Kaffee, Gebäck und Kuchen heran.
»Herrlich«, meinte David, während er die Karte studierte. »Man sollte ein Parfüm mit diesem Duft erfinden.«
»Lieber nicht«, entgegnete ich. »Dann hätte ich ständig Lust auf Süßes und Kaffee.«
Meine Gedanken schweiften ab. Es war über ein Monat vergangen, seit Monia gestorben war. Die Welt hatte sich weitergedreht, als wäre nichts passiert. Anfänglich hatte mich das wütend gemacht – lächerlich, ich weiß. Doch das Wetter war an jenem Tag genauso gewesen wie heute.
Der Fliederduft aus den großen Kübeln, die die Terrasse vom Gehsteig abgrenzten, legte mein Herz in Ketten. Monia hatte Flieder geliebt, besonders den violetten.
David fuhr sich durch sein gegeltes, blond gesträhntes Haar. »Sitzt es noch?«
Ich verdrehte schmunzelnd die Augen. »Perfekt, wie immer.«
Wir kannten uns seit der Berufsschule. Beide arbeiteten wir in einem Büro und träumten schon lange davon, auszubrechen. Von Anfang an hatten wir uns bestens verstanden. Es fühlte sich an, als würden unsere Träume von Freiheit wie Magnete einander anziehen. Sie bildeten das Fundament unserer Freundschaft. Außerdem mochte David, genau wie ich, kreative Menschen. Er liebte Malerei, Musik und Bücher.
»Hast du wieder etwas Neues komponiert?«, fragte er und legte die Karte beiseite.
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Mein Herz ist gerade leer. Ich vermisse Monia einfach zu sehr.«
»Das kann ich verstehen.«
David stützte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und presste die dünnen, mit leicht pinkem Lippenstift geschminkten Lippen zusammen. Sie hatten genau die gleiche Farbe wie sein Sakko und seine Sneakers. Die weiße Jeans bildete dazu einen auffälligen Kontrast und zog die Blicke einiger Passanten regelrecht an. David genoss so etwas. Früher, hatte er mir erzählt, war er oft übersehen oder als Langweiler abgestempelt worden. Außerdem war er alles andere als das.
»Wie war der Termin für dich?«, fragte er. Ich seufzte tief, bevor ich antwortete.
»Wenn du nicht darüber reden willst, ist das völlig in Ordnung.«
»Gib mir eine Minute. Ich muss nur erst einmal meine Gedanken sortieren.«
»Verstehe.«
Ein junger Mann in schwarzem Frack und weißem Hemd trat an unseren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Seine tief liegenden braunen Augen und die buschigen Brauen zogen nicht nur meine Aufmerksamkeit auf sich. Davids Blicke sprachen Bände, doch der Kellner ignorierte ihn und lächelte stattdessen mich an. Mir fiel auf, dass er einen Ehering trug.
Tief in mir sehnte ich mich nach einem Seelenpartner. Mr. Right war jedoch noch nicht in meinem Leben aufgetaucht – wahrscheinlich kreiste er nicht einmal in der Nähe meiner Umlaufbahn. Seit Ben, mit dem ich vor drei Jahren einige Monate zusammen gewesen war, ging ich auf Abstand, was Männer anging. Er hatte mich betrogen, alles abgestritten und mich als paranoid, übertrieben eifersüchtig und dramatisch hingestellt. Das alles, obwohl die Beweise gegen ihn eindeutig gewesen waren.
Monia hatte ihn von Anfang an nicht gemocht, ihn aber stets fair behandelt. Meine Mutter hingegen hatte in Ben in erster Linie eine gute Partie gesehen und war ihm gegenüber süß wie Zuckerwatte gewesen. Er war ein aufstrebender Jurastudent und fest entschlossen, seinen Doktor zu machen. Damit trat er in die Fußstapfen seines Vaters. Seit unserer Trennung hatte ich zum Glück nichts mehr von ihm gesehen und gehört.
»Schade«, flüsterte David, als der Kellner weg war, um uns zwei Cappuccinos mit einer Extraportion Mini-Marshmallows zu holen.
Lachend erwiderte ich: »Was? Dass er nur Augen für mich hatte?«
David verzog einen Mundwinkel. »Und für all die anderen Ladys hier. Zumindest für die, die in sein Beuteschema fallen.« Er ließ seinen Blick zu einem der anderen Tische wandern. Ich schaute mich um. Mr. Universum schenkte gerade einer grazilen Brünetten sein Lächeln.
»So sind wohl viele Männer«, sagte ich.
»Nicht alle, Schatz. Nun ja, ich hätte mich sowieso auf nichts mit dem eingelassen.«
Ich schmunzelte. »Wegen dem Zahnarzt, oder?«
»Obwohl ich keine Ahnung habe, ob er überhaupt auf Männer steht und wenn ja, mich mögen würde. Ich habe nur im Gefühl, dass Levin etwas Besonderes ist.« David stöhnte sehnsüchtig.
»Ich wünsche dir von Herzen, dass es ein Feuerwerk zwischen euch geben wird.«
Er wurde puterrot.
Nur zwei Minuten später servierte der hübsche Kellner unseren Cappuccino und zwinkerte mir zu. Ich lächelte kurz, bedankte mich bei ihm und zeigte auf seinen Ring. »Hübscher Ehering. Ist schon toll, wenn einem jemand sein Herz geschenkt hat und sein Vertrauen, auf ewig. Oder?« Er wurde ernst, schluckte hart und nickte. Danach machte er sich schnell davon. David lachte leise. »Ich glaube, die Botschaft ist angekommen.«
Das hoffte ich. Ich widmete mich wieder David.
»Und wenn du deinen Zahnarzt mal fragst, ob du ihn auf einen Kaffee oder so einladen darfst?«
»Genialer Plan. Auf den bin ich tatsächlich auch gekommen. Aber es ist beim Fragen wollen geblieben.«
»Und warum?«
Er nippte von seinem Cappuccino, wobei ihm ein rosa Marshmallow an der Lippe hängen blieb. Ich genoss den Anblick ein paar Sekunden, dann zupfte ich den Marshmallow weg und schob ihn David in den Mund. Er kräuselte die Nase und lächelte.
»Ich lag bei ihm sozusagen unter dem Messer. Zudem war wie immer einer seiner Assistenten dabei.« Er zog eine Braue nach oben. »Auch hübsch. Was mir noch aufgefallen ist. Es arbeitet keine einzige Frau bei ihm. Und er ist immer umringt von seinen Mitarbeitern. Ich hatte ja gehofft, dass wir dieses Mal wenigstens für eine Minute allein sein würden, aber nichts zu machen.«
Ich musste grinsen. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so feige bist.«
Er riss erst den Mund auf, dann spitzte er die Lippen und sah mir tief in die Augen. »Das liegt daran, dass ich in Wahrheit nur dich liebe.«
»Ich dich doch auch«, gab ich retour. David nahm meine Hand und hauchte mir einen Handkuss darauf.
Eine junge Frau in der Nähe stöhnte auf. »Wie süß er zu ihr ist.«
Sofort ließ David meine Hand los und räusperte sich. »Ich sollte so was in Zukunft besser lassen. Die denken alle, wir sind ein Paar. So bekommst du nie jemanden ab, wenn ich in deiner Nähe bin.« Er sprach absichtlich laut, und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Meine Gedanken wanderten zu Monia. Sie hatte immer gesagt, dass das, was zusammengehört, seinen Weg zueinander finden würde. Doch es gäbe auch dunkle Diebe, die eine Liebe zu verhindern wüssten. Nur diese aus dem Herzen stehlen, das könnten selbst sie nicht. Ihre Augen hatten damals einen traurigen Schimmer getragen, als sie mir diese Gedanken anvertraut hatte – als würde sie aus Erfahrung sprechen.
David schnippte mit den Fingern. »Erde an Marley.«
Ich blinzelte und sah ihn an. »Was ist?«
»Hab ich was Falsches gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na, dann ist ja gut. Aber genug von mir. Erzähl mir von dem Notartermin.«
Ich berichtete, und Davids Augen wurden mit jedem Wort größer. Als ich fertig war, stieß er hervor: »Du hast die Kiste also wirklich noch nicht geöffnet?«
»Nein. Ich wollte das in Ruhe und alleine machen.«
Er zeigte auf mich. »Genau richtig. Falls du Hilfe brauchst, weißt du ja, wo ich zu finden bin. Ich bin echt gespannt, was da drin ist.«
»Das hätte ich mir denken können«, meinte ich. »Keine Sorge, ich werde deine Neugier schon stillen. Sonst finde ich selbst keine Ruhe.«
Wir lachten, aber David wurde schnell wieder ernst. »Dein Onkel ist echt ein seltsamer Kauz. Und gefährlich, wenn du mich fragst. Sei bloß vorsichtig, besonders jetzt.«
Ich nickte. Als er noch einmal von seinem Cappuccino nippte, entfuhr ihm ein langgezogenes, schmerzverzerrtes Zischen. »Was ist los?«, fragte ich ihn.
»Verdammt.« Er rieb sich mit der Zunge über die Zähne und verzog das Gesicht. »Manchmal tut es höllisch weh, wenn Kaltes oder Warmes an die Zähne kommt.«
Ich ahnte da etwas. »Sag mir nicht, dass du sie dir wieder nachbleichen hast lassen?«
David kräuselte die Nase. »Doch. Sieht man das nicht?«
Ich seufzte. »David, die waren vorher schon blendend weiß! Mein Gott. Deinem Traumzahnarzt muss doch auffallen, dass du in den letzten Wochen ständig irgendwas an deinen Zähnen machen lässt. Er kennt deine Schmachtblicke sicher schon auswendig. Aber dass du dich für ihn so folterst und trotzdem keinen Schritt weiterkommst, das ist nicht okay. Hat er dich nicht über die Nachwirkungen aufgeklärt? Das ist seine Pflicht.«
»Doch schon. Aber der Kunde ist König.«
Verstehe. »Du bist echt manchmal ein Kindskopf. Was willst du noch machen lassen?« Er schürzte die Lippen. »Da gibt es noch eine Menge. Mag ich nur nicht so. Zahntaschenreinigung zum Beispiel.«
»Frag ihn einfach, okay? Das ist auf jeden Fall gesünder.«
David tippte mit einem Finger auf die Tischplatte. »Du hast recht. Das nächste Mal kneife ich die Arschbacken zusammen und tue es. Mein Wort drauf.«
Ich würde ihn daran erinnern. »Sehr gut.«
Meine Gedanken kehrten zu Monias Kiste zurück, als hätte sie mich persönlich daran erinnert. »Ich glaube, ich möchte jetzt lieber nach Hause, David.«
»Um die Kiste zu öffnen?«
»Jap.«
»Verstehe ich.«
Er trank seinen Kaffee auf ex und schnippte nach dem Kellner.
Ich winkte David und schaute seinem Wagen nach, bis er um die nächste Ecke gebogen war. Mein Herz wummerte vor Aufregung. Ich ging durch den kleinen, weiß umzäunten Garten auf das graue Haus mit den karminroten Ziegeln zu. Mein Elternhaus. Am Himmel bildeten sich graue Wolken und es wurde schneller dämmrig als sonst. Der Wind nahm zu. Hoffentlich kam kein Gewitter.
Die Blätter des Ahornbaumes rauschten, der im Sommer den paar Blumenbeeten, die meine Mutter und ich mit einer Saatmischung bepflanzt hatten, Schatten spendete. Einer der blauen, alten Fensterläden, von denen an einigen Stellen Farbe abblätterte, schlug leicht gegen die Fassade.
Heute Nacht würde man wohl keine Sterne sehen können. Ich drückte die Kiste an mich. Der Schmerz und das Vermissen waren noch genauso intensiv wie an dem Tag, an dem Monia gegangen war. Die Kiste war dennoch ein kleiner Trost. Sie barg einen Teil von Monia in sich, auf den ich schon gespannt war. Vor allem hoffte ich auf ein paar persönliche Zeilen, die mir zumindest ein wenig das Gefühl geben würden, Monia würde noch einmal mit mir sprechen. Immer wenn ich an sie dachte, kam mir in letzter Zeit eine bestimmte Szene in den Sinn. Ein Blatt, das im Glanz der Sterne, beschützt von dem Dach eines großen Baumes, durch die Luft schwebte. Dorthin, wohin es schon immer hatte fliegen wollen, um sich anschließend an jenem Ort niederzulassen. Wo auch immer dieser sich befand.
In meinem Zimmer stellte ich die Kiste in die Mitte meines Bettes. Meine Mutter war noch unterwegs, was mir ganz gelegen kam. Bestimmt hätte sie mich sofort wieder mit Fragen bombardiert. Zur Sicherheit sperrte ich die Tür ab, dann aktivierte ich meine Lieblingsplaylist auf dem Handy. Ein Song von Snow Patrol erklang. Leicht tänzelnd öffnete ich das große Halbbogenfenster. Wie gern Monia getanzt hatte. Ich lächelte tief durchatmend. Der Wind ließ die beiden lachsfarbenen Seidenschals in fließenden Bewegungen fliegen und wehte ein paar Notenblätter von meinem Schreibtisch. An der Wand über meinem Himmelbett hing ein Regenbogen, den Monia in einem Sommer nach einem Gewitter fotografiert hatte. Wie sie wollte auch ich an die Geschichte mit der Regenbogenbrücke glauben. Ich dachte an Jasper, mein weißes Hermelinkaninchen. Er war kurz bevor der Regenbogen am Himmel erstrahlt war, gestorben. Zwei Jahre war das her, eine Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Ich hatte lange um ihn getrauert, meinen kleinen, treuen Freund und Seelentröster. Sein großes Herz, das ihn so besonders gemacht hatte, war zu schwach geworden. Ich war bei ihm bis zum letzten Atemzug und bis der Glanz seiner Seele aus seinen himmelblauen Augen gewichen war. »Du wirst ihn wiedersehen«, hatte Monia damals gesagt. »Weil er ein besonderer Freund für dich war und immer bleiben wird. Er ist über die Regenbogenbrücke gegangen, in ein Land voller duftender Wiesen, wo er mit anderen Tieren spielen wird. Eines Tages werdet ihr wieder zusammen sein, für immer. Das glaube ich wirklich. Es gibt einen Ort des Wiedersehens, für uns alle.« Ihre Worte hatten mich getröstet, damals wie heute. Sie ließen die eisige dunkle Kälte der Trauer wie Eis schmelzen.
Draußen heulte der Wind ums Haus, fast wie eine Klage. Ich schloss das Fenster, gerade rechtzeitig, bevor die ersten Regentropfen auf die Scheibe trommelten. Ich musste lächeln, als ich mich aufs Bett setzte und ein Foto von Jasper betrachtete.
»Du hast es ein Zeichen genannt, Monia, ein Beweis«, flüsterte ich, während mein Blick auf die dunkelbraune Holzkiste fiel. Mein Herz schlug schneller, als ich den Schlüssel aus meiner Jeanstasche zog und ihn ins silberne Hängeschloss steckte. Ein sanftes Klicken verriet, dass es entriegelt war.
Langsam hob ich den Deckel der Kiste an. Das Erste, was ich sah, war ein Kuvert. Mein Name stand darauf, in einer Schrift, die glänzte wie Perlmutt. Mit zitternden Fingern nahm ich es heraus und hielt dann inne.
»Öffne es doch, Schatz.« Monias Stimme hallte so klar in meinem Inneren, dass ich für einen Moment glaubte, sie sei wirklich da. Ein sanftes Zittern durchfuhr mich, Tränen stiegen mir in die Augen. Es fühlte sich an, als säße sie bei mir. Ich spürte einen zarten Hauch auf der Wange. »Ich glaube ich spüre dich, Monia. Ja, ich spüre dich«, flüsterte ich, und eine angenehme Wärme stieg in mir auf. »Danke, Monia.«
Das Kuvert war nur an einem Punkt verklebt. So konnte ich es öffnen, ohne es zu beschädigen. Vorsichtig zog ich das glänzende Briefpapier heraus, das an den Ecken abgerundet war. Es roch nach Monia. Ein Duft nach Vanille, Lilien und Flieder. Eine Welle der Wehmut umspülte mein Herz. Meine Tante hatte den Brief handschriftlich mit schwarzer Tinte verfasst. Die Buchstaben kippten leicht nach rechts und liefen wellenförmig aus. Ein kreativer liebevoller Tick von Monia.
Während ich die Zeilen las, versiegten die Tränen und wandelten sich mehr und mehr in Dankbarkeit für das, was meine Tante mir damit schenkte – einen Einblick in ihr geheimstes Innerstes und tiefes Vertrauen. Ich fühlte mich geehrt und von Monia umarmt. Ein Gefühl, das mir das gab, was Monia sich für mich immer gewünscht hatte – mehr Selbstvertrauen in das eigene Tun, in mich selbst. Es war immer da gewesen, wenn ich mit Monia zusammen war, und ich hoffte, es eines Tages auch aus eigener Kraft halten zu können.
Liebe Marley,
mein Segel auf stürmischer See. Die Ärzte geben mir nur noch sehr wenig Zeit. Es wird nicht allzu viel geben, das ich vermissen werde, wenn ich gehe. Du und er, Ihr gehört definitiv dazu.
Vielleicht konnte ich Dir einen Teil meines Geheimnisses bereits erklären, so dass Du nun weißt, wen ich meine.
Im Geiste bin ich noch die alte Monia, aber der Körper, den meine Seele bewohnt, wird immer schwächer. Ihn allein lasse ich hier zurück. Also, sei nicht traurig. Du wirst mich wiedersehen, und ich Dich. Ich bin nur schon früher zu Hause, und ich hoffe inständig, dass ich gut genug war, um in den Himmel zu kommen. Auch wenn ich feige war. Ich habe Dir oft gesagt, Du sollst an Deinen Träumen festhalten und sie dir nicht von anderen Menschen ausreden lassen. Ich selbst habe meinen größten Traum aufgegeben, weil ich mir letztendlich doch ein schlechtes Gewissen habe einreden lassen und nicht wollte, dass der Mann meines Lebens durch mich das Wichtigste verliert, das er hat. Du wirst mich besser verstehen, wenn Du meine Tagebücher und die Briefe gelesen hast.
Ich werde Jasper von Dir grüßen, mein Engel. Du hast so ein großes, gutes Herz, so viel Talent. Zu Deiner Vollkommenheit fehlt nur noch eins – Vertrauen in Dich selbst. Vielleicht kann ich Dir dazu nun einen Stups geben und möchte Dich gleichsam um etwas bitten.
Einen großen Teil meiner Asche werde ich zu einem Diamanten pressen lassen. Eugen hat diesen Wunsch ja mitbekommen. Nun, es wäre wohl besser gewesen, er wüsste nichts davon.
Bitte schenke Tom diesen Teil von mir. Falls er ihn jedoch nicht mehr möchte, was ich verstehen könnte, dann behalte Du ihn. Als ein Versprechen und fühlbares Symbol, dass ich immer bei Dir sein und ihn und auch Dich stets im Herzen tragen werde. Den anderen Teil meiner Asche bitte ich Dich, in Indiana zu verstreuen, um Tom zu zeigen, wie gern ich dort mein Leben mit ihm geteilt hätte, und dass ich auf ihn warten werde, so wie ich es versprochen habe. Er soll bis dahin glücklich sein, und ich hoffe, er kann mir verzeihen. Das würde mir sehr, sehr viel bedeuten.
Liebe und wahre Freundschaft sind der größte Reichtum, den ein Mensch besitzen kann. Was sonst können wir mit uns nehmen als das? Was sonst erfüllt uns mehr als der Glaube an Gott? Du weißt, dass Du den Glauben nie verlieren darfst. Bitte, Liebes. Du weißt auch, dass es mir immer geholfen hat, zum Himmel zu beten. Wir sind nicht allein, auch wenn es manchmal den Anschein hat.
Die Asche befindet sich in dem roten Samtsäckchen. Ich habe eine gute Freundin gebeten, sie nach meinem Ableben dort hineinzufüllen und in die Kiste zu geben. Verzeih Eugen, wenn er zetert, weil ich Dir das Geld und den Diamanten vermacht habe. Meine Güte, ich kann ihn schon jetzt beinahe hören. Ach, mein Eugen, er weiß es nicht besser.
Lass Dich nicht umstimmen, wenn Du den Weg gehen willst, den ich Dir hier vorschlage – von keinem. Ich will Dich auch nicht drängen. Wie immer Du Dich auch entscheidest, ich stehe in Gedanken hinter Dir.
Sag Deiner Mutter liebe Grüße von mir. Ich liebe sie, auch wenn wir uns manchmal gezankt haben wie zwei Katzen.
Ich lege mein vergangenes Leben, mein Herz in Deine Hände. Das Wichtigste davon bewacht diese kleine Kiste, die mein Lieblingsmensch neben Tom nun in Händen hält. Von diesem Geheimnis wussten nur meine Eltern und Deine Mutter. Später erfuhr durch Eleonor auch Eugen davon. Er hat nie verstanden, wie ich mich überhaupt auf einen Ausländer, wie er es sagte, einlassen konnte. Und was Deine Mutter angeht, ich habe ihr verziehen. Sie ist, wie sie ist.
Mit tausend Küssen und guten Wünschen,
Deine Tante Monia
Ich ließ den Brief sinken, hätte endlos weiterlesen mögen, wenngleich die Zeilen meine Gedanken durcheinanderwirbelten. Mein Herz fühlte sich tonnenschwer an. Fragen über Fragen fluteten meinen Kopf. Vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, steckte ich den Brief in das Kuvert zurück. Danach nahm ich das Säckchen heraus und drückte es eine Weile an mich. Mein Blick fiel auf die alte Gitarre, auf die ich damals lange gespart hatte. Monia hatte es geliebt, wenn ich ihr darauf etwas vorspielte. Bittersüße Sehnsucht überrollte mich in immer neuen Wellen.
Ich nahm eine kleine schwarze Schatulle aus der Box. War das der Diamant, den Monia für diesen Tom bestimmt hatte? Meine Tante schien bis über beide Ohren in diesen Mann verliebt gewesen zu sein. Doch wer war er, dieser Fremde, den Eugen so abfällig laut Brief als "Ausländer" bezeichnet hatte? Der Rest des Inhalts würde mir bestimmt die Antworten geben, die Monia mir in ihrem Brief versprochen hatte.
Langsam öffnete ich die Schatulle. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als das Licht meiner Schreibtischlampe auf den kleinen Diamanten fiel, der wie ein einsamer Stern darin lag. Er war an einer filigranen silbernen Kette befestigt und schien das gesamte Licht des Universums in sich zu sammeln. Vorsichtig nahm ich die Kette heraus und ließ den Diamanten in meine Handfläche gleiten. Eine Weile saß ich nur da, den Blick auf den glitzernden Stein gerichtet. Draußen tobte der Sturm weiter ums Haus, als wolle er eindringen. Der Edelstein strahlte eine sanfte Wärme aus, die tief in mein Innerstes vordrang und mich lächeln ließ. Behutsam öffnete ich den Verschluss und legte mir die Kette um den Hals.
Danach fischte ich das dickliche Kuvert aus der Kiste. Es war blau wie ein Sommerhimmel. Monia hatte in Schreibschrift die Worte Trau Dich darauf geschrieben. Mein Herz wollte sich nicht beruhigen. Ich öffnete den Umschlag und warf einen Blick in sein Inneres. Das Erste, was ich sah, war ein Bündel Geldscheine. Staunend zog ich es heraus und las, was auf dem Zettel stand, der daran hing:
Sag jetzt nicht, das kannst Du nicht annehmen. Du kannst. Ob Du die Reise nun machst (was ich hoffe) oder nicht. Als mir die Idee kam, da sagte mir eine innere Stimme, dass es der richtige Weg für Dich wäre. Sie war ganz deutlich, deshalb bin ich so überzeugt davon.
Wenn Du das anders sehen solltest, dann erfülle Dir mit dem Geld einen Traum. Und bitte hab dabei bloß kein schlechtes Gewissen. Denke daran, dass es mich glücklich macht, wenn Du es bist. Außerdem – es ist nur Geld. Benutze es nur für Dich – für Deine Träume. Versprich mir das. Ich habe genug an Deine Mutter vererbt, dass sie einige Hypothekenraten ohne Deine Hilfe bezahlen kann.
Denke ausnahmsweise einmal an Dich, Liebes.
Mein Gott. »Du bist verrückt, Tante Monia.« Ich brauchte nicht zu zählen, wie viel es war. Ein kleiner Vermerk auf der anderen Seite des Zettels verriet es mir – fünfzehntausend Euro. Noch nie zuvor hatte ich so viel Geld auf einmal besessen. Sekundenweise stockte mir der Atem.
Inzwischen hatte sich das Gewitter verzogen, der Wind war abgeflaut, und nur ein sanfter Regen klopfte noch gegen die Scheiben. Ich griff erneut in das Kuvert und zog ein Flugticket hervor. Doch es war nur ein Muster. Das Ziel darauf hatte Monia jedoch eigenhändig eingetragen. Ich stockte.
»Nach Amerika, Indiana?« Amerika! Das war wie ein ferner Planet für mich. Ich wendete es und entdeckte ein paar Zeilen, die Monia auf die Rückseite geschrieben hatte:
Tom liebte die Weite des Landes. Er sagte, dort würde der Wind singen, wenn er über die riesigen Felder und Wiesen streift. Ich hätte es zu gern einmal gehört. Ich reise mit Dir, wenn Du Dich dazu entschließt. Flieg, wann immer Du willst.
»Tom kommt also von dort«, flüsterte ich und umschloss den Diamanten mit einer Hand.
Aus der Kiste leuchtete mir ein weiteres Kuvert entgegen, grasgrün wie die Hoffnung. Mittig auf der Vorderseite prangte ein glitzernder silberner Stern und ein paar Worte:
Für Tom von Monia
Ich schluckte trocken. »Den soll ich ihm wohl geben.« Behutsam, als wäre er zerbrechlich, nahm ich den Umschlag heraus und legte ihn zur Seite. Er war verklebt. Ich hatte nicht vor, ihn zu öffnen, denn es gab keinen Zettel, der mich darum bat. Monia hätte es mich sonst wissen lassen.
Ich fühlte mich wie in einem Traum. Die Farben in meinem Zimmer waren noch nie heller, satter und zugleich sanfter gewesen.
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Inzwischen hatte ich die Kiste komplett ausgeräumt und den gesamten Inhalt drum herum platziert.
»Marley?«, drang Mutters Stimme vom Flur aus zu mir. Der Türgriff bewegte sich.
»Ich komme gleich.« Hastig warf ich die Decke über die Kiste und ihren Inhalt, schaltete die Musik aus und schloss die Tür auf. Mit hochgezogenen Brauen und erhobenem Kopf trat Mutter ins Zimmer und musterte mich von Kopf bis Fuß. Mir wurde heiß, dann kalt. Verdammt, ich trug den Diamanten ja noch. Zu spät. Der Blick meiner Mutter hatte sich bereits daran festgesaugt, ihr Mund öffnete sich.
»Also ist es tatsächlich wahr«, flüsterte sie, senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe sie immer noch nicht.«
»Du kennst ihr Geheimnis«, sagte ich. Sie schaute mir in die Augen.
»Erinnere mich nicht daran. Das waren Hirngespinste. Damit hatten unsere Eltern völlig recht. Sie hat dir also davon erzählt? Eigentlich habe ich sie gebeten, das nie zu tun. Außerdem dachte ich, sie wollte mit niemandem mehr darüber reden.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Liebe ist kein Hirngespinst.«
Mutter verzog einen Mundwinkel. »Hast du das bei deinem letzten Freund nicht auch gedacht? Und was ist dabei herausgekommen? Am Anfang hättest du noch beide Hände für diesen Ben ins Feuer gelegt.«
Sie vergaß da etwas. »Moment. Du warst es doch, die Ben beinahe bis zuletzt in den Himmel gehoben hat. Ein angehender Anwalt in der Familie –«
Mutter hob einen Finger. »Das ist jetzt nicht wichtig. Deine Tante ist für diesen Amerikaner damals nur ein Abenteuer gewesen. Im Grunde wusste sie das auch. Was wirst du nun mit dem Diamanten machen? Eugen wird nicht aufgeben, bevor er ihn hat.«
Ich war fest entschlossen, ihn zu behalten. »Ich werde ihn nicht hergeben. Er ist ein Teil von Monia.«
Mutter schnaubte. »Hat sie dir auch Geld vererbt?«
»Ein wenig«, antwortete ich.
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Und wie viel?«
»Ein paar hundert Euro.« Das war im Grunde nicht gelogen.
Mutter überlegte sichtlich. »Nun ja. Wir müssen Eugen ja nicht sagen, dass wirklich ein Diamant in der Kiste war. Uns fällt schon etwas ein.« Sie wollte nach dem Edelstein greifen, aber ich trat zurück.
»Meine Güte. Ich entreiße ihn dir schon nicht. Ich meine nur, er würde sicher einiges in die Familienkasse einbringen. Du weißt, dass wir die Raten weiterbezahlen müssen. Und das bisschen, das Monia mir vererbt hat, wird nicht lange reichen. Ich habe das ganze Leben auf ihre Hilfe verzichtet, was Geld angeht. Da hätte sie eigentlich schon mehr springen lassen können. Na ja. Außerdem hätte ich mal wieder richtig Lust, mir etwas zu gönnen, ohne jeden Cent dafür zweimal umdrehen zu müssen.«
»Das verstehe ich doch.«
Mutter lächelte. »Schön. Wir können ihn ja schätzen lassen. Soweit ich weiß, hat es schon einiges gekostet, ihn pressen zu lassen. Einen Teil bekommen wir doch auf jeden Fall wieder.«
Oh nein. »Ich meinte damit, ich verstehe, dass du nicht jeden Cent zweimal umdrehen möchtest, wenn du dir hin und wieder etwas Schönes leisten willst. Was den Diamanten angeht – das ist nicht irgendein Diamant. Er ist aus Tante Monias Asche. Sie war deine Schwester. Wie kannst du überhaupt auch nur daran denken, ihn zu verkaufen? Außerdem habe ich vor, ihr damit den letzten Wunsch zu erfüllen.«
Habe ich da gerade eine Entscheidung getroffen?, fragte ich mich selbst. Schon oft hatte ich von Amerika geträumt, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Monia war ein großer Fan von James Dean, hatte mir seine Geschichte nach und nach erzählt, bis ich selbst fasziniert war von seiner Person und seinen Filmen. Er wuchs bei seiner Tante und seinem Onkel in der Kleinstadt Fairmount im Herzen Indianas auf, nachdem seine Mom an Krebs gestorben war. Monia und ich hatten ein paarmal zusammen Deans Filme angesehen und in den Augen des jungen Mannes vieles erkannt, was wir selbst fühlten. Monia bewunderte ihn dafür, dass er ausgebrochen war, um seine Träume zu leben, über alle Grenzen hinweg. Insgeheim wünschte ich mir dasselbe.
»Nur einmal Rebellin sein«, flüsterte ich und lächelte.
»Was hast du gesagt?«
Mutter würde mich da nie verstehen. »Ach, nichts.«
»Du musst dich ja nicht sofort entscheiden. In einem hat Eugen recht. Man muss an deinen Verstand und dein Gewissen appellieren.«
»Ist gut, Mutter.«
»Mutter? Es klingt immer so hart, wenn du mich so nennst. Mama gefällt mir besser. Auch wenn du deinen Vater Dad genannt hast, wo er doch halb Engländer war.«
»Also auch ein Ausländer. Stimmt. Seltsam, wo doch –«
Sie hob einen Finger. »Aber einer, der mit beiden Beinen fest im Leben stand und dazu noch verantwortungsbewusst war. Was ihn dann später in die Spielsucht trieb … Ich weiß es bis heute nicht. Monia hat immer gesagt, ihm hätte es gefehlt, das Leben hinter dem Leben zu spüren, weil seine Eltern ihm eingeredet haben, Träume wären Schäume, genau wie unsere. Monia kann von Glück reden, dass Eugen sie damals wollte und sie zurechtgestutzt hat, auch wenn er dabei zu Anfang eine Maske getragen und so getan hat, als wäre er wie sie. Er ist heuchlerisch. Aber es war ihre Rettung, davon bin ich überzeugt, und unsere Eltern waren das auch. Seinem Schicksal kann man nicht reinreden. Mutter sagte immer: Schuster bleib bei deinen Leisten. Und das stimmt. Monia konnte all diese abgehobenen Gedanken wohl bis zuletzt nicht für sich behalten.«
Ihr Tonfall war eine Mischung aus Wut, Angst, Verzweiflung und Selbstmitleid.
Ich erinnerte mich, dass Dad mit den Jahren immer stiller geworden war und manchmal davon träumte, die Welt zu umrunden, was meine Mutter immer als völligen Unsinn abtat. Ich wünschte, er hätte es einfach gemacht. Außerdem hatte er oft Heimweh nach der Kleinstadt in Oxfordshire, in der er aufgewachsen war. Mutter allerdings mochte weder seine Verwandtschaft noch England, selbst wenn es feine Leute waren.
Sie drängte sich an mir vorbei zum Bett. »Versteckst du die Kiste unter der Decke? Was war noch darin?«
Ich verdrehte die Augen. »Mama, bitte.«
Prompt folgte, was ich hatte kommen sehen. Mutter erlitt einen spontanen Migräneanfall, der sie müde auf den Schreibtischstuhl sinken ließ.
»Meine Tochter hat Geheimnisse vor mir.« Demonstrativ massierte sie sich die Schläfen. »Das tut weh.«
Bevor sie mir vom Stuhl kippte klärte ich sie lieber einmal auf. »Es sind nur ein paar persönliche Zeilen von Monia und ein Flugticket.« Das mit dem Ticket war mir herausgerutscht. Schöner Kacksalat.
Mutter schaute mich an. Der Migräneanfall schien wie verflogen.
»Was?«, rief sie mit großen Augen.
»Ist nur ein Musterticket. Als kleiner Wink, dass ich mal über meine Grenzen hinausfliegen sollte.«
Mutter lachte höhnisch. »Ich sage es ja, sie war verrückt. Dir solche Flöhe ins Ohr zu setzen. Genau wie deinem Vater. Ich glaube wirklich, er wäre normal geblieben, wenn sie die Finger nicht im Spiel gehabt hätte. Von allein wäre er nie auf die Idee gekommen, ausbrechen zu wollen. Eigentlich war sie eine verbitterte Hexe. Wenn sie hier wäre, dann würden wir nun wohl wieder streiten. Und du willst das Geld jetzt für eine Reise ausgeben, nur weil sie dir das vorgeschlagen hat? Ich glaube nicht, dass Eugen dir dafür Urlaub geben wird.«
»Es wäre mein Recht. Ich habe sogar noch einige Urlaubstage aus dem letzten Jahr übrig.«
Mit einem tiefen Seufzen stand meine Mutter auf und befühlte ihre Stirn. »Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du mich im Stich lässt.«
»Das würde ich auch nie tun.«
Sie verließ den Raum. Ich atmete tief durch und ließ mich neben der Kiste und deren Inhalt aufs Bett fallen, schnappte mir die darüber geworfene Decke, zog sie fort und griff nach dem Stapel Briefe, der mit einer roten Schleife umwickelt war.
* * *
Der milde Abendwind blies mir eine blonde Locke ins Gesicht und kitzelte meine Nase. Ich atmete die frische Luft ein und drehte dabei das Autofenster ganz herunter. Das schlechte Gewissen drückte mich, denn eines wurde mir von Minute zu Minute klarer: Ich wollte diese Reise machen. Meine innere Stimme war noch nie so klar und deutlich gewesen.
»Ich werde Mutter ein paar hundert Euro von dem Geld geben, bevor ich aufbreche, Tante Monia. Sei mir nicht böse. Das bin ich ihr schuldig«, sagte ich.