Die Stiftung - Michael Broemmel - E-Book

Die Stiftung E-Book

Michael Broemmel

5,0

Beschreibung

Was verbindet mehrere alte Menschen, die im Laufe der Zeit durch vermeintliche Schwelbrände zu Hause sterben, mit nationalsozialistischer Beutekunst? Spielt eine Stiftung, die sich die Unterstützung landwirtschaftlicher Entwicklungsprojekte in Lateinamerika zum Ziel gesetzt hat, dabei eine Rolle? Was hat das alles mit einer rechtsnationalen Partei zu tun? Und wieso will der Vorgesetzte des Hauptkommissars, dass der Fall möglichst schnell als Unfall eingestuft wird? Mit diesen Fragen muss sich Hauptkommissar Oliver Schweers, der an einem Wochenende zu einem Wohnungsbrand in Bonn-Poppelsdorf gerufen wird, befassen. Nur durch Zufall fallen ihm bei seiner Recherche Archivakten eines vergleichbaren zurückliegenden Falls in die Hände, die ihn misstrauisch werden lassen. Auch aus anderen Bundesländern fordert er daraufhin Akten an, und am Ende hat er es mit fünf Toten zu tun, die unter vergleichbaren Umständen ums Leben gekommen sind: allesamt Mitglieder einer ominösen Stiftung. Am Ende droht ein politischer Eklat um die rechtsradikale Partei Deutsche nationale Alternative (DnA). Ein packender Bonn-Krimi.

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DIE

STIFTUNG

Ein Bonner Kriminalroman

Michael Broemmel

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

»Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. […] Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.«

(Joseph Goebbels/Hans Schwarz van Berk, 1935)1

»Heute, liebe Freunde, lautet die Frage nicht mehr Hammer oder Amboss, heute lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.«

(Björn Höcke, Kyffhäuser-Rede, 23.06.2018)2

2010-2014

SONNTAG, 03.04.2010, 10:45–12:15 UHR, IRGENDWO IN BONN

»Ich will nach Hause!« Der alte Mann schaute auf die junge Frau hinunter, die vor ihm kniete und eine feine Kanüle aus seiner rechten Wade herauszog.

Er beobachtete die Frau misstrauisch aus den Augenwinkeln heraus. Wer zum Teufel war das. Seine Hausärztin? Er glaubte zu wissen, dass er einen Hausarzt hatte. Ich würde doch niemals zu einer Ärztin gehen, dachte er entrüstet.

In seiner Generation waren Frauen eher Krankenschwes­tern oder Hausfrauen und ein Mann ging zum Arzt.

In den letzten zwei Jahren hatte er immer öfter mit seinen Erinnerungen danebengelegen. Dass er im Vorstand darauf angesprochen worden war, hatte er schon kurz danach wieder vergessen. Er hatte sich nach und nach in seine eigene, für andere völlig unbekannte Welt zurückgezogen, ohne dass ihm das selber bewusst geworden wäre. Das jetzt und hier war für ihn zu einem Mysterium geworden, dass er nicht mehr verstand.

»Hallo, haben Sie mich verstanden? Machen Sie mich sofort los!« Er rüttelte an den Fesseln, mit denen seine Hand- und Fußgelenke an den Armlehnen und den Füßen seines Sessels fixiert waren. »Was fällt Ihnen ein, und was war in der Spritze?«

Die junge Frau hob langsam den Kopf und blickte Gerd Altenrath unbeteiligt in die Augen. Scheiße, ich muss den Alten ruhig stellen, sonst hören die Nachbarn ihn noch, dachte sie.

Der alte Mann zerrte weiter an seinen Fesseln. »Sagen Sie mal, hören Sie nicht zu oder spreche ich undeutlich? Ich hatte gesagt, dass ich nach Hause möchte.«

Erstaunlich, wie viel Energie dieser Sack schon wieder aufbringt, obwohl seine Betäubung nicht einmal komplett abgeklungen ist, dachte Karin Steinmetz und kam aus der Hocke hoch. In der linken Hand hielt sie die Spritze. Ich könnte nie mit diesen alten dementen Typen arbeiten, geschweige denn pflegen oder sowas. Die würden mich innerhalb kürzester Zeit in den Wahnsinn treiben. Alle zwei Minuten erzählt das Arschloch denselben Scheiß. Ich will nach Hause, ich will nach Hause, ich will nach Hause. Im Dritten Reich hätte man die weggemacht. Überflüssiger Ballast.

»Bringen Sie mich nach Hause, anstatt hier Maulaffen feilzuhalten.« Gerd Altenrath wurde ungehalten. Er wirkte verwirrt.

Die Spritze hatte er offenbar schon wieder vergessen. Karin Steinmetz kniff die Augen zusammen. Sie wurde wütend. Der Alte wurde zu laut. Sie holte aus. Es klatschte einmal und die fünf Finger ihrer rechten Hand zeichneten sich auf der linken Wange von Gerd Altenrath ab. Sein Gebiss war halb herausgekommen.

»Ich hab dir gesagt, du sollst die Schnauze halten, sonst gibt’s was aufs Maul«, zischte Karin Steinmetz, während sie ihm sein Gebiss mit ekelverzerrtem Gesicht wieder grob in die Mundhöhle zurückschob. »Das hast du jetzt davon. Außerdem bist du hier zu Hause, wie oft soll ich das noch sagen. Also, schön ruhig sein und es passiert dir nichts.«

Gerd Altenrath hatte Tränen in den Augen. Er drehte den Kopf und sah sich suchend um. Seine Augen verweilten immer nur kurz bei einem Gegenstand, bevor sie zum nächsten weiterwanderten. Schließlich blieb sein Blick an einem Foto hängen, das auf dem kleinen Tisch neben dem Fernseher vor ihm stand. Erkennen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ein Foto seiner eigenen Hochzeit. Er war zu Hause. Sein Gesicht entspannte sich, er lächelte. Seine Wange und seine Mundhöhle schmerzten. Mit Verwunderung schmeckte er Blut im Mund. Er runzelte fragend die Stirn, sein Lächeln erstarb und seine Gedanken machten sich unverzüglich wieder auf den Weg in das Labyrinth, das sie nie wieder verlassen würden, um den Grund für etwas zu finden, das er schon wieder vergessen hatte.

Dann fiel sein Blick wieder auf Karin Steinmetz. »Wer sind Sie? Verlassen Sie sofort mein Haus!« Er legte seine ganze Autorität in diese Anweisung.

Karin Steinmetz betrachtete ihn verblüfft wie ein Experiment, das nicht so ablief, wie es sollte: »Ich glaub es nicht. Hast du die Ohrfeige schon wieder vergessen. Scheiß Demenz.«

Sie schlug ihm erneut ins Gesicht. Diesmal auf die rechte Wange. Gerd Altenrath schluchzte jetzt. Weniger aus Schmerz, als aus völliger Verwirrung.

»Sieht gleichmäßiger aus, nicht wahr.« Sie näherte sich langsam seinem rechten Ohr und sagte leise: »Du sollst doch verdammt nochmal das Maul halten, ist das so schwer zu kapieren? Und hör verdammt noch mal auf, zu heulen.«

Sie hatte mehr Kraft in die zweite Ohrfeige gelegt, in der Hoffnung, der Alte würde sich trotz seiner Demenz etwas länger daran erinnern und ruhig sein. Sie wusste aber aus Erfahrung, dass so etwas nicht lange vorhielt. Sie seufzte leise.

Gerd Altenraths Wange schmerzte. Die Frau vor ihm trug Jeans und derbe schwarze Schnürschuhe. Der Oberkörper verbarg sich in einem schwarzen Kapuzenpulli. Die blonden Haare steckten unter einer Schirmmütze von undefinierbarer Farbe.

»Ich möchte jetzt bitte nach Hause. Ich bin spät dran.« Er betrachtete seine Fesseln, die er erneut mit Verwunderung wahrnahm. »Ich bin ja gefesselt?« Er richtete einen fragenden Blick an Karin Steinmetz.

Karin Steinmetz rollte mit den Augen. Mein Gott, wie kann man solche Leute nur aushalten, dachte sie. Sie wusste, dass eine größere Dosis zu schnell zum Tod führte und dann im Blut nicht genügend Kohlenmonoxid aus dem Brand nachweisbar sein würde. Sie musste Geduld haben.

»So, jetzt machen wir zur Erinnerung ein Selfie mit Onkel Altenrath, nicht wahr.«

Karin Steinmetz stellte sich rechts neben den Sessel, in dem der gefesselte Alte saß und legte ihm ihren linken Arm um die Schulter. Mit ihrer linken Hand, die sie unter sein Kinn geschoben hatte, hob sie seinen Kopf an, damit dieser in die Kamera schaute. Das Gebiss des alten Mannes war wieder halb aus dem Mund gerutscht, seinen Speichelfuß konnte er immer weniger kontrollieren. Die Spritze begann immer deutlicher, ihre Wirkung zu entfalten. Der Alte sabberte mittlerweile völlig unkontrolliert. Sie ging in die Hocke und lehnte ihren Kopf an seinen, als seien sie befreundet. Während sein Speichel über die Finger ihrer linken Hand lief, die in einem dünnen Gummihandschuh steckte, betätigte sie mit der rechten Hand den Auslöser. Das Handyfoto zeigte ihr vergnügtes, lächelndes Gesicht neben seinem.

Karin Steinmetz hatte sich wieder aufgerichtet und das Handy eingesteckt: »Na, das sieht doch schick aus. Gut, das mit dem Gebiss ist ein wenig unvorteilhaft, aber das merkt der Gerd ja nicht mehr lange, nicht wahr.« Sie sah ihn bei diesen Worten lächelnd an und schob ihm seine Zähne unsanft wieder in die Mundhöhle zurück.

Gerd Altenrath versuchte nicht mehr, seinen Kopf auf die Seite zu drehen: »Aua, das tut weh«, sagte er leise. Seine Aussprache war undeutlicher geworden. Er lamentierte wieder darüber, dass er festgebunden sei, sprach inzwischen aber mit sich selbst.

Die junge Frau wusste, dass der alte Mann bald die Kontrolle über seine Schließmuskeln verlieren würde.

Karin Steinmetz sah ihr Opfer emotionslos an. »Ich muss nur meine Utensilien zusammensuchen und dafür sorgen, dass für den Brand alles vorbereitet ist. Nicht weglaufen, mein Lieber«, sagte sie mit ironischer Stimme.

Gerd Altenrath driftete in seine Vergangenheit und lächelte selig vor sich hin. Sein linker Fuß stand auf dem Teppich, den er vor Jahren mal bei einem Teppichhändler in Bonn gekauft hatte, als er anlässlich einer Vorstandssitzung in der Stadt war. Er hatte immer schon einen schönen türkischen Teppich haben wollen. Er liebte die feinen Muster, die Kombination aus abgerundeten und geometrischen Motiven und die Andeutung byzantinischer Ornamente. Diese hohe Dichte an geknüpften Fäden war außerhalb der Türkei kaum zu finden. Ein Kunsthandwerk, genau genommen anatolisches Kunsthandwerk, dessen hochpräzise Ausführung bis in die vorislamische Zeit zurückreichte. Den Kauf hatte er seinen Kameraden aus dem Vorstand verschwiegen, da einige von ihnen es nicht gut geheißen hätten, dass er überhaupt etwas bei einem Türken kaufte. Andererseits, Türken waren ja keine Freunde der Juden, hatte er damals gedacht. Also konnte es so schlimm nicht sein, wenn man bei einem Türken kaufte. Jedenfalls standen seine Füße seitdem schön warm auf diesem Teppich.

»Na, Alterchen, zehn Minuten, dann hast du’s überstanden. Freust du dich schon?«

Der alte Mann dreht den Kopf ein wenig zur Seite und sah Karin Steinmetz fragend an. Er wusste immer noch nicht, mit wem er es zu tun hatte und war mittlerweile zu erschöpft, um darüber nachzudenken.

Dann spürte und sah er, wie seine Hose im Schritt nass wurde, während diese Frau genau vor ihm stand, zusah und leise darüber lachte, wie er seine Würde verlor. Er versuchte, sich zu bewegen, aber kein Muskel gehorchte ihm. Er weinte, wusste aber nicht warum.

Karin Steinmetz ging vor ihm in die Hocke rümpfte die Nase und entfernte den Verband, mit dem sie seine Unterschenkel an den Füssen des Sessels fixiert hatte. Danach befreite sie die Unterarme, die an den Sessellehnen gefesselt waren. Den linken Arm ließ sie außen an der Armlehne herunterhängen, den rechten legte sie ihm in den nassen Schoß. Das Röcheln fiel ihm immer schwerer. Es konnte nicht mehr lange dauern. Gerd Altenrath roch inzwischen nach Urin und Exkrementen, Blase und Darm hatten sich unkontrolliert entleert.

Karin Steinmetz stand auf, ging zu einem Tisch, der hinter ihrem Opfer im Raum stand und holte von dort eine Flasche mit hochprozentigem Schnaps. Sie stellte den Schnaps auf die rechte Seite des Sessels. In der Nähe des Fernsehers stellte sie eine sorgfältig manipulierte Mehrfachsteckdose auf den Teppich, unter die sie ein wenig selbst gemischtes Schwarzpulver schüttete. Dann steckte sie die Stecker von Fernseher und Heizlüfter in die Steckerleiste und schaltet beides ein. Die Lautstärke des Fernsehers reduzierte sie. Auf die linke Seite des Sessels stellte sie ein Schnapsglas in die Nähe der Hand des alten Mannes, die den Teppich berührte. Dass ausgerechnet dieses Schnapsglas ein Problem werden würde, konnte sie damals nicht ahnen.

Sie drehte sich um und schaute zurück in die Wohnung. Nein, sie hatte nichts vergessen. Übung macht halt den Meister, dachte sie lächelnd. Sie setzte sich die schwarze Perücke wieder auf, zog den grauen Parker über, und schloss die Haustür leise hinter sich, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand auf der Straße sah, wie sie das Haus verließ. Der Kleinwagen, der ein wenig weiter die Straße herunter parkte und langsam wegfuhr, fiel niemandem auf.

Eine Viertelstunde später hatte sich im Wohnzimmer ein Schwelbrand, beginnend beim mittlerweile geschmolzenen Mehrfachstecker, ausgebreitet. Kurz darauf hatte die Glut den Teppich rund um den Sessel erreicht und die Sohlen der Hausschuhe des alten Mannes geschmolzen. Der Sterbende spürte weder, wie die Glut zusätzliche Nahrung im Körperfett seiner Füße fand und sich an seinen Unterschenkeln hocharbeitet, noch die giftigen Gase, die er, immer schwerer röchelnd, einatmete. Die Spritze wirkte. Das Atmen kostete ihn immer mehr Kraft, da sich Kohlenmonoxid in der Lunge sammelte und von dort in sein Blut transportiert wurde. Zum Husten hatte er keine Kraft mehr. Sein Kopf ruhte auf seiner Brust. Seine Atemzüge wurden immer langsamer, bis sie aufhörten. Seine Brust bewegte sich nicht mehr. Sein Herz schlug weiter, aber die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff war zum Stillstand gekommen. Er spürte keine Schmerzen. Schließlich hörte das Herz auf, zu schlagen. Das Gehirn stellte seine Tätigkeit ein.

Es dauert eine weitere gute Stunde, ehe jemand den Brand bemerkte und die Feuerwehr alarmierte.

SONNTAG, 03.04.2010, 14:30–15:30 UHR, IRGENDWO IN BONN

»Na, Schlesinger, was meinen Sie zu dieser Sache?« Siegfried Lehmann wandte sich gönnerhaft an den Schutzpolizisten, der den Tatort gesichert hatte.

Schutzpolizist Klaus Schlesinger, der draußen vor der Tür stand, um zu verhindern, dass Unbefugte den Tatort betraten, schaute seinen Vorgesetzten misstrauisch aus den Augenwinkeln an. Seit wann interessiert der sich für die Meinung eines kleinen Schupos, dachte er und entschied sich dafür, weiter konzentriert den spärlichen Verkehr auf der Wohnstraße vor ihm zu beobachten.

Lehmann blickte nach links, verwundert darüber, dass der Kollege von der Trachtengruppe nicht die Gelegenheit ergriff, von ihm zu lernen.

Klaus Schlesinger wusste, dass sein Vorgesetzter es auf den Tod nicht leiden konnte, ignoriert zu werden. Lehmann war fest davon überzeugt, immer Bedeutendes zu sagen zu haben. Seine Arroganz war über die Grenzen der Mordkommission hinaus bekannt. Schlesinger, der deutlich mehr Dienstjahre auf dem Buckel hatte als sein Vorgesetzter, machte gute Miene zum bösen Spiel: »Herr Lehmann, ich glaube nicht, dass Sie meine Einschätzung hierfür benötigen. Schließlich haben Sie doch genau die Ausbildung gemacht, die man zur Beurteilung derartiger Fälle benötigt. Als einfacher Schutzpolizist habe ich es nicht gelernt, bei komplizierten Zusammenhängen den Überblick zu behalten.«

Lehmann wirkte irritiert und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Er wusste, dass Schlesinger ein harter Brocken mit viel Erfahrung war. Jemand, der immer eine eigene Meinung hatte, und zwar zu allem! Wollte der ihn verarschen? Lehmann schlug die Asche seiner Zigarette ab: »Wie meinen Sie das?«

»Na, so wie ich es gesagt habe, da gibt es nichts zwischen den Zeilen zu lesen. Ich habe schlicht nicht Ihre Ausbildung, auch wenn ich ein paar Jahre Erfahrung habe. Vielleicht hätte ich ja in der Schule besser aufpassen sollen, aber dafür ist es jetzt zu spät.« Hoffentlich kauft mir Lehmann das jetzt ab, sonst wird es hässlich, dachte er.

Auf dem Bürgersteig liefen Menschen mit Einkaufstüten vorbei, die interessiert zu den beiden Männern herüberschauten, die vor der geöffneten Hauseingangstür standen.

Lehmann entspannte sich ein wenig: »Da haben Sie Recht, aber vielleicht kann ich Ihnen ja noch das eine oder andere beibringen.«

Offensichtlich ist er erfreut über das vermeintliche Lob und hat die Ironie in meiner Antwort nicht verstanden, freute sich Klaus Schlesinger seinerseits und fragte beiläufig: »Wenn ich mich recht erinnere, ist das auch nicht die erste Brandleiche, zu der Sie gerufen werden, nicht wahr?«

Auf der Straße vor ihnen fuhr ein Paketzusteller arg schnell mit einem Kastenwagen vorbei. Eine ältere Dame, die die Straße überqueren wollte, zog sich wieder zwischen zwei geparkte Autos zurück, nachdem der Fahrer des Lieferwagens durchdringend gehupt hatte. Schlesinger schüttelte den Kopf angesichts dieser Rücksichtslosigkeit.

»Sie haben ein gutes Gedächtnis. Die Fälle weisen sogar gewisse Parallelen auf. Jedes Mal alte Menschen, die unvorsichtigerweise zu viele Geräte an einen Mehrfachstecker hängen. Dann gibt es einen Kurzschluss und ein Feuer, einen Schwelbrand oder auch beides. Diese billigen Dinger aus China sind ja heutzutage verboten. Aber es gibt sie immer noch in viel zu vielen Haushalten.« Lehmann schüttelte bei so viel Unvernunft den Kopf: »Neben der linken Hand des Toten steht ein Schnapsglas auf dem verkohlten Teppich. Wenigstens hat der alte Herr sich noch einen genehmigt, bevor er den Löffel abgegeben hat.«

»War das damals nicht auch ein Wohnungsbrand, wo das Opfer vorher was getrunken hatte?«, fragte Schlesinger.

Lehmann zog an seiner Zigarette: »Da trügt Sie ihre Erinnerung nicht. Schon erstaunlich, wie viele alte Leute auf den letzten Metern noch das Saufen anfangen, nicht wahr?« Lehmann blickte seinen Mitarbeiter an und fragte mit belehrendem Blick: »Wollen Sie damit andeuten, dass es eine Verbindung zwischen diesen Fällen gibt, Herr Kollege?«

»Nein, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.« Schlesinger zog die Stirn fragend in Falten und blickt nachdenklich geworden auf die Straße.

Wie bei so einigen anderen Fällen würde wohl auch dieser so schnell wie möglich geschlossen und im Archiv verschwinden, dachte er. Manchmal fragt er sich, ob Lehmann einfach nur dumm war, keinerlei Neugier besaß oder schlicht ausgesprochen faul war. Er kannte kaum jemanden, der nicht ab und zu mal abends länger blieb, wenn dies nötig war. Lehmann jedoch war nach Dienstschluss nie mehr im Büro anzutreffen. Im günstigsten Fall erreichte man ihn auf dem Handy irgendwo unterwegs, in einer Kneipe oder in einem Restaurant. In der Regel war er dann auch nicht erbaut über die Störung und ließ einen das auch deutlich spüren. Die meisten Kollegen mieden den Kontakt mit ihm nach Dienstschluss, wie Schlesinger wusste. Wenn es sich nicht umgehen ließ, Lehmann zu informieren, ordnete der in der Regel sowieso an, die Mitarbeiter vom Kriminaldauerdienst zu informieren und an den Tatort zu schicken, er käme dann nach. Er kam dann auch, aber mit enormer zeitlicher Verzögerung, so dass die eigentliche Arbeit meistens bereits durch seine Mitarbeiter erledigt war. Er ließ sich nur noch berichten und nickte die ergriffenen Maßnahmen gönnerhaft ab. Und da soll man nicht mit dem Öffentlichen Dienst hadern, wenn solche Leute in Führungspositionen gelangen können, dachte Klaus Schlesinger, innerlich den Kopf schüttelnd.

Lehmann, der immer noch neben Klaus Schlesinger stand, beugte sich mit verschwörerischer Miene zu ihm hinüber: »Mein Gott, der Typ war über neunzig, trank offenbar gerne was und hätte doch sowieso bald die Grätsche gemacht. Ist doch Geldverschwendung, wenn wir da jetzt noch Leute dransetzen, die ermitteln, wo es nichts zu ermitteln gibt. Die Kollegen sollen ihre Zeit lieber damit verbringen, bei diesen arabischen Clans aufzuräumen und das ja nicht zu zimperlich. Oder was meinen Sie?«

Klaus Schlesinger versuchte, unauffällig etwas Abstand zu gewinnen, um Lehmanns Mundgeruch zu entkommen: »Ich dachte, dass gerade bei alten Leuten häufig von natürlicher Todesursache ausgegangen wird, aber dies oft nicht stimmen soll. War da nicht neulich diesbezüglich ein Rundschreiben vom Polizeipräsidenten?«

»Ja, das ist richtig, aber dieser Fall ist eindeutig. Hier zu ermitteln wäre absoluter Blödsinn.« Lehmann nickte mit dem Kopf, um sich selbst zu bestätigen und fuhr fort: »Nun, das war’s dann wohl für heute. Ich fahr jetzt zurück ins Büro und schreibe meinen Bericht. Alles Weitere ist Routine. Halten Sie die Ohren steif, man sieht sich.« Lehmann nickte Schlesinger zu, warf den noch glühenden Zigarettenstummel auf den Bürgersteig, steckte seine Hände in die Hosentaschen und ging zu seinem Auto, das weiter die Straße herunter geparkt war. Er war sich nicht sicher, ob dieser Sturkopf von Schupo immer noch misstrauisch war.

Wieso kam dieser Mann bei einer popeligen Brandleiche selber zum Tatort, wenn er bei interessanteren Fällen seinen Mitarbeitern die Arbeit überließ. Und woher wusste er schon jetzt, dass dieser Fall eindeutig war. Weder das Brandgutachten noch der Bericht der Gerichtsmedizin konnten schon vorliegen. Das soll einer verstehen, dachte Schlesinger verwundert.

SAMSTAG, 26.07.2014, 09:30–12:30 UHR, YACHTHAFEN OBERWINTER, BONN

Der Wind wehte heute Morgen ausnahmsweise mal aus Osten, wie Oliver Schweers beim Blick aus dem Fenster sofort auffiel. Er saß am Frühstückstisch mit einer Tasse Kaffee vor sich und sah zu, wie eine Gruppe Möwen über die Stege stolzierte und sich dabei wechselseitig misstrauisch beäugte.

Die Sonne stand um zehn Uhr schon relativ hoch und schien mit voller Kraft in den Essbereich und die kleine Arbeitsecke seines Hausbootes. Die Polster waren bereits angenehm warm geworden, aufgeheizt durch die Sonnenstrahlen. Es war so gemütlich, dass er versucht war, sich gleich wieder lang zu machen. So sollte es jeden Morgen sein, dachte er, aber montags bis freitags musste man ja leider aufstehen, bevor die Sonne hoch am Himmel stand. Heute hatte er zwar Bereitschaft, hoffte aber trotzdem, genug Zeit für sich und die anstehenden Arbeiten auf dem Boot zu haben. Er klappte das Tablet zu, auf dem er morgens die Nachrichten las. Eine Routine, die er schlecht ablegen konnte. Vielleicht würde ich ja weniger herumdaddeln, wenn ich eine Partnerin hätte, dachte er, schloss für einen Moment die Augen lehnte sich zurück und streckte die Beine von sich. Er hatte sich irgendwann selbst eingestanden, ein Nachrichtenjunkie zu sein, aber es gab Schlimmeres. Dafür hatte er weder einen Account bei Twitter, noch bei Facebook oder wie diese sogenannten sozialen Netzwerke sonst noch hießen. Beides aus seiner Sicht überflüssige und völlig überbewertete Netze, die einem lediglich die Zeit stahlen. Die Tatsache, dass der gelbhaarige Clown aus den USA Twitter permanent ungestraft zur Verbreitung seiner Lügen nutzen konnte, reichte ihm als Beweis für die Gefährlichkeit dieser Netzwerke aus. Und, dass diese Netzwerke bei unbedarften Zeitgenossen eher zu asozialem Verhalten führten, konnte er bei seinem Vater beobachten. Bei dem Gedanken an ihn öffnete er die Augen wieder und runzelte die Stirn. Wie soll das bloß weitergehen, fragte er sich wütend und unsicher zugleich.

Er entsperrte sein Handy. Die einzige App, die in die Kategorie Social Media fiel und die er selber auch nutzte, war ein Kurzmitteilungsdienst. Es war schlicht und ergreifend sehr hilfreich für ihn, wenn er sich mit seinen Freunden und Kollegen jederzeit austauschen konnte und Bilder und Dokumente problemlos und schnell zwischen ihnen hin und her gingen, mit den jeweiligen individuellen Einschätzungen. Man konnte dezentral aber parallel an der gleichen Sache arbeiten. Das hatte schon was. Es war natürlich nicht erlaubt, vertrauliche dienstliche Dokumente damit hin und her zu schicken, aber wenn er auf die Modernisierung im Öffent­lichen Dienst warten wollte … Er brach den Gedanken kopfschüttelnd ab. Lediglich bei seinem anfangs noch neuen Kollegen Herbert Nursen hatte es einige Mühe gekostet, ihn von der Sinnhaftigkeit der neuen Technologie zu überzeugen. Bei dem Gedanken konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen und seine Laune wurde wieder besser. Irgendwann hatte er gemerkt, dass Herbert, natürlich ohne es zuzugeben, irgendwie Angst vor den neuen Smartphones hatte, die Schweers über die Beschaffungsstelle für sie beide und ihre Assistentin Sonja besorgt hatte. Ergo hatte er Herbert erst mal eine Fortbildung für den Umgang mit dieser neuen Technologie angedient. Zurück vom Bildungsurlaub, freundete Herbert sich mit dem vormaligen Teufelswerk immer weiter an. Nachdem er den Umgang mit dem neuen Werkzeug gelernt und begriffen hatte, dass man kein Raketentechniker sein musste, um damit virtuos umgehen zu können, war er ohne sein Smartphone und mittlerweile auch Tablet nicht mehr vorstellbar. Ohne ein zusätzliches Powerpack, seinen drahtlosen Ohrhörer und den Ladestecker samt Kabel für den Dienstwagen, verließ er seitdem weder seine Wohnung noch sein Büro. Es ging so weit, dass er neulich einer jungen Praktikantin, die eigentlich mit dieser Technologie schon im Kinderwagen zu tun gehabt haben musste, dass ein oder andere Feature ihres eigenen, privaten Smartphones erklärte, von dem sie selber keine Ahnung gehabt hatte. Seitdem sah sie den ›Dinosaurier‹ mit völlig anderen Augen. Herbert war jetzt derjenige, der sich über die technologische Rückständigkeit des Kommissariats und des Öffentlichen Dienstes im Allgemeinen regelmäßig bei Betriebsversammlungen beschwerte.

Aber Herbert hatte heute dienstfrei und weder er noch sonst jemand hatte eine Nachricht geschickt. Es gab also keine willkommene Ausrede, die ihn davon abgehalten hätte, am Boot das eine oder andere zu machen. Es gab nichts wirklich Dringendes, das keinen Aufschub geduldet hätte, aber früher oder später hätte er eh ran gemusst. Dann lieber bei gutem Wetter, dachte er, so dass er sich auf das Bier danach, kombiniert mit einem Grillwürstchen, mit dem neuen Grill auf dem Vorschiff zubereitet, freuen konnte. Er löste sich widerwillig aus den warmen Polstern, griff nach seiner privaten To-do-Liste und entschied, mit der wahrscheinlich dreckigsten Tätigkeit zu beginnen: Bilge kontrollieren und gegebenenfalls auspumpen und säubern. Er legte die Liste wieder auf den Tisch und ging ins Schlafzimmer. Dort schlüpfte er in den Blaumann, den er sich für die notwendigen Arbeiten am Boot besorgt hatte und der auch schon entsprechend aussah. Nun noch die alten Turnschuhe anziehen und es konnte losgehen. Um an die eigentliche Luke zur Bilge zu kommen, musste er den Couchtisch und zwei Sessel wegräumen. Aber das war kein Problem, sondern Gewohnheit. Nachdem er den Teppich zusammengerollt hatte, konnte er die darunterliegende Bodenluke zu Maschinenraum und Bilge öffnen. Mit zusammengekniffenen Augen und einer Taschenlampe in der Hand war er gerade dabei, den Zustand der Bilge zu überprüfen, als sein Handy klingelte. Er war derartig in seine Arbeit vertieft, dass ihm das Handy vor Schreck fast aus der Hand in den Motorraum gefallen wäre.

»Guten Morgen, Klaus«, nahm er den Anruf entgegen.

»Dir auch, einen guten Morgen, Oliver. Ich habe gesehen, dass du heute bis achtzehn Uhr Bereitschaft hast, wie ich übrigens auch. Anders als du muss ich aber in der Wache sitzen und das Telefon bewachen.«

Klaus Schlesinger war der Schwager und früher sogar ein alter Freund seines Vaters gewesen. Später war er ein väterlicher Freund für ihn geworden. Er war zwar kein akademisch gebildeter Polizist, hatte aber jede Menge Erfahrung und vor allem einen untrüglichen Instinkt oder wie andere Kollegen meinten, eine spezielle Nase, auf die er sich verlassen konnte. Abgesehen davon, war er schlicht ein netter Kerl, mit einem viel zu großen Herzen und breiten Schultern, auf denen er schon so manche Sorge hatte abladen können.

Wenn er hingegen an seinen Vater dachte, wurde ihm manchmal immer noch übel. Mittlerweile schaffte er es meistens, ihn schlicht als seinen biologischen Erzeuger zu sehen und ansonsten als ein bedauernswertes Subjekt, das leider zunehmend hilfsbedürftiger wurde. Bei dem Gedanken daran, dass er möglicherweise den Alten irgendwann würde pflegen müssen, kam ihm die Galle hoch. Hoffentlich soff der sich vorher zu Tode, dachte er und erschrak.

»Oliver«, riss ihn Klaus aus seinen Gedanken, »ab mittags soll ein Gewitter aufziehen, so dass der Samstag dann gelaufen ist.«

»Hä, du rufst mich doch nicht an, um mir den Wetterbericht durchzugeben«, unterbrach er den Redefluss seines Onkels, »abgesehen davon, ich wollte heute auf dem Vorschiff grillen, da kann ich keinen Regen gebrauchen. Letztes Wochenende hatte ich frei und wollte grillen, da hat es auch schon geregnet.«

»Oliver, unterbrich mich nicht. Du musst zu einem Wohnungsbrand mit dazugehöriger Brandleiche. Nach allem was ich gehört habe, handelt es sich vermutlich um eine Routineangelegenheit, die Feuerwehr redet von Kurzschluss. Sekunde mal eben.«

Schweers hörte ein Papier rascheln und dann sprach Klaus weiter: »Hier hab ich’s, genau, da steht’s ja, die Feuerwehr war erstaunlich schnell da und konnte Schlimmeres verhindern. Wenn nicht irgendein Nachtschwärmer zufällig das Feuer bemerkt und gemeldet hätte, wäre das Haus möglicherweise bis auf die Grundmauern abgebrannt.« Mit ironischem Unterton fuhr Klaus fort: »Mit ein bisschen Glück bist du pünktlich mit Beginn des Regens wieder zu Hause.«

Schweers hatte sich mittlerweile an seinen kleinen Schreibtisch gesetzt: »So ein Mist. Klaus, dann sei doch bitte so nett und schicke mir die genaue Adresse auf mein Handy, damit ich mein Navi entsprechend füttern kann. Ich sage dir Bescheid, sobald ich unterwegs bin, damit du was ins Wachbuch eintragen kannst. Ansonsten noch ein schönes Wochenende und bis Montag«, sagte Schweers und wollte schon auflegen, als er abgewürgt wurde: »Halt stopp, nimm dir schlicht etwas zu schreiben und ich gebe dir die Adresse durch«, sagte Klaus mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Mist, er hatte völlig vergessen, dass sein alter Freund ja mit der neueren Technik auf Kriegsfuß stand. Es war nicht so, dass Klaus völlig gegen jede Form neuer Technik einen Widerstand hatte, er hatte sich neulich noch ein neues Fernsehgerät gekauft, mit dem er über das Internet seine Programme abrief und das er selber eingerichtet hatte, wie er mit Stolz in der Stimme berichtet hatte.

Das Problem war der Dienststellenleiter. Der hatte sich den älteren Kollegen gegenüber derartig unprofessionell bei der Einführung neuer Technologien angestellt, dass er heftig aufgelaufen war. Als er dann versucht hatte, die neue Technik per Anweisung einzuführen, hatte Klaus sich schlicht an den Betriebsrat gewandt. Der wiederum hatte dem Chef ziemlich schnell klargemacht, dass diese Art des Vorgehens nicht toleriert werden würde. Aus der Sitzung kam sein Chef ziemlich kleinlaut wieder heraus. Seitdem musste Klaus sich mit den neuen Technologien nicht mehr befassen, hatte sich aber seinen Vorgesetzten dadurch nicht gerade zum Freund gemacht.

»Auch kein Problem, sag an«, sagte er deshalb schnell und griff nach Papier und Kuli, um die knappen Ansagen zu notieren.

»Vielen Dank, Klaus, hast du Herbert schon Bescheid gegeben? Halt, quatsch, der hat heute keine Bereitschaft«, erinnerte sich Schweers im selben Moment.

»Nein, ich dachte du fährst vielleicht erst mal hin. Sollte es notwendig sein, dass er dazukommt, kannst du ihn ja immer noch selber anrufen, Bereitschaft hin oder her. Ich hab lediglich Tanja informiert, die wohl schon da ist, da sie ja in jedem Fall ihren Senf dazugeben muss. Aber die ganze Sache klang so nach Routine, dass ich nicht die große Welle machen wollte, nur um dann nachher zu hören, dass alles überflüssig war. Schließlich haben wir ja Wochenende und ich will so wenig Kollegen wie notwendig auf die Piste schicken.«

»Okay, Klaus, dann weiß ich Bescheid. Ich melde mich, sollte es etwas Ungewöhnliches geben.«

Er beendete das Gespräch und fand sich mit der Tatsache ab, sich wohl oder übel umziehen zu müssen. Ein verdreckter Overall war, auch für sein Empfinden, ein wenig zu leger für den Besuch an einem möglichen Tatort mit einer Brandleiche. Auch wenn er dafür bekannt war, unkonventionell zu sein, gab es doch Grenzen.

Als Erstes schloss er jedoch die Luke, rückte seine Möbel wieder zurecht und schaltete die Taschenlampe aus, mit der er sich einen Eindruck seiner privaten Unterwelt hatte verschaffen wollen. Dann ging er in sein Schlafzimmer, zog die Arbeitsschuhe und den Overall aus und eine Jeans, ein Freizeithemd und bequeme Schuhe an. In seinem Auto hatte er im Kofferraum immer ein Paar Stiefel stehen, die er möglicherweise gleich benötigen würde, da die Feuerwehr vermutlich mit Wasser gelöscht hatte. Auf dem Weg nach draußen nahm er den Autoschlüssel vom Haken neben der Tür, schaltete die Alarmanlage mit der Überwachungsanlage an, zog die Tür hinter sich zu, schloss ab und ging erst über den Fingersteg auf den Hauptsteg und dann die schräg nach oben verlaufende Gangway zum Parkplatz hoch.

Mit der Fernbedienung öffnete er die Türen zu seinem Passat, setzte sich auf den Fahrersitz und befestigte sein Handy an der hierfür vorgesehen Konsole. Nach dem Start des Motors verband es sich automatisch per Bluetooth mit dem Computer des Fahrzeugs und der Freisprechanlage. Er gab die Adresse in sein Navi ein und bekam einen Routenvorschlag mit den entsprechenden Fahranweisungen. Das Haus lag auf der anderen Rheinseite in Oberdollendorf. Es war jetzt halb elf, die Fahrt sollte laut Navi circa zwanzig Minuten dauern, welches für einen Samstagmorgen nicht unrealistisch war. Wenn nichts Ungewöhnliches zu finden war, konnte er um zwölf wieder zu Hause sein.

Da er auf die Fähre musste, um über den Rhein zu kommen, bog er nach rechts auf die B9 ab und kurze Zeit später wieder nach rechts in die Austraße, die ihn direkt zum Anleger der Fähre nach Königswinter brachte. Er hatte Glück und die Fähre legte gerade an, als er ankam. Drei Autos waren vor ihm, fünf Minuten später ging es los. Auf dem Rhein war nicht viel los. Samstags machten offenbar auch die Berufsschiffer mal eine Pause. Eigentlich eher Wetter zum Urlaub machen, dachte er, als er eine kleine Motoryacht passieren sah. Aber was soll’s, irgendwann mach ich auch mal wieder Urlaub.

Die Fahrt über den Rhein dauerte nicht lange, deshalb blieb er im Auto sitzen. In Königswinter angekommen, bog er erst nach rechts und dann direkt nach links ab, um durch ein paar kleine Gässchen seinen Weg in Richtung Oberdollendorf fortzusetzen. Das Haus lag im Schleifenweg. Als er näher kam, sah er ein alleinstehendes Haus aus den 40er-Jahren, das wohl vom Krieg verschont worden war. Ein ordentlicher weißer Lattenzaun umrahmte das üppige Grundstück. Hübsch, dachte er, wenn auch für mich ein wenig zu bieder. Die Zufahrt zur Garage war von der Feuerwehr genutzt worden, um so nah wie möglich heranzukommen. Vor dem Haus stand ein schöner Laubbaum, wohl eine Rotbuche.

Er stellte seinen Wagen am Straßenrand ab und stieg aus. Eine uniformierte Kollegin kam auf ihn zu, wohl um ihm mitzuteilen, dass er dort nicht parken könne, erkannte ihn aber frühzeitig, hielt den Daumen nach oben und grüßte. Er entschied sich dazu, das Blaulicht mit dem magnetischen Fuß auf das Dach seines Autos zu setzen, um allen weiteren derartigen Fragen aus dem Weg zu gehen, holte dann noch seine Stiefel aus dem Kofferraum, die er gegen seine Turnschuhe austauschte und machte sich auf den Weg zum Haus. Die Haustür stand offen. Der Brand war offenbar nicht über das Parterre hinausgegangen, da das Treppenhaus, das gleich rechts neben dem Eingang zu sehen war, zwar Fußspuren zu verzeichnen hatte, aber ansonsten unversehrt schien.

In dem ehemaligen Wohnzimmer angekommen, bot sich ihm ein wenig erfreulicher Anblick. Alles war schwarz vom Ruß, wie bei einem Schwelbrand üblich. Und es stank fürchterlich. Natürlich nach der Leiche, die ebenfalls von Ruß überzogen war, aber auch nach allem, was irgendwie durch den Brand in Mitleidenschaft gezogen worden war. Sein Magen revoltierte. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen, dachte er und verschaffte sich zunächst einen Überblick. Der Brandherd schien sich von einem Platz hinter einer Art Fernsehtisch ausgebreitet zu haben. Er war zwar kein Sachverständiger für derartige Dinge, aber dies war nicht der erste Wohnungsbrand, den er sah. Bei der Gelegenheit erinnerte er sich daran, dass der Brandsachverständige bereits vor Ort sein sollte. Er durfte nicht vergessen, mit dem Kollegen zu reden, bevor er wieder ging. Gleiches galt für die Gerichtsmedizinerin, die sich gerade über den Toten beugte, der in seinem Fernsehsessel saß.

Tanja war vermutlich um ihre Geschmacksnerven nicht zu beneiden. Sie waren ungefähr zur gleichen Zeit bei der Polizei angefangen, was bedeutete, dass sie diesen Job nunmehr seit diversen Jahren machte und eigentlich einen völlig abgestumpften Geruchssinn haben müsste.

»Hallo, Tanja, auch Bereitschaft, wie geht’s dir?«

»Ja, offenbar hat es uns beide an diesem Wochenende erwischt, davon abgesehen geht’s mir gut.«

»Ich hab deine Harley draußen nicht gesehen, was ist los, kaputt?«, fragte er mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.

»Träum weiter. Da ich als Einzige an der Maschine schraube, kann sie nicht kaputt gehen!«, war die selbstbewusste Erwiderung.

»Okay, okay, ich zieh die Frage zurück. Kannst du denn bereits hilfreiche Angaben zu unserem Brandopfer machen? Wird das ein Fall für mich, oder werde ich verschont?«

»Wie es nach meinen momentanen Erkenntnissen aussieht – immer vorbehaltlich der Ergebnisse der Obduktion, die ich allerdings erst am Montag machen werde – Herzversagen, vermutlich durch Stress ausgelöst. Der gute Mann war ja auch nicht mehr der Jüngste, insofern nicht verwunderlich.«

Tanja richtete sich auf und sah Schweers an: »Der Brandsachverständige ist im Übrigen schon wieder weg, der war höchstens eine Viertelstunde hier, er sei überlastet, meinte er. Ich soll dir ausrichten, dass er seinen Bericht am Montag per Mail schicken wird. Und ich soll dir auch schon mal sagen, dass es sich unter dem Strich ursprünglich um einen Schwelbrand handelte, der später dann ein richtiger Brand wurde. Das Ganze ausgelöst durch einen überlasteten Mehrfachstecker zweifelhafter Herkunft.« Tanja drehte sich um und deutete mit ihrer behandschuhten Hand auf ein schwarz verklumptes Etwas. »An dieser ehemaligen Steckerleiste hingen Fernseher und Heizlüfter. Der Stecker ist heiß geworden und geschmolzen, hat die Wolldecke, die daneben auf dem Boden lag, erreicht und entzündet und griff von dort auf den Teppich über. Danach konnte sich der Brand praktisch im ganzen Zimmer ausbreiten. Diese Steckerbauart ist nach seiner Aussage seit ein paar Jahren in der EU verboten. Aber gerade bei älteren Leuten findet man die Dinger wohl immer noch.«

»Hat er irgendwas von Brandbeschleunigern gesagt, oder gibt es sonstige Dinge, die aus seiner Sicht ungewöhnlich sind und Rückschlüsse auf Fremdverschulden zulassen würden?«

»Nichts dergleichen. Wohl ein Wohnungsbrand, den er häufiger sieht.« Die Gerichtsmedizinerin hatte sich wieder der Leiche zugewandt.

»Das klingt ja tatsächlich so, als ob das kein Fall für uns wird. Dann werde ich mal nach persönlichen Dokumenten suchen. Sicherlich hat der gute Mann Verwandtschaft, die sich um das Erbe streiten kann. Wie sieht es übrigens mit der Identifizierung des Toten aus?«, wollte Schweers noch wissen.

»Wenn du sowieso nach Dokumenten suchen musst, dann schau mal nach, ob du irgendwelche Unterlagen von behandelnden Ärzten, am besten Zahnärzten, findest. Damit kann ich relativ schnell eine eindeutige Identifikation vornehmen. Ich habe übrigens bisher kein Portemonnaie oder einen Perso gefunden. Äußerlich würde ihn nicht einmal mehr seine Mutter erkennen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich dies auch keiner Mutter zumuten würde!«

»Mach ich«, antwortete Schweers, drehte sich um und begab sich auf die Suche. Er fand tatsächlich in der Schublade eines vom Brand weitgehend verschont gebliebenen Sekretärs ein paar Unterlagen, aus denen hervorging, wer der Zahnarzt des alten Herrn gewesen war. Er machte von den wichtigsten Dokumenten Fotos und schickte die Informa­tion elektronisch weiter an Tanja. Damit war die zweifelsfreie Identifizierung des Toten in die Wege geleitet. Da sich keine weiteren Dokumente fanden, die auf Verwandte schließen ließen, musste er die Klärung dieser Frage an seine Assistentin, Sonja, weitergeben. Sie würde am Montag die üblichen Kanäle nutzen, um herauszufinden, ob es Erben gab oder Verwandte, die informiert werden mussten. Sie könnte auch gleich bei der Caritas nachfragen, die wohl das Essen auf Rädern für den Toten geliefert hatten, wie er einer Rechnung entnehmen konnte. Nach Aussage eines Kollegen von der Schutzpolizei, mit dem er draußen sprechen konnte, hatten die Nachbarn, die er zwischenzeitlich befragen konnte, kaum Kontakt zum Toten gehabt, der wohl sehr zurückgezogen gelebt hatte. Eine Nachbarin erwähnte, dass der alte Herr wohl zunehmend dement geworden und von der Nazizeit geschwärmt hatte. Seitdem habe sie den Kontakt versucht zu vermeiden. Lediglich ein Nachbar konnte sich daran erinnern, ab und zu eine ältere Dame gesehen zu haben, aber damit hörte es auch schon auf.

Schweers ließ die gesammelten Informationen auf sich wirken und kam zu dem Schluss, dass es bei diesem Sachstand tatsächlich keinen Sinn machte, Herbert auch noch zu aktivieren. Vermutlich würde das Ganze als Unfall eingestuft zu den Akten gelegt. Er konnte ihm am Montag alles Interessante erzählen.

Schweers ging ins Wohnzimmer zurück: »Tanja, ich mach mich vom Acker. Die möglicherweise interessanten Dokumente habe ich gescannt und Sonja geschickt, die sich am Montag darum kümmern wird. Infos über seine Krankenversicherung habe ich dir gemailt. Nach allem, was du mir gesagt hast und was der Brandsachverständige an Infos hier gelassen hat, wird das eh kein Fall für uns. Oder hast du mittlerweile was gefunden, was diese These widerlegt?«

»Nein, du hast Glück. Wie es auf den ersten Blick aussieht, ist kein Fremdverschulden festzustellen. Ein schönes Wochenende.«

»Ich danke dir. Allerdings muss ich heute in die Bilge meines schwimmenden Heims kriechen, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist, oder ob ich demnächst absaufe.« Schweers hob seine Hand zum Gruß und verabschiedete sich.

»Na, dann viel Spaß«, rief ihm Tanja noch nach, bevor sie sich wieder dem Toten widmete.

Das von Klaus vorhergesagte Gewitter hatte sich offenbar verzogen. Jedenfalls sah es so aus, als würde er heute doch noch zum Grillen kommen, wenn er dem Himmel trauen konnte. Das hieß, dass er doch noch beim Supermarkt vorbei musste, um ein paar Würstchen aufzutreiben. Krautsalat war auch alle. Auf dem Weg zurück zu seinem Auto wunderte er sich aber doch noch: Wer brauchte im Sommer einen Heizlüfter?

DIENSTAG, 29.07.2014, 08:00–22:00 UHR, KOMMISSARIAT RAMERSDORF

Den Montag hatte er sich frei genommen. Er wollte Überstunden abfeiern, die ansonsten verfallen wären. Am Dienstagmorgen im Büro angekommen, startete er die Kaffeemaschine in der Teeküche, während sein Rechner hochfuhr. Das Wetter würde wohl den ganzen Tag gut bleiben, wenn er dem Bericht im Autoradio trauen konnte. Vielleicht kann ich ja heute mal ein wenig früher Feierabend machen, dachte er.

Sein Blick kehrte vom Fenster zurück auf den Bildschirm seines Computers, der immer noch diese komischen Geräusche machte, wenn auf der Festplatte irgendetwas passierte. Erstaunlich, wie viel Aktualisierungen dieses Betriebssystem in regelmäßigen Abständen benötigte. Er stand auf und ging erneut in die kleine Teeküche, um nach der Kaffeemaschine zu schauen. Die tat offenbar, was sie tun sollte, jedenfalls roch es auf dem Gang danach, wie er feststellen konnte. Als der Kaffee durchgelaufen war, nahm er sich eine große Tasse voll mit in sein Büro. Die Updates waren installiert. Er setzte sich hin und startete das E-Mail-Programm. Zwischen ein paar anderen Mails fand er Tanjas mit dem Ergebnis ihrer Leichenschau als Anlage und begann zu lesen.

In der Lunge des Toten waren nur wenige Rußpartikel gefunden worden, was bei Schwelbränden nicht unüblich sei. Die Analyse des Blutes zeige einen hohen Gehalt an Kohlenmonoxid. Er müsse also zum Zeitpunkt des Brandausbruchs noch geatmet haben, sei dann letztlich erstickt. Da der Zustand der Leiche eine vollständige Autopsie nicht mehr zulasse – die Füße seien bis auf Höhe der Unterschenkel durch den Schwelbrand ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden – diagnostiziere man eine Kohlenmonoxidvergiftung gefolgt von Herzversagen.

So viel zu Tanjas Bericht, dachte er. Als der Bericht des Sachverständigen der Feuerwehr, den er auch in seinen Mails fand, als Grund des Feuers von einem Kabelbrand sprach, konnte er Fremdverschulden ausschließen. Ausgelöst worden sei der Brand durch die Überlastung eines Mehrfachsteckers chinesischer Bauart im Wohnzimmer. Nun gut, das sieht nicht danach aus, als ob wir ermitteln müssen. Mal sehen, was Sonja gestern noch zu Tage gefördert hat, dachte er und stand auf, um in das Büro am Ende des Ganges zu gehen, das Sonja sich mit Herbert teilte.

Nach einer kurzen Begrüßung erklärte Sonja ihm, dass sie den gestrigen Montag dazu genutzt hatte, ein paar der von ihm angeforderten Recherchen anzustellen. Nach Aussage des Notars, der das Testament vollstrecken sollte, existierten keine lebenden Verwandten mehr, wie er ihr versichert hatte. Erben sollten das Haus und das Vermögen eine gemeinnützige Stiftung namens »Eco Farming Paramillo«, die sich mit der Verbreitung neuer landwirtschaftlicher Technologien in Südamerika befasse. Dort sei der Tote seit Jahren Mitglied gewesen.

»Komisch fand ich, dass der Notar mehrfach betonte, dass alles mit rechten Dingen zu gehen würde, obwohl ich das gar nicht in Frage gestellt hatte. Vielleicht meinte er das besonders betonen zu müssen, weil die Fragen von der Polizei gestellt wurden? Jedenfalls will er uns eine Kopie des Testaments zukommen lassen.«

»Das klingt nicht verdächtig. Es gibt immer mehr Leute, die nach Möglichkeiten suchen, ihr verbleibendes Vermögen sinnvoll zu vererben. Warum also keine Stiftung, die sich mit Entwicklungsprojekten befasst«, antwortete Schweers.

Sonja zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Bei der Caritas, die das Essen auf Rädern lieferte, war keine Notfall­adresse hinterlegt und weitere Details über den alten Herren waren auch nicht bekannt. Ich konnte kurz mit dem Herrn sprechen, der ehrenamtlich das Essen ausfährt. Aber der konnte mir auch nichts Interessantes sagen. Er hat aber bestätigt, dass unser Opfer zunehmend dement wurde.«

»Sonja, vielen Dank. Kannst du mir das bitte kurz zusammengefasst per Mail zukommen lassen? Ich denke, damit kann ich die Akte schließen. Ich bin wieder in meinem Büro, falls was sein sollte. Ach, bevor ich’s vergesse: Der Kaffee ist durchgelaufen.« Damit drehte er sich um, schloss die Tür hinter sich und ging wieder in Richtung seines eigenen Büros.

Alles zusammengenommen keine Handlungsgrundlage für weitere Ermittlungen, grübelte er vor sich hin. In gewisser Weise traurig, so alleine sterben zu müssen, dachte Schweers für sich, als er den Abschlussvermerk schrieb, in dem er das Ergebnis zusammenfasste und den Vorgang dann samt den ausgedruckten Berichten zu den Akten legte. Sobald das Testa­ment vorlag, würde er auch das noch dazu heften und die Akte schließen.

Mit Herbert, dem er am Montag telefonisch von dem Vorgang erzählt hatte, hatte er sich darauf verständigt, gemeinsam weiter zu ermitteln, sofern es denn irgendetwas zu ermitteln gab. Das sah nun nicht danach aus. Er nahm den Telefonhörer in die Hand und informierte ihn entsprechend. Sonja bat er per Mail darum, die elektronische Akte zu aktualisieren und den Fall auch elektronisch abzuschließen, sobald das Testament vorliegen würde.

Sehr gut. Er beschloss, sich eine zweite Tasse Kaffee zu holen und dann endlich mal die Rundschreiben zu lesen, die sich in seinem Eingangskorb gesammelt hatten. In der Teeküche entdeckte er nur noch einen Rest Kaffee in der Glaskanne der Maschine, den er aber wegschüttete. Da mach ich doch lieber eine neue Kanne, dachte er und erledigte die üblichen Handgriffe. Kurz danach hörte er auch schon das übliche Röcheln und sah die ersten Tropfen in die Kanne fallen.

Zwischendurch grüßte er den einen oder anderen Kollegen, der an der Teeküche vorbeiging und einen neugierigen Blick hinein warf. Während er darauf wartete, dass der Kaffee durchlief, las er ein Rundschreiben des Personalrats, das er mit in die Küche genommen hatte. Der erste Artikel befasste sich mit einem Richter aus Dresden, der eine Führungsposition bei der Deutschen nationalen Alternative anstrebte und für diese Partei in den Bundestag wollte. Das Landgericht habe entschieden, dass diesem Richter keine politisch geprägten Verfahren mehr übertragen werden könnten, da man Zweifel an seiner Unbefangenheit habe. Dem kann man eigentlich nur zustimmen, dachte Schweers, während er sinnierend aus dem Fenster sah. Aber die DnA war eine demokratisch legitimierte Partei und das machte es schwierig, ihr oder ihren Mitgliedern die Rechte vorzuenthalten, die andere Parteien auch für sich in Anspruch nahmen.

Was war eigentlich mit den Richtern und Staatsanwälten, die die Überzeugungen des fraglichen Richters teilten, aber nicht auffielen, weil sie nicht für ein Amt bei den Faschos kandidierten? Oder was war, wenn der Präsident eines Landgerichts selber mit den Rechten von der DnA sympathisierte? Nicht auszudenken. Bei dem Gedanken gruselte ihm. Diese Partei stellt die Demokratie vor nie dagewesene Herausforderungen, dachte er. Wie sicher konnte man eigentlich sein, das derjenige, der die Verfassungstreue eines Richters beurteilen musste, selber mit beiden Beinen auf dem Boden der Verfassung stand? Denn Sympathisanten der Rechten gab es auch in Polizei und Justiz, da machte er sich nichts vor.

Der Kaffee war durchgelaufen. Er spülte die Tasse von heute Morgen durch, schüttete sich ein und ging wieder zurück zu seinem Büro. Noch eine Stunde bis zur Mittagspause. Hoffentlich blieb es ruhig. Draußen war wunderbares Wetter, alles war grün oder stand voll in Blüte, wie er bei einem Blick aus seinem Fenster sehen konnte. Eigentlich zu schade, bei diesem Wetter seine Zeit im Büro zu verbringen. Er setzte sich auf seinen Bürostuhl und drehte dem Fenster bewusst den Rücken zu, um nicht abgelenkt zu werden. Dann stellte er die Rückenlehne seines Bürostuhls nach hinten, legte die Füße auf den Schreibtisch und las weiter.

Der nächste Artikel befasste sich mit einer Brandstiftung in einer Asylunterkunft. Normalerweise wäre das keine Meldung wert gewesen. Aber die Autoren hatten eine Analyse gemacht und waren zu dem Schluss gekommen, dass mittlerweile wohl fast jeden zweiten Tag ein Anschlag auf ein Asylbewerberheim erfolgte. Leider war es wohl auch so, dass in einer Reihe von Fällen hinter den Angriffen auf die Asylbewerber Mitarbeiter der Wachfirmen standen, die eigentlich den Schutz der Bewohner gewährleisten sollten. Auch hier wieder die Verbindung ins rechte politische Spektrum oder zu irgendwelchen rechten Kampfsportgruppen. Schweers wäre nicht verwundert, wenn diese Schlägertruppen das ein oder andere Mal von der DnA angestiftet oder sogar dafür bezahlt wurden, Angriffe auf Asylunterkünfte durchzuführen oder sogar auf Politiker und Aktivisten, die sich für Vertriebenen einsetzten. Aber es war wie immer: Ohne Beweise kam man diesen Leuten nicht bei. Das war einerseits frustrierend, aber andererseits wusste er, dass in einem Rechtsstaat die Regeln für alle galten.

Das Telefon klingelte und er nahm den Hörer ab: »Schweers, Kriminalpolizei Bonn, mit wem spreche ich bitte?«

Er hatte das Rundschreiben des Personalrats beiseitegelegt und hörte der Person am anderen Ende der Leitung zu.

»Sch…, in Ordnung, ich komme. Stecken Sie ihn solange in die Ausnüchterungszelle.« Er unterbrach die Verbindung, nachdem er fast laut geflucht hatte und wählte direkt danach Sonjas Nummer.

»Sonja, tut mir leid, aber ich muss los. Mein Vater hat mal wieder im besoffenen Kopf irgendwo randaliert und sitzt jetzt am Bonner Loch bei den Kollegen, die ihn dort aus dem Verkehr gezogen haben.«

»Oha, das tut mir leid. Willst du dir für den Rest des Tages freinehmen? Ist ja eigentlich schon Mittag und ich meine, du hast noch Überstunden, die du abfeiern könntest.«

»Ich denke, dass mach ich. Ist eh nicht viel los. Informierst du bitte das Vorzimmer von Lehmann?«

»Mach ich. Hoffentlich hat dein Vater nichts Schlimmes angerichtet.«

»Ach, weißt du, mittlerweile ist mir das egal. Seine Nachbarn und seine Eltern kann man sich halt nicht aussuchen. Irgendwann lass ich das Arschloch hängen. Sollen ihn doch seine Nazifreunde, auf die er so große Stücke hält, aus der Scheiße holen. Ich bin morgen wieder da. Bis dann, tschüs«, sagte er noch und legte auf.

Letzte Woche hatte der Alte schon einmal Mist gebaut. Und er hatte Glück gehabt, dass der Typ, den er beleidigt hatte, keine Anzeige erstattet hatte. Es wurde jedes Jahr schlimmer. Wenn der Alte nicht irgendwann einfach tot umfällt, werde ich möglicherweise sogar noch für seine Pflege aufkommen müssen, dachte Schweers, was seine Stimmung noch weiter in den Keller drückte.

Er fuhr seinen Rechner herunter, schloss das Büro hinter sich ab und machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Von Ramersdorf zum Bonner Loch konnte er am einfachsten über Beuel fahren und dort die Kennedy-Brücke in die Stadt nehmen. Eine halbe Stunde später parkte er seinen Wagen hinter dem Bahnhof und ging durch die Unterführung zur Polizeidienststelle im Bahnhof, wo er klingelte.

Die anwesenden Beamten kannten ihn und das Problem, dass er mit seinem Vater hatte, und ließen ihn sofort eintreten.

»Er ist hinten und hat sich wieder beruhigt. Jedenfalls flucht er nicht mehr vor sich hin. Ist ziemlich dicht.« Der diensthabende Beamte hielt ihm ein Klemmbrett mit einem Formular hin, während er die Situation erläuterte.

»Hat den Besitzer des Kiosks, da wo sich alle den billigen Fusel kaufen, zur Sau gemacht, als der sich weigerte, ihm Alkohol auf Kredit zu geben.«

Schweers nickte. Das waren meistens die Auslöser für Streit mit wem auch immer. »Hat er oder will er noch Anzeige erstatten?«

»Das sollte mich wundern, wäre das erste Mal. Erstens weiß er, dass das nichts bringt und zweitens würde er sich damit seine Stammkunden verprellen. Der weiß genau, dass irgendwann der Tag kommt, an dem die Jungs wieder Geld haben und das geben sie dann bei ihm aus, wenn er sie nicht zwischendurch angezeigt hat.«

»Ich geh kurz rüber und entschuldige mich für meinen Vater. Dann komme ich wieder und nehme ihn mit.«

Diesmal war es sein Kollege, der verständnisvoll nickte. Es gab auch nichts mehr zu sagen.

Zehn Minuten später war Schweers zurück und holte seinen Vater ab. Der stank nach Pisse und Schnaps und protestierte vor sich hin, gab aber schließlich seinen Widerstand auf und ließ sich mitnehmen. Während der Fahrt zu dessen Wohnung – er wohnte immer noch in Rolandseck gegenüber der Schiffswerft, in der er früher gearbeitet hatte – ließ Schweers beide Fenster seines Autos offen, weil er weder den Körpergeruch noch die Fahne seines Erzeugers ertragen konnte. Hoffentlich stinkt nicht nachher das ganze Auto danach, dachte er resignierend.

An der Adresse seines Vaters angekommen, musste er ihn erst wecken. »So, aufstehen, wir sind angekommen, du musst aussteigen.« Er hatte die Beifahrertür geöffnet und seinem Vater unter den rechten Arm gegriffen, um ihm aufzuhelfen.

»Wo sind wir hier«, lallte er, hob den Kopf und sah seinen Sohn an. »Ach du bist das. Wo kommst du denn her?«

Die Frage ignorierend, nahm er den Schlüssel zur Wohnung seines Vaters aus der Tasche, hievte ihn aus dem Wagen und schleppte ihn wie einen nassen Sack zum Aufzug. Eine halbe Stunde später saß er fluchend wieder in seinem Auto und war auf dem Weg nach Hause, die Autofenster geöffnet. Was hab ich verbrochen, dass ich bei diesem schönen Wetter meinen total besoffenen und stinkenden Alten durch die Stadt kutschieren muss. Er schüttelte den Kopf, während ihm diese Gedanken durch den selbigen schossen.

Den Rest des Tages verbrachte er lesend auf dem Sofa, nachdem er einen kleinen Imbiss zu sich genommen hatte. Er versuchte, nicht länger an seinen Erzeuger zu denken, und ging abends in seine Lieblingspizzeria. Nach dem Abendessen wieder zu Hause suchte er sich noch einen Film aus der Mediathek aus, den er sich mit einer weiteren Flasche Kölsch in der Hand zu Gemüte führte und ging dann früh ins Bett. Morgen war ein neuer Tag.

FREITAG, 01.08.2014, 14:00–16:00 UHR, BAD GODESBERG, BONN

Das cremefarbene dreigeschossige Haus, zum Teil noch im Fachwerkstil erhalten, sah er schon von weitem. Er hielt kurz inne. Auf die heutige Vorstandssitzung hatte Alfred Hergarten überhaupt keine Lust. Es war zu viel geschehen. Zu viel ›Unerfreuliches‹. Vermutlich werden die meisten Kameraden schlicht schweigen und unsicher zu Boden blicken, dachte er. So wie es in seiner Jugend sehr oft war. Schweigen, wegschauen oder mitlaufen wurde damals mit persönlicher Sicherheit und Sicherheit für die Familie belohnt. Auch er hatte lange weggeschaut.

Er ging langsam weiter. Sein Blick wirkte abwesend. Er musste daran denken, wie der eine oder andere von ihnen im Laufe der Zeit dement und damit zum Risiko geworden war. Das galt allerdings nicht für den momentanen Vorstand, wie er wusste. Sollten sie jemals vor Gericht gestellt werden, wären sie alle voll schuldfähig. Die Tatsache, dass sie von Helga so eingeschüchtert worden waren, dass sie nur noch als Stimmvieh dienten, ergab keine mildernden Umstände, war er sich sicher. Vielleicht sollte er einfach wieder umdrehen und der Sitzung fernbleiben? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Zu gefährlich, ich muss das Spiel noch ein wenig länger mitspielen, dachte er resignierend.

Mittlerweile war er durch den Vorgarten gegangen, vorbei an Rosensträuchern, die den plattierten Weg säumten, hatte drei Stufen erklommen und stand vor der Haustür. Er drückte auf den Klingelknopf und hörte den Gong ertönen, der jede Ankunft laut ankündigte.

Kurze Zeit später öffnete die Hausangestellte die Tür. Karin Steinmetz hatte diesen netten Gesichtsausdruck und machte lediglich eine Kopfbewegung in Richtung der Treppe, die in den ersten Stock zu dem Raum führte, in dem üblicherweise die Sitzungen stattfanden. Ihre Haare waren blond und stramm zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der hinten über ihrem Rollkragen hing. Dadurch bekam ihr Gesicht etwas Strenges und Diszipliniertes.

Sein ›Guten Tag‹ erwiderte sie lediglich durch ein Nicken des Kopfes. Dann wartete sie, bis er sich in Richtung Treppe in Bewegung setzte. Sie schloss die Eingangstür wieder und er sah sie wie einen Schatten durch eine andere Tür im Innern des Hauses verschwinden. Er kannte wenige, derart wortkarge Menschen.

Seine Gedanken kehrten zurück zum Vorstand, während er die Treppe langsam hinaufging, sich mit der linken Hand am eichenen Handlauf festhaltend. Oben angekommen war er etwas außer Atem. Hier sollte mal ein Treppenlift installiert werden, dachte er. Nach einer kurzen Verschnaufpause ging er weiter durch einen Flur, betrat den Sitzungsraum und sah sich um.

Die meisten waren schon da. Die Zahl wurde kleiner, aber es gab noch einfache Mitglieder als Nachrücker, um den Vorstand vorschriftsmäßig zu besetzen. Aber auch unter den einfachen Mitgliedern hatte es schon Fälle von Demenz gegeben. Logisch, dachte er sich, natürlich werden auch die regulären Mitglieder älter. Wenn Helga ihr Ziel noch erreichen wollte, musste sie sich beeilen. In der letzten Woche waren wieder zwei Kameraden gestorben. Einer davon eines natürlichen Todes, wie er glaubte zu wissen. Er selber hatte die Stiftung auf der Beerdigung vertreten, war allerdings nicht mit ins Café zum üblichen Leichenschmaus gegangen, um lästigen Fragen auszuweichen. Das hatten sie bisher immer so gemacht und waren gut dabei gefahren.

Er suchte sich einen freien Stuhl, schüttelte den Kameraden links und rechts die Hand, legte seine Einladung und die Tagesordnung vor sich auf den Tisch und wartete darauf, dass die Sitzung eröffnet wurde. Ein Ständer mit einer Flipchart stand nicht weit vom Kopfende des Tisches entfernt. Es sah so aus, als hatte jemand die Tagesordnung der heutigen Sitzung dort aufgeschrieben. Alles Makulatur, dachte er für sich. Alles nur für den Fall, dass eine unbekannte Person den Raum betrat. Es sollte der Eindruck vermittelt werden, als ob hier die turnusmäßige Sitzung eines gemeinnützigen Vereins stattfand, welches ja im Grunde auch stimmte. Die Tagesordnung war seit Jahren immer die gleiche.

Diese Vorsicht hatte dafür gesorgt, dass ihr Bündnis seit ihrer Gründung in den Siebzigern geheim geblieben war. Eigentlich war ihr Bündnis ja eine Verschwörung, wenn man es genau betrachtete. Das Ziel war ja letztlich, das heutige Grundgesetz durch eine völkisch-nationalistische Ideologie zu ersetzen. Das Ganze unter Führung einer Nachfolgepartei der NSDAP. Und für diese Rolle hatte sich die DnA qualifiziert. Die Stiftung, deren Gründung erst in den Achtzigern erfolgt war, war seitdem die perfekte Tarnung für die Bewegung geworden.

Alfred Hergarten schaute auf seine Uhr. Er hatte noch fünf Minuten, bevor die Sitzung begann, und musste an die Begräbnisse der letzten Zeit denken. In ein paar Fällen gab es keine Verwandten, die Fragen stellen konnten, da die komplette Familie den Krieg nicht überlebt hatte. Das waren die einfachen Fälle, in denen auch das Testament nicht angefochten wurde.

In einem Fall, in dem noch relativ nahe Verwandtschaft vorhanden war, hatte der Kamerad schon vor Jahren alles der Stiftung als Schenkung überschrieben. Um sein Wohnrecht zu behalten, hatte er sich selbst natürlich Nießbrauch eingeräumt und das Ganze notariell abgesichert. Eine absolut wasserdichte Sache, die auch juristisch nicht anfechtbar war. Die Verwandtschaft, die sich auf das Erbe gefreut hatte, hatte bei der Eröffnung des Testaments getobt. Er erinnerte sich an ein paar unangenehme Szenen und sogar Drohungen. Doch der Notar stellte klar, dass es sich um den letzten Willen des Toten handeln würde, der – notariell entsprechend abgesichert – unanfechtbar war. Dass es sich bei den Nachlässen von Mitgliedern der Stiftung immer um den gleichen Notar handelte, wussten die Angehörigen natürlich nicht. Helga hatte an alles gedacht.

Sie hatte ihn auf die Möglichkeit einer frühzeitigen Schenkung auch schon mal angesprochen. Es sei doch erheblich sicherer, wenn er diesen Schritt bald gehen würde. Schließlich könne ihm ja auch jeden Tag etwas geschehen und dann hätte die Stiftung wieder Ärger mit Verwandten, die das Testament anfechten könnten und so weiter.

Er hatte sich damals gefragt, ob dies Helgas Art war, mal zu schauen, wie fest er noch hinter der Bewegung stand? Er hatte aber lediglich bei nächster Gelegenheit eine Kopie seines damaligen Testamentes mitgebracht und ihr auf den Tisch gelegt. Die Stiftung war in diesem Testament als Alleinerbin aufgeführt. Abgesehen davon hätte sein Hausarzt ihm eine ausgezeichnete Gesundheit attestiert, fügte er hinzu. Damit hatte er alle weiteren Diskussionen vermeiden können.

Auch wenn in ihrem Gesicht geschrieben stand, dass Zweifel blieben, hatte sie es doch nicht offen angesprochen. Seitdem war er in Sitzungen des Vorstands mit seinen Diskussionsbeiträgen allerdings zurückhaltender und vor allem unkritischer geworden. Er war sich aber nicht sicher, ob dies den gewünschten Effekt gehabt und das Vertrauen in seine Loyalität wieder gewachsen war. Das war jetzt aber auch schon wieder eine Zeit her.

Schließlich wurde es still im Raum. Die Vorsitzende war hereingekommen und hatte am Kopfende des Tisches Platz genommen. Mit ihren feingliedrigen Händen strich sie über die Akte, die vor ihr lag. Sie spielte trotz ihres hohen Alters weiterhin Klavier. Dies beuge einer potentiellen Demenz vor, behauptete sie jedes Mal, wenn die Sprache darauf kam. Ihre silbergrauen, leicht gewellten Haare trug sie altersgemäß kurz. Gekleidet war sie heute bunter als sonst. Normalerweise trug sie eher gedeckte Farben, aber heute wirkte sie regelrecht frühlingshaft. Man sah ihr ihr Alter nicht auf den ersten Blick an. Die Zeit schien an ihr spurloser vorüberzugehen als an den anwesenden Herren.

Wobei das äußere Erscheinungsbild nicht wirklich entscheidend war. Ihr Gesicht schien immer ein wenig zu lächeln. Damit gelang es ihr regelmäßig, Menschen, die sie nicht kannten, über ihren wahren Charakter zu täuschen. Sie wirkte immer ausgesprochen liebenswert und kultivierte diesen Eindruck Fremden gegenüber permanent. Wer sie näher kannte, begegnete ihr mit Respekt und äußerster Vorsicht und machte nicht mehr den Fehler, sie zu unterschätzen oder zu glauben, dass sie irgendwelche Skrupel hätte.

Nach einem Blick in die Runde öffnete sie die Akte, die vor ihr lag. Auf dem Rückenschild stand der Name der Stiftung und das aktuelle Geschäftsjahr. Die Akte enthielt, wie alle ihre Vorgänger der vergangenen Jahre, die Tagesordnungen der einzelnen Sitzungen und deren Protokolle. Ebenfalls enthalten waren Jahresabschlüsse, Kontoauszüge und Rechenschaftsberichte. Halt alles, was eine gemeinnützige Stiftung so produzieren musste, um ihre Gemeinnützigkeit nicht zu verlieren. Gutes zu tun oder zumindest so zu tun als ob, war immer noch die beste Tarnung. Es machte die Stiftung fast unangreifbar.

Entscheidend war, dass man über die Buchhaltung und die Protokolle regelmäßiger Vorstandssitzungen auf dem Papier nachweisen konnte, dass man dem Satzungszweck Genüge tat. Eine Prüfung hatte es seit Bestehen der Stiftung noch nie gegeben. Wie sollten die Amtsgerichte auch Tausende gemeinnütziger Stiftungen und Vereine, die es in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich gab, einer Prüfung unterziehen. Das Personal des Justizapparates wurde für wichtigere Dinge benötigt. Er hatte mal irgendwo gehört, dass Prüfungen, wenn überhaupt, nur anlassbezogen gemacht wurden. Ergo stellten sie sicher, dass es keinen Grund für Beanstandungen gab.