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Keith Stuart

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Beschreibung

Tom leitet ein Provinztheater im englischen Somerset und ist alleinerziehender Vater einer Tochter, Hannah. Zu deren Geburtstag inszeniert Tom jedes Jahr ein besonderes Stück Magie auf der Bühne, um Hannah und sich selbst den Glauben an Wunder zu erhalten. Denn Hannah hat eine unheilbare Herzschwäche, und kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag spürt sie, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Als auch noch das Theater geschlossen werden soll, kämpfen Tom und Hannah dafür, dass ihre Geschichten noch nicht zu Ende sind. Und vielleicht steckt in einem letzten Bühnenzauber eine letzte Chance …

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Buch

Tom leitet ein Provinztheater im englischen Somerset und ist alleinerziehender Vater einer Tochter, Hannah. Zu deren Geburtstag inszeniert Tom jedes Jahr ein besonderes Stück Magie auf der Bühne, um Hannah und sich selbst den Glauben an Wunder zu erhalten. Denn Hannah hat eine unheilbare Herzschwäche, und kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag spürt sie, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Als auch noch das Theater geschlossen werden soll, kämpfen Tom und Hannah dafür, dass ihre Geschichten noch nicht zu Ende sind. Und vielleicht steckt in einem letzten Bühnenzauber eine letzte Chance …

Weitere Informationen zu Keith Stuart finden Sie am Ende des Buches.

KEITH STUART

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Heike Reissig und Stefanie Schäfer

Für Mum, Dad, Catherine und Nina

»Staunt euch die Augen aus dem Kopf«, sagte er, »lebt, als ob ihr jeden Moment sterben könntet. Schaut euch die Welt an. Sie ist fantastischer als jeder fabrizierte Traum. Verlangt weder Gewährleistungen noch Sicherheit, so ein Tier hat es in unserer Welt nie gegeben.«

aus: Ray Bradbury, Fahrenheit 451

»Wenn die Tage durch dich hindurchzufallen scheinen, lass sie einfach gehen.«

aus: Blur, The Universal

Tom

Magie gibt es wirklich. Davon war ich immer überzeugt. Ich meine nicht die Zauberei, mit der man Kaninchen aus dem Zylinder zieht oder Leute durchsägt (und anschließend wieder zusammenfügt, sonst wäre es ja Mord). Und auch nicht Magie, wie sie in Märchen vorkommt, mit Prinzessinnen, Hexen und Fröschen, die sich in hübsche Prinzen verwandeln (dazu kommen wir später noch). Ich meine die Vorstellung, dass unglaubliche Dinge auf magische Weise wahr gemacht werden können, durch Willenskraft, Anstrengung und Liebe. So fing alles an. So haben wir es geschafft, alles durchzustehen.

Eigentlich müsste ich mit Hannahs Diagnose anfangen. Aber davon erzähle ich noch nicht. Diese Geschichte handelt von Magie, und deshalb wird sie auch mit etwas Magischem beginnen, gewissermaßen. Das ist sinnvoller, vertrauen Sie mir. Beginnen wir zwei Wochen später, mit Hannahs fünftem Geburtstag. Denn so spielt das Leben manchmal: Man bereitet alles für den großen Tag vor, und dann – wumm! – erhält man plötzlich eine schreckliche Nachricht, die einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Natürlich sagte ich Hannah nicht die ganze Wahrheit, das brachte ich nicht fertig. Aber Hannah war schon damals klüger als ich; klug genug, um in meinen Augen zu lesen, was die Ärzte mir mitgeteilt hatten und was auf sie zukam. Wir standen vor der Klinik, die kalte Sonne funkelte auf dem zerkratzten Plexiglasdach der Bushaltestelle. Ich versuchte zu schlucken, doch der Kloß in meinem Hals war so groß wie eine Bowlingkugel. Hannah sah zu mir auf.

»Alles wird gut«, sagte sie. »Alles wird gut.«

Und dann ballte sie ihre kleine Faust und streckte sie mir zum Check entgegen, und ich checkte.

So war das.

Ja.

Wo war ich stehen geblieben?

Richtig: Ich nahm mir vor, etwas ganz Besonderes zu ihrem Geburtstag zu organisieren; etwas, das uns Ablenkung verschaffte. Als ich sie fragte, worauf sie Lust hätte, zuckte sie mit den Achseln und sagte: »Ich möchte einfach nur mit meinem Freund Jay Lego spielen.« Na gut, dachte ich. Das kriegen wir hin.

»Und ich wünsche mir Feen!«, fügte sie hinzu. »Richtige Feen!«

Hannahs Lieblingsbuch war eine Märchensammlung, die in der Familie meiner Mutter von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Das Buch war also schon sehr alt und enthielt all das gruselige Zeug, das in den pädagogisch einfühlsamen Neuübersetzungen nicht mehr vorkommt: Kinder, die im Wald verhungern, Zwerge, die von Hexen gefressen, und Holzfäller, die von Wölfen zerfleischt werden. Hannah liebte diese Geschichten. Doch am meisten gefielen ihr die Feen – keine kitschigen Supermarkt-Feen mit rosafarbenen Glitzerflügeln und funkelnden Zauberstäben, sondern die Feen der alten Schule: neckische Wesen, die in der Natur herumtollen und Menschen auf verzauberte Lichtungen locken. Wenn wir am Ende einer Geschichte anlangten, fragte sie jedes Mal: »Aber Feen gibt es doch gar nicht wirklich, oder?« Ich antwortete ihr dann, dass es sehr wohl Feen gäbe, aber nur ganz besondere Menschen bekämen sie zu Gesicht. Es war nur ein Witz, ein kleines Gute-Nacht-Ritual. Auch am Abend ihres fünften Geburtstags stellte Hannah mir die übliche Frage. Doch diesmal antwortete ich: »Schau nachher aus dem Fenster, vielleicht hast du ja Glück!« Sie schüttelte den Kopf und lachte, als würde ich bloß dummes Zeug reden, und vergrub schließlich ihren Kopf in den Federkissen, bis ich aufstand. Aber ich wusste genau, dass sie vor Neugier platzte, sie war immer neugierig.

Also gab ich ihr einen Kuss auf den Lockenkopf; er war ganz zerzaust, weil wir uns beide nicht gut aufs Kämmen verstanden. Und dann ging ich hinaus und schloss die Tür hinter mir bis auf einen Spalt, gerade breit genug, um hindurchspähen zu können. Und natürlich: Sobald Hannah dachte, ich sei weg, kletterte sie aus dem Bett und schlich zum Fenster.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich ein Theater leitete und davor Schauspieler gewesen war. Die Magie, an die ich am meisten glaubte, war die Magie des Theaters: die Wunder, die geschehen, wenn Schauspieler eine Bühne vor Publikum mit Leben füllen. Behalten Sie das beim Weiterlesen im Hinterkopf.

Draußen war es fast stockfinster, die Sterne verbargen sich hinter einer fernen Wolkendecke. Unser Haus steht an einem Feld, und tagsüber sehen wir manchmal Reiter auf dem Weg, der zum Wald hochführt. Doch abends gibt es nur noch Dunkelheit und die Lichter der nächsten Ortschaft, die in der Ferne funkeln.

Hannah stand nun auf Zehenspitzen am Fenster, ihre kleine Gestalt hob sich als Silhouette vor der Dunkelheit draußen ab. Plötzlich drehte sie den Kopf nach rechts. Hinter der großen Hecke am Nachbargarten erschien ein seltsames Leuchten, ein warmer orangefarbener Lichtschein, wie ein Lagerfeuer – nur dass kein Knistern zu hören war, sondern leise Musik, die im Rauschen des Windes fast unterging. Dann kamen undeutliche Stimmen hinzu, die allmählich lauter wurden: Sie sangen.

Hannah rieb sich mit dem Ärmel ihres Unglaublicher Hulk-Pyjamas die Augen. Dann schaute sie wieder hinaus. Sie blieb ganz dicht am Fenster stehen, schrak nicht zurück, stand ganz still, vollkommen fasziniert von dem, was draußen geschah. Die immer lauter werdende Musik riss sie schließlich aus ihrer Trance.

»Daddy!«, rief sie entzückt. Sie hatte überhaupt keine Angst, war weder erschrocken noch überrascht.

»Daddy!«, wiederholte sie. »Ich kann sie sehen. Ich kann sie sehen!«

»Was kannst du sehen?«, fragte ich. Natürlich spielte ich den Ahnungslosen, als ich in ihr Zimmer stürzte. Hannah ergriff meine Hand und zog mich ans Fenster.

»Die Feen!«, rief sie. »Da sind Feen, sieh nur!«

Und tatsächlich: Eine Reihe von anmutigen Gestalten in leuchtend weißen Kleidern mit großen flatternden Flügeln tanzte den Reitweg hinten am Garten entlang. Einige hielten lange Stöcke mit Laternen, in denen Kerzen flackerten, andere waren in Gewänder mit funkelnden Feenlichtern gehüllt. Hannah schaute gebannt zu, dann klopfte sie gegen die Fensterscheibe und winkte begeistert. Und als eine der Gestalten am Gartenzaun anhielt und ihr eine Kusshand zuwarf, jauchzte sie. Es war das erste Mal seit über einer Woche, dass sie sich selbst und alles andere vergaß. Es waren nur einige Augenblicke, doch sie verscheuchten die Dunkelheit der letzten Tage. Die Gestalten tanzten, sangen und winkten, und das Licht der Laternen umgab sie wie ein Glorienschein. Dann zog die Prozession weiter, der Gesang wurde leiser, der Lichtschein schwächer. Die Dunkelheit kehrte zurück, doch sie war nicht mehr so tiefschwarz wie zuvor. Die Feen hatten etwas zurückgelassen, das für immer bleiben würde.

Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis. Eigentlich waren es keine Feen. Wenn man genau hinhörte, konnte man erkennen, dass es sich bei dem Gesang nicht um ein feenhaftes Schlummerlied handelte, sondern um »When Two Become One« von den Spice Girls aus dem Ghettoblaster. Als Leiter eines Theaters hat man das große Glück, sich rund um die Uhr auf passionierte Laienschauspieler verlassen zu können, die die Frage, »Würdet ihr Sonntagabend mal kurz in Glitzertrikots an unserem Haus vorbeitanzen?«, nur allzu gern mit ja beantworten. Und außerdem kann man auf eine gut ausgestattete Requisite zurückgreifen und muss nicht erst in irgendwelchen Geschäften nach historisch anmutenden Handlaternen suchen.

Mir war spontan die alberne Idee gekommen, der Finsternis mit Licht zu trotzen, und sie hatte funktioniert. Irgendwann riss Hannah sich vom Fenster los und lief die Treppe hinunter, um die Vorstellung aus nächster Nähe zu sehen. Doch als sie die Hintertür erreichte, die zum Garten führte, waren die Feen bereits verschwunden (wie zuvor vereinbart). Ich weiß noch immer nicht, ob Hannah sie wirklich für echt hielt oder ob sie wusste, dass alles nur Show war, aber als ich zu ihr kam, stand sie mit wehenden Locken an der offenen Tür, schaute zu mir auf und nahm meine Hand.

»Noch mal!«, sagte sie. »Noch mal!«

In diesem Moment begriff ich, dass Hannah für jede Möglichkeit dankbar sein würde, der Wirklichkeit zu entfliehen und die Magie des Theaters zu erleben. Sie schlug eben nach mir. Ich hatte einen Weg gefunden, so banal er auch sein mochte, Hannah dabei zu helfen, mit dem, was passiert war und was noch kommen würde, fertigzuwerden. Und es würde wichtig sein, eine Fantasiewelt zu haben.

Seit damals überraschte ich Hannah jedes Jahr zum Geburtstag mit einer kleinen Vorstellung. Es wurde zu einem Ritual, um der bitteren Realität der Untersuchungen und Tests, die jeden Herbst anstanden, etwas entgegenzusetzen.

Die Zeit verging, viel schneller, als ich es mir je hätte ausmalen können. Und als Hannah schließlich dreizehn wurde, wollte sie ihren Geburtstag nur mit ihren Freundinnen verbringen; Stadtbummel, Pizza essen, Videos schauen. So war es eben. Selbst die Welt der Fantasie kann den Lauf der Zeit nicht aufhalten.

Drei Monate vor ihrem sechzehnten Geburtstag begann ich zu überlegen, ob noch Zeit blieb, eine allerletzte Vorstellung für sie auf die Beine zu stellen. Ich hatte das Gefühl, dass es bedeutsam war, als hinge ein Teil der Zukunft davon ab. Ich hatte andauernd das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde und wir darauf vorbereitet sein müssten. Und dafür wollte ich sorgen, auf meine Weise. Wie Sie sehen, glaubte ich fest an die Magie des Theaters. Habe ich das schon erwähnt?

SOMMER

2005

Hannah

Bloß nicht! Stirb bloß nicht auf der Bühne! Denk nicht mal daran! Das wäre echt das Allerletzte!

Mit diesem sagenhaft motivierenden Gedanken trete ich zum ersten Mal hinaus ins grelle Scheinwerferlicht des Theaters, jedenfalls zum ersten Mal richtig. Als Schauspielerin.

Natürlich bin ich vorher schon tausendmal hier gewesen. Mit einem Theaterdirektor zum Vater wächst man praktisch auf der Bühne auf – was unglaublich glamourös klingt, bis herauskommt, dass sich diese Bühne in einer Kleinstadt in Somerset befindet, und nicht, sagen wir, in New York. Mein Auftritt ist zugleich mein Debüt bei der Theatergruppe unserer kleinen Stadt, und nicht etwa der Royal Shakespeare Company. Und da wir gerade gnadenlos ehrlich sind, geben wir auch gleich zu, dass weder Hamlet noch Nora oder Ein Puppenheim noch irgendein anderes der Stücke aufgeführt wird, die ich für den Schauspielunterricht in der Schule hätte lesen sollen. Nein, unser Stück ist ein derber »Schwank« aus den Siebzigern, geschrieben von einem Typen, von dem ich vorher noch nie gehört hatte. Mein Dad nennt es »Bleib doch ein sexistisches Arschloch«, aber das ist natürlich nicht der richtige Titel. So was kommt jedenfalls beim hiesigen Publikum gut an, deswegen müssen wir uns damit begnügen. Sally, die Intendantin der Theatergruppe, hat immerhin das Drehbuch etwas modernisiert – hauptsächlich, indem sie die rassistischen Witze gestrichen hat. Die sexistischen sind dringeblieben, denn offenbar sind sie so lange okay, wie wir sie ironisch darstellen. Ich habe eine Menge darüber gelernt, was Erwachsene akzeptabel finden, seitdem ich mich im vergangenen Jahr der Theatergruppe angeschlossen habe. Ich komme nicht viel raus, deswegen muss ich meine Lebenserfahrung da zusammenkratzen, wo mir das Leben begegnet.

Als mein Einsatz kommt, geht es auf der Bühne schon rund. Ein spießiges Wohnzimmer aus den siebziger Jahren mit limonengrünem Sofa, Flokati und Bambus-Wohnzimmertisch bildet die Kulisse. Ted ist brillant in seiner Hauptrolle als neurotischer, verwirrter Buchhalter, der kurz vor seiner Pensionierung steht und einem sterbenslangweiligen Lebensabend entgegenblickt. Sally hat die Rolle genial besetzt, denn im wahren Leben ist Ted ein neurotischer, verwirrter Buchhalter, der kurz vor seiner Pensionierung steht und einem sterbenslangweiligen Lebensabend entgegenblickt. Natasha spielt seine Ehefrau, obwohl sie mindestens zwanzig Jahre zu jung und tausendmal zu cool ist, um mit Ted verheiratet zu sein. Früher hat sie die PR für eine Kunstgalerie in London gemacht, aber sie und ihr Mann entschlossen sich, vor der Ankunft ihres zweiten Kindes den Karrierestress hinter sich zu lassen. Natasha hat mir gestanden, dass ihr das Leben in Somerset vorkommt wie eine Mischung aus Und täglich grüßt das Murmeltier und Beim Sterben ist jeder der Erste. Ich habe Beim Sterben ist jeder der Erste gegoogelt und glaube nicht, dass es ein Kompliment war. Dora, zuständig für die Requisite, hat Natashas graue Perücke in einem Kostümverleih gefunden, und Margaret – mit einundachtzig die Älteste in der Theatergruppe – behauptet, Natasha sähe damit aus wie eine französische Dirne. Margaret ist die ruppigste und zynischste Person, die mir je begegnet ist, und außerdem eine meiner besten Freundinnen. Habe ich erwähnt, dass ich nicht oft rauskomme? Jedenfalls musste ich »Dirne« googeln, und jetzt ist es mein Lieblingswort.

Folgende Szene erwartet mich: ein neurotisches Mittelschichtspaar im Großbritannien der siebziger Jahre bereitet eine Dinnerparty für die neuen Nachbarn vor, die sehr vornehm und angesehen zu sein scheinen. Doch dann kommt die halbwüchsige Tochter der Gastgeber sturzbetrunken von einer Party nach Hause, und sie müssen sie im Schrank unter der Treppe verstecken. Ich trage ein knallbuntes Blumenkleid ganz aus Polyester und statisch aufgeladen, und während ich versuche, den Rock zu glätten, nickt mir Sally vom Bühnenrand aus zu, und ich weiß, dass gleich mein Stichwort kommt.

Tief durchatmen.

Mein Herz klopft, aber ich versuche, den Gedanken daran zu verdrängen. Der Soundeffekt einer Türklingel wird eingespielt, und dann bin ich dran. Durch den schwarzen Vorhang, raus auf die offene Bühne, vor Reihen von Leuten, die tatsächlich dafür bezahlt haben, von uns unterhalten zu werden.

Ach du Scheiße, jetzt geht’s los!

Als Erstes spüre ich ein seltsames Knistern in der Luft, eine Art allgegenwärtige Spannung, die meine Haut zum Kribbeln bringt – entweder aus Angst vor dem Publikum oder durch die Elektrizität, die mein leicht entflammbares Polyesterkleid generiert. Ich versuche das Gefühl zu ignorieren und konzentriere mich auf meinen Part. Kichernd zucke ich mit den Schultern, als mich meine Eltern fragen, was zum Teufel mit mir los ist. Dann schwanke ich an Natasha vorbei, deren Perücke ihr irgendwie keck über das rechte Auge gerutscht ist, stolpere und krache der Länge nach auf den Servierwagen. Da, vereinzelte Lacher aus dem Publikum! Was mich erleichtert, denn ich habe null Erfahrung mit Alkohol. Im Schauspielunterricht haben wir den Theaterreformer Konstantin Stanislawski gelesen, der sagt, dass die beste künstlerische Leistung aus dem »emotionalen Gedächtnis« des Künstlers hervorgehe – indem man sich auf etwas besinnt, das man selbst erlebt hat. Doch im Zusammenhang mit Alkohol erinnere ich persönlich mich nur daran, wie mein Vater bei der Feier seines siebenunddreißigsten Geburtstags im Pub von einer Bank fiel und sich eine Platzwunde zuzog. Also habe ich mir jede Menge Seifenopfern reingezogen und »betrunkene Teenage-Mädchen« in die Google-Bildersuche eingegeben. Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal.

Ich bin also auf der Bühne und liege quer über den hässlichen Möbeln. Ted und Natasha spritzen mir Wasser aus einer Vase ins Gesicht, um mich auszunüchtern – das Publikum kichert. Es macht Spaß, es klappt wirklich gut.

Dann sehe ich aus dem Augenwinkel heraus Dad – Tom, für alle anderen –, der mich vom seitlichen Bühnenrand aus beobachtet. Er trägt sein übliches Outfit: schwarze Jeans, Hemd, Krawatte und Blazer. Sein Haar steht in alle Richtungen ab, und das Gel glänzt im Licht. Meine Freundinnen Jenna und Daisy behaupten, er sähe aus wie ein alternder Popstar – irgendwie attraktiv, aber ein bisschen aus dem Leim gegangen und mit den ersten grauen Haaren. Ich sehe ihm gar nicht ähnlich. Den Fotos nach zu urteilen gleich ich eher meiner Mum – schmal, insgesamt ganz okay, graue Augen und hohe Wangenknochen, die wie geschwollen wirken, wenn ich zu viel Rouge auflege. Ach ja, und ich habe wilde Locken, von denen Jenna meint, sie sähen aus wie »eine explodierte Korkenzieherfabrik«. (Ziemlich nützlich, wenn man eine Besoffene spielt.) Egal, jedenfalls verrät Dads Gesicht in diesem Moment die vertraute Mischung von übertriebenem Stolz und Ermutigung, die ich so gut kenne. Das ist auch so etwas, das meine Freundinnen über ihn sagen: Er sei anders als andere Väter, weil er immer gut drauf sei. Er interessiere sich nicht sonderlich für Sport und höre ihnen aufmerksam zu, wenn sie mit ihm redeten. Er versetze sich in sie hinein. Das alles scheinen seltene Vorzüge von Vätern zu sein, was ich traurig finde.

Als ich klein war, hat er mich immer mit hierher genommen, damals, nachdem er die Direktorenstelle bekommen hatte. Er hob mich hoch auf die Bühne und inszenierte Geschichten für mich. Wenn wir dort oben saßen, im Licht eines einzelnen Scheinwerfers, brachte er mir das Lesen bei, während wir uns an Märchenbüchern (von denen ich wie besessen war und bin) und der Standardlektüre angehender Schauspieler abarbeiteten. Das gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Selbst wenn Dad arbeiten musste, holte er mich von der Schule ab und fuhr ohne Umwege mit mir zum Theater. Während er mit irgendeinem tourenden Ensemble zusammensaß und die Aufführung plante, rannte ich umher, tollte über die Bühne oder marschierte durch die Stuhlreihen, rufend und singend. Zu meinen Geburtstagen fingen wir irgendwann an, gemeinsam kleine Theaterstücke zu schreiben und sie mit der Theatergruppe aufzuführen, für alle unsere Verwandten und Freunde. Diese kleine Tradition war das Größte für mich! Jetzt fühlt es sich an, als sei es lange her.

Natürlich sehnte ich mich danach, in einem richtigen Stück mitzuspielen, aber Dad schob es immer wieder hinaus. »Die Leute würden gleich von Vetternwirtschaft in der Kunst ausgehen«, ermahnte er mich. »Die Kritiker würden uns zerreißen wie wilde Hunde.« Ich bezweifle ernsthaft, dass die Theaterkritikerin unserer Lokalzeitung in der Lage ist, irgendetwas zu zerreißen, geschweige denn eine Person, da sie eine sanftmütige siebzigjährige Frau mit einer Vorliebe für den längst verstorbenen Schauspieler Noël Coward ist. Doch Dad ließ sich nicht erweichen. Letztes Jahr weigerte er sich, mich die Cecily in Ernst sein ist alles spielen zu lassen mit der Begründung, es gäbe einige gefährliche Stunts. So ein Schwachsinn!

Als die Theatergruppe dann aber dieses Stück auswählte und es eine Rolle für ein fünfzehnjähriges Mädchen gab, bettelte ich Sally regelrecht an, sie mir zu geben. Sie war einverstanden unter der Bedingung, zuerst Dad zu fragen – »aus gesundheitlichen Gründen«. Ehrlich gesagt machte ich mir keine Hoffnungen. Ich weiß ja, dass er mich nicht für eine schlechte Schauspielerin hält, die an seinem Ruf kratzen könnte, sondern sich einfach nur Sorgen um mich macht. Am liebsten würde er mich in einem kleinen Zimmer einschließen und niemals rauslassen. Nein, Moment mal, das klingt schrecklich. Am liebsten würde er mich in Luftpolsterfolie einpacken und … ach, egal, ihr wisst, was ich meine. Es ist ja auch nicht so, als hätte ich den Ehrgeiz, ein verdammt berühmter Filmstar zu werden. Ich habe gar keinen Ehrgeiz; ist nicht mein Ding.

Nach einem ganzen Sketch rund um ein Soufflé, das nicht aufgegangen ist (der dann irgendwie in einem echt krassen Schwiegermutterwitz mündet), hat Margaret einen Kurzauftritt als neugierige Nachbarin. Im Nachthemd und mit Lockenwicklern im widerspenstigen grauen Haar steht sie vor der Tür. Normalerweise färbt sie ihre Haare in grellen Farben. Letztes Jahr zur Londoner Gay Pride Parade leuchtete es in Regenbogentönen, und irgendwie schaffte sie es, mit dem berühmten Schauspieler Sir Ian McKellen fotografiert zu werden. Im Stück beschwert sie sich über den Lärm und droht, die Polizei zu rufen, bis Ted sie mit einer Flasche Sherry beruhigt. Bei den Kostümproben benutzten sie eine echte Flasche, die sie aber noch vor ihrem Auftritt fast ausgetrunken hatte. Diesmal ist nur Tee drin, zu ihrem offensichtlichen Unmut.

Dann kommt die Szene, in der Ted mich vor den Nachbarn versteckt und in den Schrank unter der Treppe hinten auf der Bühne zerren muss. Die Konstruktion ist nicht etwa ein wackliger Ikea-Abklatsch, sondern sie wurde extra zu diesem Zweck von Kamil gebaut, dem Kulissenbauer des Theaterclubs, der Holzbearbeitung am hiesigen College unterrichtet und das Theater sehr ernst nimmt. Wochenlang arbeitete er daran und enthüllte uns schließlich eine echte Holztreppe inklusive richtigem Schrank, das Ganze auf Schwenkrollen zum leichteren Bühnenaufbau. Das Gestell ist so solide konstruiert, dass man es wahrscheinlich von einer Klippe werfen könnte und am Boden unversehrt vorfände. Was man von der Person im Inneren vermutlich nicht behaupten könnte.

Entschuldigung, manchmal werde ich ein bisschen düster. Besonders, wenn ich über eine Bühne geschleift werde. Es ist irgendwie ein komisches Gefühl, vor einem Saal voller lachender Leute so grob behandelt zu werden, aber Ted ist sehr professionell und passt außerdem höllisch auf, mich nicht an den falschen Stellen anzufassen und sich womöglich strafbar zu machen.

»Alles klar mit dir?«, flüstert er, während er mich in den Schrank bugsiert. Sein schmales, etwas ausgezehrtes graues Gesicht drückt Besorgnis aus, und seine Brille rutscht in Richtung Nasenspitze, wie immer. Ich nicke kaum merklich. Scheinbar beruhigt versucht er, die Tür zuzuschlagen, doch mein Arm hängt noch heraus. Aua, danke, Ted! Er stopft meinen schmerzenden Arm hinein und knallt die Tür so fest zu, dass die Treppe wackelt. Heiterkeitssturm im Publikum.

Jetzt muss ich zwanzig Minuten lang hier drin ausharren, was nicht gerade angenehm ist, weil es dunkel, beengt und stickig ist … Keine ideale Kombination für jemanden mit meinen Beschwerden. Außerdem ist mir wahnsinnig heiß, obwohl es den ganzen Tag kühl war im Theater. Vorhin hat Margaret behauptet, sie sei kurz vor dem Erfrieren, und stürmte in den Kesselraum, um zu versuchen, die Heizung zu reparieren. Warum bin ich dann in Schweiß gebadet? Ich versuche, meinen rasch ansteigenden Puls zu ignorieren. Tief durchatmen. Tief durchatmen. Wir sind hier im Theater, und the show must go on, selbst wenn man in einem Backofen eingesperrt ist. Gut, dass Kamil ein kleines Guckloch in die Tür gebohrt hat, sodass ich das Geschehen auf der Bühne verfolgen kann. Ich sehe, wie Rachel und Shaun, die die Nachbarn spielen, auf die Bühne kommen. Sie sehen zum Schreien aus in ihren Pseudo-Siebzigerjahre-Freizeitklamotten aus dem Secondhandladen. Aber das ist nicht alles, was ich bemerke. Rings um den Eingang zum Backstage-Bereich hat sich eine große Wasserpfütze gebildet, und kleine Rinnsale arbeiten sich an der Wand entlang auf mich zu. Im ersten Moment überlege ich, ob das womöglich ein Last-Minute-Special-Effect ist, den mein Dad eingefügt hat, ohne mir Bescheid zu sagen, doch dann sehe ich, wie Shaun nervös die Überschwemmung beäugt und Rachel mit dem Ellbogen in die Seite stößt. Irgendwas stimmt hier nicht. Schmale Wassertentakel reichen langsam bis nach vorn auf die Hauptbühne, und ich frage mich, ob das nicht gefährlich ist mit den Scheinwerfern und Kabeln überall. O nein, das ist ja wie in einer Eröffnungsszene von Emergency Room! Gleich wird das ganze Ensemble unter Strom gesetzt!

Währenddessen stellt sich im Stück heraus, dass die Nachbarn glauben, zu einer Swinger-Party anstatt zu einem gemütlichen Dinner eingeladen zu sein. Kaum haben Ted und Natasha die Bühne verlassen, um »die Crudités zu holen«, sagen sich Rachel und Shaun, dass das eine Art Code sein muss, und fangen an, sich auszuziehen. Das Publikum geht begeistert mit und lacht aus vollem Hals. Natürlich taucht prompt der Gemeindepfarrer auf, gespielt von James, der siebenundzwanzig, ziemlich fit und ein so überzeugter Atheist ist wie kein Zweiter. Er trifft das halbnackte Paar im Wohnzimmer an und sinkt ohnmächtig aufs Sofa. Natasha ruft: »Ich hole Ihnen einen starken Drink, es ist nicht das, wonach es aussieht«, und öffnet die Schranktür, worauf ich laut fluchend aus meinem Verschlag krabbele. Alles geschieht so schnell, und irgendwie scheint keine Zeit zu sein, irgendjemandem dezent zu verstehen zu geben, dass wir überschwemmt werden. Der Pfarrer versucht, mir aufzuhelfen, aber ich falle auf ihn (mein persönliches Highlight im Stück). Wir landen ineinander verschlungen auf dem Bühnenboden und schaffen es nicht, voneinander loszukommen. Ich versuche, James zuzuflüstern: »Ich glaube, es gibt eine Überschwemmung«, aber Natasha zieht mich hoch, wobei sie mir fast den Arm auskugelt, und James krabbelt auf allen vieren zur Tür hinaus.

In unserem großen Finale jagen meine Eltern mich rund um den Tisch, während sich die verlegenen Nachbarn wieder anziehen. Schließlich erwischen mich Natasha und Ted, setzen mich grob auf einen Stuhl am Esstisch, und zugleich tauchen zwei Polizisten auf, die man wegen einer wilden Orgie oder brutalen Mordszene gerufen hatte. Ich kippe mit dem Gesicht ins Erdbeerbaiser. Das üppige Bühnen-Dessert, das im Scheinwerferlicht sauer geworden ist, dringt mir glitschig in Nase und Augen.

Am Ende werden wir mit stürmischem Applaus belohnt. Ich eile mit den anderen Ensemblemitgliedern zum Bühnenrand, greife Teds und Natashas Hände und schwinge sie begeistert hin und her. Ich bin euphorisch, fühle mich für ein paar Sekunden als Teil dieses bizarren kleinen Teams. Später im Pub wird das Ensemble jede Zeile und jede Reaktion des Publikums noch einmal durchleben, wie jedes Mal nach einer Aufführung, ob sie nun gut war wie diese, oder schlecht wie der unglückliche Versuch, das blutige Stück Equus bei einer örtlichen Pferde- und Ponyschau aufzuführen.

Ich blicke in die Menge, in der Hoffnung, meine Freundinnen Jenna und Daisy zu entdecken, oder vielleicht meine Schauspiellehrerin. Doch alle Gesichter gleichen sich irgendwie und sind hinter den klatschenden Händen schwer zu erkennen. Ted umarmt mich, Natasha ebenso, und sie klopfen mir auf den Rücken, und dann steht Natasha plötzlich dicht neben mir und sagt etwas, und ich muss ihren Arm greifen und mich zu ihr neigen, um sie zu verstehen. »Verstehst du mich, Hannah?«, wiederholt sie. »Bist du noch bei Bewusstsein?« Ich möchte erwidern: »Natürlich, mir geht’s gut. Ich bin ein STAR.« Doch dann merke ich, dass ich meine Beine nicht mehr richtig spüre und sich ein wirbelnder schwarzer Nebel am Rande meines Blickfelds zusammengezogen hat. Ich stolpere ein paar Schritte rückwärts.

Aus weiter Ferne spüre ich eine Hand auf meinem Arm und eine zweite im Rücken, doch es scheint, als fiele ich durch sie hindurch, tiefer und immer tiefer. Meine Umgebung wird zu einem verschwommenen Karussell verzerrter Formen. Plötzlich überkommt mich die Angst, das Publikum könne mitbekommen, was hier vor sich geht. O Gott, wie peinlich! Ich habe eine seltsame, halluzinationsartige Vision von Dad, der an meinem Grab steht und einen Nachruf hält: »Sie ist gestorben, wie sie gelebt hat – wie Tommy Cooper.« Und da weiß ich, dass irgendetwas Schlimmes passiert ist, denn das ist wirklich verdammt abgefahren.

Endlich bringe ich hervor: »Okay, das ist mal wieder echt typisch für mich.« Denn so etwas passiert mir keineswegs zum ersten Mal.

Die Bühnenscheinwerfer leuchten wie Sterne über mir. Sie verschwimmen in der Dunkelheit. Dann: nichts mehr.

Willkommen in meiner Welt.

Tom

Als Hannah vier wurde, begann sie, sich ständig müde zu fühlen. Nicht nur am frühen Abend oder nach dem Kindergarten, sondern den ganzen Tag lang. Sie tollte nicht mehr mit den anderen Kindern herum, sah blass aus. Zuerst dachte ich, sie hätte sich irgendeinen Virus eingefangen. Also machte ich einen Termin beim Hausarzt und rechnete natürlich damit, das Übliche zu hören: Keine Sorge, Ihre Tochter hat nichts Ernstes, das geht vorbei. Unser Arzt war einer von der alten Sorte, ein mürrischer Hüne mit schütterem Haar und dem Charme eines mittelalterlichen Henkers. Wenn man vorsichtig in sein Behandlungszimmer schlich, lehnte er sich mit verschränkten Armen und genervtem Blick in seinem Stuhl zurück, als wollte er sagen: »Wenn Sie Hypochonder sind, können Sie gleich wieder abhauen.« Er hörte sich an, von welchen Symptomen man berichtete, schüttelte den Kopf, als hätte man sich das alles nur eingebildet, verkündete einem schließlich, dass man es überleben würde, und dann dackelte man beschämt wieder hinaus. So war es jedenfalls gelaufen, als ich ihn mit einunddreißig aufgesucht hatte, weil mir das Kreuz so wehtat, dass ich drei Tage lang nicht aufrecht stehen konnte. Und so war es auch gelaufen, als ich mich mit Schmerzen in der Brust zu ihm gewagt hatte; Hannah war damals zwei gewesen, und ich hatte mich als plötzlich alleinerziehender Vater überfordert gefühlt. Wie üblich hatte er den Kopf geschüttelt, mich abgekanzelt und sich dann wieder seinem Computer zugewandt – das Signal dafür, unverzüglich den Raum zu verlassen.

Als ich Hannah zu ihm brachte und ihm ihre Symptome schilderte, rechnete ich natürlich wieder mit einem Rüffel; ich nahm erst gar nicht Platz. Doch nachdem er mich einige Sekunden angestarrt hatte, tat er etwas Unerwartetes: Er setzte Hannah auf einen Stuhl, nahm sein Stethoskop und horchte ihren Oberkörper ab. Und zwar sehr lange. »Das ist kalt!«, jammerte Hannah und wand sich jedes Mal, wenn er sein Stethoskop an einer neuen Stelle ansetzte. Doch er machte schweigend weiter.

Schließlich hörte er auf und wandte sich seinem Computer zu. Aha, das Signal, dachte ich und drehte mich schon zur Tür.

»Ich überweise Sie an die pädiatrische Kardiologie am North Somerset Hospital«, sagte er. Ich drehte mich wieder um und setzte mich neben Hannah. Sie glitt von ihrem Stuhl und kletterte auf meinen Schoß.

»Wieso? Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.

»Gibt es Herzkrankheiten in Ihrer Familie?«

Die Wanduhr tickte laut. Es roch nach Pulverkaffee und Desinfektionsmittel. Ich begriff nicht ganz, warum der Arzt mir diese Frage gestellt hatte.

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Warum?«

Der Arzt tippte etwas ein.

»Ihre Tochter hat Herzgeräusche. Normalerweise besteht kein Anlass zur Sorge, aber ich möchte es dennoch untersuchen lassen. Nur für den Fall.«

»Nur für den Fall?«

Hannah wurde plötzlich langweilig, sie wollte von meinem Schoß herunter.

»Wie schon gesagt, es ist wahrscheinlich nichts«, sagte der Arzt. »Doch zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh für eine Diagnose. Innerhalb der nächsten zwei Wochen dürften Sie einen Termin in der Klinik bekommen.«

Ich ließ Hannah los. Sie lief zur Tür, zog mit ihren kleinen Händen an der Klinke. Ich erhob mich langsam, zu perplex und eingeschüchtert, um weitere Fragen zu stellen. Als ich Hannah folgte, wuchs meine Beklommenheit, und ich drehte mich noch einmal zu ihm um.

»Auf Wiedersehen, Mr Rose«, sagte er nur.

Aus seinem Blick und seiner Stimme sprach so etwas wie Sympathie. Das war neu. Und er hatte sich noch nie zuvor von mir verabschiedet.

Als wir die Praxis verließen, Hannahs kleine Hand in meiner, spürte ich plötzlich eine entsetzliche Schwere, die mich wie ein bleierner Mantel umfing.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es schiere Angst war.

An all dies erinnerte ich mich plötzlich wieder, als ich zu Hannah auf die Bühne stürzte. Die anderen scharten sich um uns, als ich mich neben sie kniete. Sie atmete noch. Alles ist gut, dachte ich, das haben wir schon oft erlebt, das ist eben die Bürde, die wir tragen müssen, so wie britischen Dauerregen oder Motorsport im Fernsehen. Meine größte Sorge war, welchen lustigen Spruch ich bringen könnte, wenn sie wieder zu sich käme. Vielleicht: super Timing beim Black-out? Egal – Hauptsache, wir könnten darüber lachen. Dann wäre es nicht so beängstigend. Dann wäre es okay.

Ich hörte, wie Ted den Zuschauern zurief, dass es nur an der ganzen Aufregung und Scheinwerferhitze läge; er bat alle, den Saal zu verlassen und dankte ihnen für ihren Besuch.

Bis dahin war der Abend wunderbar gelaufen. Alle Darsteller waren pünktlich aufgetaucht, wir hatten Publikum gehabt, und die Mehrheit der Zuschauer war sogar bis zum Ende wach geblieben. Ein Traumszenario. Doch dann war Hannah plötzlich in Ohnmacht gefallen. Und obendrein gab es im hinteren Gebäudeteil auch noch eine Überschwemmung von biblischem Ausmaß. Wie heißt es so schön? There’s no business like show business.

Meine Gedanken wanderten zum Schlussapplaus zurück. Ted war zur Abwechslung entspannt gewesen; er hatte sogar gelächelt und seiner Frau Angela zugezwinkert, die im Publikum saß. Natasha hatte mit ihrer albernen grauen Perücke gewedelt und ihrem Mann zugewunken, der Ashley, die gemeinsame Tochter, mitgebracht hatte – trotz meines Hinweises, dass das Stück für eine Siebenjährige eigentlich nicht geeignet sei (»Sie ist sehr reif für ihr Alter«, hatte Natasha mir versichert. »Und von ihrer Großmutter weiß sie alles über Swinger-Partys.« Ich habe nicht weiter nachgefragt). Und mittendrin hatte Hannah gestanden, meine eigene Tochter, zum ersten Mal als richtige Schauspielerin auf dieser kleinen Bühne. Sie hatte förmlich im Applaus gebadet. Doch dann hatte sie plötzlich innegehalten, ganz bleich und mit ausdrucklosem Gesicht, und war zu Boden gefallen. Das Publikum hatte aufgehört zu jubeln. Und ich hatte wie gelähmt zugeschaut und gedacht, wir beide befänden uns in einer Art Traum.

»Hier«, sagte Shaun und reichte mir einen Becher Wasser. »Apropos Wasser …«

Doch ich hörte ihm gar nicht zu.

»Hannah«, sagte ich. »Komm schon, Schätzchen, die Vorstellung ist vorbei.«

»Soll ich den Notarzt rufen?«, fragte Natasha und legte mir sanft die Hand auf die Schulter.

»Das wird gleich wieder«, sagte ich leise.

Ich meinte, ein ganz leichtes, aber unverkennbares Zucken um Hannahs Augenpartie wahrzunehmen.

»Hannah«, sagte ich. »Hannah, wach auf.«

Sally, meine engste Freundin, kannte das alles schon. Sie kniete sich neben mich und strich Hannah sanft das Haar aus dem Gesicht.

»Vielleicht rufen wir doch besser einen Arzt?«, sagte sie mit beruhigender Stimme.

Ich zögerte einige Sekunden in der Hoffnung, dass Hannah sich doch noch regte, aber nichts geschah.

»Ja, vielleicht doch«, sagte ich.

Sally erhob sich wieder, und gerade als ich ihr erklären wollte, was sie dem Notarzt sagen sollte, ertönte eine Stimme, laut und klar, getragen von der einzigartigen Akustik des Bühnenraums.

»Ihr seid solche Drama-Queens!«, sagte die Stimme.

Hannah war wieder zu sich gekommen. Sie hatte den Kopf leicht angehoben, blinzelte uns an und lächelte erschöpft. Sally und ich stützten sie, als sie versuchte, sich aufzusetzen. Ihr Bühnenkostüm war ganz aufgeladen und knisterte, als es mein Jackett streifte. Der Rest der Truppe atmete erleichtert auf. Shaun reichte Hannah den Wasserbecher. Sie nahm ihn mit zittriger Hand, wobei sie fast die Hälfte verschüttete, setzte ihn an die Lippen und schluckte glucksend.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie.

»Du bist beim Schlussapplaus ohnmächtig geworden«, antwortete Ted.

Sie warf mir einen Blick zu und strich sich die wilden Locken aus dem Gesicht.

»So ein Mist«, sagte sie. »Tut mir leid, Dad. Tut mir wirklich leid.«

»Was redest du denn da?«, sagte ich und nahm ihr den leeren Becher ab. »Das Publikum war begeistert! Geniale Idee, als Zugabe in Ohnmacht zu fallen! Jetzt kommen sie in Scharen, um das Stück zu sehen.« Aber ich wusste natürlich, dass Hannah nicht von dem Stück sprach. Jedes Mal wenn das passierte, egal wo, entschuldigte sie sich. Und ich sagte immer, sei doch nicht albern, und dann hakten wir es einfach ab. Diese Nummer beherrschten wir aus dem Effeff. Wir waren schließlich Theaterleute. The Show must go on.

»Ich muss mich umziehen«, sagte Hannah. »In diesem Kostüm kriegt man dauernd Stromschläge.« Wir halfen ihr auf die Beine, und sobald sie einigermaßen fest auf dem Boden stand, ließen wir sie schnell wieder los, als hätten wir gerade waghalsig Bauklötze aus einem Jenga-Wackelturm gezogen. »Ich komme mit«, sagte Sally und ging langsam mit ihr den Flur hinunter zur Künstlergarderobe. Die anderen standen schweigend herum und versuchten, mich nicht anzustarren. Sie waren besorgt und verunsichert. Es war höchste Zeit, für Entspannung zu sorgen.

»Es ist alles gut, Leute«, sagte ich. »Wirklich. Hannah geht es schon wieder besser. Kein Grund zur Sorge. Ted, du warst klasse heute Abend. Natasha, großartige Nummer mit der Perücke, weiter so. Margaret, tolle Flirtszene mit dem Pfarrer, gut gemacht. Shaun, wie immer sehr gekonnt am Hintern gegrapscht. Oh, bevor ich es vergesse: Kann mir mal jemand erklären, wieso wir hinten eine Überschwemmung haben?«

»Ja, das wollte ich dir schon die ganze Zeit erklären«, sagte Shaun. »Der Heizkessel hat ein Leck. Oder eher einen Durchbruch. Das Ganze sieht nach einem Rohrbruch aus. Ich habe das Wasser schon abgestellt, aber backstage können wir baden gehen.«

Shaun war ehemaliger Bauarbeiter und unentbehrlich, wenn im Theater Reparaturen anfielen, was leider immer häufiger vorkam. Mit seinen Tätowierungen, der Skinheadfrisur und den Fred-Perry-Shirts sah er aus wie jemand, der Theaterbesucher in Pubs vermöbelte. Doch dank seiner angeborenen Intelligenz und seines so brillanten wie beherzten Englischlehrers hatte er eine merkwürdige Vorliebe für britische Nachkriegsdramen entwickelt. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der eine Dachwohnung dämmen und dabei Blick zurück im Zorn rezitieren kann. Als sein Bruder ein Taxiunternehmen gründete, überredete er ihn, es Godot zu nennen, und schlug ihm den Slogan vor: »Und worauf warten Sie?«

»Das sollten wir uns direkt mal ansehen«, sagte ich, um Shaun möglichst unauffällig von den anderen wegzulotsen. »Und, wie schlimm ist es?«, fragte ich, als wir weit genug entfernt waren.

»Schwer zu sagen«, sagte Shaun. »Ich bin kein Klempner. Ich hab den Hinterausgang geöffnet, damit das Wasser nach draußen abfließen kann. Ein Kumpel von mir kann sich das morgen früh anschauen.«

»Kriegen wir das Problem vor der Aufführung morgen Abend gelöst?«

Shaun zuckte mit den Schultern. »Frag mich morgen noch mal.«

Schlimmer konnte es kaum werden. Ich wandte mich wieder dem Rest der Truppe zu.

»So, Leute«, sagte ich. »Jetzt zieht euch um und geht was trinken.«

»Kommst du mit in den Pub, zur Nachbesprechung?«, fragte Rachel.

»Nein, aber Sally kommt mit. Ich bringe Hannah nach Hause. Die Aufführung war super, und morgen kriegen wir die Bude bestimmt auch wieder voll.«

Die Truppe machte sich auf den Weg zum Green Room. Ted klopfte mir auf den Rücken.

»Wir sind da, wenn du uns brauchst«, sagte er.

Auf der Fahrt nach Hause saß Hannah schweigend neben mir und starrte aus dem Fenster auf die leeren nächtlichen Straßen. Sie hatte sich umgezogen und hielt ihr Smartphone umklammert. Ich stupste sie. Sie drehte sich zu mir, und wir lächelten uns an.

»Bist du sicher, dass du nicht kurz zur Klinik willst?«, fragte ich. »Oder zu McDonald’s? Oder in den Pub?«

»Bring mich nach Hause«, sagte sie. »Ich will einfach nur …«

»Ja?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und sah wieder hinaus. Als sie sich das Haar hinters Ohr strich, sah ich, dass sie die Ohrringe trug, die ich ihr zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte; ich hatte sie in einem kleinen Juwelierladen in Bath entdeckt, als Hannah wieder einmal im Krankenhaus gewesen war. Endlich schaute sie wieder zu mir herüber.

»Nichts wird jemals normal sein, oder, Dad? Sei ehrlich.«

Wir fuhren durch die verlassenen Straßen, vorbei an Reihenhäusern mit erleuchteten Fenstern. Als wir an der Kirche und dem Friedhof vorbeikamen, schauderte Hannah.

»Lass uns morgen Vormittag was unternehmen«, sagte ich. »Lass uns runter nach Dorset fahren. Dann suchen wir uns irgendein Strandcafé, frühstücken dort, lesen Zeitung und Comics und vertilgen Fish ’n’ Chips, bis wir platzen.«

Hannah lächelte so nachsichtig wie eine Mutter, deren Sohn auf dem Mars Geburtstag feiern will. Dieses Lächeln kannte ich nur zu gut. Dann wandte sie sich ihrem Smartphone zu und begann zu tippen. Die Jugend von heute.

Zu Hause wartete unser Kater auf der Mauer auf uns.

»Malvolio, mein kleiner Fettsack!«, quiekte Hannah, als sie aus dem Auto stieg. Er spazierte gemächlich zu ihr herüber. Als sie ihn streichelte, stützte sie sich unauffällig mit der anderen Hand am Zaun ab.

Ich hatte ihr Bühnendebüt viele Jahre hinausgezögert. Dabei war sie schon lange eine hervorragende Schauspielerin.

Hannah

Heute Morgen habe ich, immer noch peinlich berührt, weil ich mitten auf der Bühne umgekippt bin, »große Theaterkatastrophen« gegoogelt. Ich fand heraus, dass die Schauspielerin Diana Wynard, die 1948 bei einer Produktion des berühmten »schottischen Stücks« versuchte, die Lady Macbeth in der Schlafwandelszene mit geschlossenen Augen zu spielen, viereinhalb Meter tief in den Orchestergraben stürzte. Danach ging es mir gleich etwas besser.

Diana Wynard ist übrigens nichts passiert.

Vielleicht sollte ich erklären, warum ich ohnmächtig geworden bin. Ein interessanter Nebenaspekt meiner vorrangigen Beschwerden, auf die ich jetzt nicht näher eingehen möchte, weil heute Samstag ist, sind die Herzrhythmusstörungen, unter denen ich leide. Das bedeutet, dass mein Herz manchmal ein oder zwei Schläge aussetzt; ab und zu überspringt es sogar mehrere, wie ein mieser Drummer in einer schlechten Indie-Band. Dann wird mir schwindlig, und manchmal falle ich in Ohnmacht. Es ist schon seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen, deswegen ist es umso ärgerlicher, dass es ausgerechnet auf der Bühne passieren musste. Ich weiß auch, dass es meinen Vater bis ins Mark erschreckt hat, auch wenn er es zu überspielen versuchte. Ich nehme an, dass er wach im Bett gelegen und überlegt hat, wie er mich am besten beschützen kann, und ich bin ziemlich sicher, dass dies das Ende meiner Rolle in Bleib doch ein sexistisches Arschloch bedeutet.

Und ich hatte recht. Die kleine Direktor-Tochter-Unterhaltung, auf die ich gewartet habe, beginnt um 9 .38 Uhr. Ich sitze am Küchentisch, esse eine dicke Scheibe Toastbrot und höre Regina Spektor. Dad schneit herein, stellt den Player aus und setzt sich mir gegenüber.

»Hannah«, sagt er fröhlich und schlägt mit beiden Händen auf die Tischplatte. »Ich habe mir überlegt …«

»Du hast dir überlegt, dass ich heute Abend lieber nicht auftreten sollte«, falle ich ihm ins Wort, beiße ein Stück von meinem Toast ab und tue so, als läse ich SMS auf meinem Smartphone. »Und morgen Abend auch nicht. Nur, um auf der sicheren Seite zu sein, schon klar.«

»Ich möchte ja nur nicht, dass …«

»Dad, lass es.«

»Es ist heiß oben auf der Bühne bei diesem Wetter, der Auftritt ist anstrengend, das ganze Stück ist turbulent, du wirst in einen Schrank gesperrt, und dann diese Szene, in der du mit dem Gesicht in die Buttercreme kippst …«

»Ich weiß«, erwidere ich und lese mit einem Auge die kryptischen SMS von Jenna, die ihren ganz eigenen txt-Code entwickelt hat. »Ich war dabei.«

Er streckt die Hand aus, nimmt mir sanft das Handy weg und legt es auf den Tisch. Ich hasse es, wenn er das tut.

»Die nächste Produktion ist im Herbst, und ich verspreche dir, dass du eine verdammt gute Rolle bekommen wirst – allerdings eine, die etwas weniger aufregend ist. Einverstanden?«

Ich seufze tief und sehe ihn an. Ich habe mich früher immer seinem Willen gebeugt, wenn er mich so väterlich besorgt ansah, aber in letzter Zeit habe ich keine große Lust mehr dazu.

»Nein«, erwidere ich. »Kommt nicht infrage.«

»Was?«

Damit hat er nicht gerechnet. Er schüttelt sogar ungläubig den Kopf.

»Ich spiele meine Rolle weiter. Du hast mich gecastet, und ich mache weiter.«

»Aber Hannah …«

»Dad, ich bin beim Schlussapplaus umgekippt – das ist alles. Heute Abend trinke ich mehr Wasser und lasse es ruhig angehen. Aber du kannst mich nicht einfach da rausziehen. Verstehst du? Das lasse ich nicht mehr zu.«

Dad sieht mich ganz entgeistert an. Wir streiten uns nur sehr selten, und schließlich hat er mich gestern Abend erst vor einem Publikum von fünfundachtzig Leuten zu Boden gehen sehen – das muss hart gewesen sein. Und dabei habe ich ihm noch gar nicht erzählt, wie müde ich mich in letzter Zeit gefühlt habe. Ich habe mich durch die letzten Wochen des Schuljahres gekämpft. Nachmittags bin ich fast im Unterricht eingeschlafen und musste mich in der Doppelstunde Mathe mit dem Zirkel piksen, um wach zu bleiben (obwohl ich damit ehrlich gesagt nicht allein bin). Aber ich werde nicht nachgeben. Ich bin zu sauer. Ich muss mich jetzt durchsetzen!

Wir öffnen beide gleichzeitig den Mund, um etwas zu sagen, als ich eine SMS bekomme. Schnell greife ich nach meinem Handy, erleichtert über die Ablenkung. Die Nachricht ist von Jay, Sallys Sohn, der mich fragt, ob er vorbeikommen könne. Ich kenne Jay, seitdem ich vier Jahre alt bin. Wir sind schon zusammen in den Kindergarten gegangen, dann in die Grundschule und in jede andere Stufe danach, in einer Freundschaft gefangen, die sich quasi zwangsläufig ergeben hat. Sally und Dad sind BFFs, und wenn die Eltern miteinander befreundet sind, werden auch die Kinder zusammengeschmiedet, ob sie wollen oder nicht. Gott sei Dank ist Jay echt in Ordnung. Er ist ein großer, dummer Teenager, verspielt und tollpatschig wie ein Labrador. In letzter Zeit sind wir nicht mehr so vertraut miteinander, aber wir treffen uns immer noch regelmäßig und machen etwas zusammen. Er spielt Videospiele, ich lese Comics, und wir fühlen uns beide wohl dabei, stundenlang auf demselben Sofa abzuhängen. In letzter Zeit ist Jay megaempfindlich und grübelt viel zu viel darüber nach, ob er beliebt ist oder nicht. Also, er könnte definitiv manchmal mehr für seine Hygiene tun, und seine lächerlichen Stirnfransen sind schon seit ungefähr drei Jahren aus der Mode, aber die Leute mögen ihn – sie mögen ihn, weil er in einer Welt voller blasierter Zyniker ein Bündel von Energie und naiver Begeisterung ist. Außerdem sieht er ganz okay aus, nehme ich an, aber wir denken nicht so übereinander – teilweise, weil wir zusammen aufgewachsen sind, deswegen wäre es echt komisch, aber auch, weil er eine Tendenz hat, mich wie eine Art kränklicher Erbin in einem viktorianischen Melodram zu behandeln. Daran ist wirklich gar nichts sexy – es sei denn, man steht auf Spitzenunterröcke und/oder Schwindsucht.

»Jay will vorbeikommen«, sage ich.

»Wunderbar!«, erwidert Dad, froh über den Themenwechsel. Schon setzt er seine Hoffnungen auf die aufmunternde Wirkung des Umgangs mit Jungs. »Ich fahre in den Supermarkt und hole euch etwas zu knabbern.«

»Wusstest du eigentlich, dass Diana Wyberg 1948 bei einer Aufführung von Macbeth in der Schlafwandelszene viereinhalb Meter tief in die Orchestergrube gefallen ist? Und schon am nächsten Abend stand sie wieder auf der Bühne. Wollte ich nur mal sagen.«

»Das schottische Stück«, entgegnet Dad.

»Was?«

»Du hast Macbeth gesagt, du musst aber …«

»Ach, lass den Scheiß«, entgegne ich.

Er lächelt, und unwillkürlich lächle ich auch.

Ich lege mich in die Badewanne und versuche, dabei meinen Herzschlag weder zu spüren noch zu hören und mir über seinen Stakkatorhythmus keine Gedanken zu machen. Ich höre, wie Dad »Tschüs« ruft und die Haustür hinter sich zuschlägt. Fast eine Stunde lang aale ich mich intensiv in duftendem Schaum und denke über den vor mir liegenden Sommer nach und darüber, was ich machen könnte. Dad möchte bestimmt wieder ganz oft spontan etwas unternehmen, und zwar wie gewohnt irgendetwas, das mit Theater zu tun hat. Während andere Familien in Spanien und Italien Urlaub machen, werden wir Aldwinkle in Northamptonshire besuchen, um den Geburtsort von John Dryden zu besichtigen, oder uns die York Minster Mystery Plays ansehen. Das ist okay, es gefällt mir, so haben wir es immer gemacht. Aber irgendwie ist es nicht ganz normal. Ich frage mich, wann ich ihm am besten sage, dass er allein fahren soll.

Als ich mich anziehe, höre ich Dad vom Supermarkt nach Hause kommen. Zwanzig Minuten lang rumort er im Haus herum und verschwindet dann wieder. Als ich runterkomme, finde ich einen Zettel.

Hab im Haus ein paar Leckerchen für dich und Jaybo versteckt. Viel Spaß und bis später– bin im Theater, schaue mit Shaun nach der Überschwemmung– keine Angst, hab Taucherbrille und Schnorchel dabei. Papa x

»Leckerchen, Jaybo, Papa?!« Manchmal ist er echt ein Vollpfosten.

Ein paar Minuten darauf klingelt es an der Tür, gefolgt von lautem Klopfen, und dann klingelt es noch zweimal. Das muss Jay sein. Ich trotte durch unser winziges Wohnzimmer mit dem wackligen, von Zeitungen überhäuften Tisch und den durchhängenden Regalen voller Taschenbuchausgaben unzähliger Theaterstücke und klassischer Literatur. Die fröhlich gemusterte Sechzigerjahre-Tapete schält sich ab, und in den Zimmerecken haben sich Schimmelflecken gebildet, aber Dad findet nie die Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. »Das ist Joe Orton-Schick«, behauptet er. Dann erinnere ich ihn daran, dass Joe Orton von seinem Mitbewohner erschlagen wurde.

Ich öffne die Tür, und da steht Jay, in Cargo-Shorts und einem Blink 182-T-Shirt, die NY-Baseballkappe verkehrt herum auf dem Kopf. Ich hole ihn schnell rein, um ihm weitere Peinlichkeiten in der Öffentlichkeit zu ersparen.

»Heyyy«, begrüßt er mich und hält einen abgewetzten Rucksack hoch. »Ich habe meine PlayStation 2 mitgebracht. Mögen die Spiele beginnen!«

»Medal of Honor spiel ich aber nicht mit«, entgegne ich. »Und FIFA kannst du auch direkt vergessen. Aber Dad hat eine Nachricht hinterlassen, dass er ›Leckerchen‹ für uns im Haus verteilt hat. Keine Ahnung, was er meint, aber lass uns mal nachsehen.«

»Abgefahren«, sagt Jay. »Dein Dad ist cool. Bisschen schräg, aber auf jeden Fall cool.«

»Kann schon sein.«

»Mein Dad verteilt nichts im Haus, außer kleine Post-its, auf denen er Mum an Hausarbeiten erinnert, die erledigt werden müssen.«

»Krass.«

»Wie geht’s dir eigentlich? Das muss ziemlich übel gewesen sein gestern Abend.«

»Mir geht’s gut, Jay. Frag mich nicht noch mal, okay?«

»Alles klar.«

Wir durchsuchen das Wohnzimmer, drehen Sofakissen um und spähen hinter die Bücher und unter den Armsessel. Wir finden zwei Rollen Pringles, eine Riesentüte Haribo Phantasia und eine Zweiliterflasche mit Cherry Coke. Wir rennen in die Küche, reißen die Schränke auf und wühlen zwischen den Nudeln und der Tomatensoße herum, unseren Hauptnahrungsmitteln. Im Kühlschrank finden wir eine Riesenpizza mit doppelt Salami und Schinken und ein Knoblauchbrot – und eine DVD des Achtzigerjahre-Films Mannequin. Jay entdeckt eine Tüte Revels-Schokodrops in der Waschmaschine, aber als er sich gegen die Trommel lehnt und den Arm hineinstreckt, fällt ihm eine vergessene Unterhose auf die Hand. Er schreit, schüttelt den Arm und schleudert meinen vagabundierenden Slip quer durchs Zimmer. Wir müssen beide lachen.

»Oh, mein Gott«, ächzt er. »Angriff der Killerhöschen.«

»Hättest du wohl gern.«

Verlegenes Schweigen.

Nachdem er sich wieder erholt hat, fläzen wir uns an die gegenüberliegenden Enden des großen, weichen Sofas, den Wohnzimmertisch überladen mit Kalorienbomben. Mannequin, stellen wir zu unserer großen Überraschung fest, handelt von einem Typen, der sich in eine Prinzessin verliebt, die aber im Körper einer Schaufensterpuppe gefangen ist. Besser noch: Die Prinzessin wird von Kim Catrall aus Sex and the City gespielt. Die Serie habe ich mir immer mit meiner Freundin Daisy angesehen, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren – hauptsächlich, um mehr über Sex zu erfahren.

»Solche Filme werden heute gar nicht mehr gemacht«, bemerkt Jay zwischen zwei Handvoll Süßkram.

»Klar, weil niemand mehr so bekloppt ist«, erwidere ich. »Was war bloß los in den Achtzigern? Warum waren die Leute so gestört?«

»Meine Mutter war eine Art Grufti oder so. Ich habe Fotos von ihr gesehen, auf denen ihr Haar nach allen Seiten absteht – komplett bescheuert.«

»Hat sie cool ausgesehen?«

»Nein, wie ein Zombie.«

»Mein Gott. Die Achtziger waren eine Katastrophe.«

Wir amüsieren uns. Jay macht dauernd beißende Bemerkungen über die Klamotten der Leute, die echt lächerlich aussehen, und ich lache mich halbtot. Aber nach dem Film schließt Jay seine Playstation an und verliert sich in einem Kriegs-Ballerspiel, das genau wie jedes andere Kriegs-Ballerspiel ist. Während er Granaten auf einen scheinbar unzerstörbaren Hubschrauber schmeißt, renne ich raus in die Küche, um den Ofen für die Pizza aufzuheizen. Sofort höre ich, wie er das Spiel anhält und mir wie ein trauriger Hundewelpe folgt.

»Alles okay mit dir?«, fragt er in diesem zerknirschten, aufrichtig besorgten Ton, den ich so gut kenne.

»Klar, ich mag nur das Spiel nicht so.«

»Aber das offizielle PlayStation-Magazin hat es mit neun von zehn Punkten bewertet.«

»Ist mir egal, Jay.«

»Ich habe schon fast die große Hubschrauberschlacht gewonnen.«

»Im Ernst, Jay: Ich will nicht einfach nur rumsitzen und zugucken, wie die alle … sterben.«

Die Worte bleiben in der Luft hängen wie ein Fluch.

»Oh, mein Gott«, sagt er. »Es tut mir leid. Es tut mir schrecklich leid. Das war echt dumm von mir.«

Frustriert knalle ich die Kühlschranktür zu.

»Ach, Jay, verdammte Scheiße noch mal! So habe ich es doch gar nicht gemeint! Es hat nichts mit mir zu tun, es interessiert mich nur einfach nicht, dass irgendwelche blöden Machosoldaten Sachen in die Luft sprengen und sich unverständliches Zeug zuschreien.«

»Verstanden«, sagt er, »aber jetzt … Jetzt beruhige dich, okay?« Er berührt meine Schulter, und ich weiche wütend vor ihm zurück.

»Lass das!«, fauche ich.

»Was hast du denn?«, ruft er, sichtlich verletzt.

Es ist nur eine kleine, unbedeutende Auseinandersetzung, aber Jays klammernde, erstickende Sorge bestätigt mir wieder einmal, dass zwischen uns nie etwas laufen wird. Nicht so jedenfalls. Es ist okay für mich, wenn Dad mich bemuttert, denn schließlich ist er gewissermaßen verpflichtet, auf mich aufzupassen, aber ich kann echt keine zwei Männer gebrauchen, die mich behandeln wie ein zerbrechliches Porzellanpüppchen – vor allem nicht, wenn sie kaum auf sich selbst aufpassen können. Deswegen marschiere ich zurück ins Wohnzimmer und schmeiße mich so aufs Sofa, dass Jay sich nicht neben mich setzen kann.

Wie auf ein Stichwort wird die Haustür geöffnet, und Dad kommt herein. Er trägt ein altes Hoodie und zerrissene Jeans, beides öl- und rußverschmiert. Mir fällt ein, dass ich immer noch sauer auf ihn bin wegen meiner Rolle, deswegen winke ich ihm nur missmutig zu, anstatt »hallo« zu sagen.

»Hey«, sagt er. »Wo ist Jay?«

»In der Küche. Was hast du denn angestellt?«

»Ach, ich habe nur zusammen mit Shaun versucht, den Heizungskessel zu reparieren. Leider sieht es so aus, als ob …«

Er sieht so aus, als hätte er diesen Auftritt auf dem Weg nach Hause geübt.

»… wir ein paar neue Ersatzteile brauchen, die wir erst am Montag einbauen können, und deshalb muss das Theater aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen solange geschlossen bleiben. Die Vorstellungen müssen wir absagen.«

»Ach, wirklich?«, frage ich. »Das kommt ja wie gerufen.«

»Hannah!« Diesmal klingt er nicht entschuldigend, sondern fast sauer – was bei Dad bedeutet, dass er stinkwütend ist. »Diese Entscheidung kommt uns teuer zu stehen! Ich mache das nicht deinetwegen!«

»Natürlich nicht.«

Jay erscheint in der Tür.

»Hallo, Mr Rose.«

»Ah, Jay! Wie geht’s dir?«

Angespanntes Schweigen. Die Männer versuchen, in einem Kreuzfeuer verlegener Blicke sich und mich einzuschätzen. Es ist wie in der Szene bei Reservoir Dogs, als alle mit ihren Knarren aufeinander zielen – mit dem Unterschied, dass wir britische Normalbürger sind und daher nur mit Unbehagen um uns schießen.

Irgendwann seufze ich laut auf, starte Jays Spiel und sprenge den verdammten Hubschrauber in tausend Stücke.

Tom

Montagmorgen fuhr ich zum Theater und sang lauthals zu einer CD von Bobby Darin. Als ich auf den leeren Parkplatz bog, überkam mich die vertraute Freude. Beim Anblick des Gebäudes ging mir jedes Mal das Herz auf. Selbst eine Überschwemmungskatastrophe konnte nichts daran ändern.

Dabei ist das Gebäude noch nicht einmal schön, sondern eine Bausünde aus den Siebzigern, ein monströser Betonklotz. Wenn ein Parkhaus und eine Seniorenresidenz miteinander poppen würden, käme das Willow Tree Theatre dabei heraus. Aber selbst in Ausgeburten architektonischer Hässlichkeit entfalten Theateraufführungen eine besondere Magie. Im Theater lässt sich noch echte Nähe zwischen Darstellern und Publikum herstellen, hier kann man die Spannung, die in der Luft liegt, hautnah spüren. Kein Flachbildfernseher kann da mithalten, von Computer-Breitbandverbindungen ganz zu schweigen. Früher kamen die Zuschauer vor allem, um sich berühren oder schockieren zu lassen, oder weil sie etwas lernen wollten. Heutzutage möchten sie am liebsten Disney-Adaptionen und moderne Musicals sehen, die aus den größten Hits ehemaliger Popstars zusammengebastelt sind. Aber mir sollte es recht sein. Wenn die Leute Reflex: Die Duran Duran Story sehen wollten, brachten wir es auf die Bühne. Jedes Mal wenn ich unseren kleinen Theatersaal betrat, ganz gleich, ob wir Shakespeare oder eine Shakespears Sister Tribute-Band präsentierten (es gab zwar keine, aber wenn doch, hätte ich sie sofort engagiert), spürte ich das enorme Potenzial dieses leeren Raums. Als Nächstes stand unsere 35+ Breakdancing Masterclass mit MC Neat Trix auf dem Programm, der eigentlich Greg hieß und in einem Kühlhaus in Shepton arbeitete; netter Kerl. Ein paar Tage später – vorausgesetzt, der Heizkessel konnte bis dahin repariert werden – wollten wir Broadway Bonanza präsentieren, ein Potpourri der beliebtesten Musicalszenen, dargestellt von einer lokalen Tanztruppe; ein echter Kassenschlager. Ab und an zeigten wir auch klassische Dramen oder Meisterwerke des modernen Theaters, insbesondere wenn sie im Lehrplan der Schulen auftauchten; das brachte uns immer einen Batzen Fördergelder ein. Allerdings konnten wir dann nie sicher sein, ob außer dreißig gelangweilter Pubertierender, die während der gesamten Vorstellung eh nur rumknutschten oder SMS verschickten, sonst noch jemand auftauchte. Es war schwierig geworden, interessante Theatergruppen zu engagieren. Die Kulturförderung aus öffentlicher Hand ging immer mehr zurück, so dass uns nichts anderes übrigblieb, als das Beste aus der Situation zu machen. Als das Theater in den Siebzigern eröffnet hatte, waren sogar berühmte Schauspieler dort aufgetreten. Margaret dachte gern daran zurück, dass sie einmal bei einer Inszenierung von Mutter Courage und ihre Kinder mit Brian Blessed mitgewirkt hatte. Das klang eher unglaubwürdig, was auf die meisten ihrer Showbiz-Anekdoten zutraf. Sie behauptete auch gern, bei einigen Fernsehsendungen der späten Sechziger und frühen Siebziger mit von der Partie gewesen zu sein, aber wenn ich in der Internet Movie Database nach Margaret Wright suchte, konnte ich nichts finden. Manchmal wussten wir nicht, ob sie echte Erinnerungen oder bloß schlüpfrige Witze zum Besten gab. Sie sagte Dinge wie »Stellt euch vor, auf dem Set von Die Füchse hat Dennis Waterman mir mal den Hintern versohlt« und tat dann ganz pikiert, wenn wir in Gelächter ausbrachen.

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»Days of Wonder« bei Sphere

An imprint of Little, Brown Book Group, London

An Hachette UK Company

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Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung August 2018

Copyright © Keith Stuart 2018

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München

Umschlagmotiv: Jelena Radosavljevic/ stocksy/B & J;

Getty Images / Westend61

Redaktion: Bärbel Brands

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21373-2V001

www.wunderraum-verlag.de