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"Jetzt war Nila nicht aus der Wohnung gestürmt, sondern nur gegangen. Und irgendwie fühlte sich das noch schlimmer an." Toms Leben läuft gut. Also, wirklich. Er hat sich im Griff. Bis er Nila kennenlernt mit ihren Gedichten und Träumen und diesem Blick in ihren Augen. Und auch mit ihrem schwarzen Notizbuch voll schwerer Gedanken. Weil Tom Tom ist, scheitern sie daran. Aber wer ist das eigentlich, Tom? Und warum fühlt sich ihre Geschichte einfach nicht abgeschlossen an? Ein Roman über eine Trennung - authentisch, stark und echt.
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Über die Autorin
Verba Volant, das ist eine Autorin, die eigentlich gar nicht Verba Volant heißt. Geboren in einem Jahr und aufgewachsen im Irgendwo, hat sie sich in der Literatur verloren und schreibt leidenschaftlich gern selbst Bücher. „Das Gefühl danach“ ist ihr zweiter Roman, der im Wreaders-Verlag erscheint.
Inhalt
1 8
2 18
3 33
4 40
5 58
6 66
7 76
8 89
9 110
Danksagung 126
WREADERS E-BOOK
Band 250
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Druck: BoD – Books on Demand, Norderstedt
Umschlaggestaltung: Jessica Rose
Lektorat: Michél Schüler, Svea-Magdalena Lehmann
Satz: Annina Anderhalden
www.wreaders.de
Für sie und ihn
1
Im Esszimmer ist es still.
Tom versucht, die Geräuschlosigkeit zu ignorieren und den Vater nicht anzusehen. Er weiß schließlich, dass der Mann dort sitzt und in seinem Buch liest. Es gibt keinen Grund, den Blick auf ihn zu richten. Es gäbe nichts Neues zu sehen.
Der Teller, den er sich aus der Küche geholt hat, zittert leicht in seinen Händen. Die Bewegung ist so klein, so minimal, dass sie selbst ihm kaum auffällt. Er beugt sich nach vorn über den Esstisch und nimmt sich ein Stück des Marmorkuchens, den die Mutter heute gebacken hat. Als er eine Gabel auf seinen Teller legt, entsteht ein klirrendes Geräusch.
Der Vater hebt den Kopf. Ihre Blicke treffen sich für den Bruchteil einer Sekunde.
Dann wendet der Vater den Blick ab, schaut an Tom vorbei und öffnet den Mund. »Wie war dein Tag?«
»Gut«, sagt Tom.
»Schön.«
Der Vater beugt sich wieder über sein Buch. Tom verstärkt seinen Griff um den Teller und verlässt den Raum. Am liebsten würde er rennen, aber er bleibt ganz ruhig. Schritt für Schritt legt er den Weg in sein Zimmer zurück, bis er die Zimmertür endlich hinter sich schließen kann.
Er atmet tief durch, stellt den Teller auf seinen Schreibtisch und lässt sich auf den Stuhl davor fallen.
So viele Worte in ihm, und keins passt.
Die Uhr tickt in ihrem gewohnten Rhythmus, tick-tack, tick-tack. Einprägsam und nicht zu durchbrechen. So viele Worte.
Tom beugt sich über die Aufschriebe. Es ist wichtig, dass er sich einprägt, was auf diesen Zetteln steht.
Eigentlich ist er niemand, dem das Lernen schwerfällt. Offen gesagt fällt es ihm leicht, sogar so leicht, dass er meist gar nicht erst lernen muss. Er sitzt einfach nur da, hört zu, und dann weiß er es eben.
Die Aufschriebe, die vor ihm liegen, sind nicht seine eigenen. Er schreibt nie mit. Ganz im Gegensatz zu Kai, der scheinbar Angst davor hat, auch nur einen Buchstaben zu verlieren. Kai schreibt nicht nur möglichst wortgetreu mit, er unterstreicht auch jedes dritte Wort. Frustriert beklagt er sich dann, dass doch alles wichtig sei und wie er denn bitte priorisieren soll. Tom sitzt meist nur daneben und kann es nicht nachempfinden.
Meist treffen sie sich, um gemeinsam zu lernen. Kai wuchtet dann seine Unterlagen zwischen sie und beginnt damit, Tom mit Fragen zu löchern. Anschließend verfallen sie in Schweigen, jeder arbeitet für sich, aber Tom sitzt eigentlich nur da und simuliert. Er möchte nicht derjenige sein, der nicht lernen muss. Außerdem hat er ohnehin nichts Besseres zu tun.
Tom schüttelt kurz den Kopf und konzentriert sich wieder auf Kais Mitschriften. Wenn er seinen Blick heben würde, so würde er geradewegs aus dem Fenster vor ihm sehen. Er würde den Einbruch der Abenddämmerung beobachten können und das allmähliche Verschwinden der Sonne hinter den Bäumen auf dem Hof, der seine Kindheit gewesen ist. Draußen hatte er zu Grundschulzeiten immer mit seinen Freunden gespielt, sie hatten mit Kreide auf den Boden gemalt, sie hatten sich versteckt und gefangen, sie hatten Bäume erklommen. Einmal hatte er sich dazu hinreißen lassen, mit Anna Seil zu springen, weil er ihr gefallen wollte. Ob das erfolgreich war, das kann er heute nicht genau sagen. Einen Tag später hatte sie Hannes geküsst.
Aber wen kümmern Anna und Hannes? Er hat seit Ewigkeiten nicht mehr an sie gedacht.
Er starrt auf die Aufschriebe, ohne sie wahrzunehmen. Er vernimmt nur das Ticken der Uhr und es ärgert ihn, weil er erst seit Nila darauf achtet. Die Uhr befindet sich seit er denken kann in seinem Zimmer und nie hat sie ihn gestört, er hat sie nicht einmal gehört. So, wie es eben ist, wenn man mit etwas aufwächst und es nahezu fließend in einen selbst übergeht. So ist er eins mit der Uhr geworden, ohne es zu bemerken.
Bis zu dem Tag, an dem Nila zum ersten Mal zu Besuch kam. Suchend sah sie sich in seinem Zimmer um und entschied sich schließlich dazu, auf seinem Bett Platz zu nehmen. Er setzte sich neben sie und einen Moment lang herrschte unangenehme Stille, oh, wie er das hasste, aber dann sah sie ihn lächelnd an und sagte: »Wow, die Uhr ist aber ganz schön laut.«
Er war natürlich völlig perplex und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Doch dann brach ihr warmes Lachen hervor und lud ihn dazu ein, mitzulachen. Er war froh, dass sie hier war. Ihr schwarzes Haar erschien noch viel lockiger, seit sie es kurz trug. Ihre Augen waren blau, dunkelblau, daher auch ihr Name, wie sie ihm eines Tages erklärte.
Aber das ist jetzt egal. Jetzt zählen die Aufschriebe. Nicht die Ruhe, die sie in seinem Zimmer hinterlassen hat, diese unbefriedigende Ruhe, die nur von dem Ticken der Uhr unterbrochen wird. Die Uhr, die schreit, die ihren Namen schreit, Ni-la, Ni-la, unaufhörlich. Er hätte das nie für möglich gehalten, als sie damals auf seinem Bett saß und ihre Bemerkung machte.
Dass eine im ersten Moment so irrelevante und alltägliche Handlung sich so sehr in das Gedächtnis einprägen kann. Dass die eigenen Gedanken sich nur noch damit beschäftigen, nicht direkt von diesem Moment an, aber jeden Tag ein bisschen mehr. Dass die Uhr jetzt keine Uhr mehr ist, sondern etwas, das Nila zu laut war. Etwas, zu dem Nila eine Meinung hatte. Etwas Wertvolles.
Er starrt auf seine Aufschriebe und weiß: Nila hat das gewusst. Alle Gedanken, die jetzt durch seinen Kopf strömen, hat sie bereits gekannt.
Jetzt kennt er sie auch, die Gedanken. Aber er weiß nicht, wohin damit.
Er ist wieder in alte Muster verfallen, seit sie weg ist. Er ist wieder das, was er vor Nila gewesen ist.
Nur die Uhr, diese verdammte Uhr. Sie erinnert ihn daran, dass es eine Zeit gegeben hat, in der er nicht über seine Aufschriebe gebeugt am Schreibtisch saß. Eine Zeit, in der alles an ihm anders war. In der er anders war.
»Nein«, murmelt er, »Menschen ändern sich nicht, Nila.«
So viele Worte in ihm.
Keins davon kann diesen Moment beschreiben.
*
Sie lernten sich vor einem Jahr im Regen kennen.
Draußen schien zwar die Sonne, aber in Tom regnete es seit einer ganzen Weile. Absurderweise bemerkte er es nicht. Er hatte den Moment verpasst, in dem er sich selbst entglitten war. Sein Blick war trüb, seine Augen leer und sein Geist abgestumpft, aber von außen betrachtet funktionierte er gut und alle lobten ihn für seine Leistungen. Nur darauf kam es an, oder nicht?
Trotzdem erzählte er einige Monate später seiner Mutter, er habe Nila im Regen kennengelernt. Dass er damit nicht den wirklichen Regen meinte, das verschwieg er. Irgendwie fand er es auch schwachsinnig.
Tom saß im Stadtpark auf einer Bank und war in den Laptop vertieft, der auf seinen Beinen thronte. Er war völlig in seinem Geschriebenen versunken, seine eigenen Finger nahm er dabei kaum wahr. Tom mochte es, wenn er einfach arbeiten konnte, ohne dass ein Park oder Spaziergänger im Weg waren.
Natürlich setzte sie sich neben ihn. Es war Nila. Wie hätte sie sich nicht neben ihn setzen können?
In einiger Entfernung stand eine freie Bank. Aber natürlich setzte sie sich lieber neben ihn. Zwar in respektvollem Abstand, aber dennoch. Das war Tom noch nie passiert.
Er nahm es also zur Kenntnis und versank anschließend wieder in seiner Zusammenfassung.
Sie schlug ein Buch auf und begann, darin zu lesen. Der schwarze Einband war leicht lädiert.
Und so saßen sie, zwei Fremde auf einer Parkbank, und schwiegen. Nebeneinander, aber nicht beieinander. Tom stellte sich darauf ein, dass es eine der vielen unbedeutenden Begegnungen in seinem Leben sein würde, genau, wie seine Zusammenfassung eine von vielen unbedeutenden war. Daran war nichts auszusetzen. Tom war seit einiger Zeit selbst ziemlich unbedeutend geworden und hatte nicht vor, damit aufzuhören. Er erhielt Anerkennung für seine Reife und seine Leistungen, er hatte außer der Beendigung seines Studiums keine Ziele, er brauchte keine Menschen. Tom war einfach da und machte das gut, was er gut machen sollte. Er war der Vorzeigemann, er war der Sohn, auf den man stolz war, der Schüler, den man beneidete und der Student, der an den anderen vorüberzog. Ganz im Gegenteil zu seinem Bruder.
Leicht schüttelte er über sich selbst den Kopf. So viele Gedanken. Das Mädchen neben ihm wirkte völlig ruhig. Als wäre sie wahrhaftig im Buch mit dem lädierten Einband versunken. Tom wollte nicht, dass seine Konzentration gegen Nila verlor, aber es fiel ihm zunehmend schwieriger, gedanklich beim Text zu bleiben. Er tippte immer verbissener.
Nach einiger Zeit klappte Nila ihr Buch zu und lehnte sich zurück. Tom versuchte, das zu ignorieren, aber er konnte es nicht. Im Grunde ging ihn Nila nichts an. Keiner der Menschen hier ging ihn etwas an. Dennoch wandte er sich von seinem Laptop ab und betrachtete sie. Ihr Hinterkopf lehnte an der Rückenlehne, sie hatte die Augen geschlossen, das Kinn zum Himmel und der Sonne emporgestreckt. Ihre langen lockigen Haare fielen über die Rückenlehne der Parkbank. Nila sah aus wie jemand, der ans Meer denkt.
Tom runzelte die Stirn und wunderte sich über seine eigenen Gedanken, die ihm fremd erschienen. Kurz versuchte er, zu ergründen, wieso sie einfach nur dasaß. Nila wirkte so losgelöst von der Welt und dabei zufrieden. Ihr gesamter Körper war eins mit der Bank und zeitgleich frei von allen äußeren Einflüssen. Auch Toms Blick schien sie nicht auf sich zu spüren, denn ihre Augen blieben geschlossen.
Er kam zu dem Schluss, dass sie ihre Zeit nicht besser zu nutzen wusste. Vielleicht verachtete er sie auch ein klein wenig dafür, dass sie einer dieserMenschen war. Ein Begriff, den seine Mutter geprägt hatte: Man war einer dieser Menschen, wenn man sich treiben ließ, wenn man seine Pflichten vernachlässigte und wenn man seine Zeit verschwendete. Wie diese Künstler. Wie Musiker. Wie dein Bruder. Wieso macht er denn nur nichts aus sich? Seinen Ausbilder kann ich gar nicht mehr erreichen. Was haben wir nur falsch gemacht? Ich wusste von Anfang an, dass wir ihm dieses … dieses Instrument nicht hätten schenken dürfen.
Tom schaute also wieder in seinen Laptop hinein und versuchte, wieder zu versinken, als Nila plötzlich sprach. Sie öffnete ihre Augen nicht und blieb in ihrer Position verharren.
»Was machst du denn da eigentlich?«, fragte sie.
Er sah sie an. Blickte sich in der Umgebung um. Außer ihm war niemand in der Nähe, der sie hätte hören können. Sie musste ihn meinen.
Trotzdem fragte er: »Ich?«
Sie öffnete ihre Augen und blinzelte der Sonne entgegen, ehe sie ihren Blick auf ihn richtete. Ansonsten blieb sie sitzen, als gäbe es ihn nicht. Sie zeigte keinerlei Intentionen, sich aufrecht hinzusetzen. Toms Finger zitterten leicht, fast unmerklich, über der Tastatur. Als wollten sie den Moment des Weiterschreibens bloß nicht verpassen.
»Wer sonst?«, fragte sie. Ihre Stimme war warm und ruhig, ihr Blick amüsiert und provokativ. Tom wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
Er zuckte mit den Schultern. Biss die Zähne zusammen.
Sie schwiegen.
Nila runzelte die Stirn. »Also?«
Wieder zuckte er mit den Schultern. »Schreiben.«
Etwas in ihren Augen schien aufzuleuchten. Tatsächlich setzte sie sich auf. »Was schreibst du denn?«
Tom blickte zu seinem Laptop und lachte kurz auf. »Eine Arbeit über Alzheimer.«
Toms Körper entspannte sich. Er öffnete seinen Mund ein wenig, um seine Zähne nicht mehr aufeinanderzupressen. Ohne es zu bemerken hatte er seine Schultern hochgezogen, nun ließ er sie sinken. Angeblich Symptome von Stress, von dem er sich einredete, ihn nicht zu haben.
Nila sah nicht überzeugt aus. »Du studierst?«
Tom sah sie wieder an. »Ja. Neurowissenschaften.«
»Ach so«, sagte sie. Dann schloss sie ihre Augen und lehnte sich wieder zurück. Verrückterweise begriff er erst in dem Moment, in dem sie ihre Augen schloss, wie unheimlich blau sie waren. Ein solches Blau hatte er noch nie gesehen.
Nach einer Weile bemerkte Tom, dass er sie immer noch ansah. Sie hingegen wirkte wieder völlig in sich selbst versunken. Er kam sich minderwertig vor, und das mochte er nicht. Tom, der sonst von allen Seiten Lob und Zuspruch bekam, war es außerdem nicht gewohnt, sein Studienfach mit einem lieblosen »Ach so« kommentiert zu bekommen. Kurzum: Nila war einer dieserMenschen.
»Und du?«, fragte er.
Sie öffnete ihre Augen wieder, sah aber in den Himmel und nicht in sein Gesicht. Als gäbe es nichts Spannenderes als die Wolken, die in Zeitlupe vorüberzogen.
»Ich studiere nicht«, sagte sie.
»Also machst du eine Ausbildung?« Schon während er es aussprach, fühlte er sich überlegen.
»Kann man so sagen«, sagte sie und dann sah sie ihn endlich wieder an. »Wieso?«
Er zuckte mit den Schultern, schon wieder. »Du wirkst nicht so begeistert von Neurowissenschaften.«
Nila lächelte leicht und deutete dann auf seinen Laptop. »Quatsch. Ich war nur enttäuscht, dass du das als Schreiben bezeichnest.«
Er folgte ihrer Geste mit seinem Blick und blieb am offenen Word-Dokument hängen.
»Na ja«, sagte er, »Das ist Schreiben.«
»Finde ich nicht«, sagte sie.
»Das ist mir egal«, entgegnete er und war selbst überrascht von seiner Wortwahl. Nila runzelte die Stirn und schloss ihre Augen erneut.
Tom starrte auf den Laptop. Vielleicht wollte Nila darauf hinaus, dass es nicht seine eigenen Gedanken waren, die er aufschrieb. Seine Arbeit war eher eine Zusammenfassung der Gedanken anderer Leute. Bedeutender Leute. Eine Zusammenfassung, die sich in die unbedeutenden benoteten Schriftwerke aller Studenten einreihen würde. Vielleicht war es das, was sie störte.
Sein Blick fiel zum ersten Mal auf das Buch in ihrem Schoß. »Der Fremde?«, fragte er mehr, als dass er es feststellte. Doch Nila schenkte ihm keinen Blick mehr, nur noch ein Wort.
»Ja.«
»Camus?«, fragte er wieder.
»Ja.«
»Den hatten wir mal in der Schule«, sagte Tom, »Existenzialismus.«
Ihre Augen öffneten sich wieder. Allmählich kam Tom sich vor, als würde sie ihn für besonders geistreiche Beiträge belohnen. Als wäre er ihr nicht ebenbürtig und müsste sich mit jedem Wort neu beweisen.
»Hattest du Philosophie?«, fragte sie.
»Nein«, sagte er, »Aber unser Deutschlehrer hat oft über ihn gesprochen. Der war sehr vernarrt in ihn.«
»Klingt nach einem guten Deutschlehrer.« Nila lächelte dem Himmel entgegen.
»Hielt sich in Grenzen«, sagte Tom. Und dann, völlig perplex über seine Unfähigkeit, das Gespräch am Laufen zu halten: »Interessierst du dich für Philosophie?«
Zu seinem Erstaunen richtete sich die Fremde wieder auf und sah ihm in die Augen, fest und klar. Und blau.
»Sehr«, sagte sie, »und du?«
Tom wollte ihren Blick nicht verlieren, aber auch nicht lügen. Also sagte er: »Ich bin übrigens Tom.«
Sie runzelte kurz die Stirn, dann nickte sie. Aber der Blick blieb. »Nila.«
Und dann sagte Tom wieder etwas, das er eigentlich nicht sagen wollte. »Ich spreche sonst nie mit Leuten auf Parkbänken.«
Diesmal schenkte Nila ihm nicht nur ihren Blick und ihre Worte, sondern auch ein Lächeln. »Nein? Ich schon.«
»Und?«, fragte er und wurde sich darüber bewusst, dass er furchtbar einfältig klang, »Was erzählen die so?«
Nila lächelte weiterhin. Das war schön. »Dass sie Neurowissenschaften studieren, zum Beispiel.«
»Klingt langweilig«, sagte er in der Hoffnung, sie zum Lachen zu bringen.
»Ist es auch«, sagte sie und lachte tatsächlich kurz auf, »Unheimlich.«
»Ich würde an deiner Stelle aufhören, mit solchen Menschen zu reden. Das ist doch Zeitverschwendung.«
»Quatsch«, sagte sie, »Ich muss doch mit ihnen sprechen. Nur so kann ich lernen, sie zu verstehen.«
»Und? Verstehst du sie?«
Nila legte sich die Hand ans Kinn, als wollte sie ihr viel zu großes Lächeln verbergen. Stattdessen kam es durch diese Geste nur noch mehr zur Geltung. »Wollen sie denn verstanden werden?«
Tom gab ihr seine Telefonnummer.
2
Tom hat in seinem gesamten Leben niemals Schlafprobleme gehabt und er wird jetzt nicht damit beginnen. Das sagt er sich seit zwölf Nächten, weil er nicht mehr einschlafen kann.
Während er jetzt im Bett liegt, wirkt die Erinnerung an das erste Gespräch mit Nila sehr weit weg. Als wäre es gar nicht wirklich passiert, schon gar nicht ihm. Er versucht, sich selbst in seinen Erinnerungen zu erkennen, aber er kann es nicht. Er ist der Tom vor Nila, und er ist der Tom nach Nila. Aber während Nila erkennt er sich nicht.
Das war ihm damals schon aufgefallen, als sie noch bei ihm war. So viele Momente des Andersseins. Die Zugfahrt nach Basel, zum Beispiel. Wie Nila am Freitagabend aus einem Impuls heraus vorschlug, am nächsten Tag in die Schweiz zu fahren.
»Wir beide in der Kulturhauptstadt, stell‘ dir das mal vor«, sagte sie, »Wenn du nicht willst, müssen wir uns auch keine Museen oder so anschauen. Ich will die Stadt als Ganzes auf mich wirken lassen und einen Hauch von dem spüren, was Nietzsche und Hesse früher gespürt haben. In meine Umgebung blicken und einfach sein. Der Duft des Frühlings auf meiner Haut.«
Tom sah sie einen Moment lang nur an, dieses wunderschöne und verträumte Gesicht. Und dann holte er sein Handy hervor und buchte den Zug.
Sie verbrachten einen Tag in Basel, liefen durch die Altstadt und ließen die Atmosphäre auf sich wirken. Der Tom während Nila konnte das, Dinge auf sich wirken lassen. Der Tom während Nila fuhr spontan in Summe etwa zehn Stunden Zug, um einen Hauch von dem zu spüren, was irgendwelche Leute einmal gespürt haben mochten. Der Tom während Nila sagte nicht, dass ein Ausflug zuallererst sorgfältig geplant werden musste, dass ihm das einfach zu spontan war und dass ihn Kultur an sich eigentlich überhaupt nicht interessierte.
Wie dumm, ermahnt er sich.
Über solche Sachen macht Tom sich sonst keine Gedanken. Am liebsten möchte er sich gar nicht mit seinen Erinnerungen beschäftigen. Wozu auch? Sie sind längst vergangen, vorbei, kurzum: nicht mehr relevant.
Tom ist eben da, er ist einfach Tom. Was macht es schon, dass er während der Zeit mit Nila ein bisschen anders war? Wieso sollte er das analysieren, auseinandernehmen und unnötig dramatisieren? Er war damals anders, okay, aber jetzt ist er wieder Tom.