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»Wir dachten die ganze Zeit, der Unsichtbare wäre der am wenigsten Greifbare von uns, aber am Ende hat sich herausgestellt, dass ich das war.« Sechs Personen. Ein Verbrechen. Die Konsequenzen. Anstelle eines Gefängnisses findet sich die Gruppe nach der Verurteilung in einem Gebäudekomplex wieder, in dem eiserne Regeln gelten. Zwischen Überfluss und Verzicht stehend wird ihnen klar, dass nichts mehr so sein wird, wie es einst war. Und die große Frage: Was passiert, wenn aus einem Wir ein Ich wird?
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Seitenzahl: 249
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Über die Autorin
Verba Volant, das ist eine Autorin, die eigentlich gar nicht Verba Volant heißt. Geboren in einem Jahr und aufgewachsen im Irgendwo hat sie sich in der Literatur verloren und schreibt leidenschaftlich gern selbst Bücher. »Wir … denke ich« ist ihr Debütroman.
WREADERS E-BOOK
Band 215
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2023 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Druck: epubli - Neopubli GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Leyla Grayer
Lektorat: Matthias Haak, Annina Anderhalden
Satz: Elci J. Sagittarius
www.wreaders.de
ISBN: (NEU)
Für dich,
für mich,
für uns
Wir
Einer von uns war unsichtbar. Deshalb gaben sie ihm blaue Schuhe.
Wir anderen hingegen waren klar zu erkennen. Da war das Mädchen, das mir ähnlicher war als ich mir selbst. Diese Erkenntnis traf mich jedes Mal wie ein Schlag, wenn ich sie sah. Ich wusste, dass ich in dieser Episode im falschen Körper steckte. Sie war wie ich, sie war mehr ich, als ich es sein konnte. Und dennoch war sie mir fremd. Alle sagten, sie rede nie, doch ich hörte sie.
Dann war da der Andere. Der Andere war groß gewachsen, ein bisschen zu dünn geraten. Ein schelmisches Grinsen in seinen durchschnittlichen Gesichtszügen, ein Zeichen dafür, dass er nicht durchschnittlich war – zumindest nicht immer. Er hätte viel dafür gegeben, durchschnittlich zu sein, und wir alle waren der Meinung, dass das viel besser zu ihm gepasst hätte. Aber manche Menschen haben eine Art Gendefekt, eine Störung, die ihr Inneres so verändert, dass es nicht zu ihrem Äußeren passt. Sie sind es, die sich anders entwickeln als vorhergesehen. Der Andere war ein solcher Mensch.
Auch Die Zwei gehörten zu uns. Der Erste der beiden war ein großer Mann, hager, im Gegensatz zu dem Anderen deutlich zu dünn. Außerdem trug er eine Brille, die seinem Gesicht Form gab, eigentlich war es nur die Brille, die ihn äußerlich auszeichnete. An mehr von ihm erinnere ich mich kaum. Aber die Brille war hellblau, ungewöhnlich, nicht passend. Als würde sie von seinem Gesicht abgestoßen. Er sah aus wie jemand, der nicht in diese Welt passte. Viel zu groß und viel zu wenig Masse, um den Herausforderungen des Lebens etwas entgegensetzen zu können. Jemand, der von so vielen Fehlschlägen gezeichnet war, dass man nicht wusste, ob er bereits wahnsinnig war oder den Wahnsinn noch in seiner inneren Schüchternheit züchtete, bis er groß genug war, um auszubrechen.
Der Zweite war klein, ein wenig zu dick. Er trug einen Dreitagebart und sah sehr seriös aus. Am liebsten trug er einen dunkelblauen Anzug, der ihm wie angegossen saß. Wenn ich recht darüber nachdenke, habe ich ihn nie in etwas anderem als in diesem Anzug gesehen. Ich habe ihn eigentlich nicht gut gekannt. Im Gegensatz zum Ersten wirkte er, als würde er vollends zu unserer Welt gehören. In gewisser Art und Weise ähnelte er dem Anderen, weil er das nicht konnte, und auch er war nicht durchschnittlich. Er war jemand, der in der Welt erfolgreich war, aber dennoch nicht dazugehörte. Der Zweite spielte ganz oben mit, aber am liebsten hielt er sich mit dem Ersten auf; und das war am Boden. Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so leicht mit Einschätzung und Realität spielte wie er. Er wusste viel über die Menschen und er verstand es, sie zu manipulieren. Deswegen war er wohl auch so erfolgreich.
Ich weiß nicht, wie ich aussah und wie mich die anderen wahrnahmen. Ich weiß auch gar nicht, wie ich heute aussehe. Wir dachten die ganze Zeit, der Unsichtbare sei der am wenigsten Greifbare von uns, aber am Ende hat sich herausgestellt, dass ich das war.
Wir saßen draußen, als sie uns holen kamen.
Eigentlich war es ein ganz normaler Tag gewesen. Ich saß neben dem Mädchen und hörte ihm zu, während mir der Andere erklärte, dass es gar nichts sage. Ich hörte nicht auf ihn, also entfernte er sich von uns.
Irgendwo neben uns saßen Die Zwei. Auch sie hörte man selten sprechen, aber sah man die Blicke, die sie miteinander wechselten, dann war das auch nicht notwendig. Die Zwei gehörten zusammen, sie waren nicht zu trennen. Es war, als würde man Leib und Seele betrachten, Psyche und Physis des Menschen. Wechselwirkung, symmetrische Beziehung, das eine geht nicht ohne das andere. Dualismus nennt man das in der Philosophie, aber ich nannte es Die Zwei.
Das Mädchen hatte keine Stimme. Das war eines der Dinge, die sie mir fremd erschienen ließen. Ich wusste, dass sie eine Stimme hatte, die besser zu mir passte als meine eigene, und doch kannte ich ihren Klang nicht. Unsere Gespräche waren anders als normale Gespräche, da mochte der Andere recht haben. Aber ich hörte sie. Es ist schwierig zu beschreiben, wie man einen Klang wahrnehmen kann, den man nicht hört, wie man aus ihm trotzdem Worte formen kann. Doch es funktioniert. Jedes unserer Gespräche war ein Beweis dafür.
Der Unsichtbare war, wie üblich, nicht auszumachen. Manchmal gab er sich zu erkennen, indem er sprach, manchmal verschwand er. Selten trug er Klamotten. Alles am Unsichtbaren selbst war nicht zu erkennen, aber wenn er Kleidung aus unserer Welt trug, dann sahen wir diese. Laufende Kleidung. Es war ein sehr befremdliches Gefühl zu wissen, dass er sonst immer nackt war. Das Mädchen fühlte sich oft unwohl deswegen und weil das Mädchen eigentlich ich war, gefiel mir das auch nicht.
Der Andere saß jetzt bei den Zweien und gehörte nicht dazu. So wirklich gehörte keiner von uns zu den Zweien. Ich weiß gar nicht, wieso sie gerade mit uns Zeit verbrachten, wo sie im Grunde doch ohnehin nur einander brauchten. Oft dachte ich, dass sie uns nur ausgewählt hatten, weil wir sie als Einheit akzeptierten. Ich habe nie mit ihnen darüber gesprochen, wir alle haben überhaupt selten miteinander gesprochen.
Sie kamen in Autos. Das Mädchen sah sie zuerst.
Ihr fremdes und mir so vertrautes Gesicht runzelte die Stirn, als sie über mich hinweg zur Straße blickte, auf der das erste Auto eintraf. Es war ihr zu laut und als ihr Blick wieder auf mir landete und ich in ihre von mir gefüllten Augen blickte, war ich sicher, dass sie log, dass sie sich nur einen Spaß erlaubte. Sie fragte, ob es klüger sei, jetzt zu rennen. Ob wir jetzt alles zerstören würden, weil wir zu langsam reagierten. Aber ich weigerte mich, mich umzudrehen. Das war der erste Fehler.
Der zweite Fehler war der Erste, der auf das Auto zuging.
»Gibt es ein Problem?«, fragte er. Der Zweite stand stumm hinter ihm, eine Zigarette im Mund, bereit einzugreifen, wenn dem Ersten etwas passieren sollte. Der Blick wachsam, die Augen lauernd auf den Personen ruhend, die ausstiegen. Er rückte seine Krawatte zurecht und stellte sich selbst möglichst aufrecht hin. Obwohl er so klein war, sah es nicht lächerlich aus, weil er es so überzeugt tat. Er war ein Meister der Täuschung.
Der dritte Fehler war der Unsichtbare, der just in diesem Moment aus dem Gebüsch trat. Er war zwar heute keine gehende Kleidung, aber dafür gehende Blätter mit ein bisschen Staub. Außerdem hatte er links, auf seiner linken Brust vielleicht, einen roten Fleck. Ich weiß nicht mehr, woher er stammte, aber er war groß und er schwebte. Er zeigte an, wo der Unsichtbare war. Ich wunderte mich, dass ich diesen Fleck die ganze Zeit davor nicht gesehen hatte.
Als immer mehr Autos eintrafen und den Ort, an dem wir saßen, zu umstellen schienen, stand das Mädchen mit leerem Blick und unbewegter Mimik auf. Was denn jetzt sei, fragte ich sie, aber sie antwortete mir nicht und ging wortlos zu den Zweien, die gerade von ihnen angeschrien wurden. Auf die Knie, Hände hinter den Rücken.
Mein Kopf dröhnte, als ich mich zum ersten Mal umdrehte und erkannte, dass das Mädchen recht gehabt hatte. Mit erhobenen Händen lief sie auf die Autos zu. Sie waren laut und blinkten, mein Kopf … Der Andere stand ein wenig abseits, ähnlich wie ich. Er warf mir einen Blick zu.
»Mein Kopf«, formte ich mit meinen Lippen.
Er runzelte nur die Stirn.
Ich saß immer noch da, als sie mich holten. Sie fassten mich grob an, drehten meine Arme hinter den Rücken. Aufstehen, aufstehen, sofort.
»Mein Kopf«, sagte ich nur, aber ich stand auf. Woher sollten sie wissen, dass ich schon immer chronische Kopfschmerzen gehabt hatte, ich konnte es ihnen nicht übel nehmen und gerade fehlte mir die Kraft, ihnen die Situation zu erklären. Überhaupt verstand ich gar nicht, was das hier sollte, wer sie waren, woher sie kamen und wieso sie mir meine Freunde wegnahmen, jeden in einem getrennten Auto. Sogar Die Zwei, sie trennten sogar Die Zwei. Das war nicht richtig, wenn ich eines wusste, dann das. Ich bin mir auch sicher, sie hätten das verstanden, hätten sie sich auf eine Erklärung eingelassen, aber wir durften gar nichts sagen.
Vielleicht waren wir eine seltsame Konstellation an Menschen und vielleicht passten wir auch nicht so gut, wie wir passen sollten, aber uns deswegen so zu behandeln, war mir unbegreiflich. Sie nahmen sogar den Unsichtbaren mit. Offenbar hatten sie verstanden, wie das funktionierte, denn sie gaben ihm hellblaue Schuhe. Diese Schuhe durfte er nicht abnehmen, damit sie ihn überall erkennen konnten. Sie passten zu der Brille vom Ersten.
Dennoch ging ich freiwillig mit. Ich hoffte, dass sich alles klären würde, aber eigentlich glaubte ich schon in diesem Moment nicht mehr daran. Es war die Art, wie sie uns behandelten. Sie würden uns nicht wieder gehen lassen. Ich dachte an den Fleck auf dem Unsichtbaren und ärgerte mich, dass ich ihn nicht darauf angesprochen hatte. Aber das hätte ich eigentlich nicht gemusst, weil ich davon wusste. Es war das Gleiche wie mit dem Mädchen, schwierig zu beschreiben. Etwas zu wissen, ohne es zu wissen.
Generell waren wir alle schwierig zu beschreiben und erst recht fällt es schwer, das in Worte zu fassen, was uns miteinander verband. Vielleicht war da auch gar nichts, mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher. Aber es fühlte sich an, wie wir alle dachten. Und als ich hinten in dem Auto saß, allein, ohne die anderen, da wusste ich trotzdem, was sie dachten.
Der Zweite wollte gelassen wirken, um sich selbst und den Ersten aus der Situation herauszuholen. Er konnte wie einer von ihnen erscheinen, wenn er sich anstrengte. Vielleicht würde er auch den Rest von uns herausholen, wenn es dazu reichen sollte. Der Erste blieb ruhig, weil er wusste, dass der Zweite ruhig blieb und der Zweite solche Situationen unter Kontrolle hatte.
Das Mädchen blieb ruhig, weil es immer ruhig war. Vielleicht runzelte sie nachdenklich die Stirn und dachte an ihre Zukunft. Sie dachte viel. Sie war, wie ich sein sollte.
Der Andere blieb ruhig, weil er überfordert war. Wenn es ernst wurde, versteckte er sich hinter seiner Durchschnittlichkeit. Durchschnittlichkeit ist perfekt, um sich zu verstecken. Vielleicht dachte er, er könne sich dadurch retten.
Der Unsichtbare blieb ruhig, weil er sich schämte. Er schämte sich, weil ihn nun zum ersten Mal Leute in seinem Wesen wahrnahmen, die nicht wir waren.
Ich blieb ruhig, weil ich Kopfschmerzen hatte.
Sonst hätte ich geschrien.
Ich saß lange Zeit mit einigen von ihnen in einem Zimmer. Sie versuchten, mit mir zu reden, aber ich sagte ihnen bereits zu Beginn, dass ich nicht reden wollte. Zumindest nicht mit ihnen.
»Gebt mir das Mädchen«, sagte ich. »Dann rede ich.«
Aber zuerst gaben sie mir das Mädchen nicht und es sah so aus, als würde ich keinen von uns wiedersehen. Also schwieg ich. Ich schwieg, als sie schrien, und ich schwieg, als sie mir die Hand auf die Schulter legten, ich schwieg, als sie mich bedrohten, und ich schwieg, als sie mir sagten, sie könnten mich irgendwie verstehen. Ich sagte sehr lange nichts, so lange, dass ihre Fragen sich veränderten. Aber ich hatte auch keine Lust auf veränderte Fragen. Manchmal baten sie mich zu trinken – es stand ein Glas Wasser vor mir –, aber ich weigerte mich. Ich wollte nicht reden, nicht trinken, nicht essen, nicht schlafen. Es war, als verbrächte ich Ewigkeiten so. Irgendwann hörte ich auf, ihnen zuzuhören, und dachte stattdessen an uns. Ob Die Zwei wohl immer noch getrennt waren? Das wäre unmöglich vorstellbar. Außerdem war ich mir sicher, dass sie das Mädchen gar nicht hören konnten. Es gab viele Probleme, wenn ich so darüber nachdachte, und das war nicht gut. Ich fühlte mich sehr allein.
Sie boten mir an, mich zurück zu uns zu bringen, wenn ich ihre Fragen beantwortete. Ich sagte, das sei eine schwache Taktik. Ich würde die Fragen beantworten, wenn wir alle hier seien. Sonst nicht. Zuerst musste ich etwas bekommen. Ich wusste, dass es sonst ein leeres Versprechen wäre. Schon mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, dass ich für dumm gehalten wurde, und das mochte ich nicht. Nur bei uns fühlte ich mich wohl.
Ich weiß nicht, wann es war, aber irgendwann führten sie das Mädchen herein. Anscheinend sprach auch sie nicht. Ich unterdrückte meinen Kommentar, dass sie sie lediglich nicht hörten. Vielleicht hätten sie mich sonst nicht nur für dumm, sondern auch für verrückt gehalten. Es ist alles verrückt, was sie nicht verstehen können. Es würde ihnen Angst machen, wäre es Wirklichkeit. Darum tun sie, als wäre es falsch. Aber wie kann etwas objektiv falsch sein?
Das Mädchen wurde neben mich gesetzt, mit genügend Abstand, natürlich. Ihre dünnen, schönen Arme waren hinter ihrem Rücken an den Handgelenken zusammengebunden und erst, als ich sie dort so sitzen sah, wurde mir klar, dass auch meine Arme sich in dieser Position befanden. Wieder war sie mir fremd und doch zugleich ich. Ich kam mir einmal mehr unendlich falsch vor, hätte in ihren Körper gehört. Die nicht zu stillende Sehnsucht, eigentlich hatte ich mich an sie gewöhnt, doch in diesem Moment schien sie mich zu überwältigen. Das Mädchen sagte mir mit ernstem Blick, ich solle mich bitte beruhigen, wir ständen unter Beobachtung. Also beruhigte ich mich.
»Wo sind wir?«, fragte ich, aber sie verstanden die Frage nicht.
»Mir fehlt der Rest von uns«, sagte ich, das verstanden sie.
Der Zweite hatte gesprochen, deswegen konnte er nicht hierher. Man wollte prüfen, ob ich das Gleiche sprach wie er. Der Zweite hatte gesprochen, weil man ihm ein Angebot unterbreitet hatte. Das Angebot betraf ihn und den Ersten. Der Erste hatte nicht gesprochen, nicht aus freien Stücken. Also hatte der Zweite für ihn gesprochen. Offenbar war das wegen des Angebots möglich, weil der Erste ebenfalls eingewilligt hatte.
»Dürfen sie gehen?«, fragte ich.
»Nein«, sagten sie. »Keiner von euch darf gehen.«
Das deprimierte mich, aber ich konnte es auch verstehen. Sie wussten ja gar nicht, wer wir waren und überhaupt wieso. Wir wussten das selbst auch nicht so genau, obwohl wir es wissen sollten, zumindest ihrer Ansicht nach.
Der Andere hatte gelogen, und zwar so sehr gelogen, dass es offensichtlich war. Deshalb musste auch er bleiben. Sie sagten mir, er habe geweint und schließlich doch gesprochen. Es sei nicht schlimm zu sprechen. Ich war überzeugt, dass sie mich anlogen, denn der Andere hatte noch nie geweint und würde auch jetzt nicht damit anfangen. Auf jeden Fall versicherten sie mir, dass der Andere jetzt bei den Zweien sei, weil sie das Gleiche erzählt hätten.
»Wieso sollte das nicht gelogen sein?«, fragte ich.
Das Mädchen neben mir schwieg, den Kopf gesenkt. Auch sie schwiegen und erzählten mir stattdessen vom Unsichtbaren. Auch der hatte gesprochen und war jetzt bei dem anderen Teil von uns.
»Heißt das«, fragte ich, »dass wir auch zu uns kommen, wenn wir sprechen?«
Sie hätten so etwas noch nie erlebt, sagten sie. Nicht in dieser Konstanz, nicht, dass jeder das so einheitlich und vehement forderte. Es gäbe nur eine Möglichkeit, unter der wir alle vereint bleiben könnten, und es könnte sein, dass wir es bereuen würden. Sie erzählten von einem speziellen Ort für spezielle Leute. Ein geheimer Ort. Ein Ort, den man nach dem Betreten nie wieder verlassen würde, schon allein deshalb, weil er geheim bleiben müsse.
Ob wir sonst für immer getrennt blieben, wollte das Mädchen wissen und ich stellte ihre Frage. Die Antwort war ein klares Ja. Länger als eine lebenslange Haftstrafe, bis zu unserem Tod, aber in relativ guten Verhältnissen. Oder eben der geheime, gefährliche Ort.
Es war nur eine augenscheinliche Wahl, im Grunde konnten wir alle nicht wählen. Wie auch? Wir gehörten zusammen. Was war das Mädchen ohne mich und was war ich ohne das Mädchen? Was geschah mit dem Ersten, wenn er dem Zweiten entrissen wurde, und was mit dem Zweiten? Was geschah mit dem Anderen, wenn er nicht mehr der Andere war? Und der Unsichtbare, der nur von uns wirklich begriffen wurde?
Natürlich sprachen wir alle. Natürlich entschieden wir uns alle für den Ort.
Dabei sprach ich für das Mädchen, wie der Zweite für den Ersten gesprochen hatte. Sie nickte nur. Sie sah müde aus. Dabei war ich es, der müde war. Ich lieh ihr meine Stimme, obwohl ihre Stimme die meine war. Das war das Problem, das mich schon immer beschäftigt hatte. Es war, als würde sie mir zeigen, wie ich war, und mir gleichzeitig verwehren, wirklich so zu sein. Und dann war sie wieder fremd und im selben Moment viel mehr ich, als ich es je sein konnte. Deshalb kam ich nie von ihr los. Ich lebte ein falsches Leben.
Einmal, als wir alle bei dem Ersten im Garten gesessen hatten, hatte der Zweite mich den Falschen genannt. Es war ihm einfach über die Lippen gekommen, als hätte er das schon oft gesagt, aber das hatte er noch nie. Wahrscheinlich hatten wir alle Namen füreinander, aber es war das erste und das einzige Mal, dass ich mich daran erinnern konnte, dass mich jemand damit angesprochen hatte. Ich hatte ihn gefragt, wieso ich der Falsche in unserer Gruppe sei. Der Zweite hatte seine Zigarette geraucht und mich aus verkniffenen Augen angesehen. Er hatte gesagt, wenn alles scheitere, dann scheitere es an mir. Ich war in jeder Hinsicht falsch und in keiner Hinsicht richtig. Und doch gehörte ich dazu. Er hatte das nicht negativ gemeint, wie er mir auch versichert hatte, es war einfach sein Empfinden. Ich meinte es schließlich auch nicht negativ, wenn ich den Anderen den Anderen nannte. Wir hatten eben alle unsere Namen.
Ich wusste, dass sie nicht logen. Dennoch war ich erleichtert, als ich uns wieder sah. Wir wurden in einem Raum zusammengeführt, alle die Arme hinter dem Rücken, auch die Füße durch Fußfesseln aneinander gekettet. Wir durften nicht näher als einen Meter an die anderen heran. Um jeden von uns standen zwei kräftige Männer. Später nannten wir sie die Wächter.
Sie machten das, damit wir wussten, dass sie nicht gelogen hatten. Trotzdem sollte jeder von uns danach in ein anderes Auto steigen, bis auf Die Zwei, die sich eins teilen durften. Ich war froh darüber, dass wenigstens sie verstanden wurden. Danach wollten sie uns zu dem Ort bringen.
»Hallo«, sagte ich zu dem Zweiten, aber dadurch, dass wir belauscht wurden, war alles anders als früher. Sie hatten uns versichert, dass kein Wort von uns schaden könne, weil wir den größtmöglichen Schaden bereits tragen mussten. Aber allein die Tatsache, dass wir in einer Menge von ihnen standen, war deprimierend. Sie waren doppelt so viele wie wir.
»Hallo«, sagte der Zweite.
»Und?«, fragte ich und wollte damit wissen, ob es denn nun wirklich an mir gescheitert war. Aber der Zweite wich meinem Blick aus, sah verkniffen zum Ersten hoch, der neben ihm stand und nahezu ängstlich zu ihm hinunterblickte. Sie waren zwei Extreme, die sich gegenseitig anzogen. Es gab keine Mitte. Der Andere war überzeugt davon, dass sie miteinander schliefen. Ich glaube, er war in einigen Aspekten zu durchschnittlich, um Höheres zu begreifen.
»Hör mal«, hatte der Andere an diesem einen Abend zu mir geflüstert, als der Rest von uns schon vorausgegangen war, um sich zu verabschieden. Wir hatten immer noch im Garten gestanden, ein bisschen aufgeräumt, obwohl es der Garten von dem Ersten gewesen war. Wir trafen uns stets beim Ersten oder beim Anderen. Zum Zweiten durften wir nicht, weil sein Leben sich sehr von dem unseren unterschied. Vom Mädchen wusste niemand, wo es überhaupt wohnte, auch ich nicht. Der Unsichtbare sagte, er lebe in einem unsichtbaren Haus und niemand von uns wagte, das anzuzweifeln. Wieso wir uns nie bei mir trafen, das weiß ich gar nicht mehr.
»Hör mal«, hatte der Andere also geflüstert. »Findest du das nicht seltsam?«
»Was finde ich nicht seltsam?«, hatte ich gefragt.
»Na, Die Zwei«, hatte er gesagt. Wir alle nannten Die Zwei Die Zwei. Manchmal hatten wir die gleichen Namen füreinander.
»Wieso?«, hatte ich gefragt.
»Dass der Zweite immer noch dableibt, auch wenn wir alle gehen.«
»Das ist nicht seltsam«, hatte ich gesagt. »Denk doch mal darüber nach: Die Zwei leben in einer perfekten Symbiose. Ich habe sie noch nie getrennt voneinander gesehen. Ich glaube, sie müssen sich selbst sehr wehtun, um sich zu trennen. Ich glaube, deshalb machen sie das nie vor unseren Augen.«
Der Andere hatte mich angesehen, als würde er mich für dumm halten. Zum Glück wusste ich, dass niemand von uns mich tatsächlich für dumm hielt, sonst hätte ich schreien müssen und vom Schreien bekomme ich Kopfschmerzen.
»Ich glaube, die haben was miteinander«, hatte er schließlich gesagt. »Ich glaube, die treiben es. Das ist das schmutzige Geheimnis vom Zweiten, das ihn alles kosten könnte, was er sich aufgebaut hat. Der Erste ist einfach nur verliebt und verzweifelt. Dir ist doch auch aufgefallen, dass er jemand ist, der wahnsinnig werden könnte. Ich glaube, er wird es nur wegen dem Zweiten nicht.«
»Wegen des Zweiten«, hatte ich korrigiert.
»Der Zweite ist die letzte Hoffnung vom Ersten und der Erste ist das Geheimnis des Zweiten.«
»Das denke ich nicht«, hatte ich gesagt und dann hatte ich keine Lust mehr auf das Gespräch gehabt.
Jetzt standen wir also in diesem Raum und Die Zwei sahen sich an und ich musste wieder an diese Worte denken. Lag da tatsächlich etwas in ihrem Blick? Zum ersten Mal in meinem gesamten Leben war ich mir dessen nicht sicher und ich schwankte, woraufhin einer der Wächter mich direkt am Arm packte. Ich solle nichts versuchen.
»Was versuchen?«, fragte ich, aber ich erhielt, wie so oft in meinem Leben, keine Antwort.
Sie sagten, dass wir sehr wenig reden würden, dafür, dass wir doch so unzertrennlich seien. Wir würden mehr reden, sagte der Zweite, wenn wir uns nicht in einer derart erzwungenen Situation befänden. Ich mochte die Ausdrucksweise des Zweiten schon immer, weil sie stets präzise und korrekt war. Er sprach ganz anders als der Erste.
Ob das jetzt reiche, fragten sie.
Dass es nie reichen werde, sagte der Andere.
Offenbar nannten sie die Aussage des Anderen keine Aussage, sondern eine Provokation. Ich wurde von den Männern links und rechts von mir gepackt und aus dem Raum gezerrt, ehe ich überhaupt begriff, was passiert war. Ich bekam Kopfschmerzen, weshalb ich die gesamte Situation erst später in einen sinnvollen Zusammenhang einordnen konnte.
Bald darauf saß ich also in einem Auto, allein und ohne uns. Jetzt, wo meine Worte keine Rolle mehr spielten, wollte ich gern mit ihnen reden. Sie steuerten das Auto.
»Nur ich kann das Mädchen hören«, sagte ich. »Ich habe gelogen, dass sie taubstumm ist. Ihr könnt sie nur alle nicht hören.«
Aber sie gingen nicht auf meinen Gesprächsversuch ein.
Als wir aus unseren Autos stiegen, sagte mir einer der Wächter, ich solle mir ein letztes Mal den Himmel anschauen. Den würde man sonst nicht mehr sehen. Also blickte ich nach oben. Der Himmel war wolkenbehangen und grau. Es sah aus, als würde es bald regnen, auch die Sonne versteckte sich.
»Der Himmel ist heute nicht schön genug«, sagte ich. »Kann ich mir einen anderen Tag aussuchen, um ihn das letzte Mal zu sehen?«
Keiner von ihnen antwortete mir. Der Zweite, der ein wenig abseits von mir stand, rauchte seine letzte Zigarette. »Sei froh, dass du ihn siehst, wie er ist.«
Aber ich war nicht froh. Ich war außer mir. Man hatte uns in die Enge getrieben, wir hatten keine Wahl gehabt und jetzt wurde es uns verboten, den Himmel wieder zu sehen. Und das offenbar letzte Mal sah er einfach nur unglaublich trist und traurig aus. Ich weigerte mich fortan, ihren Empfehlungen zu folgen. Sie waren barbarisch und dienten nur dazu, mich zu quälen. Also bewegte ich mich nicht mehr. Sie mussten mich in das Gebäude schleifen und sagten, ich sei der Unangenehmste der ganzen Truppe. Meine Augen hatte ich verschlossen, weil ich auch das Gebäude nicht sehen wollte. Nichts mehr wollte ich sehen. Ich spürte also nur ihre Hände auf mir, die zudrückten, und den Boden unter meinen Füßen. Er knirschte. Ich glaube, es war Kies. Als die Temperatur sich veränderte und eine Tür zufiel, wusste ich, dass wir irgendwo hineingegangen waren.
Ich sei albern, sagte mir das Mädchen, wieso ich denn jetzt die Augen verschließe. Wie sinnfrei das sei. Selbstsabotage. Das, was ich hier sähe, sähe ich sonst nie wieder und ich selbst nähme es mir weg.
»Immer dieses Nie Wieder«, sagte ich und hielt meine Augen geschlossen.
»Ist ja nett hier«, sagte der Zweite. »Aber ich bezweifle, dass das der Ort ist?«
»Das ist der Schein«, sagte einer von ihnen zustimmend.
»Können wir nicht im Schein bleiben?«, fragte der Erste.
Sie lachten.
»Was seht ihr?«, fragte ich.
»Öffne doch deine Augen, Idiot«, sagte einer von ihnen.
»Das hier ist ein sehr kleiner Raum«, erzählte der Andere, der verstand, dass ich meine Augen jetzt nicht öffnen durfte. »Ich war noch nie gut im Beschreiben. Aber er ist wirklich klein.«
»Ja«, sagte der Unsichtbare. »Wenn man während der Autofahrt aufgepasst hat, hat man bemerkt, dass wir über sehr abgelegene Straßen gefahren sind. Ich habe sogar gedacht, es seien Feldwege, so schmal und verdreckt waren die Fahrtstreifen. Hier ist nicht viel los.«
»Ich glaube, wir sind das Einzige, was hier los ist«, sagte der Zweite.
»Na ja, wir und die«, sagte der Erste.
»Wer?«, fragte ich.
»Hast du The Stand gelesen?«, fragte der Andere.
»Nein«, sagte ich.
»So ziemlich wie dieses Gefängnis sieht es hier aus. Das, in dem die sich zu Beginn des Buches befinden. Also, denke ich mal. Zumindest so habe ich es mir vorgestellt. Klein, wenige Zellen. Nicht viel Platz. Ein paar Personen sind aber drin. Nicht in jeder. Als wären wir auf dem Dorf, wo es nur wenige Verbrecher gibt und sie deshalb nur drei ihrer … Warte …« Der Andere hielt kurz inne.
»Drei ihrer zehn Zellen«, sagte der Zweite.
»Drei ihrer zehn Zellen vollkriegen«, sagte der Andere.
»Es ist zu unbelebt hier für ein Dorf«, sagte der Unsichtbare. »Es ist abgeschiedener.«
»Man könnte meinen, sie bringen hier die Gefährlichsten hin«, sagte der Zweite und ich sah ihn förmlich vor mir, wie er belustigt die Augen zusammenkniff. »Aber wenn man sich die armen Seelen hinter ihren Gittern so anschaut, sehen sie eher schwach und verängstigt aus. Was machen Sie mit denen? Kein Essen? Folter?«
»Selten Essen«, korrigierte einer von ihnen. »Aber keine Folter. Sie sind unsere drei Besten. Sie haben es von unten hier hoch geschafft. Deswegen können sie auch entlassen werden. Kaum einer bekommt diese Chance.«
»Was müssen sie machen?«, fragte der Zweite. »Was müssen sie machen, um entlassen zu werden?«
»Das spielt für euch noch keine Rolle.«
»Wie haben sie es von unten nach oben geschafft?«
»Das werdet ihr herausfinden.«
»Also können wir das auch schaffen?«
»Theoretisch schon.«
»Wem von uns trauen Sie es zu?«
Stille. Ich spürte, wie der Zweite begann, Pläne für sich und den Ersten zu schmieden. Er wusste jetzt, dass es möglich war, wieder nach oben zu gelangen, wo auch immer unten war.
»Ich möchte das auch wissen«, sagte der Erste.
»Ja, ich auch«, sagte der Andere.
»Ja«, sagte der Unsichtbare.
Das Mädchen stimmte auch zu. Wahrscheinlich nickte sie.
»Na gut«, sagte ich.
»Das kann man nicht genau sagen«, sagte einer von ihnen. »Die Menschen verändern sich dort unten.«
»Ich mich nicht«, sagte ich. »Also nicht nur dort unten. Ich verändere mich immer. Jeder Mensch verändert sich doch immer. Ist das nicht eines der Mysterien des Menschseins? Wir denken, wir hätten ein Selbst, aber das Selbst unterliegt ständigem Wandel.«
»Ist der eigentlich irgendwie gestört?«, fragte einer von ihnen.
»Ignorieren Sie ihn.« Der Zweite klang drängend. »Wem von uns trauen Sie es zu? Einfach nur eine Einschätzung.«
»Bitte«, sagte der Erste. »Was kostet euch das schon?«
»Hm«, machte einer von ihnen. »Sie hat wahrscheinlich keine Chance. Als Frau hat man es nicht gut dort unten. Ich habe bisher noch nicht erlebt, dass eine es dort rausgeschafft hat, und letzten Endes ist es leider immer so, dass es schwierig wird, sich als weibliche Person durchzusetzen. Vor allem in Anbetracht der Umstände.«
Soll er reden, sagte das Mädchen zu mir. Soll er doch reden.
»Auch du hier, du mit der Brille. Du bist zu schwach, um das zu überstehen. Du siehst wie ein Trottel aus. Dich nimmt man nicht ernst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das schaffst.«
»Sie kennen ihn nicht«, sagte der Zweite, verteidigte den Ersten nahezu reflexartig, dann hielt er inne. »Wie sieht es mit mir aus?«
»Vielleicht«, sagte einer von ihnen. »Aber um ehrlich zu sein: Die drei, die hier oben sind, das sind drei von … keine Ahnung, fünftausend? Die Chance ist sehr gering. Aber wenn es einer von euch schafft, dann am ehesten der Unsichtbare. Der eine ist ja komplett irre, der geht unter und nimmt möglichst viele mit. Und zu dir …« Der Sprecher hielt inne und ich spürte, dass er sich dem Anderen näherte. »Zu dir habe ich irgendwie keine Einschätzung. Du siehst aus wie viele. Wenn du auch so bist, dann wirst du es schwer haben dort unten.«