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Kriminalhauptkommissar Oliver Schweers will weg aus Bonn. Seine heimliche Liebe hat sich für jemand anderen entschieden. Die Probleme mit seinem ewig besoffenen, rechtsnationalen Vater machen das Maß voll. Er bewirbt sich auf eine freie Stelle in Bremerhaven, einer bis dahin für ihn unbekannten Stadt. An seinem ersten Arbeitstag wird er zu einer Wasserleiche gerufen, dem Miteigentümer eines Spielkasinos. Der Hauptverdächtige, der ins Visier der Polizei gerät, ist Beamter beim Zoll und gewinnt ungewöhnlich oft im Kasino des Opfers. Im Laufe der Ermittlungen taucht ein Geistlicher auf, der mit seiner Familie gerade nach Bremerhaven gezogen ist und dort die Stelle des Seelsorgers an der Seemannsmission übernommen hat. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Pastor den Hauptverdächtigen schon länger kennt. Beide scheinen durch ein Vorkommnis in der Vergangenheit miteinander verbunden zu sein. Der Fall gewinnt an Dynamik, als an einem Samstag eine weitere Leiche gefunden wird. Durchsuchungen von Wohnung und Büro der Toten liefern Hinweise, die eine Verbindung zwischen den beiden Mordfällen wahrscheinlich machen. Der erste Fall von Hauptkommissar Schweers in Bremerhaven, einer Stadt, die ihm bald sympathisch wird.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2024
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DAS
GEFLECHT
Ein Bremerhavener
Kriminalroman
Michael Broemmel
Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de
DER AUTOR
Der Autor wurde 1957 am Niederrhein geboren. Aufgewachsen in konservativen dörflichen Verhältnissen wird seine Jugend durch eine subtile Fortsetzung von Rivalitäten zwischen dem politischen Lager ehemaliger Nationalsozialisten und der eigenen Familie beeinflusst. Eine ehrenamtliche Tätigkeit bei Amnesty International in dieser Zeit politisiert ihn weiter.
Nach dem Abitur macht er eine Lehre als Tischler. Um weder Wehr- noch Zivildienst machen zu müssen, geht er nach einiger Zeit als Tischlergeselle im Rahmen der deutschen Entwicklungshilfe ins afrikanische Ausland. In Lesotho bildet er Tischler aus. Später entwirft er für eine Behindertenkooperative in Kenia Prototypen für eine neue Möbelkollektion.
Nach Ende seiner Zeit als Entwicklungshelfer studiert er Politik und Wirtschaft in Berlin. Im Anschluss an sein Studium bleibt er der Internationalen Zusammenarbeit verbunden und arbeitet in Deutschland (Berlin und Bonn), USA, Uganda, Niger, Ghana, Sudan, Äthiopien und Benin in unterschiedlichen, zuletzt leitenden Funktionen.
Heute lebt der Autor mit seiner Frau in Bremerhaven.
VORWORT
Im Zuge der Recherche für diesen Roman wurde deutlich, dass sexueller Missbrauch (in religiösen Institutionen) die unterschiedlichsten Facetten annehmen kann und auch genauso viele Klischees bedient.
Da es im Rahmen eines Kriminalromans nicht möglich und auch nicht sinnvoll oder gewollt ist, jede dieser Facetten zu beschreiben, bedient dieser deshalb nur eines der gängigsten Klischees in der Darstellung des evangelischen Pastors.
Die gewählte Kombination von Pädophilie und Homosexualität ist ein leidiges Stereotyp und wird oft zusammengebracht, um zu diskriminieren.
Gerade deswegen wurde diese Darstellung gewählt, um auf die Extreme des Klischeemissbrauchs aufmerksam zu machen.
Folgende Punkte möchte ich zu Beginn betonen:
• Natürlich ist nicht jeder geistliche Mitarbeiter bzw. jede geistliche Mitarbeiterin einer Kirche oder religiösen Institution homosexuell oder pädophil!
• Natürlich besteht kein Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie!
• Abgesehen davon ist die sexuelle Orientierung jedes und jeder Einzelnen Privatsache und unterliegt keinerlei Bewertung.
Mir war von Anfang an klar, dass ich mich auf schwieriges Terrain begeben würde. Aber ich wollte auch nicht schweigen.
• Schon deshalb nicht, weil die Täter oder Täterinnen in den meisten Fällen ungeschoren davonkommen.
• Weil diejenigen, die die Macht hätten, in den religiösen Institutionen etwas substantiell zu ändern, nicht willens sind, dies glaubhaft zu tun.
• Weil seitens des Strafrechts die meisten Taten verjährt sind.
• Weil den Opfern nicht geholfen wird.
• Weil nicht genügend getan wird, um derartiges in Zukunft zu verhindern.
• Weil Aufklärung, Integration und Akzeptanz immer noch schwierige Themen in einigen Kirchenkreisen sind.
• Weil …
KAPITEL 1, MONTAG
Oliver Schweers spürte, wie ihm die aparte Mischung aus Magensäure, Kaffee und Salami auf Graubrot wieder hochkam. Er versuchte, möglichst unauffällig zu würgen, um an seinem ersten Arbeitstag keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen. So etwas hatte er in seinen Jahren bei der Bonner Polizei nie gesehen. Dabei war das nicht seine erste Wasserleiche. Die gab es am Rhein durchaus öfter mal. Aber sowas …
Heute Morgen hatte ihn ein Anruf von Jonas Hansen erreicht. Sein neuer Assistent, den er bisher nicht kennengelernt hatte, sondern nur dem Namen nach kannte. Er hätte den Vormittag freigehabt, aber das schien in seiner neuen Dienststelle untergegangen zu sein. Ergo war er schnell aufgestanden und hatte einen Blick in die Marina geworfen. Die Luft roch nach Regen und das Aussehen des Himmels bestätigte seine Befürchtung. Am Ende des Steges, an dem sein Hausboot lag, stand ein Kormoran mit zum Trocknen ausgebreiteten Flügeln wie ein Priester, der mit erhobenen Armen seine Gemeinde segnete. Dieses Bild erinnerte ihn unweigerlich an die Auseinandersetzungen mit seiner Mutter. Wie oft hatte er mit ihr über Sinn und Unsinn der Kirche gestritten? Das war, bevor sie sich von seinem saufenden Alten getrennt hatte. An mehr erinnerte er sich nicht, hoffte aber, dass der Kormoran ihn nicht jeden Morgen in dieser Pose begrüßen würde. Der Gedanke an seinen Vater hatte seine Stimmung vermiest. Vermutlich bleibst du gar nicht in dieser Stadt. Dann erledigt sich das Problem mit dem Prediger-Vogel von selbst, dachte er.
Hansen hatte ihm erzählt, in der Geestemündung, gegenüber vom Tonnenhof, sei eine Leiche im Wasser treibend gefunden worden. Sein neuer Kollege, Peter Melnik, sei schon dort. Er wollte wissen, ob Schweers die Örtlichkeit finden würde, sonst könnte man eine Streife schicken, um ihn abholen zu lassen.
Da sein Tablet lief, gab er »Geestemündung« ein. Das Ziel war nicht weit entfernt. Er erwiderte, dass er mit dem Fahrrad käme. Der Versuchung hinzuzufügen, dass er, selbst ohne nautische Kenntnisse, durchaus dazu in der Lage sei, mit einem Smartphone und einer elektronischen Karte einen Ort zu finden, widerstand er. Er würde länger mit dem Kollegen zusammenarbeiten müssen. Mit einem Parka gegen den zu erwartenden Regen verließ er sein Boot, schloss ab, nahm das Fahrrad und fuhr los.
Vom ›Neuen Hafen‹ bis zum Fähranleger waren es etwas mehr als zwei Kilometer. Zehn Minuten später war er vom Regen, der inzwischen eingesetzt hatte, nass und am Ziel.
Die Feuerwehr hatte die Leiche geborgen und abseits der Kaimauer neben einer Reihe von Autogaragen, die sich zum Fluss hin öffneten, auf einer Folie abgelegt. Die Garagen gehörten zu den Häusern, deren Eingänge an der parallel verlaufenden Bussestraße lagen, wie er der Karte auf seinem Handy entnahm. Das Gelände, auf dem er stand, wurde bei Sturmfluten überspült. Diesbezügliche Hinweisschilder, die man zur Warnung für Autofahrende aufgestellt hatte, waren nicht zu übersehen. Weiter hinten sah er den Anleger für die Fähre nach Nordenham. Er ließ sein Fahrrad außerhalb der Flatterband-Absperrung und schloss es sicherheitshalber ab. Dann zeigte er dem uniformierten Kameraden seinen Dienstausweis und ging zur Leiche.
Zwei Minuten später war ihm so kotzübel wie nach einer aus dem Ruder gelaufenen Karnevalsfeier. Zusätzlich zum unappetitlichen Anblick des Opfers roch es moderig, nach trocknendem Schlick und verwesendem Meeresgetier. Der Kopf der männlichen Leiche war fast vollständig da. Aber anstelle der Augen schauten ihn zwei dunkle Löcher an. Die Augäpfel waren von Möwen oder sonstigen hungrigen Viechern gefressen worden. Von den Füßen war nur noch einer da, dafür mit Schuh. Die Oberschenkel waren beide da, na ja, halbwegs. Zerfleischt, vermutlich durch Schiffsschrauben. Das galt auch für den Torso. Von seiner Kleidung waren die Hose und ein Teil einer Jacke vorhanden.
Über den Toten beugte sich augenscheinlich der Rechtsmediziner, den er ebenfalls noch nicht kennengelernt hatte. Er nahm die Gelegenheit wahr, sich vorzustellen: »Guten Tag, mein Name ist Oliver Schweers, ich bin der neue Hauptkommissar. Habe mich auf die freie Stelle hier beworben. War bisher in Bonn tätig. Ich vermute, Sie sind der hiesige Gerichtsmediziner? Können Sie schon etwas sagen, zur Todesursache oder zum Todeszeitpunkt, mögliches Fremdverschulden, wie lange die Leiche bereits im Wasser liegt, Sie wissen, das Übliche halt.« Als er fertig war, hielt er seinen Dienstausweis aufgeklappt so hin, dass der Kollege ihn mit einer Drehung seines Kopfes hätte inspizieren können.
Der gute Mann untersuchte die Leiche systematisch weiter und zeigte keinerlei Regung oder Anzeichen, den Sprecher überhaupt bemerkt zu haben. Schweers wartete einen Moment, doch es kam keine Antwort. Er war sich sicher, laut genug gesprochen zu haben. Nachdem weiterhin keine Reaktion kam, holte er Luft, um seine Vorstellung etwas deutlicher zu wiederholen, wahrscheinlich war der Mann ja schwerhörig, aber der Kollege kam ihm zuvor.
»Moin.«
Wow, doch nicht taub? Schweers beschloss, zu warten.
Ein paar Minuten später war der Mann fertig, richtete sich auf und sah den Störenfried an.
»Sehen Sie, Herr Schweers, wir sabbeln hier nicht so viel wie im Süden und dann auch nur, wenn wir was zu sagen haben.«
Schweers war sprachlos. Also die höfliche Vorstellung einer Person ist Gesabbel! Geht’s noch?Willkommen bei der Polizei in Bremerhaven. Das kann ja heiter werden.
»Zu Ihren Fragen. Wie lange liegt die Leiche im Wasser? Das dürften drei bis vier Tage sein, da der Kopf im Bereich der Hypostase bereits rot ist. Wäre das Gesicht lediglich blass, hätten wir es mit einem gerade Ertrunkenen zu tun. Dann finden sich an Kopf und Handrücken und am verbleibenden Fuß beziehungsweise Schuh Schleifspuren. Das deutet darauf hin, dass der Tote mit dem Kopf und nach unten hängenden Armen treibend aus einem flacheren Gewässer gekommen sein dürfte. Dieser ganze Bereich«, der Gerichtsmediziner zeigte in Richtung Kennedybrücke, »fällt aber auch bei Niedrigwasser nicht komplett trocken. Demnach kann hier kein Schuh über den Boden schleifen. Mit anderen Worten, ich würde weiter aufwärts der Geeste nach dem Tatort suchen. Dort wird es bei Ebbe sehr flach. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es flussaufwärts verschiedene Anleger für Sportboote und weiter oben einen Gartenverein.«
Beim Wort Tatort merkte Schweers auf und wartete gespannt auf die Fortsetzung.
»Letztlich, und das macht es jetzt für Sie relevant«, der Gerichtsmediziner beugte sich wieder über die Leiche und zog den Hemdkragen des Toten ein wenig zurück, »sehen Sie das hier?«
Schweers beugte sich näher über die Leiche und versuchte, etwas zu erkennen, sah aber lediglich zwei rötliche Punkte.
»Das sind kleine Verbrennungen, die entstehen, wenn man jemandem einen Elektroschocker in den Nacken drückt und auslöst. Es entsteht ein heißer Lichtbogen, und an den Anfängen dieses Bogens kommt es zu diesen Rötungen. Also Fremdverschulden. Mein Name ist im Übrigen Melf Petersen. Ich schicke Ihnen den Bericht morgen im Laufe des Nachmittages. Ihr Kollege, Melnik, hat die persönlichen Dokumente, die wir beim Toten gefunden haben. Die Identität steht somit fest. Morgen Vormittag ist die Leichenschau. Sie sind herzlich willkommen. Einen angenehmen Tag.«
Mit diesen Worten richtete sich der Pathologe auf, zog die Latexhandschuhe aus, drückte Schweers eine Visitenkarte in die Hand und signalisierte der Spurensicherung, dass er fertig war und man die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen könne, sofern der neue Hauptkommissar nichts dagegen habe. Dann tippte er sich kurz an die Stirn als Zeichen des Abschieds und verschwand.
Schweers betrachtete die Karte, die der Pathologe ihm gegeben hatte und die wegen des Nieselregens nass wurde. Neben dem Namen standen die Berufsbezeichnung und die Adresse der Gerichtsmedizin sowie zwei Telefonnummern. Die Daten würde er später im Handy speichern, nahm er sich vor. Er steckte die Karte in die Brusttasche seines Hemdes und sah sich um. Peter Melnik, dessen Parka vom Regen ebenfalls nass schimmerte, stand an der Spundwand, wo man den Toten aus dem Wasser gezogen hatte, und sprach mit jemandem von der Feuerwehr. Den neuen Kollegen hatte man Schweers nur kurz vorgestellt, so dass sich noch zeigen musste, wie die Zusammenarbeit laufen würde. Melniks unbehaarter Schädel glänzte, als sei er mit einer Speckschwarte eingerieben worden, und die Hände, die die ungefähre Größe von Schaufeln hatten, wirkten leicht grotesk. Über den zweiten Bildungsweg zur Polizei gekommen, nachdem er als Schweißer in einer der Werften gearbeitet hatte. Der Mann besaß eine derart beeindruckende Statur, dass ein durchschnittlicher Krimineller schon beeindruckt sein musste, bevor er dessen furchteinflößende Pranken gesehen hatte.
»Guten Tag, Herr Melnik«, Schweers reichte seinem neuen Kollegen mit aller gebotener Vorsicht die Hand. Der Feuerwehrmann, mit dem Peter Melnik sich unterhalten hatte, grüßte kurz, murmelte etwas über Klamotten zusammenpacken, drehte sich um und ging in Richtung seines Einsatzwagens, auf dem das Blaulicht flackerte.
»Mohoin, Herr Schweers. Da hat man Sie früher geholt als vorgesehen. Soweit ich weiß, haben Sie heute Vormittag eigentlich noch frei, oder?«
Schweers nickte kurz und wunderte sich über die Begrüßung, die anders als beim Gerichtsmediziner eher gesungen wirkte. Es war sowas wie ›Mohoin‹, wobei das ›Mo‹ nach oben und das ›hoin‹ dann wieder nach unten ging. Worin der Unterschied zwischen diesen beiden Begrüßungen liegt, werde ich vielleicht noch lernen, dachte er und zuckte mit den Schultern: »Das ist schon in Ordnung. Was haben wir denn an Informationen?«
Peter Melnik holte seinen Notizblock aus der Tasche und schlug ihn auf: »Bei dem Toten handelt es sich um Bernardo Giordano, ledig, wohnhaft am Alten Vorhafen 9 in Bremerhaven, laut Personalausweis.«
»Ein Italiener, oder jemand mit italienischem Hintergrund? Und die Adresse, ist das weit von hier? Wir werden uns die Wohnung ansehen müssen.«
Der Kollege schüttelte den Kopf: »Sie müssten die Wohnung von hier sehen können.« Melnik deutete mit dem Arm auf einen grau-rötlichen terrassenförmigen Klinkerbau auf der anderen Seite des Flusses, dessen bodentiefe Fenster in der abgerundeten Fassade in Richtung Weser zeigten.
»Da wohnen diejenigen Bremerhavener, die überdurchschnittlich viel Kleingeld haben.«
»Kann man daraus schließen, dass unser Toter eher zu den Besserverdienenden gehörte?« Schweers wandte den Kopf in die Richtung, in die der Arm zeigte.
»Ich denke, das kann man. Er war einer von zwei Geschäftspartnern, die das Spielcasino ›Haus des Glücks‹ betreiben.«
Schweers löste seinen Blick von der schicken Immobilie, in der der Tote gewohnt hatte, und blickte Peter Melnik fragend an: »In Bremerhaven gibt es eine Spielbank? Ist nicht Ihr Ernst.«
»Doch, warum sollte es hier keine Spielbank geben?«, fragte sein Kollege zurück.
»Na ja, ich dachte, Spielcasinos findet man in Städten wie Baden-Baden oder Monte Carlo. In eher reichen Städten. Und wenn ich mich nicht täusche, gehört Bremerhaven ja nicht in diese Kategorie, oder?«
»Da haben Sie Recht, wir haben dennoch eins. Ich muss aber gestehen, dass ich noch nie drin war und auch keine Ahnung habe, ob man mit einem Casino in Bremerhaven Geld verdienen kann. Allerdings gibt es das Casino ›Haus des Glücks‹ schon seit einigen Jahren, und wenn man sieht, wo der Tote gewohnt hat, kann das Einkommen ja nicht wirklich schlecht gewesen sein.« Peter Melnik deutete mit dem Kopf in die Richtung, in der die Wohnung des Toten lag.
Schweers nickte zustimmend: »Wissen wir schon mehr als Name, Adresse, Wohnort und Beruf? Ist der Tote italienischer Staatsbürger?«
»Ja, er ist wohl irgendwann nach Bremerhaven gezogen. Jonas ist da noch dran. Er stellt ein Dossier über den Hintergrund des Toten zusammen. Ein Handy haben wir übrigens nicht gefunden. Ich habe auch keine Taucher kommen lassen, da es relativ unwahrscheinlich ist, in dem Schlamm da unten irgendetwas zu finden, von Einkaufswagen und Fahrrädern mal abgesehen. Ich hoffe, wir werden an anderer Stelle fündig. Sonst müssen wir die Aktion mit den Tauchern nachholen.«
»Mit Jonas meinen sie vermutlich Jonas Hansen, den Kollegen im Büro?«, Schweers hatte seine Stirn in Falten gezogen.
»Genau, unser Backoffice. Jonas, also Herr Hansen, ist gut mit dem Computer. Besser, als viele wissen«, fügte Melnik mit leiser Stimme hinzu.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Schweers mit ebenfalls gedämpfter Stimme zurück.
»Na ja, ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das sagen kann, schließlich kennen wir uns ja noch nicht so gut. Aber ich gehe das Risiko mal ein.« Peter Melnik drehte sich erneut kurz um, aber es war niemand in der Nähe. »Jonas Hansen war als Jugendlicher in der Hackerszene aktiv und hat später Informatik studiert. Die Tricks aus seiner Jugend hat er nicht alle verlernt, Sie verstehen.«
Schweers musste grinsen: »Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Kollege. Ich gehe durchaus selber mal den kurzen Dienstweg und habe wenig Probleme mit unkonventionellen Methoden, wenn sie denn zum Ziel führen und sich in der Legalität bewegen. Wobei es hier eine Grauzone gibt.«
Peter Melnik schien erleichtert darüber zu sein, keinen Vorgesetzten bekommen zu haben, der sich päpstlich an die Vorschriften zu halten gedachte: »Wir haben die Wohnungsschlüssel in einer der Taschen seiner Hose gefunden und könnten rübergehen, zur Wohnung des Toten meine ich.« Er hielt einen Schlüsselbund in die Höhe.
Die Aussicht darauf, ins Trockene zu kommen, gefiel Schweers, der nickte und fragte: »Wie sind Sie denn hier? Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«
Melnik deutete mit dem Kopf in Richtung Bülowstraße. »Mein Auto steht da um die Ecke.«
»Dann treffen wir uns vor der Haustür«, erwiderte Schweers. »Hoffentlich können wir unsere nassen Klamotten da ein wenig trocknen, während wir uns umsehen«, äußerte er seine Hoffnung, einen Blick zu den Wolken am Himmel werfend. »Es sieht nicht aus, als ob es aufhören will zu regnen.«
Diesmal war es an Melnik, zu grinsen: »Das nennen Sie Regen? Man merkt, dass Sie hier neu sind.«
»Tja, das wird so bleiben, bis ich mich eingelebt habe. Aber bevor wir losgehen, können wir dem Kollegen Hansen ja noch das eine oder andere ins Körbchen legen. Wir benötigen vielleicht die Spurensicherung in der Wohnung, die könnte Hansen vorwarnen. Wir wissen ja nicht, ob die Wohnung der Tatort ist? Falls notwendig rufen wir an. Und es wäre gut, wenn wir zwei Beamte an der Adresse des Toten hätten, die die Nachbarn befragen. Hab ich was vergessen?«
Melnik kniff die Augen zusammen, während er nachdachte: »Hansen könnte die Daten der Tiden der letzten Tage zusammenstellen und versuchen herauszufinden, ob irgendwelche Sportschiffer die Geeste herauf- oder heruntergekommen sind und etwas Ungewöhnliches am Ufer oder in der Laubenkolonie bemerkt haben. Könnte ja sein, dass der Tatort aufwärts der Geeste liegt.«
»Gut, dass Sie das sagen. Diese Vermutung mit der Geeste hatte der Gerichtsmediziner auch, dieser Melf Petersen.« Schweers hatte die aufgeweichte Visitenkarte wieder aus seiner Hemdtasche geholt, da er sich nicht sofort an den Namen erinnerte. »Der scheint ja etwas speziell zu sein?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Peter Melnik grinsend zurück.
»Ich habe mich ihm vorgestellt, als er die Leiche untersuchte. Das schien ihn aber nicht zu interessieren. Im Grunde hat er mich völlig ignoriert und meinte nur, hier im Norden würde man nicht so viel sabbeln und nur etwas sagen, wenn es was zu sagen gäbe. Dann hat er mir ein paar Details zur möglichen Todesursache genannt und ist verschwunden.«
Peter Melnik musste lachen. »Immerhin hat er überhaupt mit Ihnen geredet. Da seien Sie mal froh. Ich kenne ein paar Leute, die sieht der nicht mal mit dem Hintern an. Eigentlich ist der ein netter Kerl. Aber er schaut sich die Menschen gerne genau an, mit denen er zu tun bekommt, bevor er zu freundlich wird.«
»Na, dann kann er ja morgen früh nochmals genau hinschauen. Er hat uns zur Leichenschau in die Gerichtsmedizin eingeladen.«
Peter Melnik nickte zustimmend. »In Ordnung, trage ich mir gleich in den Kalender ein. Die Arbeitsaufträge an Herrn Hansen gebe ich per Telefon weiter, während Sie schon mal losfahren. Ich bin ja mit dem Auto hier und deshalb schneller an der Wohnungsadresse als Sie. Ich habe mir die Freiheit genommen, die Staatsanwaltschaft schon mal zu informieren. Die wollen vermutlich heute Nachmittag oder morgen im Laufe des Tages eine Pressekonferenz anberaumen.«
Schweers hob den Daumen als Zeichen seines Einverständnisses und ging in Richtung seines Fahrrads, während sein Kollege in die Gegenrichtung zu seinem Auto lief. Der Regen hatte nur wenig nachgelassen. Schweers fluchte leise vor sich hin. Ich sollte mir angewöhnen, immer ein Handtuch in einer Plastiktüte dabeizuhaben, damit ich mich zwischendurch mal abtrocknen kann. Die leichten Schuhe, die er heute Morgen angezogen hatte, waren schon komplett durchweicht. Eines der ersten Dinge am kommenden Wochenende war der Kauf eines besseren, vor allem wasserdichten Parkas mit einer vernünftigen Kapuze. Und was seine Schuhe anging, da musste er sich auch was einfallen lassen. Vielleicht solche Stiefel, wie Segler sie tragen, wenn das Wetter scheiße ist, dachte er, als er an seinem Fahrrad ankam. Na wunderbar, auch der Sattel ist jetzt nass. Er nahm das Bügelschloss ab, setzte sich auf den nassen Sitz und fühlte, wie das Wasser sich bis zu seiner Unterhose durcharbeitete. Weiter leise vor sich hin fluchend radelte er seinem Ziel entgegen. Zurück über die Kennedybrücke und dahinter gleich links. Am Radarturm vorbei und wieder links. Mittlerweile war es fast Mittag, und er hatte bereits Hunger.
»Irgendwie fühlt es sich heute so richtig wie Montag an«, Lukas Simek saß gähnend am Küchentisch und schenkte sich und seiner Frau eine Tasse Kaffee ein.
Fenja Simek stand vor einer Schale, die sie mit Müsli und Milch füllte. »Gibt es heute etwas Besonderes? Sonst kannst du ja früher Schluss machen.«
»Eigentlich nicht. Heute Abend will ich im Seamen’s Club vorbei. Ich muss den Eindruck verstärken, dass ich nicht immer nur dann komme, wenn bestimmte RoRo-Schiffe im Hafen liegen. Deshalb habe ich mich für heute zum Bordbesuchsdienst auf einem Containerschiff eingetragen.«
Fenja kam mit ihrer Schüssel an den Küchentisch und setzte sich ebenfalls hin. »Dann rechne ich nicht vor acht heute Abend mit dir. Ich muss diese Woche mal bei unserer ach so intelligenten Dr. Peters vorbei.«
»Und, was will sie?«
Fenja sah ihren Mann an. »Die Peters hat mir per E-Mail mitgeteilt, dass sie eine neue Zweckgesellschaft an der Hand hat, die in Immobilien macht. Wir sollen uns überlegen, ob wir da nicht Inhaberaktien kaufen wollen. Dadurch würden wir unsere Investitionen breiter streuen und ein mögliches Risiko verringern.«
Lukas merkte auf: »Verstehe ich nicht. Ich dachte, es gäbe keine Risiken bei unseren bisherigen Geldanlagen? Und wie hoch wäre ihr Anteil in diesem Fall?«
»Ein Restrisiko gibt es bei jeder Kapitalanlage, das ist doch klar, und das weißt du auch. Aber bei diesem speziellen Anlagetyp muss die Zweckgesellschaft niemandem mitteilen, wer der oder die Eigentümer der Aktien sind. Die Peters kauft die Aktien für uns und zahlt in bar. Das Geld kann sie von unserem Notaranderkonto nehmen. Wir legen die Aktien in unseren Safe, sind Anteilseigner, tauchen aber nirgendwo auf. Es gibt kein Risiko, entdeckt zu werden. Das ist unser großes Plus! Sie will diesmal fünfzehn Prozent.« Fenja sah ihren Mann an. »Wie du siehst, habe ich mich schlaugemacht. Ich verlass mich nicht ausschließlich auf das, was mir diese Dame erzählt.«
»Dass liebe ich so an meiner Frau, ihre unendliche Weisheit. Aber ich muss leider feststellen, dass die Peters anfängt, gierig zu werden.« Lukas beugte sich vor und rührte gedankenverloren in seinem Kaffee. »Ich muss gestehen, mir wäre es lieber, wir würden die übliche Schiene verfolgen. Wir kaufen über die Peters ein Haus, das laut Vertrag 50.000 Euro kostet, der eigentliche Wert liegt bei 300.000, und 250.000 Euro zahlen wir in bar. So bekommen wir unser Bargeld ein zweites Mal gewaschen und in den legalen Geldkreislauf.«
»Ich weiß, ich weiß. Noch besser wäre es, das Geld direkt auf ein Konto im Ausland zu überweisen. Aber hast du jemanden, dem du so weit vertrauen kannst, dass du ihm oder meinetwegen auch ihr Bargeld in die Hand geben kannst, mit der Bitte, dies in kleinen Tranchen auf unser Konto im Ausland zu überweisen?«
Lukas schüttelte den Kopf, und seine Frau fuhr mit halbvollem Mund fort: »Wer immer das ist, hat dann so viel Informationen über uns, dass er oder sie uns jederzeit erpressen kann, und du willst ja sicherlich nicht persönlich zur Bank gehen und in deinem eigenen Namen Geld auf unser Auslandskonto überweisen, oder? Mir reicht, dass bereits drei Immobilien auf unseren Namen eingetragen sind, auch wenn die sich nicht in Bremerhaven befinden und formell einer Firma gehören, in der wir – zumindest auf den ersten Blick – nicht auftauchen.«
»Ich kenn leider niemanden, dem ich so weit vertrauen könnte. Schade, dass die Nummer mit der Rücküberweisung von Mietkautionen auf ein Konto im Ausland so aufwendig und teuer ist, sonst könnte man das weiter verfolgen.« Lukas sah sinnierend aus dem Fenster auf ein neues Gebäude des Alfred-Wegener-Instituts, das auf der anderen Seite des Hafenbeckens entstand. »Das einzig Gute an der Peters ist, dass wir sie im Grunde in der Hand haben. Oder besser gesagt: Wenn die uns anscheißen will, geht sie ebenfalls unter, und das ist ihr klar. Auch wenn sie dir unsympathisch ist, doof ist sie deshalb nicht.«
»Das denke ich auch, und ich bin weit davon entfernt, sie zu unterschätzen.« Fenja stand auf, um ihre Müslischüssel zur Spülmaschine zu bringen, und zeigte auf die Kaffeetasse ihres Mannes. »Soll ich die mitnehmen, bist du fertig?«
Ihr Mann nickte: »Ich muss los. Bis heute Abend. Wie gesagt, es wird etwas später, wegen Bordbesuchsdienst. Ach, bevor ich es vergesse: Sobald du irgendetwas über einen Polizeieinsatz wegen Freitag hörst, im Radio oder im Frühstücksfernsehen, sag mir bitte Bescheid, okay?« Lukas stand auf. »Wenn es keinen Sturm oder Unwetter gibt, der eine Ankunft verzögert, kommt diese Woche eine Lieferung. Seit Neuestem hält die Revierzentrale die größeren Pötte ab Windstärke sechs draußen, weil sie Angst haben, dass so ein Ding in der Fahrrinne querschlägt und den Hafen auf längere Sicht blockiert. Das erschwert meine Planung leider ein bisschen. Aber wenn alles glatt geht, haben wir am Ende der Woche wieder so viel Bargeld, dass es sich lohnt, ins Casino zu gehen.«
Seine Frau nickte. Beide küssten sich kurz, dann machte sich Lukas auf den Weg zu seiner Dienststelle beim Zoll.
Kollege Melnik saß auf einem Parkplatz vor dem Haus des Toten in seinem Auto. Als er seinen neuen Chef kommen sah, stieg er aus und ging vor zur Haustür. Den Hausschlüssel hatte er in der Hand. Schweers schloss sein Fahrrad erneut ab und spazierte zum Hauseingang.
Nur sechs Parteien wohnen in dieser Nobelhütte, nicht schlecht, dachte er, als er das Klingelbrett sah und zusammen mit Melnik ins Haus ging. Im zweiten Stock fanden sie ein Schild mit dem Namen des Toten und öffneten die Tür, die keinerlei Einbruchsspuren aufwies. Vom Flur gingen zwei Türen nach links und eine nach rechts ab. Geradeaus sah man bodentiefe Fenster, durch die man direkt auf die Weser blickte. Die beiden Beamten zogen sich Überzieher über die Schuhe und Latexhandschuhe über die Hände.
Schweers sah seinen Kollegen an: »Sie links, ich rechts?«
Melnik nickte und legte los. Schweers hing zuerst seinen nassen Parka an der Garderobe auf. Dann ging er bis zur Tür auf der rechten Seite und sah in einen Raum, der als Büro diente. Durch das Fenster konnte er das Lotsenhaus mit den Versetzbooten davor sehen. Nicht weit davon entdeckte er ein weißes Gebäude, in dem sich ein Schiffskonstrukteur eingerichtet hatte, wie er wusste. Im gleichen Haus befand sich ein Restaurant mit einem Ausblick auf die Weser, das Schweers bei seinem ersten Besuch in Bremerhaven aufgefallen war.
Er setzte sich an den Schreibtisch am Ende des Raumes, zog sein neues Notizbuch aus der Tasche und legte es vor sich auf die Tischplatte. Er betrachtete das rechteckige, dunkelgraue Heftchen mit zusammengekniffenen Augen und stieß das Schreibgerät, das an einer Seite in einer Lasche am Heft befestigt war, mit dem Finger an, als wollte er es dazu auffordern, selbstständig Notizen zu machen. Du bist der erste Beweis dafür, dass ich älter werde und mir nicht mehr alles merken kann, dachte er, zog den Druckbleistift aus der Lasche und schlug das Heftchen auf. Er hatte während seines letzten Falls in Bonn immer mal wieder das ein oder andere vergessen, was ihm früher nie passiert war. Und diese Blöße wollte er sich auf seiner neuen Stelle nicht geben. Er lehnte sich zurück und begann mit seiner ersten Liste.
• Handy des Toten fehlt; eventuell doch noch Taucher organisieren;
• Hansen soll Tidendaten zusammenstellen und herausfinden, ob Sportfischer auf der Geeste unterwegs waren;
Dann sah er sich den Schreibtisch an, vor dem er saß. Eigentlich nur eine Platte auf zwei Holzböcken ohne Schubladen oder Ähnlichem. Die Arbeitsplatte war aus Mooreiche gefertigt. Teuer, dachte Schweers, aber wer sich diese Wohnung leisten kann, dürfte keine Geldprobleme haben.
Vor Schweers stand ein großer Computer von Apple. Ein weiteres Zeichen dafür, dass Geld kein Problem darstellte. Er schaltete das Gerät ein. Der Bildschirm wurde hell und verlangte ein Passwort.
Tja, wenn ich auf dem Schreibtisch keinen Hinweis dafür finde …, dachte Schweers und suchte nach dem üblichen, unauffällig versteckten Zettel, konnte aber nichts entdecken. Er notierte einen neuen Punkt auf seiner Liste.
• IT-Forensik soll den Mac des Toten untersuchen;
Er sah sich weiter um, nachdem er das Gerät wieder ausgeschaltet hatte.
Plötzlich klingelte es an der Haustür.
»Ich geh schon«, rief Melnik aus dem ersten Zimmer, das sich in der Nähe der Wohnungstür befand.
Schweers hörte Gemurmel, und dann meldete sich Melnik erneut: »Das waren die Kollegin und der Kollege, die Hansen geschickt hat. Ich habe sie kurz instruiert. Die befragen die Nachbarn und schicken uns einen Bericht mit den Ergebnissen.«
»Sehr gut, danke!« Schweers nickte zufrieden. Melnik gefällt mir. Man merkt ihm seine Erfahrung an. Wenn das so weitergeht, werden wir uns gut ergänzen. Dann nahm er den Kalender des Toten in die Hand, der Gebrauchsspuren aufwies, also nicht nur zur Zierde auf dem Schreibtisch lag. Den wird sich auch Hansen vornehmen müssen, dachte er, nachdem er ihn einmal durchgeblättert hatte, ohne dass ihm etwas aufgefallen wäre, und rief: »Haben die beiden eigentlich ein paar Kisten mitgebracht? Ich schätze, das ein oder andere werden wir mitnehmen müssen, damit Hansen sich das in Ruhe im Büro anschauen kann.«
»Ich frag mal nach.«
Schweers hörte die Wohnungstür klappern und machte weiter. Den Kalender legte er auf eine kleine Couch, damit er ihn nicht vergaß und machte sich eine Notiz.
• Hansen soll Kalender des Toten auswerten.
An der Wand vor ihm hingen zwei Bilder mit modernen, abstrakten Bleistiftskizzen. Beide waren unten rechts signiert, aber der Name des Künstlers sagte ihm nichts. Links vom Schreibtisch, an der Wand zum Flur, stand ein Regal, das Bücher und Akten enthielt. Alle Aktenrücken waren beschriftet: Rechnungen, Wohnung-Bau, Wohnung-Kauf, Kontoauszüge, Auto, Internet, Handy, Sonstiges.
Das Opfer hat doch bestimmt keinen billigen Schlitten, dachte er, als er den entsprechenden Ordner aus dem Regal zog und aufklappte.
Als Erstes sah er einen Leasingvertrag für einen Jaguar. Damit war diese Frage schon mal geklärt. Er schaute aus dem Fenster und sah das Fahrzeug nicht weit vom Haus auf einem Parkplatz, der zur Wohnanlage gehörte. Das Nummernschild passte zu den Angaben, fehlte nur der Autoschlüssel. Wenn das Auto hier ist, ist der Tote entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs gewesen.
Er blätterte weiter und fand einen Vertrag mit einem Mobilfunkanbieter. Also muss es ein Handy geben. Schweers notierte sich die Nummer und rief sie gleich mit dem eigenen Handy an, hörte aber kein Klingeln. Dann ist das Handy woanders oder es ist leise gestellt. Der gleiche Anbieter stellte offenbar auch das WLAN in der Wohnung, wie er den Dokumenten beim Weiterblättern entnehmen konnte. Er schickte Hansen per Textnachricht die Telefonnummer ihres Opfers und machte sich zwei neue Notizen.
• Kein Handy in der Wohnung
• Hansen soll Verbindungsdaten besorgen.
Schweers blätterte weiter. Ein Pachtvertrag für ein Laubengrundstück blickte ihn an. Verpächter war ein Gartenverein ›Geesthelle‹. Wenn der Name Programm ist, dann befindet sich die Kolonie an der Geeste. Er holte sein Smartphone hervor, startete die Karten-App und folgte dem Fluss von der Mündung, dem Fundort ihres Opfers, flussaufwärts. Kurz darauf stieß er auf die Kolonie.
»Herr Kollege, möglicherweise habe ich den Tatort gefunden!«, rief Schweers in Richtung Flur.
Schweers hörte, wie eine Schublade zugeschoben wurde. Dann sah er Peter Melnik schon kommen und zeigte ihm den Pachtvertrag.
»Das könnte passen. Parzelle vierzehn hat er gepachtet. Da müssen wir als Nächstes hin. Entspräche der Vermutung des Gerichtsmediziners.« Schweers blickte Melnik fragend an, der die Stirn in Falten gezogen hatte und dann nickte.
»Wenn es sich bei der vierzehn um ein Grundstück mit Wasserzugang handelt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit sogar noch. Ich rufe Hansen an, der soll Kontakt zum Verein aufnehmen und herausfinden, wo diese Parzelle ist.« Schweers stimmte nickend zu. Melnik fuhr fort: »Bevor ich es vergesse, unsere Kollegen haben in weiser Voraussicht ein paar Kartons mitgebracht, die sie gleich hochbringen werden. Ich habe bisher nichts gefunden, was wichtig erscheint. Der Tote hat übrigens in der Schublade seines Nachttisches eine Bibel liegen. Dass es sowas noch gibt.«
Schweers musste grinsen. »Habe ich zuletzt in einem Hotel gesehen. Ich kenne kaum jemanden, der in die Kirche geht oder sich als gläubig bezeichnen würde.«
»Wen wundert das. So wie diese Leute mit ihren Skandalen umgehen, die Täter in Schutz nehmen und die Opfer alleine lassen!« Melnik schüttelte den Kopf.
»Tja, Gottes Zoo ist groß, wie man sagt. Ich glaube, abgesehen vom Kalender des Toten, einigen Akten und dem Computer scheint mir hier nichts so wichtig zu sein, dass wir es mitnehmen sollten. Ich mache im Wohnzimmer weiter.«
»Dann nehme ich mir die Küche vor. Wenn die anderen Wohnungen ähnlich sind, mit diesen Fensterfronten in alle Richtungen, kann ich mir kaum vorstellen, dass jemand den Toten hier mit einem Elektroschocker betäubt, zwei Treppen nach unten und rund ums Haus getragen hat, um ihn dann in die Geeste zu werfen. Das Risiko, gesehen zu werden, wäre sogar mitten in der Nacht zu hoch.«
»Das sehe ich auch so.« Schweers blickte nach draußen. »Man weiß nie, wie viele Leute in dem Moment aus dem Fenster schauen.«
»Oder welches Lotsenboot in diesen Minuten zurückkommt«, sagte Melnik, auf eines der Boote deutend, das auf der anderen Seite anlegte.
Schweers warf einen kurzen Blick in die Richtung, in die Melnik deutete und machte sich auf den Weg zum Wohnzimmer. Die Aussicht war atemberaubend. Durch die bodentiefen Fenster, die von rechts nach links verliefen, bot sich ein Panoramablick auf die Weser, die sich nun vor ihm ausbreitete. Ich habe auch einen schönen Blick aufs Wasser, tröstete er sich. Er musste daran denken, wie er das Boot in der letzten Woche mit zwei Freunden von Bonn nach Bremerhaven gebracht hatte. Die Fahrt durch die ganzen Kanäle war zwar kompliziert, aber sehr schön. Ich sollte einen Bootsführerschein machen. Die Schiffergilde, die weiter südlich im ›Neuen Hafen‹ ihre Stege hat, soll so etwas anbieten. Bei Gelegenheit werde ich mich erkundigen, was das kostet.
Die Einrichtung im Wohnzimmer war, bis auf den riesigen Flachbildschirm, in Weiß gehalten. Es gab, wegen der ganzen Fenster, wenig Stellfläche entlang der Wände. Wenn man in den Raum kam, befand sich links die Küche und nahm eine Innenwand in Anspruch. Auf der rechten Seite stand eine weiße Anrichte, die Geschirr, Porzellan und solche Dinge enthielt. Dann gab es einen flachen Schrank, auf dem der riesige Bildschirm stand. Dessen Front konnte herunter-geklappt werden, und eine hochwertige Musikanlage kam zum Vorschein. Vor einem Teil der Fenster standen Stehlen unterschiedlicher Höhe, auf denen wiederum Pflanzen drapiert waren. Dominiert wurde der Raum von einem großen u-förmigen Sofa, in dessen Mitte ein Couchtisch stand. Das gesamte Ensemble war zur Weser ausgerichtet. Ein paar Zeitungen lagen aufgeschlagen darauf, und eine Blume, der auch kein frisches Wasser mehr geholfen hätte, war in ihrer Vase einen einsamen Tod gestorben. Die Sitzgelegenheit und der Tisch standen auf einem hellgrauen Teppich. Ein paar Bilder an der Wand hinter ihm, und das war es schon. Nichts von Interesse oder Wichtigkeit. Alles wirkte steril.
Peter Melnik war mit der Küche ebenfalls durch und stieß zu ihm. »Der Autoschlüssel lag in einer Schale auf dem kleinen Tischchen im Flur«, sagte er und hielt einen Schlüssel mit Fernbedienung hoch. »Ein Handy habe ich aber nicht gefunden.«
Schweers nickte bestätigend: »Herr Hansen hat von mir die Handynummer bekommen und kann das Teil dann orten lassen. In jedem Fall sollten wir ihm mitteilen, dass wir hier keine Spurensicherung benötigen, oder?«
Anstelle einer Antwort holte Melnik sein Handy aus der Tasche und rief den Kollegen direkt an: »Jonas, richtig, ich bin es. Wir benötigen in der Wohnung des Toten keine Spurensicherung. Das können wir uns sparen, das kann nicht der Tatort sein. Die Kollegin und der Kollege, die hier momentan die Nachbarn befragen, haben einen Karton mitgebracht, den sie dir vorbeibringen. Darin sind der Kalender des Toten und eine Akte mit ein paar persönlichen Unterlagen, aus denen unter anderem hervorgeht, dass Giordano eine Laube in Geesthelle gepachtet hat. Parzelle vierzehn. Finde doch bitte heraus, wo dieses Grundstück innerhalb der Kolonie liegt. Da wollen wir heute noch hin. Es kann gut sein, dass es sich dabei um den Tatort handelt. Der Computer des Toten ist ebenfalls im Karton. Der geht aber zuerst an die IT-Forensik. Also lass die Finger davon.« Hansen schien etwas zu sagen. »Richtig, wenn sich das bestätigt, sagen wir dir Bescheid, dann benötigen wir die Spurensicherung dort. Herr Schweers hat dir die Handynummer des Toten bereits geschickt. Das Handy muss geortet werden, wir können es nicht finden, und wir brauchen die Verbindungsnachweise.«
Melnik hatte aufgelegt: »Dann sind wir hier fertig, oder?«
Schweers nickte: »Wir müssen unseren Leuten Bescheid sagen, dass wir uns das Auto noch anschauen und dann abhauen. Die Akte, den Rechner und den Kalender geben wir den beiden ebenfalls.«
Die beiden Kommissare verließen die Wohnung des Toten und zogen sich vor der Wohnungstür die Überzieher und Handschuhe aus. Während Schweers sich seinen halbwegs trockenen Parka wieder anzog, kamen die Kollegin und der Kollege, die die Nachbarn befragt hatten, die Treppe herunter und schüttelten vielsagend den Kopf.
»Niemand hat was gesehen oder gehört, vermute ich?«, fragte Schweers, und der Ältere der beiden nickte zustimmend.
»Würdet ihr das hier mitnehmen und Hansen geben, der ist im Bilde.« Peter Melnik übergab Akte und Kalender. »Der Rechner hier muss zu den Kollegen von der IT.«
Alle vier verließen gemeinsam das Haus, nachdem Melnik die Wohnung versiegelt hatte. Man konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, ob dort doch weiter nach Indizien gesucht werden musste, auch wenn die Wohnung als Tatort nicht infrage kam.
Die Durchsuchung des Autos ergab ebenfalls keine Hinweise. Es stellte sich die Frage, ob der Tote zu Fuß oder per Fahrrad zu seiner Laube gefahren war. Ein längerer Spaziergang oder die Nutzung des ÖPNVs war auch denkbar. Na ja, das Opfer wäre bestimmt nicht freiwillig mit dem Bus gefahren.
»Schon erstaunlich, wie wenig Hinweise auf Freunde oder Verwandte sich in der Wohnung finden. Kann man denn wirklich derartig isoliert leben, wenn man nicht gerade ein Einsiedler ist?«
Peter Melnik nickte: »Geht mir auch so. Ist schon komisch. Vielleicht kann uns jemand im ›Haus des Glücks‹ dazu mehr sagen. Da werden wir auch noch hin müssen.«
»Ich habe jetzt aber zuerst mal Hunger«, Schweers hatte auf seine Uhr geschaut. »Es ist schon vierzehn Uhr, ich brauche dringend Nahrung. Wie sieht es bei Ihnen aus?«
Sein Kollege schien in sich hineinzuhorchen und befühlte symbolisch seinen Bauch. »Ich dachte schon, in Bonn würde man nichts essen. Ich habe Kohldampf ohne Ende.«
»Gibt es was Annehmbares in der Nähe?«, fragte Schweers zurück.
»Wir können in den Wasserschout gehen, der ist gleich hier um die Ecke. Regionale und internationale Küche. Gute Hausmannskost, nicht überkandidelt, dafür lecker und anständige Portionen. Wäre das was?«
Schweers stimmte zu. »Irgendwo muss ich ja anfangen, mir diese Stadt zu erschließen.«
»Man kann das Dach des Gebäudes praktisch von hier sehen.« Melnik deutete in Richtung Schifffahrtsmuseum.
»Gut, dann treffen wir uns da«, sagte Schweers und ging zu seinem Fahrrad, während sein Kollege nickte, sich einen Zigarillo anzündete und in Richtung Auto ging.
»Das geht ganz schön ins Kreuz«, Martin Koopmann stieß im Schlafzimmer zu seiner Frau, die dabei war, einen weiteren Karton mit Unterwäsche und Socken zu schließen und mit einem dicken Edding zu beschriften.
»Dann lass die mit den Büchern stehen, die nehmen wir nachher gemeinsam. Mach erst mal mit den restlichen Kartons mit Klamotten weiter. Das sind nur die zwei hier, und zwei weitere stehen im Gästezimmer. Ich habe Gott darum gebeten, uns die notwendige Stärke für den Umzug zu geben. Wie viele Kartons mit Büchern müssen noch auf den Hänger?«
Koopmann grinste innerlich. Ich bin der Pastor und meine Frau ist diejenige, die tatsächlich noch an Gott glaubt. Verkehrte Welt. Dann sagte er laut: »Nur drei. Das schaffen wir.« Der Pastor nahm den frisch beschrifteten Karton vom Boden hoch und machte sich wieder auf den Weg zum Anhänger der Umzugsfirma, der in der Einfahrt stand. Die Männer der Firma hatten den ganzen Vormittag gepackt, Möbel abgebaut und dann alles aufgeladen. Einige Sachen hatten er und seine Frau aber selber packen wollen. Die Muskeln dieser Kerle hatte er nur bestaunen können. Wie gut gebaut die waren! Schade, dass die Jungs schon wieder weg sind. Koopmann zwang sich, an etwas anderes zu denken, und hievte den Karton mit einem leichten Stöhnen auf die Ladefläche.
Nur noch die letzten Kartons aufladen, einmal durchfegen, abschließen und dann geht’s los. Er freute sich auf die neue Stelle. Das war mal etwas völlig anderes, als immer wieder in einer Gemeinde die letztlich immer gleiche Routine abzuspulen. Er schaute auf seine Uhr. Fast vierzehn Uhr. Sie mussten sich beeilen, da sie ihre drei Töchter noch von der Schule abholen mussten. Hoffentlich finden sich die drei in Bremerhaven zurecht, dachte er, als er den letzten Karton aus dem Schlafzimmer holte und zum Hänger der Spedition brachte. Jetzt fehlten nur noch die restlichen Bücher.
Gemeinsam brachten sie die drei verbliebenen Kartons zum Anhänger. Koopmann schloss die hintere Klappe und befestigte die Plane. Dann ging er ins Haus, um ein letztes Mal durch die Wohnung zu gehen, in der sie fast sieben Jahre gelebt hatten.
»Werde bloß nicht sentimental.« Seine Frau hatte den Schlüsselbund in der Hand. »Die Schlüssel sollen wir ja in den Briefkasten werfen, wenn ich mich recht erinnere, nicht wahr?«
»Genau«, erwiderte ihr Mann und nickte.
Susanne Koopmann drehte den Schlüssel im Schloss demonstrativ zweimal um und bugsierte dann den kompletten Bund in den Briefkasten, der rechts von der Haustür an der Wand hing. »So, Abflug. Die Mädels abholen und weg sind wir. Freust du dich?« Susanne Koopmann lächelte. Dass sie sich freute, war offensichtlich.
»Oh ja. Das ist endlich einmal etwas anderes. Und Bremerhaven ist eine außergewöhnliche Stadt, nach allem, was ich bisher so gelesen habe«, antwortete Koopmann und zog den Autoschlüssel aus der Tasche. Er öffnete die Türen des Kleinbusses, den sie inzwischen seit fast zwölf Jahren fuhren. Bei drei Kindern kommt man um so eine Kutsche kaum herum, dachte er, während er es sich auf dem Fahrersitz bequem machte und das Navigationsgerät einschaltete. Ihre neue Adresse hatte er bereits einprogrammiert. Die erste Nacht würden sie in Bremerhaven im Hotel verbringen, da die Möbel für ihre Wohnung erst morgen mit der Spedition kommen würden. Die Unterkunft war Teil der Seemannsmission und im Wesentlichen von Seeleuten frequentiert, die sich länger in der Stadt aufhielten, weil ihr Schiff repariert wurde oder aus Gründen, die ihm bis jetzt nicht bekannt waren. Das würde er alles lernen müssen.
Er setzte mit dem Wagen rückwärts aus der Einfahrt heraus auf die Straße und schlug den Weg Richtung Schule ein, um die ›Gören‹, wie seine Frau manchmal scherzhaft sagte, abzuholen.
Zehn Minuten später sahen sie ihre Töchter, die in einem Pulk anderer Mädchen standen und sich offenbar tränenreich verabschiedeten. Man schwor vermutlich, sich nie aus den Augen zu verlieren, und überhaupt war das alles total krass oder geil, und sicherlich wurde das eine oder andere Gefühl hier getriggert. Er war sich nicht sicher, welches Modewort im Zusammenhang mit einem Ortswechsel angesagt war, als er neben der Gruppe das Auto zum Stehen brachte und die Schiebetür öffnete.
»So, die Damen, es ist so weit. Bitte einsteigen, wir wollen ja heute noch ankommen, nicht wahr.«
Seine Worte lösten weiteres Kreischen und eine erneute Flutwelle an Tränen aus. Er konnte nicht anders, drehte die Augen nach oben und fragte: »Sag mal, Susanne, waren wir in dem Alter auch so?«
»Na ja, wenn ich ehrlich bin, vermutlich schon. In dem Alter, in dem Greta ist, kommt dieses Herauslösen aus dem Freundeskreis einer absoluten Katastrophe sehr nah. Mit siebzehn ist sie komplett hormongesteuert.«
Koopmann bekam ein schlechtes Gewissen: »Ich muss mir was einfallen lassen, um das wiedergutzumachen. Vielleicht war ich, was den neuen Job und den damit verbundenen Ortswechsel angeht, zu egoistisch?«
»Ich glaube, wir sollten erst mal abwarten, wie sich das entwickelt. Die Drei werden bald neue Freunde finden. Abgesehen davon hat eine andere Stadt ja erst mal viel Unbekanntes zu bieten, so dass die Mädels alle Hände voll zu tun haben werden, sich das zu erschließen. Und dann sind da ja die ganzen neuen Jungs, zumindest für Greta und Eva. Eva ist zwar erst vierzehn, aber das dauert nicht mehr lange. Mach dir nicht zu viele Sorgen.«
»Ich werde mich bemühen«, antwortete er wahrheitsgemäß und dachte dann: Das ist leichter gesagt als getan. Als Hafenstadt hat Bremerhaven nicht nur den Ruf, weltoffen zu sein, sondern auch, es mit Moral und Sitten nicht so genau zu nehmen wie anderswo. Auch wenn mir das persönlich entgegenkommt, sind meine Töchter hierfür noch zu jung. Na ja, vielleicht auch nicht? Diese Generation scheint mit allem früher anzufangen als ich in diesem Alter.
Seine Frau öffnete die Beifahrertür und stieg aus, um ihren Töchtern klarzumachen, dass jetzt endgültig alle Fristen abgelaufen waren. Sie ging um den Wagen herum und bugsierte die Schwestern nacheinander durch die Schiebetür auf die Rückbank des Autos. Er hörte sie kurz beruhigend mit den zurückbleibenden Freundinnen sprechen, man sei ja nicht aus der Welt und es gäbe doch die sozialen Medien und im Übrigen. Die Schiebetür fiel ins Schloss. Es kehrte Ruhe ein, und das leise, aber unüberhörbare Schluchzen seiner ältesten Tochter lastete auf seiner Seele. Er versuchte, etwas zu sagen, schluckte aber nur schwer. Wahrscheinlich hätte er es nur schlimmer gemacht, als es eh schon war. Die beiden anderen machten auch keinen wirklich glücklichen Eindruck, aber wenn er die Gesichter im Rückspiegel richtig interpretierte, sah er dort auch leichte Anzeichen von Neugier. Dann ging die Beifahrertür wieder auf, seine Frau nahm Platz und schnallte sich an. Sie blickte ihn auffordernd an. Er startete den Wagen, und kurze Zeit später waren sie auf der Autobahn, unterwegs Richtung Norden. Die Sonne schien. Es war kaum Verkehr, so dass er den Tempomat nutzte. Nach einer halbe Stunde waren die Mädels vor emotionaler Erschöpfung auf der Rückbank eingeschlafen.
Eine Stunde später gerieten sie in einen Stau. Durch die Verringerung der Geschwindigkeit und die Veränderung des Geräuschpegels wachten die Mädchen langsam wieder auf. Seine Frau reichte den dreien Getränke nach hinten. Er hörte das bekannte Zischen, wenn Kohlensäure unter einem Schraubverschluss entwich.
»Hat sich jemand von euch mal mit der Stadt Bremerhaven befasst? So im Sinne von, was kann man als Kind oder Jugendliche dort so machen?« Koopmann hatte die Hoffnung, durch ein Gespräch über die Vorzüge Bremerhavens die Stimmung der jungen Damen ein wenig aufzuhellen.
»Klar«, kam die Antwort prompt von Greta: »Bremerhaven ist die Loserstadt der Nation. Höchste Arbeitslosenquote der Republik, höchste Anzahl überschuldeter Personen und niedrigstes Durchschnittseinkommen Deutschlands. Keine Uni, lediglich eine Hochschule. Nur Studienfächer, die kein Mensch braucht. Genial. Einen beschisseneren Ausgangspunkt für meine Karriere kann ich mir nicht vorstellen. Eigentlich kann ich mir gleich die Kugel geben. Eins sag ich euch, sobald ich achtzehn bin und das Abi in der Tasche habe, bin ich wieder weg, ich zähl schon die Tage. Ich bin doch nicht bescheuert.«
»Wow, wow. Jetzt mach aber mal halblang«, Koopmann konnte das so nicht stehen lassen. Je älter diese Dame wurde, je öfter geriet er mit ihr aneinander. Da konnte er sich noch so oft einreden, dass das bei ihr häufig nur Trotzreaktionen waren, sein Blutdruck stieg dennoch. »Du erzählst wieder mal nur die halbe Wahrheit. So etwas nennt man selektive Wahrnehmung. Du redest immer nur von den schlechten Dingen, weil die guten Seiten Bremerhavens dich ja dazu bringen könnten, deine schlechte Meinung über die Stadt zu ändern. Das nervt mittlerweile. Versuch doch wenigstens mal, ein wenig objektiver zu sein.«
»Stopp, stopp, stopp, ihr beiden.« Susanne Koopmann sah sich gezwungen, zu intervenieren, bevor das Gespräch aus dem Ruder lief. »Ich habe mir in der vergangenen Woche einen kleinen Stadtführer für Bremerhaven besorgt«, sie hielt ein dünnes Taschenbuch in die Höhe, »und werde jetzt versuchen, die eine oder andere Tatsache über Bremerhaven zu erzählen.«
»Das ist eine sehr gute Idee!« Koopmann nickte zustimmend und spürte, wie sein Blutdruck langsam wieder sank. Im Rückspiegel sah er allerdings auch, wie Greta ihre Augen nach oben drehte.
Susanne Koopmann hatte sich zu ihren Töchtern umgedreht. Greta zuckte lediglich mit den Schultern, schmollte und tat so, als würde sie das alles nichts angehen. Toni, die Jüngste, lächelte, da sie Geschichten liebte, und Eva schien ambivalent bis interessiert.
»Ich sehe überwiegende Zustimmung. Also, …«, sie drehte sich wieder um und schlug das Heft auf, aus dem kleine Zettelchen ragten. Sie hatte sich vorbereitet. »Bremerhaven verfügt über den größten Hafen zur Verladung von Autos in Europa, um mal mit einem anderen Superlativ zu kontern.«
»Na toll. Soll ich nach dem Abi helfen, Autos zu verladen? Ich bin total geflasht«, kommentierte Greta in ironischem Tonfall.
»Jetzt warte doch mal ab. Du bist echt unmöglich!« Susanne Koopmann schien bereits nahe an ihrer Toleranzgrenze angekommen zu sein.
»Was ist ein Superdingsda?«, wollte Toni wissen.
»Ein Superlativ ist etwas ganz besonderes, etwas ganz tolles«, versuchte Susanne Koopmann ihrer Jüngsten den Begriff zu erklären. Nach der gerunzelten Stirn der Fragestellerin zu urteilen, war sie nicht sicher, ob die Erklärung reichte, aber Priorität hatte momentan Greta, die sie von ihrem negativen Trip herunterholen wollte.
»Und wer sagt, dass du Autos verladen sollst. So ein Quatsch«, Frau Koopmann schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht hast du ja mal vom Alfred-Wegener-Institut gehört? Du sagst doch, dass dich der Klimawandel interessiert und die Generation deiner Eltern nicht genug tut, um Schlimmeres zu verhindern. Vielleicht willst du ja irgendwann mal dort arbeiten?«
Greta schaute misstrauisch: »Versteh ich nicht, was ist das für ein Institut? Alfred-Wegner, nie gehört.«
Susanne Koopmann schüttelte den Kopf: »Und du willst dich für den Klimawandel interessieren? Ist die Mitgliedschaft bei Fridays for Future, über die du nachdenkst, nur Show? Also, das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven betreibt Klimaforschung am Nord- und Südpol sowie an den Küsten und in der Tiefsee«, Sie hatte sich mit triumphierenden Gesicht zu ihrer Tochter umgedreht. »An diesem Institut wird Grundlagenforschung betrieben, die extrem wichtig für die Analyse von Klimadaten ist. Was sagst du jetzt?«
Greta hatte tatsächlich große Augen bekommen und war einen kurzen Moment sprachlos, bis ihr Misstrauen wieder durchbrach: »Du verarschst mich.«
»Nein, tue ich nicht. Achte bitte auf deine Wortwahl! Ich habe mich im Übrigen noch weiter erkundigt. An der Hochschule in Bremerhaven kannst du beispielsweise Biotechnologie oder Meerestechnik oder auch Schiffsbetriebstechnik und solche Sachen studieren, die es sonst nicht so häufig gibt.«
»Und dann darf ich Bötchen fahren, oder was mache ich damit?«
Begeisterung sah zwar anders aus, aber immerhin war es nicht mehr pure Ablehnung. Martin Koopmann konnte es kaum glauben: »Ich schlage vor, du schaust selber mal auf der Website der Hochschule nach. Da wirst du Angebote finden, die es in Süddeutschland gar nicht gibt. Abgesehen davon: Wer sagt, dass du zwangsläufig in Bremerhaven studieren musst. Vielleicht willst du ja auch gar nicht studieren, sondern eine Ausbildung machen?«
Greta schien jetzt hellwach zu sein, hatte ihr Misstrauen aber nicht abgelegt, wie er den hochgezogenen Augenbrauen entnehmen konnte. Sie holte ihr Tablet aus der Tasche und suchte nach der Website der Hochschule, um sich von der Richtigkeit dessen, was ihre Mutter gesagt hatte, selber zu überzeugen. Die Aussicht, etwas total Ungewöhnliches studieren zu können, das im Zusammenhang mit dem Klimawandel stand, hatte ihre Laune schlagartig verbessert, ihr Misstrauen aber nicht beseitigt.
Eva schüttelte angesichts des schnellen Meinungswandels ihrer älteren Schwester den Kopf. »Willst du jetzt etwa doch nicht mehr abhauen, wenn du achtzehn bist? Das geht nicht. Du hast mir versprochen, dass ich dein Zimmer bekommen kann, sobald du weg bist. Außerdem hast du Andreas versprochen, dass du in kürzester Zeit wieder zurück bist.«
Martin Koopmann hätte fast die Leitplanke touchiert, als er von den Plänen seiner Ältesten hörte.
»Martin, pass auf, willst du uns umbringen? Das hätte böse ausgehen können.« Seine Frau bekreuzigte sich und machte ein ängstliches Gesicht. »Ich glaube, ich sollte dich ablösen, du fährst jetzt seit fast zwei Stunden, und die Hälfte der Strecke haben wir.«
Koopmann ignorierte seine Frau: »Wer bitte ist Andreas?«, richtete er seine Frage an Greta.
»Mann, Eva, dir werde ich nie wieder etwas erzählen. Du hast mir versprochen, nichts zu sagen. Von meinen Klamotten kannst du in Zukunft die Finger lassen. Du bist nicht mehr meine Schwester!« Greta war offensichtlich stinksauer.
»Sorry, ist mir so rausgerutscht. Die Aussicht, dass ich dein Zimmer vielleicht doch nicht bekomme, hat das getriggert. Jetzt chill mal.«
»Hallo, hier Houston an Rückbank. Ich hatte eine Frage gestellt.« Die Mädchen ignorierten ihn weiter, obwohl Koopmann seine ganze Autorität in die Stimme gelegt hatte. Er holte Luft, um seine Frage zu wiederholen, als seine Frau ihm einen leichten Stoß in die Rippen gab.
Er sah sie überrascht an. »Was?«
Susanne Koopmann schüttelte lediglich langsam und bedeutungsvoll den Kopf. Er kannte diesen Blick und verstand, dass er dieses Thema nicht weiter verfolgen sollte.
»Na gut, am nächsten Parkplatz halte ich an und wir wechseln. Einverstanden?« Seine Frau nickte, und auf der Rückbank schien sich die Kabbelei zu beruhigen. »Und Greta! Die Nummer ist nicht durch, Fräulein. Ich erwarte eine Antwort, sobald wir eingezogen sind!«
Das Restaurant war tatsächlich sehr nah. Es hatte sich fast nicht gelohnt, aufs Fahrrad zu steigen. Anscheinend aus großen weißen Sandsteinen gebaut, musste es schon älter sein. Die Fensterrahmen waren in dunkler Farbe gehalten und kontrastierten angenehm mit dem hellen Mauerwerk. Schweers stieg vom Fahrrad, das er vor dem Gebäude abstellte. Dann konsultierte er sein Handy und suchte die Website des Restaurants. Auf einem Foto konnte er rechts neben dem Gebäude Tische, Stühle und Sonnenschirme sehen. Apropos Sonnenschirme, er schaute zum Himmel. Es nieselte nicht mehr, aber nach Sonnenschein sah es auch nicht aus. Ob die Sonne in Bremerhaven jemals scheint? Wenn ich das Foto auf der Website sehe, kann ich hoffen. Zu dem Zeitpunkt hat zweifellos die Sonne geschienen. Er steckte sein Handy wieder ein und ging ins Restaurant, wo er den Kollegen Melnik schon in die Karte vertieft an einem Tisch neben der Theke sitzen sah. Melnik sah ihn eintreten und winkte kurz, um auf sich aufmerksam zu machen. Schweers nickte, zog seinen Parka aus, den er an die Garderobe hängte, und ließ sich dann auf dem Stuhl gegenüber nieder.