Tage mit Sam - Keith Stuart - E-Book

Tage mit Sam E-Book

Keith Stuart

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Beschreibung

Eine berührende Vater-Sohn-Geschichte über Familiengeheimnisse und das Geschenk, anders zu sein.

Alex ist Anfang dreißig, verheiratet und Vater des kleinen Sam. Er liebt seine Frau Jody, aber hat vergessen, wie man das zeigt. Er liebt seinen Sohn Sam, aber er versteht ihn nicht. Es muss sich etwas ändern. Angefangen bei Alex selbst. Sam ist acht Jahre, clever, liebenswert, aber auch unberechenbar. Denn Sam ist Autist. Die Welt ist für ihn ein Rätsel, das er allein nicht lösen kann. Als Sam das Computerspiel Minecraft entdeckt, findet er darin eine Umgebung, die kontrollierbar ist und zugleich seine Fantasie aufblühen lässt. Das Spiel wird zu einem Ort, an dem Sam und Alex endlich zueinander finden könnten – und zu sich selbst ...

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Buch

Alex ist Anfang dreißig, verheiratet und Vater des kleinen Sam. Er liebt seine Frau Jody, aber hat vergessen, wie man das zeigt. Er liebt seinen Sohn Sam, aber er versteht ihn nicht. Es muss sich etwas ändern. Angefangen bei Alex selbst.

Sam ist acht Jahre, clever, liebenswert, aber auch unberechenbar. Denn Sam ist Autist. Die Welt ist für ihn ein Rätsel, das er allein nicht lösen kann.

Als Sam das Computerspiel Minecraft entdeckt, findet er darin eine Umgebung, die kontrollierbar ist und zugleich seine Fantasie aufblühen lässt. Das Spiel wird zu einem Ort, an dem Sam und Alex endlich zueinanderfinden könnten – und zu sich selbst.

Autor

Keith Stuart hatte schon immer eine Schwäche für Spiele und widmete sich ihnen schließlich auch beruflich. Er schrieb zunächst für Spezialzeitschriften wie das einflussreiche Edge Magazin, PC Gamer oder The Official PlayStation, und arbeitet nun seit zehn Jahren als Journalist für den Guardian – u. a. als Spieleredakteur. 2012 wurden bei einem seiner beiden Söhne Störungsbilder des autistischen Spektrums diagnostiziert. Die Diagnose war zunächst ein großer Schock für die Familie. Aber irgendwann fingen Keith und seine beiden Kinder an, zusammen Videogames zu spielen – vor allem Minecraft. Die gemeinsamen Spielerlebnisse und die sehr positiven Auswirkungen auf das familiäre Miteinander haben Keith Stuart zu diesem Roman inspiriert.

Keith Stuart

Tage mit Sam

Roman

Aus dem Englischen von Heike Reissig

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel»A Boy Made of Blocks« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group, LondonAn Hachette UK Company.

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Random House GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Keith Stuart

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung und Konzeption:

Buxdesign | München

Buxdesign | München und Carla Nagel

unter Verwendung einer Collage von © Carla Nagel

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19735-3V002www.manhattan-verlag.de

Für Morag, Zac und Albie, für alles

Kapitel 1

Ich bin getrennt.

Das ist mein erster Gedanke, als ich aus dem Haus gehe, die Straße überquere und in unseren alten Kombi steige. Eigentlich müsste es heißen, wir sind getrennt, aber dass es überhaupt so weit gekommen ist, liegt wohl größtenteils an mir. Ich schaue in den Rückspiegel und sehe Jody, meine Frau, an der Tür stehen, das lange Haar ganz zerzaust. Sam, unser achtjähriger Sohn, vergräbt den Kopf in ihrer Kleidung. Gleichzeitig versucht er, sich Augen und Ohren zuzuhalten. Aber nicht, weil er dagegen ist, dass ich wegfahre. Sondern weil er weiß, dass gleich der Motor anspringt und er die Lautstärke nicht aushält.

Ich mache eine dämliche Entschuldigungsgeste, als hätte ich gerade jemandem aus Versehen die Vorfahrt genommen. Dann drehe ich den Zündschlüssel. Der Wagen rollt schon, da klopft Jody plötzlich an die Scheibe. Ich kurbele sie herunter.

»Pass auf dich auf, Alex«, sagt sie. »Bitte, setz dich endlich damit auseinander. Das hättest du schon vor Jahren machen sollen, als wir noch glücklich waren. Wenn du es damals getan hättest … wer weiß. Vielleicht wären wir dann noch immer glücklich.«

Eine Träne läuft ihr über die Wange. Wütend wischt sie sie weg. Als sie mich wieder anschaut, wird ihr Blick plötzlich weicher. Vielleicht liegt es an meiner schuldbewussten, bekümmerten Miene.

»Erinnerst du dich noch an unseren Campingurlaub in Cumbria?«, fragt sie. »Als die Ziegen unser Zelt auffraßen und dir vor Kälte fast die Füße abgestorben sind? Das war viel schlimmer als das hier.«

Ich nicke wortlos. Dann lege ich den Gang ein und fahre los. Als ich das nächste Mal in den Rückspiegel schaue, sind Jody und Sam nicht mehr zu sehen. Die Haustür ist zu.

Das war’s dann wohl. Neun Jahre waren wir zusammen, aber jetzt ist anscheinend Schluss. Und ich sitze in unserer Schrottkarre und habe nicht die geringste Ahnung, wo ich hinfahren soll.

Sam war ein schönes Baby. Er war von Anfang an schön. Schon bei seiner Geburt hatte er dichtes braunes Haar und einen großen Schmollmund. Er sah aus wie ein winziger windeltragender Mick Jagger.

Von Anfang an war er aber auch schwierig. Er wollte nichts zu sich nehmen, er wollte nicht schlafen. Er schrie die ganze Zeit, er schrie, wenn er bei Jody war, und er schrie, wenn er ihr weggenommen wurde. Er schien zutiefst empört darüber, auf der Welt zu sein. Es dauerte einen ganzen Tag, bis er sich endlich stillen ließ. Als Jody ihn an der Brust hielt, heulte sie vor Erleichterung, so fertig und verzweifelt war sie. Und ich schaute verstört und verwirrt zu, klammerte mich an eine Sainsbury’s-Tüte mit Schokoriegeln und Zeitschriften, lauter sinnlose Mitbringsel für die frischgebackene Mutter. Ich begriff sehr schnell, dass ich ihr nichts geben konnte, was es irgendwie leichter machen würde. So war es also. Unser neues Leben. Die reinste Achterbahnfahrt.

»Du kannst so lange bleiben, wie du willst, Alter«, sagt Dan, als ich dreiundzwanzig Minuten später bei ihm klingele. Ich war mir sicher, dass ich auf Dan zählen konnte – oder zumindest war ich mir sicher, dass er sonntagnachmittags zu Hause sein würde, weil er sich dann normalerweise von einer Cluberöffnung, einem One-Night-Stand oder einer aufregenden Mischung aus beidem erholt.

»Du kannst im Gästezimmer pennen«, sagt er, als wir in den Aufzug steigen. »Irgendwo hab ich ’ne Luftmatratze. Kann aber sein, dass die undicht ist. Aber das sind die ja immer, oder? Hast du schon mal auf ’ner Luftmatratze gepennt, die nicht undicht war? O Mann, tut mir leid, du hast gerade andere Sorgen. Hab’s kapiert.«

Dann stehe ich wie betäubt in seiner Wohnungstür, in der Hand die Nike-Sporttasche mit Klamotten, meinem Notebook, ein paar CDs (warum nur?), Waschzeug und einem Foto von Jody und Sam, das ich vor vier Jahren beim Urlaub in Devon aufgenommen habe. Darauf sitzen beide am Strand und lächeln, aber das war bloß eine Farce. Die ganze Woche damals war der reinste Albtraum, weil Sam nicht in dem komischen neuen Bett mit der ungewohnt schweren Decke schlafen konnte, ganz abgesehen davon, dass er furchtbare Angst vor Möwen hatte. Also schlief er bei uns, aber er war total unruhig und wachte dauernd auf – und irgendwann waren wir schließlich alle so erschöpft, dass wir es kaum noch schafften, den Wohnwagen zu verlassen. Danach waren wir im Grunde nie wieder im Urlaub.

»Willst du rausgehen und dich besaufen?«, fragt Dan.

»Ich … ist es okay, wenn ich meinen Kram ins Zimmer bringe und mich ein Weilchen hinsetze?«

»Klar. Ich mach uns ’nen Tee. Ich glaub, es sind auch noch Kekse da. Bin mir sogar ziemlich sicher.«

Dan geht in die Küche, und ich trotte ins Gästezimmer, schmeiße meine Tasche auf den Boden und sinke auf den Bürostuhl vor Dans Computer. Einen Moment lang überlege ich, den Computer einzuschalten und Jody eine E-Mail zu schicken, aber dann schaue ich doch nur aus dem Fenster. Was soll ich denn schreiben? »Hi Jody, tut mir leid, dass ich unsere Ehe verbockt habe. Können wir die letzten fünf Jahre nicht einfach vergessen? LOL.«

Ehrlich gesagt weiß ich inzwischen gar nicht mehr, wie ich überhaupt noch mit ihr reden kann, geschweige denn, was ich ihr schreiben soll. Wir haben nämlich unsere gesamte Ehe eigentlich nur damit verbracht, uns um Sam zu sorgen. Entweder hatte er Wutanfälle und brüllte uns an, oder aber er schwieg beharrlich, verkroch sich in sein Bett und verweigerte jeden Kontakt mit uns. Und während wir tagelang, ja monatelang damit beschäftigt waren, uns für den nächsten Super-GAU zu wappnen, ging das, was uns als Paar verband, allmählich immer mehr verloren. Und jetzt fühlt es sich auf einmal ganz seltsam an, nicht mehr bei Sam zu sein. Die Anspannung ist weg, aber stattdessen bin ich nur noch traurig. Der Zustand emotionaler Leere ist von der Natur anscheinend nicht vorgesehen.

Von Dans Wohnung im siebten Stock einer schicken neuen Anlage am Stadtrand hat man einen Blick auf ganz Bristol; ein Pflasterstein-Panorama aus viktorianischen Reihenhäusern, Kirchtürmen und Bürogebäuden aus den Sechzigern, die sich wie hektische Pendler aneinanderdrängen. Da draußen gibt es Tausende von Häusern, in denen Familien leben – Familien, die nicht gerade eben erst auseinandergebrochen sind.

Vielleicht sollte ich mich doch besaufen? Plötzlich sind meine Augen ganz verschwommen. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu kapieren, warum. Oh. Okay. Ich heule. Und dann laufen mir die Tränen auf einmal wie Sturzbäche über die Wangen, meine Nase fängt an zu laufen, und ich zittere.

»Tee ist fertig«, ruft Dan aus dem Flur. »Ich dachte, ich hätte noch Schoko-Hobnobs, aber ich hab nur noch diese Packung Rich Tea. Ist das auch okay?«

Dann sieht er, dass ich schluchzend neben seinem Bürostuhl auf dem Boden sitze.

»Okay«, sagt er und stellt sanft den Tee auf den Schreibtisch. »Ich schau mal nach, ob ich nicht doch ein paar Hobnobs finde.«

Wir beschließen, uns nicht zu besaufen.

Nachts träume ich, dass ich in einem schrecklichen schwarzen Sumpf versinke, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ich schrecke hoch und ringe nach Luft. Ein Alptraum, kein Wunder bei meinem desolaten Gemütszustand. Erst ein paar Sekunden später bemerke ich, dass Luft aus der Matratze entweicht und ich buchstäblich einsinke. Aha. So viel zum Unterbewusstsein.

Wie bin ich bloß hierhergeraten? Jetzt fängt die Matratze auch noch an, wie ein Welpe vor sich hin zu furzen. So ist das eben, wenn man morgens um drei sein Leben analysiert: Wenn die Luft langsam rausgeht, bleiben nur noch die Fehler übrig, die man begangen hat, die vielen Momente des Scheiterns – die Löcher. Man kann im Dunkeln sogar hören, wo die Löcher sind. Oder wenigstens glaubt man das. Aber dann stellt man fest, dass sie doch ganz woanders sind. Wie bei einer Luftmatratze eben. Die altgriechischen Philosophen hatten ja diesen Spruch, »Erkenne dich selbst«. Ich weiß noch, was ich an der Uni über Ödipus gelernt habe: Sein großer Fehler bestand darin, nicht zu wissen, dass er nach der Geburt von seinen Eltern getrennt worden war und deshalb besser darauf verzichtet hätte, unterwegs wildfremde Typen zu töten oder Frauen zu vögeln, die doppelt so alt waren wie er. Aber wer erkennt sich schon selbst? Damit will ich natürlich nicht sagen, dass wir alle in unserem Leben die gleichen Fehler wie Ödipus machen werden, das wäre ja idiotisch. Aber wer kennt denn wirklich die Gründe unseres Handelns? Ich stecke in diesem Scheißjob fest, mache dauernd Überstunden, stapfe im Dunkeln nach Hause und rede mir ein, dass ich es tun muss, weil wir das Geld und die Sicherheit brauchen. Sam bekommt Sprachtherapie, und Jody kann nicht arbeiten gehen, weil Sam ständig auf sie angewiesen ist. Jedes Mal, wenn ihm sein eigenes Verhalten Angst macht, läuft er zu ihr. Und ich stehe dann besorgt und dämlich im Hintergrund herum und biete nutzlose Hilfe an. Wie kann ich es nur hinkriegen, dass alles wieder gut wird?

Irgendwann gegen vier falle ich in ein Halbkoma, das ich jetzt mal großzügig Schlaf nenne. Aber nur gefühlte Minuten später dringt Licht durch die Jalousien, und es ist Montagmorgen. Dan steht in eng anliegenden schwarzen Calvin-Klein-Boxershorts in der Tür und schaufelt hungrig Frosties aus einer Schüssel.

»Gehst du zur Arbeit?«, fragt er. »Ich kann dir ’nen Schlüssel dalassen. Ich muss in zehn Minuten los. Ich helfe gerade Craig mit seiner Website für dieses Musiklabel in Stokes Croft. Nimm dir Kaffee und Müsli. Bist du okay? Du siehst schon etwas besser aus. Ich meine, du siehst echt scheiße aus, aber wenigstens heulst du nicht mehr.«

Er verschwindet im Bad. Ich checke mein Handy: zwei SMS. Aber nicht von Jody, sondern von meinem Arbeitskollegen Daryl. Nummer eins: Schieb deinen Arsch hierher, ich hab zwei neue Opfer für dich. Nummer zwei: Sorry, ich meine Kunden. Ich lösche alle beide.

Irgendwann mache ich mich fertig, gehe raus und trotte Richtung Stadt. Die Sonne steht niedrig über den Wohnblöcken, ihre Strahlen werden von Glas und gleißendem Beton reflektiert. Vor zwanzig Jahren standen hier verfallende Fabriken und leer stehende Gebäude, alles war zugemüllt, dazwischen wucherndes Unkraut. Dann boomte die Wirtschaft – und zack, auf einmal ist hier eine futuristische Siedlung entstanden, eine gigantische Platine aus Wohnblöcken im Pseudo-Brutalismus, vollgestopft mit Wohnkapseln für junge, aufstrebende Professionals.

Ich kenne viele von ihnen. Ich habe ihnen nämlich geholfen hierherzuziehen. Einer meiner zahlreichen Fehler ist, dass ich Hypothekenberater bin. Mein Job besteht darin, die Hoffnungen und Träume unserer Kunden mit ihren Ersparnissen und dem Immobilienmarkt abzugleichen. Anders ausgedrückt: Ich bringe die Leute dazu, alles, was sie jemals verdienen werden, in eine winzige Eigentumswohnung zu investieren, in der sie noch nicht einmal das Katzenfoto aufhängen können, das sie sich aufs Smartphone runtergeladen haben. Ich bin für die Typen so eine Art Vaterfigur: Lassen Sie uns mal schauen, was Sie überhaupt haben und was Sie sich leisten können. Wir sollten nicht zu großzügig kalkulieren, wir müssen schließlich realistisch bleiben. Wie viel Eigenkapital haben Sie denn? Haben Sie reiche Verwandte? Schauen wir uns Ihr Budget doch mal gemeinsam an. Junge Paare, die gerade erst geheiratet haben und bei denen vielleicht ein Baby unterwegs ist, kratzen ihr ganzes Geld zusammen und sehen mich mit hoffnungsvollen Kulleraugen an. Reicht das? Oft reicht es nicht. Besser, Sie zahlen noch ein paar Jahre lang Miete und sparen weiter. So läuft das jeden Tag. Ein desolates System. Ich kenne ganze Stadtviertel, wo junge Leute nicht den Hauch einer Chance haben, jemals eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen. Stattdessen ziehen sie wer weiß wohin, weit weg von ihren Familien.

Ich bin seit acht Jahren hier. Nach Boom und Rezession erlebe ich jetzt den beginnenden Wiederaufschwung. Die Stelle sollte nur eine Übergangslösung sein; ein Bürojob, um die Rechnungen zu bezahlen, bis sich etwas Besseres ergeben würde. Aber dann habe ich den Absprung nicht mehr geschafft. Und ich bin gut in meinem Job. Ich habe Mitgefühl für die Armen, helfe den Reichen und bin sehr geduldig mit Kunden, die keine Ahnung haben, wovon sie reden – eine Fähigkeit aus den drei Jahren, als ich mit Nietzsche-Fans über Philosophie diskutieren musste. Wenn die Finanzierung glatt geht, kann ich den Vertrag abschließen, wenn nicht, gebe ich dem Kunden eine freundliche Absage. Aber die Probleme, die es zu Hause gibt, kann ich leider nicht mit einem Computer und Immobilien-Knowhow lösen.

Leider kann ich nicht alles lösen.

Ein kurzer Fußweg über den Avon, dann die Hafenpromenade entlang und ich bin im Büro. Ich arbeite bei einem kleinen unabhängigen Immobilienmakler namens Stonewicks. Unser Büro liegt eingepfercht zwischen einem Pub und einem Sandwichladen in einer öden Gegend im Stadtzentrum. Daryl sitzt am sonnigen Fensterplatz, sein billiger Topman-Anzug schreit Polyester, seine Gel-gestylte Stachelfrisur kollabiert allmählich.

»Na, alles im Lack?«, begrüßt er mich, den Blick auf den Computer geheftet. Daryl ist Anfang zwanzig und versprüht einstudierte Entschlossenheit in Kombination mit widerwärtiger Munterkeit. Wahrscheinlich wurde er schon als Immobilienmakler geboren, ein anderer Job ist bei ihm überhaupt nicht vorstellbar. Irgendwo auf seinem Computer hat er eine Tabelle mit seinen Umsatzzielen für die nächsten dreißig Jahre, und jedes Mal, wenn er einen Vertrag abschließt, lässt er eine verdammte Fahrradhupe tröten. Es ist fast schon tragisch, dass Daryl nicht Ende der Sechziger, sondern erst in den Neunzigern geboren wurde. An ihm ist ein junger Thatcherist verloren gegangen, der einen fetten Filofax und einen Golf GTI verdient hätte. Stattdessen muss er sich mit Smartphone und Corsa begnügen. Das muss echt hart für ihn sein.

Ich murmele eine Antwort und gehe die knarzende Holztreppe hoch in mein Büro. Dort rufe ich Jody an.

»Hallo, ich bin’s.«

»Hallo.«

»Geht’s dir gut? Wie geht’s Sam?«

»Dem geht’s gut. Er ist jetzt in der Schule. Auf dem Weg dahin hat er die ganze Zeit geheult, sogar meine Toy-Story-Parodien haben nichts gebracht. Bei Buzz Lightyear hat er mir auf den Mund gehauen. Na ja, ist auch nicht meine beste Nummer. Mrs Anson hat gesagt, dass sie sich um ihn kümmert.«

»Und wie geht’s dir?«

Jody schweigt. Jeanette, die Sekretärin, schaut zur Tür herein und fragt mich gestikulierend, ob ich einen Tee will. Ich nicke und gebe ihr das Daumen-hoch-Zeichen.

Das Büro ist karg. Ein zerschlissener bordeauxroter Teppich, ein schmutziges Fenster mit Blick auf den kleinen Parkplatz hinterm Haus. Früher hing eine viktorianische Stadtansicht von Bristol an der Wand, aber ich habe sie gegen ein Foto von Le Corbusiers Villa Savoye ausgetauscht, nur um mich smart zu fühlen und die anderen zu ärgern. Auf dem Aktenschrank sind einige Dankeskarten von jungen Paaren, die mit riesigen Schuldenbergen glücklich in die Zukunft starten.

»Also, was machen wir jetzt?«, fragt Jody.

»Keine Ahnung. Ich bin noch nie von zu Hause weggelaufen. Tut mir leid, ich muss jetzt aufhören, das nächste Paar wartet schon.«

Als ich den Hörer aufknalle, kommt Jeanette mit dem Tee. Sie ist drauf und dran, was zu sagen, aber dann stellt sie nur wortlos die Tasse auf den Schreibtisch, schaut mich mitfühlend an und geht wieder. Sie hat alles gehört. In spätestens zehn Minuten weiß das ganze Büro, dass ich gerade meine Frau und meinen autistischen Sohn verlassen habe.

Meine Hoffnung, dem häuslichen Elend wenigstens für eine Weile entkommen zu sein, zerschlägt sich schon bald. In der Mittagspause gehe ich in den kleinen Sandwichladen, wo Jody und ich früher oft mit Sam waren. Im mittäglichen Gewühl entdecke ich Jody, die mit ihrer Freundin Clare an einem Tisch sitzt, konspirativ über zwei Medium Latte gebeugt. Ich drängele mich an jungen Müttern und Studenten vorbei in ihre Richtung. Sie haben mich noch nicht bemerkt.

»Er ist immer auf Abstand«, sagt Jody. »Ich kann mich zu Hause überhaupt nicht auf ihn verlassen. Er findet ständig irgendwelche Ausreden.«

»Hat er schon mal überlegt, zu einem Therapeuten oder so was zu gehen?«, fragt Clare. »Ich meine, hat er das, was ihm passiert ist, überhaupt jemals verarbeitet?«

Das war ja klar, dass Jody ihr alles bis ins kleinste Detail erzählt. Natürlich sitzen die beiden in der Mittagspause hier und nehmen unsere Beziehung auseinander. Sie haben eben diese nonchalante, sorglose Offenheit, die Männern abgeht: »Probier mal den Zitronenkuchen, der ist einfach köstlich. Also, wie ist das denn jetzt mit der tragischen Zerrüttung eurer neunjährigen Ehe?«

»Hallo«, sage ich lahm.

Jody und Clare schauen leicht geschockt auf.

»Oh! Hallo Alex«, sagt Clare. »Wir haben gerade von dir gesprochen.«

»Das war nicht zu überhören«, sage ich. »Kann ich mal kurz mit Jody sprechen?«

»Klar, ich wollte sowieso gerade gehen. Jody, wir sehen uns später, okay?«

Jody nickt wortlos. Ich setze mich. Sie spielt mit dem leeren Zuckertütchen neben ihrer Tasse.

»Clare weiß also über alles Bescheid?«, sage ich.

»Ja, mir ging’s nicht gut, und ich muss dann eben mit meinen Freundinnen reden. Wir beide reden ja nie! Alex, wir können so nicht weitermachen. Ich bin es leid. Ich bin das alles so leid.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich muss nun mal so viel arbeiten, wir stehen wahnsinnig unter Druck. Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht für dich und Sam da bin; es tut mir leid, dass ich so selten auf ihn aufpasse. Es ist einfach so …«

»Schwer?« Jody beendet den Satz für mich. »Ja, das stimmt, Alex. Es ist verdammt schwer. Aber Sam braucht dich.«

»Weißt du, wie manchmal Wochen vergehen und er richtig gut drauf ist? Alles läuft super. Und dann ist plötzlich alles wieder vorbei. Das ist das Schlimmste. Ich denke immer, jetzt sind wir endlich über den Berg, aber dann … und dazu dann noch die Arbeit …«

»Ach Alex, es liegt nicht an der Arbeit, es liegt an dir.«

»Ich weiß.«

»Siehst du, Alex, genau deshalb brauche ich eine Auszeit. Es tut Sam nicht gut, dass wir dauernd streiten. Mum hat angeboten zu helfen, und Clare ist auch da. Du musst dich endlich mit deinen Problemen auseinandersetzen.«

»Und was ist mit Sam und seiner Schule? Wir haben nur noch ein paar Monate, um zu entscheiden, ob wir es versuchen und ihn woanders unterbringen.«

Was ist mit Sam? Diese Frage beherrscht unser Leben. Sam ist der Planet der Besorgnis und Verwirrung, um den fast unsere gesamte Beziehung kreist. Letztes Jahr erklärte uns die Kinderärztin nach monatelangen Tests und Gesprächen, dass Sam eine Autismus-Spektrum-Störung hat. Er ist ein hochfunktionaler Autist. Also einer von der leichten Sorte. Er hat Sprachschwierigkeiten und Angst vor sozialen Situationen, er hasst Lärm und reagiert in Bezug auf bestimmte Dinge zwanghaft, vor allem wenn Situationen ihn verwirren oder ängstigen. Aber die zugrunde liegende Botschaft lautete: Im Vergleich zu anderen Eltern haben Sie es wirklich leicht.

Dennoch war die Diagnose auch eine Erleichterung. Endlich ein Etikett. Wenn er auf dem Weg zur Schule kreischt und kämpft, wenn er sich im Restaurant unter dem Tisch versteckt, wenn er sich weigert, Verwandte oder Freunde zu umarmen, geschweige denn zu begrüßen, ausgenommen Jody: Das liegt am Autismus! Der Autismus ist schuld. Ich fing an, den Autismus als eine Art Dämon oder Poltergeist zu betrachten. An manchen Tagen ist es wirklich so wie in dem Film Der Exorzist, und ich wäre nicht im Geringsten überrascht, wenn Sam plötzlich mit wild rotierendem Kopf grüne Kotze durchs Zimmer schleudern würde. Dann könnte ich wenigstens sagen: »Ist schon in Ordnung, das ist nur der Autismus, und die grüne Kotze kriegen wir schnell wieder rausgewaschen.« Das Dumme ist nur, dass Etiketten gar nichts bringen. Sie helfen nicht gegen Schlaflosigkeit oder gegen die Wut, wenn man beworfen wird oder etwas kaputtgeht. Sie helfen nicht, wenn man über das eigene Kind und dessen Zukunft in zehn, zwanzig, dreißig Jahren grübelt. Wegen Autismus gibt es kein »Jody und ich«, sondern nur »Jody, ich und das Problem namens Sam«.

So fühlt es sich jedenfalls an. Aber das darf ich nicht sagen.

Ich darf es nicht einmal denken.

»Hör mal, mit Sam und allem …« Ich bringe den Satz nicht zu Ende, aber das ist auch gar nicht nötig.

»Ich weiß. Alex, du brauchst Hilfe! Und du musst endlich anfangen, Verantwortung zu übernehmen. Wie wär’s, wenn du Sam am Samstag besuchst? Du könntest doch was mit ihm unternehmen.«

Ich fummele mit meinem Handy herum. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Sam im Park, wie er weint und wegläuft, wie er durch das Tor auf die Straße rennt.

»Das könnte schwierig werden, ich muss wahrscheinlich arbeiten.«

Jetzt wird Jodys Blick stahlhart. Trotz des Lärms um uns herum kann ich ihre stille Wut spüren.

»Gut, ich komme«, sage ich.

»Dann können wir auch über Schulen reden.«

»Ja. Das tun wir.«

»Mach’s gut, Alex. Pass auf dich auf.«

»Du auch. Tut mir leid. Tut mir wirklich leid.«

Kapitel 2

Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Ich habe gerade wieder von meinem Bruder George geträumt. Schweißgebadet schnappe ich nach Luft. Ich versuche, die Hand nach Jody auszustrecken, aber dann registriere ich, dass ich auf einer fast platten Luftmatratze liege. Mein Arm fühlt sich ganz taub an. Panisch setze ich mich auf und schüttele ihn, schlage die nutzlose Gliedmaße gegen die Wand und gegen Dans Schreibtischbein. Es dauert eine Weile, bis das Gefühl wieder zurückkehrt und mir klar wird, dass ich ja gar nicht zu Hause bin. Ich bin bei Dan, allein in seinem Gästezimmer. Die Matratze gibt ein leises »Pffffff« von sich. Wahrscheinlich macht sie sich lustig über mich.

Es ist Dienstagmorgen. Im Badezimmer singt Dan »Shake It Off« von Taylor Swift. Ich stelle mir lieber nicht vor, was er dabei alles macht. Langsam setze ich mich auf, durchwühle meine Tasche nach Klamotten und gehe ins Wohnzimmer mit den bodentiefen Fenstern, die auf den winzigen Balkon führen. Irgendwie hat Dan es geschafft, zwei Liegestühle dorthin zu quetschen. In der Ecke ist eine Miniküche mit Herd, Kühlschrank, Waschmaschine und Spülbecken, alles weiß und blitzblank. Dan benutzt sie kaum. Der Rest des Wohnzimmers ist ein Durcheinander aus Ikea-Möbeln, Comics, Gamecontrollern und Soundsystemen. Der 52-Zoll-LED-Fernseher nimmt den Großteil der Wand ein. Auf dem Bildschirm sieht man Grand Theft Auto V eingefroren im Pausenmodus, mitten in einer Schießerei. Wenn die Leute, die diesen Wohnblock konzipiert haben, Dan sehen könnten und wie er lebt, würden sie sich garantiert High fives geben. Genau diese Sorte von Bewohnern hatten sie im Sinn. Stylische junge Typen, denen es egal ist, dass man Kühlschrank und Herd aus Platzgründen nicht gleichzeitig aufmachen kann. Das Spülbecken ist auch winzig, aber das macht nichts, weil Dan sowieso nur Tassen spült. Zu Hause isst er nämlich höchstens coole japanische Bechernudeln oder Bechersuppen. Es ist mir ein Rätsel, was er an dieser Junggesellentraumbude so toll findet. Ich finde es irgendwie erschreckend, wie er lebt, ziellos von Projekt zu Projekt treibt und dabei ständig über den Abgrund der modernen Wirtschaft springt. Ich könnte das nicht. Jedenfalls jetzt nicht. Nach George – nach dem, was George passiert ist – habe ich meine eigenen Ziele aus den Augen verloren. Alles wurde dunkel, und die Möglichkeiten, die sich mir eröffneten, engten mich plötzlich ein wie eine Gefängniszelle. Ich schleppte mich wie ein Schlafwandler zur Uni, und danach taumelte ich von einer sicheren, öden Stelle zur nächsten. Dan dagegen hatte schon immer viele Kumpel bei irgendwelchen Kreativagenturen, die ihn fragen, ob er ihnen bei einem Website-Launch, einer Cluberöffnung oder einer Ladeneinrichtung helfen kann. Ich weiß gar nicht genau, was er da eigentlich macht. Aber anscheinend versprüht er so viel Charme, dass sie ihn wieder und wieder anrufen. In Bristol wird ständig etwas Neues aus dem Boden gestampft, Kunsthallen genauso wie Shopping-Center aus Schiffscontainern. Dan scheint alle zu kennen, die damit zu tun haben, er ist stets mittendrin.

Natürlich bin ich total neidisch auf ihn, aber so war das schon immer – seit ich als Siebenjähriger sah, wie er mit seiner Familie in einem kobaltblauen BMW 5er die Auffahrt hochfuhr, um neben uns einzuziehen. Dan sprang heraus, ein strahlender, cleverer Fünfjähriger in roten Jeans und gelbem Lacoste-Poloshirt. Emma, George und ich schauten unseren glorreichen neuen Nachbarn vom Vorgarten aus zu, und Dan schlenderte zu uns herüber.

»Hallo, ich bin Dan«, grinste er. »Was spielt ihr denn gerade? Kann ich mitspielen?«

Er nahm uns sofort für sich ein, so wie er alle Menschen für sich einnimmt. Er hat das einfach drauf – im Gegensatz zu mir. Wen kenne ich überhaupt? Ich kenne Jodys Freundin Clare und ihren Mann Matt, die fast pausenlos mit ihren vier Kindern beschäftigt sind. Ich kenne Immobilienmakler und Hypothekenberater. Und Jody und Sam. Das war’s. Warum habe ich es nicht geschafft, mehr Menschen kennenzulernen? Was zum Teufel ist passiert?

Sam. Sam ist passiert.

Als ich auf der Arbeit meine E-Mails checke, sehe ich, dass das gesamte Büro zum gemeinsamen Mittagessen um eins im Pub verdonnert wurde. Ich, Daryl, Jeanette, die anderen Makler Paul und Katie, und Charles, der Zweigstellenleiter. Paul und Katie sind Ende dreißig und benehmen sich, als wären sie seit dreihundert Jahren verheiratet. Sie sind wie aus einem Guss. Kinder haben sie keine. Häuser sind ihre Kinder. Ich glaube, das haben sie sogar irgendwann mal gesagt, ich erinnere mich nicht mehr genau. Wenn sie miteinander reden, klingt es, als wäre ihre Beziehung so eine Art Dauer-Immobilientransaktion. Manchmal ertappe ich mich dabei, sie mir beim Sex vorzustellen; Paul ist oben und schreit: »Die Liegenschaft geht gleich über, die Liegenschaft geht gleich über, die Liegenschaft ISTÜBERGEGANGEN!« Ich kann den beiden gar nicht mehr in die Augen schauen. Charles ist Mitte vierzig und so was wie der Loser der örtlichen Immobilienszene. Eigentlich müsste er längst Regionalleiter einer großen landesweiten Kette sein. Aber er ist nicht aufgestiegen und quält sich weiterhin durch Verkaufsabschlüsse, während sein Haar immer schütterer und seine Haut immer schlaffer wird. In seiner Schreibtischschublade bewahrt er eine kleine Flasche Whiskey auf, das hat Jeanette uns allen gesteckt. Seine Entspannungsmethode, wenn ein Deal nicht klappt. Bitte, lieber Gott, lass mich nicht auch so enden.

Das Mittagessen findet im King’s Head statt, einem schönen Pub im Tudorstil an einer Pflasterstraße am Hafen. Innen sieht er allerdings wie ein ganz gewöhnlicher britischer Pub aus. Ein schiefer, von übergelaufenem Bier feuchter Holztresen, in der Ecke ein flimmernder Spielautomat, dazu der durchdringende Gestank der Beckensteine in den Urinalen der Herrentoilette. Für Parfumhersteller, die den typischen Duft eines britischen Ausgehabends in einen Flakon füllen wollen, wäre Beckenstein die perfekte Lösung. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Eau de Herrenklo sich gut verkaufen würde. Aber immerhin bringt mich das auf andere Gedanken, während ich innerlich den Countdown zähle, bis Daryl mit seinem Gelaber anfängt.

Im Pub ist es fast leer, also nehmen wir den Tisch am Fenster und schnappen uns die laminierten Speisekarten mit dem typisch britischen Pub-Fraß, also aufgetautes Tiefkühlzeug, das vom Küchenpersonal erst in die Mikrowelle gestellt und dann auf den Teller geschlabbert wird, je nach Laune vielleicht sogar mit einer kleinen Petersilienzweig-Deko. Manchmal scheint alles in Großbritannien so abzulaufen, automatisch und achtlos. Das ist kein echter Pub und kein echtes Pub-Essen, sondern eine gruselige Simulation davon, was Menschen glauben, haben zu wollen.

O Mann – kein Wunder, dass ich aus meinem eigenen Haus geworfen wurde.

»Ich nehme Fish & Chips«, verkündet Daryl. »Ich muss mich aber beeilen, denn um zwei kommt ein Käufer für das Clifton-Objekt.«

O Gott, es geht los. Ich vergrabe mein Gesicht in der Speisekarte und überlege, ob ich die hausgemachte Lasagne mit Mozzarella nehmen oder lieber gleich in den Avon springen soll. Das Flusswasser ist garantiert frischer.

Als ich abends in Dans Wohnung zurückkehre, bin ich erschöpft und angespannt. Meine Gedanken kreisen nur noch darum, dass ich morgen mit Sam einen Ausflug machen muss, vermutlich erst in den Park und dann ins Café. Und davor graut mir. Ich liebe Sam über alles, aber er ist eben sehr schwierig. Und ich kann damit überhaupt nicht umgehen. Jedes Mal, wenn ich mitbekomme, dass er sich wieder aufregt – zum Beispiel weil er nicht fernsehen darf oder weil ihm beim Aufwachen klar wird, dass er gleich wieder zur Schule muss, oder weil unsere Wochenendpläne ihn verwirren –, rege ich mich auch auf. Ich verspanne, werde immer frustrierter, und plötzlich geht es nur noch darum, wer von uns beiden wohl als Erster explodieren wird. Nur Jody schafft es, Sam zu beruhigen.

Heute Nachmittag kam eine Familie mit Kleinkind wegen einer Hypothek für ein kleines Reihenhaus in Totterdown vorbei. »Er redet pausenlos«, japsten die Eltern. »Den ganzen Tag geht das so.« Sie jammerten und taten recht bescheiden, aber im Grunde wollten sie damit prahlen, wie schlau ihr Sohn ist und wie gut er sich entwickelt. Der Kleine durchwühlte meinen Papierkorb und trällerte dabei Disney-Songs. Ich konnte mir gerade noch verkneifen, ihnen zu erzählen, wie mein Sohn in diesem Alter war. Er konnte vielleicht drei Wörter sagen oder vier, wenn man »schlur« mitzählt – ein Wort, das er häufig sagte, aber wir sind nie dahintergekommen, was es bedeuten sollte. Damals hörten wir von Freunden oft den Spruch: »Ach, jedes Kind entwickelt sich ganz individuell, er wird schon noch aufholen.« Und dann nickten wir jedes Mal und taten so, als ob es uns nichts ausmachte. Aber abends checkten wir Elternratgeber im Internet. »Da steht, dass er als Zweijähriger fünfzig Wörter kennen sollte.« Davon war er allerdings weit entfernt. Ich fürchte, daran hat sich bis heute nicht viel geändert – und inzwischen ist er acht.

Armer Sam. Mein armer Junge.

Dan geht aus.

»Willst du mitkommen? Mein Kumpel veranstaltet ’ne neue Clubnight im Creation.«

Dan geht ständig zu Clubnights, die ständig von seinem Kumpel veranstaltet werden. Wieder einmal frage ich mich: Wie schafft er das bloß? Okay, er ist zwei Jahre jünger als ich, aber nur daran kann es nicht liegen. Sein Leben läuft irgendwie ganz von selbst, ihm fliegt einfach alles zu. Als sein Onkel, den er ewig nicht gesehen hatte, vor drei Jahren starb, stellte sich heraus, dass er Dan sein Auto hinterlassen hatte: einen Porsche 911 in Hellblau, das Urmodell. Dan fährt ihn kaum, der Wagen steht bloß in der Tiefgarage und wird dabei jeden Tag wertvoller. Dan führt ein sorgenfreies Leben, er trägt keine wirkliche Verantwortung, abgesehen vielleicht von all den neuen Musiklabels in Stokes Croft, die seine Hilfe brauchen. Dan ist eben Dan. Das war schon so, als wir zusammen aufwuchsen, zur selben Schule gingen, dieselben Freunde hatten und von denselben Typen schikaniert wurden. Dan war immer Dan. Er rettete mich bei Schlägereien und beschützte Emma vor dummen Anmachen in der Jugendclubdisco. Inzwischen bin ich Vater, stecke in einem Alptraum fest und muss mich damit arrangieren, diesen Scheißjob zu machen, damit ich meine dysfunktionale Familie ernähren kann. Und Dan? Groovt weiter durchs Leben, cool wie immer.

Ich war auch mal cool. Ungefähr vier Jahre lang. An der Uni hatte ich mal ein Alternative-Projekt namens Oblivion laufen, wir spielten Post-Rock und schräge elektronische Tanzmusik für eine Handvoll pseudointellektueller Musikfreaks. Manchmal veranstalteten wir Liveshows in miesen Pubs. Ich habe sogar mal ein Musikfestival auf einem stillgelegten Industriegelände organisiert, das vom Reporter der Lokalzeitung als »kaum anhörbar« bezeichnet wurde. Dieses Zitat nutzten wir sofort für unsere Flyer, bestimmt zwei Jahre lang. Als Dan in Bristol Design studierte, tauchte er oft bei mir auf, um Poster für uns zu machen. Er bastelte uns sogar eine Website. Er macht noch das Gleiche wie früher. Ich nicht. Mir kam das Leben dazwischen.

»Ich glaub, ich bleib lieber hier, Dan. Aber trotzdem danke.«

»Kein Problem, Alter.«

Ich starre auf den leeren Fernsehbildschirm. Dabei gibt es zig Entertainment-Optionen bei Dan. Er hat vierhundert Kabelsender und eine Festplatte mit so vielen Filmen und TV-Serien, dass ein Menschenleben gar nicht ausreicht, um sich alles anzusehen. Aber die Auswahl erschlägt mich geradezu. Wie soll man heutzutage bloß entscheiden, was man sich anschaut? Was, wenn man die falsche Serie wählt und es gibt eine bessere, aber man hat schon Stunden seines Lebens für die andere geopfert? Manche Leute nennen so etwas »Jammerei auf hohem Niveau« – Leute, die ungefragt die Facebook- und Twitter-Postings von anderen Menschen kommentieren und ihnen vorhalten, sich über banales Zeug aufzuregen. Als Vater eines manchmal sehr unruhigen Kindes habe ich eines jedenfalls schnell gelernt: Die Leute lieben es, andere zu verurteilen. Aus der Überlegenheit ihres scheinbar perfekten Lebens heraus werfen sie einem höhnische Bemerkungen zu. Aber lassen wir das. Ich muss irgendwas finden, das mich davon ablenkt, an Sam und an morgen zu denken. Aber was? Ich will mich jetzt auf nichts konzentrieren. Ich kann nicht. Jody meint ja, dass ich Hilfe brauche. Vielleicht stimmt das sogar. In meinem Kopf brodelt es, mein Schädel ist ein Whirlpool aus Ängsten und Sorgen, ich kann überhaupt nicht mehr klar denken.

Okay, tief einatmen. So sieht es aus: Ich musste weg von Jody und Sam, weil wir ständig gestritten haben und nur noch gestresst waren. Ich muss unbedingt einen Weg finden, damit das endlich aufhört. Ich muss irgendwie lernen, mit dem Druck umzugehen. Ich muss das Licht am Ende dieses Tunnels finden.

Okay. Das ist vielleicht doch keine so gute Stimmung, um endlich mit Breaking Bad anzufangen.

Kapitel 3

Als ich am nächsten Morgen da bin, wartet Sam schon an der Tür. Er hat sich die Kapuze von seinem Shirt aufgesetzt. Darunter trägt er eins seiner Spezial-T-Shirts mit außen liegenden Nähten und Säumen, damit er sie nicht auf der Haut spürt. Ganze Websites beschäftigen sich mit solcher Kleidung. Wenn man verzweifelt nach Lösungen für unerklärliche Marotten und Phobien sucht, stößt man irgendwann ganz automatisch darauf. Es gibt sogar Unternehmen mit speziellen Angeboten für Kinder, die sich in unserer Welt nicht wohlfühlen.

»Daddy, gehen wir in den Park? Gehen wir ins Café? Daddy, kommst du rein?«

»Ja, ich komme kurz rein.«

Das Wohnzimmer ist ein schmerzlich vertrauter Bombenkrater; Kleidung, Bücher und Spielzeug sind wie Trümmer auf dem Boden verstreut. Überall stapeln sich Sachen: Wischtücher, ungeöffnete Post, Zeitungen. Das zerschlissene Sofa ist mit Müsliflecken übersät, der Fernsehbildschirm mit Fingerabdrücken verschmiert, die Bücherregale sind mit dem Schutt des Elterndaseins überladen: halbfertige Lego-Modelle, Playmobil-Motorräder, Actionfiguren mit fehlenden Gliedmaßen. Meine CDs und DVDs sind achtlos in einer Ecke gestapelt, die Gardinenstange hat sich halb von der Wand gelöst, und die Gardine flattert nutzlos in der Brise, die durch das offene Fenster hereinweht.

Das ist zu Hause. Plötzlich habe ich einen dicken Kloß im Hals.

Jody kommt herunter, ein Handtuch um das lange rotbraune Haar gewickelt, ein paar nasse Strähnen im Gesicht. Sie trägt Jeans und Schlabbershirt. Sie sieht müde aus. Und misstrauisch.

»Hallo Alex.«

»Hallo. Wie geht’s?«

»Daddy, gehen wir in den Park? Kann ich meinen Ball mitnehmen? Daddy, brauche ich eine Tasche für meinen Ball?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir den Ball mitnehmen können, wir gehen ja danach ins Café und …«

»UHHHH«, sagt Sam, und im nächsten Moment weint er.

»Hier war heute Morgen schon einiges los«, raunt Jody mir mit gezwungenem Lächeln zu. Sie geht zu Sam und nimmt ihn in die Arme. Ihre Augen sprechen Bände. Wahrscheinlich ist er schon seit fünf oder noch früher auf. Er hat vermutlich den Fernseher angemacht, und als Jody schlaftrunken hereinkam, um ihn wieder auszuschalten, hat er das erste Mal geweint. Dann hat er bestimmt angefangen, Frühstück zu machen, dabei überall Milch verschüttet und wieder geweint. Anschließend hat er Jody vermutlich aufgeweckt, um sie zu fragen, ob er fernsehen darf, und dabei so lange geweint, bis sie Ja gesagt hat. Die vertrauten Muster.

»Was ist denn passiert?«, frage ich.

»Tja, X-Men lief nicht im Fernsehen, also hat er mir die Fernbedienung an den Kopf geworfen«, sagt Jody. Der blaue Fleck ist deutlich zu sehen. Als Sam drei war, schlug er mir mit einem Lego-Duplo-Eimer einen Vorderzahn aus. Er war wie Joe Pesci in Good Fellas: ein kleiner Witzbold, dessen Verhalten jederzeit in extreme, rasende Gewalt umschlagen konnte.

Meine Anspannung steigt. Wenn Sam gut drauf ist, bedeutet das eine Herausforderung. Aber wenn Sam schlecht drauf ist, wird sein Verhalten unvorhersehbar und furchteinflößend. Mein Magen krampft sich zusammen. Was, wenn er wegläuft? Was, wenn etwas passiert und ich ihn nicht beschützen kann? Schreckensvisionen von dem, was passieren könnte, wenn er davonstürmt, jagen mir durch den Kopf. Mir bricht der Schweiß aus.

»Sollen wir vielleicht was anderes unternehmen?«, schlage ich zaghaft vor. »Wenn er schlecht drauf ist …«

Jody schaut mich vorwurfsvoll an. Der vertraute Blick.

»Wir waren uns doch einig, Alex!«, zischt sie. »Und ich hab es schon auf seinem Stundenplan notiert.« Jeden Morgen malt Jody einen Comic-Stundenplan für Sam, damit er sehen kann, wann er sich anziehen soll, wann Essenszeit ist und was er sonst noch alles machen wird, bis er wieder ins Bett geht. An den Wochenenden nimmt er den Plan mit, um regelmäßig draufzuschauen. Und wenn etwas auf dem Plan steht, dann muss es getan werden. Jody schaut zu Sam herüber, der gerade damit beschäftigt ist, die Klettbänder seiner Schuhe stramm zu ziehen. Noch so eine Sache: Sam hasst Schnürsenkel. Und die Klettbänder müssen so stramm gezogen sein, dass ich immer Angst habe, sie schneiden ihm die Blutzufuhr zu den Füßen ab. Alles muss ganz fest sein. Nichts darf nachgeben.

»Ich weiß«, zische ich zurück. »Aber wenn er schlecht drauf ist? Auf den Straßen am Park ist viel Verkehr. Ich mache mir nur Sorgen, dass …«

»Es wird schon nichts passieren«, fällt Jody mir ins Wort. »Du kannst dich nicht immer vor solchen Sachen drücken, und vor deinem eigenen Sohn erst recht nicht! Alex, es sollte gar nicht nötig sein, dass ich dich überreden muss, heute Vormittag was mit Sam zu unternehmen und für lächerliche drei Stunden die Verantwortung für ihn zu übernehmen.«

Ich setze an, etwas zu erwidern, aber sie schneidet mir schon wieder das Wort ab.

»Und ich will nicht hören, wie viel Stress du auf der Arbeit hast«, wütet sie weiter. »Sei doch mal zu Hause, wenn die Schule wieder anruft, weil Sam jemanden getreten hat oder selbst geschlagen wurde oder den ganzen Morgen nach seiner Mutter schreit. Versuch doch mal, ihm sein Essen zu machen und es während der ganzen Zeit, die er zum Essen braucht, auf genau der richtigen Temperatur zu halten. Versuch es mal! Ich bin völlig fertig, und du hilfst mir überhaupt nicht! Genau da stehen wir gerade!«

Für einen Moment herrscht Stille. Wir stehen da wie zwei Western-Gegner bei einem emotionalen Showdown.

»Daddy, ich bin fertig«, sagt Sam. »Wir können jetzt in den Park. Nehmen wir den Ball mit?«

»Okay«, sage ich und versuche, ruhig zu atmen. »Wir nehmen den Ball mit und lassen Mummy hier. Sie braucht ein bisschen Zeit für sich.«

»Gehen wir in den Park?«

»Ja.«

»Und danach ins Café?«

»Ja, Sam.«

»Kann ich geschäumte Milch haben?«

»Ja.«

»Aber wir gehen zuerst in den Park, ja?«

»Ja, zuerst in den Park und danach ins Café.«

Ich nicke Jody zu, bringe es aber kaum fertig, ihr in die Augen zu schauen. In diesem Moment bin ich nur froh, endlich die Flucht ergreifen zu können.

»Daddy, nehmen wir den Ball mit?«

Der Park liegt auf einer Anhöhe zwischen Bedminster und Totterdown, ein grüner Klacks inmitten einer Ansammlung aus viktorianischen Reihenhäusern mit Straßen, die sich wie Fäden eines riesigen Spinnennetzes in alle Richtungen ausdehnen. An den Rändern sind bröckelnde Wege, auf denen Jogger wie schwitzende Roboter aneinander vorbeistolpern. Es gibt einen kleinen Platz mit Schaukeln und Rutschen, die irgendwann Anfang der Neunziger aufgestellt und dann ihrem Schicksal überlassen wurden. Die Schaukeln haben gar keine Sitze mehr, die rostigen Metallrahmen mit den nutzlos schlenkernden Ketten erinnern eher an eine Open-Air-Spielwiese für Sadomaso-Fans. Die Rutschen sind mit Graffitis und anatomischen Zeichnungen übersät, die alles andere als jugendfrei sind. Der Stadtrat sollte sie entweder abmontieren oder für den Turner-Preis nominieren.

Sam hält den Ball umschlungen. Ab und zu kicken wir ihn uns gegenseitig zu, dann hält er ihn wieder fest. Ich lasse den Blick wandern, um abzuchecken, was ihn aufregen könnte.

Spielplatz-Super-GAU: Wie stehen die Chancen?

Vorbeikommender Erwachsener, der ein Gespräch anfangen will: 10 zu 1

Bellender Hund: 8 zu 1

Andere Kinder, die gern Fußball spielen wollen: 5 zu 2

Brennnesseln: 5 zu 1

Wespen: 8 zu 3

Schwangerschaftskursteilnehmerinnen, die hinter dem Torpfosten meditieren (das ist tatsächlich mal passiert, und Sam fand es furchtbar): 100 zu 1

Eiswagen nicht da: 50 zu 50

Heute sind nur ein paar Kinder da, die alle auf der Sadomaso-Wiese spielen; das dürfte also kein Problem werden. Die Leute, die ihre Hunde ausführen, sind so weit weg, dass ich genug Zeit habe, Sam zu warnen. Der Eiswagen steht an seinem üblichen Platz, um vom spätsommerlichen Wetter zu profitieren. Alles gut. Ich atme erleichtert auf.

Eine wichtige Lektion über Autismus habe ich ziemlich früh gelernt: Der Film Rain Man mit Tom Cruise und Dustin Hoffman von 1988 ist KEIN Dokumentarfilm. Nicht alle autistischen Kinder haben Superkräfte. Wenn ich Sam ins Casino von Bristol mitnehmen würde, wäre er jedenfalls nicht in der Lage, uns durch Kartenzählen einen saftigen Gewinn zu verschaffen. Vielmehr würde der Lärm dort ihn so ängstigen, dass er sich unter dem Roulettetisch verkriecht, bis die Sicherheitskräfte mich abführen, weil ich ein Kind ins Casino geschleppt habe.

Sam hat eine sehr eigene Art, die Welt wahrzunehmen. Und jedes Mal, wenn der Stress eskaliert, versuche ich auch, mir das ins Gedächtnis zu rufen – etwa, wenn ich ihn dazu dränge, sich die falsche Jacke anzuziehen, oder wenn die Spaghetti, die Jody ihm gemacht hat, zwei Grad zu warm sind. Für Sam ist die Welt eine riesige Maschine, die auf eine ganz bestimmte Weise mit vorhersehbaren Handlungen funktionieren muss, denn nur dann fühlt er sich sicher. Nur wenn er den kompletten Zeitplan und alle geplanten Handlungen kennt und die Aus-Taste immer in Reichweite hat, kann er sich entspannen.

Ich schaue ihm zu, wie er zu dem Baumstamm-Arrangement rennt. Er spielt gern dort, und ich weiß schon jetzt genau, wie das Ganze ablaufen wird. Zuerst klettert er auf einen bestimmten Baumstamm und balanciert darauf entlang, und kurz bevor er das andere Ende erreicht, vergewissert er sich, dass ich ihm zusehe. Dann überlegt er, auf den nächsten Baumstamm zu springen, entscheidet sich aber dafür, erst runter- und schließlich wieder raufzusteigen. Wenn ein anderes Kind dort spielt, schubst er es weg – aber nicht, weil er es schikanieren will, sondern weil dort ja die Baumstamm-Maschine ist, die auf eine typische Weise funktionieren muss. Für ihn ist ein anderes Kind wie ein Systemfehler, und wenn er es wegdrängt, ist das so, als ließe er ein Virenschutzprogramm laufen: »KINDENTDECKT. WEGSCHUBS-SEQUENZAKTIVIERT. KINDELIMINIERT. WARNUNG: KINDRENNTWEINENDZUELTERN.«

Ich könnte natürlich zusammen mit ihm über die nassen Baumstämme klettern, aber das mache ich nicht. Das mache ich nie. Ich schubse Schaukeln an und kicke Bälle zurück, aber Herumtoben ist definitiv nicht mein Ding. Ich bin keiner von diesen Vätern in Converse Chucks und Batman-T-Shirts, die unbedingt beweisen wollen, dass sie wie ihr Nachwuchs sind, voll lustig und die besten Freunde ihrer Kinder. Diese Väter tollen herum, als wollten sie Tom Hanks’ Rolle in Big nachspielen, und sie beäugen mich misstrauisch, wenn ich im Hintergrund stehen bleibe und die Gegend nach potenziellen Gefahren abscanne. Spielen fällt mir nicht gerade leicht. Im Gegenteil. Ich finde es schwer, in die richtige Stimmung zu kommen und loszulassen.

Als ich Sam dabei beobachte, wie er über die feuchten Stämme kraxelt, muss ich auf einmal daran denken, wie George und ich uns als Kinder gegenseitig anstachelten, im Park nebenan auf die Spitze des Klettergerüsts zu steigen. George war zwei Jahre älter und mutiger, nicht so vorsichtig wie ich. »Jetzt komm hoch. Komm schon, Alex!« Die Erinnerung daran macht mir bewusst, dass ich langsam vergesse, wie seine Stimme geklungen hat. Plötzlich möchte ich Sam hochheben und umarmen und dann zurück zu Jody bringen. Ich möchte sagen: Pass auf ihn auf, Jody, pass auf ihn auf.

Plötzlich sehe ich, wie ein großer Hund, anscheinend ein Labrador, hinter einem Gebüsch auftaucht und direkt auf uns zuläuft. Er ist etwa fünfzig Meter entfernt, aber er hat Sams Fußball entdeckt. Der Hund will spielen. Verdammt. Ich gehe auf Sam zu, erst langsam, dann schneller. Jetzt muss ich behutsam vorgehen.

»Sam, hab keine Angst, da kommt ein Hund, willst du mir den Ball geben?«

Sam dreht sich um, schlittert dabei fast vom Baumstamm und schnappt vor Schreck nach Luft. Der Hund ist nicht angeleint und stürmt bellend auf uns zu. Sam dreht sich panisch zu mir, dann lässt er den Ball fallen und rennt in meine Richtung – großer Fehler. Der Hund wedelt wild mit dem Schwanz und überlegt, ob er lieber dem Ball oder dem fliehenden Jungen nachrennen soll. Der Junge verspricht mehr Spaß.

»Sam, er will nur spielen.«

Jetzt renne ich, packe Sam und schleudere ihn herum, sodass ich zwischen ihm und dem Hund bin. Er zittert vor Angst. »Nein, nein, nein, nein«, schluchzt er.

»Er tut dir nichts«, sage ich.

Der Hund bellt und springt an uns hoch. Ich schiebe ihn weg und schaue mich suchend nach seinem Besitzer um. Eine ältere Frau taucht auf, sie hält eine Leine und einen Ball in den Händen. Sie hat den Mund zu diesem Hundebesitzerlächeln verzogen, das sagen will: »Ich liebe Hunde, jeder liebt Hunde, wer um Himmels willen könnte meinem Hund etwas Böses zutrauen?«

»Er will nur spielen! Er liebt Kinder«, sagt sie.

»Würden Sie ihn zu sich rufen?«, frage ich so höflich wie möglich, kann meine Wut aber nicht ganz unterdrücken.

Jetzt lächelt sie nicht mehr. »Er ist ein lieber Hund, er würde keinem etwas tun.«

Sam wühlt sich schluchzend in meine Arme. »Tsss«, sagt die Frau, packt den Hund am Halsband und zieht ihn weg.

»Komm, Timmy, lass uns da drüben spielen.«

Ich schaue ihr hinterher. Sie merkt gar nicht, welche Angst ihr blöder Köter ausgelöst hat. Es kommt ihr gar nicht in den Sinn, dass es hier vielleicht um mehr geht als bloß um ein Kind, das keine Hunde mag.

»Hey! Sie!«, rufe ich. »Hier müssen Hunde angeleint werden. Können Sie keine Schilder lesen, verdammt noch mal?«

Sie dreht sich um, völlig verblüfft über meine Wut.

»Komm«, sage ich leise zu Sam und streiche ihm das Haar aus dem Gesicht. Er wimmert und umarmt sich selbst so fest, dass seine Knöchel ganz weiß sind. »Komm, mein Sohn. Lass uns ins Café gehen.«

Als wir losziehen, nehme ich eine Gruppe von Kindern wahr, die Frisbee spielen. Sie sind glücklich und haben Spaß miteinander; ihre Eltern sitzen entspannt auf einer Bank und unterhalten sich. Ich spüre einen Stich. Neid. Wie leicht das Leben dieser Eltern sein muss.

»Daddy, gehen wir jetzt ins Café?«

»Ja, wir gehen jetzt ins Café.«

»Kann ich geschäumte Milch haben?«

»Ja.«

»Der Hund hat mir Angst gemacht. Ich mochte den Hund nicht.«

»Ich weiß.«

Das war unser Ausflug in den Park.

Kapitel 4

Im Café ist es vergleichsweise ruhig. Es liegt in einer kleinen Ladenzeile und zählt zu den hipperen Locations der Gegend, maßgeschneidert für Mittelschicht-Mamis, die mit Friends aufwuchsen und sich das Central Park Café aus der Serie herbeisehnen. Die Inneneinrichtung strotzt vor Retro. In der Ecke steht eine alte Rowe AMI Jukebox, an den Wänden reihen sich kitschige Sechziger-Poster mit sinnlichen Schönheiten und melancholisch dreinblickenden Jungs. Sam ist ganz fasziniert von ihnen. Wir sitzen hinten an unserem Stammplatz, auf einem großen Sofa vor einem Holzbeistelltisch mit alten Comics und Zeitschriften.

»Daddy, warum hat diese Frau ein grünes Gesicht?«

»Daddy, warum haben die den Kindern so große Köpfe gezeichnet?«

Ich antworte ihm, dass ich es nicht weiß und dass die Sechziger halt eine verrückte Zeit waren.

Dann bestelle ich einen Cappuccino. Auf der Kreidetafel draußen steht, dass er der Beste im Westen ist, dazu ein Zitat von T. S. Eliot, »Ich vertat mein Leben kaffeelöffelweis«, in betont schwungvoller Schrift. Der Barista, natürlich mit dem Schnurrbart eines Zwanzigerjahre-Filmschurken und einem knallengen Vintage-T-Shirt, bringt den Cappuccino und macht großes Aufhebens darum, Sam seine heiße Milch zu servieren: »Sehr wohl, Sir, unsere beste geschäumte Milch, von den besten Geschäumte-Milch-Kühen aus ganz Somerset.«

Sam kichert entzückt. Der Barista ist sein Held. Eigentlich fallen Sam soziale Kontakte ja schwer, aber charismatische und selbstbewusste junge Leute findet er super. Vor ihnen hat er überhaupt keine Angst, er lässt sogar Augenkontakt zu – was selten vorkommt, sogar bei mir. Als er noch klein war, nahm Jody ihn immer zum Mittagessen in die Uni-Mensa mit. Er war von den vielen Studenten so fasziniert, dass Jody ein paar ruhige Minuten für sich genießen konnte. Skurril ist es schon, aber irgendwie auch liebenswert. Ist mir egal, dass ich gerade vier Pfund für einen Fingerhut Koffein gelöhnt habe – das war es wert.

Jetzt, wo wir hier sitzen, wäre es toll, wenn ich Sam einfach fragen könnte, wie es in der Schule und zu Hause mit seiner Mum läuft. Aber so funktioniert Sam nicht. Reden ist nicht sein Ding. Auf direkte Fragen antwortet er bestenfalls mit einem Nicken oder Kopfschütteln. Wahrscheinlicher ist, dass er von mir wegrückt und gereizt reagiert. Diese Momente zwischen uns sind sehr zerbrechlich. Ich weiß nicht, wie ich mehr aus ihnen herausholen kann, ohne dabei einen Scherbenhaufen anzurichten. Also gebe ich Sam stattdessen wortlos mein iPhone und schnappe mir eine Zeitschrift. Sam entspannt sich und ruft direkt seine Lieblings-App auf, Flight Track; sie zeigt die aktuellen Positionen von Linienmaschinen, die gerade um die Welt düsen. Wenn man auf eines der kleinen Flugzeug-Symbole tippt, öffnet sich eine Infobox, in der steht, von wo das Flugzeug gestartet ist und wo es hinfliegt. Sam ist ganz besessen davon. Er kennt inzwischen alle großen Fluggesellschaften, die Hauptrouten und die Entfernungen zwischen den wichtigsten Flughafenstädten. Mit diesem Spleen ist er Rain Man wohl am nächsten. Die Außenwelt macht ihm die meiste Zeit Angst, denn es ist eine große Herausforderung für ihn, mit der schier endlosen Flut unvorhersehbarer Sinnesreize klarzukommen. Flight Track ist für ihn eine Methode, etwas auf sichere Art zu erforschen. Er geht ganz darin auf dazusitzen, auf das Display zu tippen und mir die Infoboxen vorzulesen. Manchmal zeige ich ihm, wo Emma, seine Tante, gerade ist. Meine Schwester, die Globetrotterin. Zwei Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag stieg sie in ein Flugzeug und ward seither nicht mehr gesehen. Das interessiert Sam zwar nicht besonders, aber es ist zumindest mein Versuch, das Ganze menschlicher zu gestalten. Ich zeige ihm Toronto auf dem Display. Letzte Woche hat Emma ein paar Fotos der Stadt auf Facebook hochgeladen. Darauf posiert sie mit zwei anderen Frauen, die ich nicht kenne, auf einem Touristenboot, mit dem CN Tower im Hintergrund. Sie sieht aus wie auf all ihren Facebook-Fotos: wie jemand, der glücklich und sorglos im Hier und Jetzt lebt. Aber so ganz kaufe ich ihr das nicht ab. In ihrem Blick ist etwas verborgen, das ich von früher kenne.

»Wenn sie nach London Heathrow fliegen würde, bräuchte sie sieben Stunden und fünfzehn Minuten«, sagt Sam. »Sie könnte von Toronto Pearson fliegen. Sie könnte mit British Airways oder mit Air Canada fliegen. Warum kommt sie nicht zurück?«

»Sie reist eben gern«, sage ich. »Sie mag es, neue Sachen anzugucken.«

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Sie reist zwar wirklich gern, aber ich vermute, sie hat Angst davor zurückzukehren. Ihre sporadischen E-Mails geben allerdings nichts in dieser Richtung preis.

»Ich kann hier auch neue Sachen angucken«, sagt Sam. »Und wir haben Google Maps. Auf Google Maps kann ich auch neue Sachen angucken.«

»Ich weiß, aber das ist ja nicht ganz dasselbe, oder? Da hast du nicht die ganzen Leute, die Geräusche, die Gerüche …«

»Das mag ich sowieso alles nicht. Ich habe doch Autismus«, sagt Sam.

Wir lachen beide über seinen Moment der Selbsterkenntnis. Ich betrachte seine Störung ja als böswilliges Phantom, aber Sam hat kein Problem damit, sich zu ihr zu bekennen, vor allem, wenn er damit einen Lacher ernten oder sich aus der Bredouille befreien kann. Andere Kinder schieben die Schuld für einen zerbrochenen Teller, Filzstiftspuren auf dem Sofa oder leere Keksdosen ihren jüngeren Geschwistern in die Schuhe. Sam sagt: »Das war der Autismus« und wischt damit lässig jede Verantwortung beiseite. Rückblickend hätten wir ihm Autismus vielleicht besser doch nicht durch den Vergleich mit dem unglaublichen Hulk erklären sollen (»Weißt du, Sam, Bruce Banner kann gar nichts dafür, die Gammastrahlen sind schuld.«).

Wir sitzen eine Weile still da. Plötzlich sagt Sam:

»Mummy hat mir eine Xbox gekauft.«

»Oh«, sage ich. »Okay.«

Aber finde ich das wirklich okay? Sam ist oft genug allein. Sollen wir ihm jetzt noch einen Grund mehr liefern, sich zurückzuziehen? Er spielt die meiste Zeit allein, sogar in der Schule; das ist eben Teil seiner Störung oder Erkrankung oder wie auch immer man das nennen soll. Er kann mit anderen Kindern spielen, aber nur dann, wenn sie ihn nicht von seinen Vorhaben abbringen und nicht zu viel mit ihm reden. Seine Definition von Freundschaft lautet wahrscheinlich: »Leute, die ich gerade noch ertragen kann.« Was an sich ja gar nicht so verkehrt ist. Haben wir nicht alle solche Beziehungen? Wenn man soziale Systeme mal genauer unter die Lupe nimmt, sieht man, dass sie zu einem Großteil auf Gewohnheiten basieren. Man pflegt Interaktionsrituale, fragt das Gegenüber, wie sein Tag war, lacht über dessen miese Witze und sagt: »Wir sollten uns mal öfter treffen.« Doch unter der Oberfläche ist man sich oft stillschweigend einig, dass das alles nur Bullshit ist. Das Ganze ist ein Tanz, eine Reihe von sozialen Tics, die sich ständig wiederholen. Kein Wunder, dass Sam das alles so verwirrend findet. Wenn ich es richtig verstanden habe, bedeutet Autismus im Grunde, dass man auf der Welt ist, ohne die Spielregeln zu kennen. Für Sam ist es so, als ob alle ein gigantisches Spiel spielen, bei dem er mitspielen muss, dessen Regeln er aber nur Schritt für Schritt herausfinden kann. Das ist sehr anstrengend für ihn, aber auch für Jody und mich, denn wir sind diejenigen, die ihm die Spielregeln beibringen müssen. Wir müssen ihm alles immer wieder aufs Neue erklären, und einige dieser Regeln werden niemals einen Sinn für ihn ergeben. Zum Beispiel die, dass er nicht unbedingt alles sagen sollte, was ihm gerade durch den Kopf geht. Allein letzten Monat hatten wir folgende Unterhaltungs-Super-GAUs:

(Zu Jodys Mutter wegen ihrer Krampfadern) »Warum hast du Rohre an den Beinen?«

(Zu unserer etwas dicklichen Nachbarin) »Dein Gesicht ist ja wie Wackelpudding.«

(Zu seinem Klassenlehrer beim Eltern-Kind-Abend) »Daddy sagt, diese Schule ist ein Drecksloch.«

Deshalb denke ich, dass es nicht unbedingt der beste Einfall ist, ihm eine Spielkonsole zu geben, die ihm eine weitere Fluchtmöglichkeit bietet. Ich lasse ihn zwar auf meinem iPhone spielen, aber das ist etwas anderes: Flug-Apps und Google Earth haben ja wenigstens etwas mit der Realität zu tun. Aber bei Games steht immer der Spieler im Mittelpunkt, alles dreht sich nur um ihn. Und das ist eher das Gegenteil von dem, was Sam über das Leben lernen muss. Aber ich bin Jody nicht böse. Bestimmt hat sie nur nach einer Möglichkeit gesucht, Sams ständigen Fragen und seinen plötzlichen Wutanfällen für eine Weile zu entkommen.

»Lass uns mal mit Mummy über die Xbox reden«, sage ich.

»Flug VO 226 von London nach New York befindet sich in einer Flughöhe von 37 000 Fuß«, sagt Sam.

Um kurz nach drei sind wir wieder bei ihnen zu Hause (ich weiß nicht, ob es noch mein Zuhause ist). Jody hat aufgeräumt und sieht erfrischt aus, fast entspannt. Sie hat ihr widerspenstiges Lockenhaar zu einem Knoten gebändigt, liegt auf dem Sofa und liest Zeitung. Als wir hereinkommen, springt sie auf und nimmt Sam in die Arme.

»Da bist du ja, mein Schatz! Ich hab dich schon vermisst.«

»Es ist gut gelaufen«, sage ich. »Nur im Park gab es ein kleines Hundeproblem, aber er hat sich gut gehalten.«

»Der Hund ist hinter mir hergerannt«, sagt Sam. »Wir waren im Café und haben geschäumte Milch getrunken. Ich habe Flight Track gespielt. Daddy hat ›verdammt noch mal‹ zu der Frau mit dem Hund gesagt. Ich habe Hunger.«

Noch so eine Sache: Man darf in Sams Nähe nicht fluchen. Er merkt sich nämlich alles und erzählt es dann brühwarm weiter.

Als ich erklärt habe, was passiert ist, macht Jody ihm ein Sandwich, genauer gesagt, das einzige Sandwich, das er überhaupt akzeptiert: Cheddarkäse mit Senfpickles. Dann stürzt er hinaus, um mit seiner neuen Xbox zu spielen.

Hier sind die Regeln in Bezug darauf, was Sam isst. Es gibt vier akzeptable Mahlzeiten, die einander abwechseln:

Sandwiches mit Cheddarkäse und Senfpickles (Weißbrot ohne Kruste und ohne gelbe Senfpickles-Flecken auf den Brotkanten).

Fischstäbchen und Pommes (Fischstäbchen entweder von Iglo oder Marks & Spencer – um Gottes willen nicht die von Lidl).

Nudelringe auf Toast (Buchstabennudeln werden manchmal auch akzeptiert, wobei aber nie genau klar ist, wann – also besser kein Risiko eingehen).

Käsemakkaroni (aber nur, wenn sie exakt nach Jodys Rezept gemacht werden. Wenn ich sie zubereite, enden sie meist als Küchenwand-Deko. Aber gut, bei meinem Kochtalent habe ich das wohl auch verdient).

Ergänzt wird das Ganze mit Müsli, Joghurt und exakt gewürfeltem Obst. Die Betonung liegt auf EXAKTGEWÜRFELT. Und morgens um fünf einen Apfel in Würfel zu schneiden, die genau einen Zentimeter breit sind, ist wirklich schwer – vor allem wenn der Gourmettester selbst den größten Choleriker wie ein sanftes Lamm aussehen lässt.

»Er hat jetzt also eine Spielkonsole?«

»Ja, der Sohn einer Freundin wollte seine nicht mehr haben. Ist ein altes Modell. Ich dachte, das könnte ab und zu besser als Fernsehen sein.«

»Aber wird ihn das nicht erst recht dazu bringen, sich zurückzuziehen? Wir versuchen doch, seine sozialen Fähigkeiten zu stärken.«

»Entschuldige, sagtest du gerade wir?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ja, ich weiß, was du meinst. Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn er auch mal etwas mit anderen Kindern gemeinsam hat. In seiner Schule haben alle eine Spielkonsole.«

»Gut, okay. Entschuldige. Aber kein Grand Theft Auto, okay?«

»Nein, keine Sorge, das ist nur für Mummy. Tut mir nämlich richtig gut, durch die Stadt zu brettern und dabei rumzuballern.«

Ein friedlicher, zerbrechlicher Moment. Jody fängt an, Zeitschriften und Malbücher vom Tisch und Fußboden einzusammeln.

»Und wie geht’s dir so?«, fragt sie.

»Es geht. Ich vermisse dich.«

Sie hält kurz beim Aufräumen inne.

»Ich vermisse dich auch«, sagt sie leise, dann macht sie weiter, als wollte sie den Moment abschütteln. »Und was machst du so?«