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Vier Luchse. Vier Schicksale. Und eine Verbindung. Die Arktis ist wunderschön und voller Geheimnisse. Doch das Leben der Tiere dort ist auch gefährlich. Komm mit auf eine Reise ins endlose Eis! Lynkos, Whisker, Sidra und Lucia – vier Luchse, die trotz ihrer Unterschiede eine Gemeinsamkeit teilen: Sie alle werden bei einem Menschen gehalten. Als sie eines Tages von dort in eine Auffangstation kommen, beginnen sie, einander von früher zu erzählen und sich ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Bald schon steht jedoch fest, dass sich die Wege der vier trennen müssen. Ob am Ende die Freiheit auf sie wartet und ihre tiefe Freundschaft auch ganze Kontinente überdauern kann? Realistische Tierabenteuer mit naturwissenschaftlicher Recherchegrundlage Erlebe die Wunder der Natur und das aufregende Leben der Tiere hautnah – diese realistischeKinderbuch-Reihe entführt Jungen und Mädchen ab 8 Jahren in die verschiedenen Lebensräume der Erde. Ob im tiefen Meer, im dichten Wald, in der eisigen Arktis oder im grünen Dschungel: In diesen Geschichten erleben Tiere wunderschöne, gefährliche und zugleich bewegendeAbenteuer. - Kinderbuch meets Sachbuch: Eine sorgfältig recherchierte und stimmungsvolle Geschichte voller Spannung rund um Luchse. Alle Bände der Reihe "Das geheime Leben der Tiere" sind lose voneinander lesbar. - Berührende Schwarz-Weiß-Illustrationen: Die detailreichen Bilder von Sanna Wandtke lassen die Welt der Tiere lebendig werden. - Faszinierende Tierfakten: Tauche in die Lebensräume der Tiere ein, lasse dich für die Vielfalt der Natur sensibilisieren und lerne viel Neues auf den Wissensseiten am Ende des Buches. - Leseförderung mit Antolin: Der Titel ist bei Antolin gelistet und fördert spielerisch die Lesekompetenz.
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für meine erste Agentin Michaela Hanauer-Dietmaier.Danke für alles!
Und für Dr. Thomas Burmester, ohne dessen Forschungsarbeit als Ersatzmutter dieses Buch nicht möglich gewesen wäre.
In liebevoller Erinnerung an Lumi. Du fehlst uns!
Dreißig Schritte
Ein leiser Ruf
Unerklärliche Ereignisse
Ratlosigkeit
Erwachen
Wertvolle Erkenntnisse
Lucia
Ein neuer Klang
Whisker
Nachricht von Lumi
Sidra
Tiefe Trauer
Lynkos
Abschied
Endlose Freiheit
Und wie ist es wirklich?
„Eins, zwei, drei.” Lynkos setzte eine Pfote vor die andere. Er zählte sie wieder, die Schritte, die er machte, obwohl er längst wusste, dass er niemals über eine bestimmte Zahl hinauskommen würde. Aber was sollte man sonst tun, hier in diesem engen Gehege? Es gab keinen anderen Zeitvertreib und Lynkos wurde nicht müde, ihn zu wiederholen. Tagein, tagaus.
„Vier, fünf, s…”
„Heee, Lynkos, alter Knabe. Wie geht’s, wie steht’s? Alles fit auf der anderen Seite des Zauns?”
Lynkos war so konzentriert gewesen, dass er Whiskers plötzliches Auftauchen nicht bemerkt hatte. Eins musste man dem Kerl lassen, er konnte sich anschleichen wie kaum ein anderer.
„Was willst du?”, knurrte Lynkos. Das Fell in seinem Nacken stellte sich auf. Ein Zeichen seines Unmuts, den er nicht einmal versuchte zu verbergen. Whisker wusste ohnehin, was Lynkos von ihm hielt, und das war weniger als nichts.
„Ach”, sagte Whisker und sein kurzer Stummelschwanz ragte dabei steil in die Höhe. „Ich wollte auf meiner Runde nur nachsehen, wie es dir mit dem Zählen geht, und dir bei dieser Gelegenheit gleich Guten Tag sagen.”
„Das hättest du dir sparen können. Genauso wie gestern und vorgestern und morgen und übermorgen und überhaupt an jedem verflixten Tag, der noch kommen wird”, fauchte Lynkos. Whisker hatte ihm zwar geholfen, diesen wunderbaren Zeitvertreib des Schrittezählens zu entdecken, aber das hieß noch lange nicht, dass die beiden Luchse Freunde waren. Ein Luchs hat keine Freunde. Er ist ein Einzelgänger, aber dafür braucht es Freiheit – und Lynkos war nicht frei. Er saß in diesem Gehege fest und musste die Anwesenheit eines anderen ertragen, der schon so lange bei den Menschen lebte, dass er sogar die Kunst des Zählens erlernt hatte. Lynkos zögerte kurz, weil ihm bewusst wurde, dass diese Tatsache nun auch auf ihn selbst zutraf. Kein gutes Zeichen.
„Da ist wohl jemand eindeutig mit der falschen Pfote aufgestanden”, stellte Whisker fest und wich einen Schritt zurück. Er wusste, dass Lynkos unmöglich aus seinem winzigen Gehege ausbrechen konnte und von ihm deshalb keine Gefahr ausging. Trotzdem waren in seinem Gesicht die Spuren seiner schwindenden Geduld eindeutig zu erkennen, und obwohl Whisker an Frechheit kaum zu überbieten war, hatte er vor seinem Kameraden doch gehörigen Respekt.
„Beruhig dich mal, Kanadaluchs”, erwiderte Whisker und gab sich Mühe, dabei möglichst gelassen zu klingen. „Ein kurzes Pläuschchen hat noch niemandem geschadet.”
„Luchse plaudern nicht”, erinnerte der Kanadaluchs den anderen. „Wir sind Einzelgänger. Wann merkst du dir das endlich?” Lynkos machte einen Schritt vorwärts und stellte fest, dass er in all der Aufregung vergessen hatte, wie weit er bereits gezählt hatte. „Verdammter Rotluchs”, presste er hervor, wandte sich um und trottete zurück an den nördlichen Rand des Geheges.
„Eins, zwei, drei”, begann er zu zählen.
„Weiter als bis dreißig kommst du doch sowieso nicht”, rief Whisker ihm zu. Lynkos aber ignorierte ihn. Diesmal würde er ohne Unterbrechung ans andere Ende gelangen.
„Elf, zwölf, dreizehn …” Neuer Tag, neues Glück. Vielleicht war das Gehege über Nacht ja ein wenig größer geworden. Lynkos amüsierte sich fast über seinen eigenen naiven Gedanken. Größer wurde hier gar nichts, ganz im Gegenteil. Mit jedem weiteren Tag, den er hier verbrachte, schien sich der Zaun enger um ihn zu schließen. Platz. Lynkos brauchte Platz! Unweigerlich schoss ihm die Erinnerung an eine Zeit durch den Kopf, die so weit zurücklag, dass die Bilder langsam zu verblassen begannen. Der Kanadaluchs dachte an die endlosen Fichtenwälder, an den tiefen Schnee und an die weißen Hasen, die so schnell und wendig waren, dass die Jagd nach ihnen eine warme Freude in seinem Herzen ausgelöst hatte. Jetzt war alles anders. Und wenn er nicht vergessen wollte, woher er kam, musste Lynkos die Erinnerung an seine alte Heimat hüten und pflegen. Immer wieder überrollte ihn die fürchterliche Angst, er könne eines Morgens aufwachen und vergessen haben, woher er gekommen war.
„Vierzehn, fünfzehn, sechzehn.”
Lynkos wandte den Blick über die Schulter. Dort, hinter den Büschen, in denen Whisker so gern seine Tage verbrachte, sah man die weißen Mauern eines riesigen Gebäudes. Der Mensch wohnte dort. Lynkos verspürte allein bei dem Gedanken an ihn eine Mischung aus Wut und Angst. Der Mensch war laut und anders als Lynkos war er kein Einzelgänger. Er bekam oft Besuch von Artgenossen und gemeinsam verursachten die Zweibeiner noch mehr Krach. Zweimal am Tag betrat der Mensch den Garten und brachte Lynkos etwas zu fressen, das nicht annähernd so gut war wie ein frisch gefangener Schneeschuhhase. Das Futter lief auch nicht davon, denn es war längst tot. Ein matschiger, undefinierbarer Brei, der vermutlich aus den Resten dessen bestand, was der Mensch selbst nicht fraß. Lynkos vermisste die Jagd. Der Luchs spürte die unbändige Energie, die sich während der letzten Monate in seinen Beinen angesammelt hatte. Manchmal glaubte er, jede Zelle seiner Muskeln könnte vor überschüssiger Kraft einfach explodieren und ihn in Stücke reißen. Er musste rennen! Endlich wieder rennen.
„Siebzehn, achtzehn, neun…”
„Hallihallo, Sidra. Wie geht es dir, meine langbeinige Schönheit?”
Lynkos fror mitten in der Bewegung ein. „Whisker …”, knurrte er. Und rief etwas lauter: „Lass Sidra in Ruhe!”
„Ich mach doch gar nichts!”, ertönte es aus der anderen Ecke des Gartens. Das Gelände, das von einer hohen Mauer umgeben wurde, war weitläufig und durch die zahlreichen Büsche und Bäume konnte Lynkos den Rotluchs nicht entdecken. Dank seines hervorragenden Hörsinns entging ihm jedoch kein einziger Laut. Offensichtlich hatte Whisker es heute auf Sidra abgesehen, dabei hasste die Iberische Luchsin Gesellschaft. Mehr noch als Lynkos. Und Whisker verabscheute sie sowieso. Mehr noch, als Lynkos es tat.
„Verzieh dich!”, zischte Sidra in diesem Moment.
„Heee!”, rief Whisker erbost. „Wer wird denn hier beleidigend?”
„Ich”, erwiderte Sidra trocken. „Und wenn du weiter vor meinem Gehege herumstehst, lasse ich mir noch ganz andere Dinge einfallen. Haustier!” In Sidras letztem Wort lag so viel Verachtung, dass selbst Lynkos, der ausreichend Abstand zu der Iberischen Luchsin hatte und ihren Gesichtsausdruck nur erahnen konnte, ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Whisker stieß ein erbostes Miauen aus. „Ihr seid nicht nett. Du und Lynkos, ihr glaubt doch, dass ihr etwas Besseres seid. Wird man so, wenn man in einem Käfig hockt?” Er machte eine kurze Pause. Anscheinend musste er sein Köpfchen anstrengen, ob das, was er gerade von sich gegeben hatte, wirklich Sinn ergab. „Nein, daran kann es eigentlich nicht liegen”, fuhr er nachdenklich fort. „Lucia ist auch eingesperrt und sie ist trotzdem nicht so verbittert wie ihr. Am Zaun kann es also nicht liegen.”
Whisker hatte recht. Lucia war anders. Sie hatte von Natur aus ein fröhliches Wesen und Lynkos beneidete sie manchmal um ihre Zuversicht, die sie sich trotz allem, was man ihr angetan hatte, bewahrte.
„Es wird gut werden”, sagte Lucia oft. „Ihr werdet sehen! Am Ende wird alles gut sein.”
Aber Lynkos konnte diese Hoffnung einfach nicht teilen. Seiner Meinung nach waren sie längst am Ende angekommen und nichts, rein gar nichts war gut. Es gab keinen Ausweg. Sie waren gefangen. Lucia, die Eurasische Luchsin. Sidra, die Iberische Luchsin, die selbst die Bezeichnung Pardelluchsin bevorzugte, weil der Klang dieses zweiten Namens ihren hübschen Pinselohren schmeichelte. Lynkos, der Kanadaluchs, der sich nach den Weiten und der klirrenden Kälte der Wälder seiner Heimat mit dem arktischen Klima sehnte. Und Whisker. Ja, wenn man es genau betrachtete, dann war auch Whisker gefangen. Der Rotluchs genoss zwar mehr Freiheiten als die anderen, da er sich uneingeschränkt durch den ganzen Garten bewegen konnte und Zutritt zu dem Haus des Menschen hatte. Das war nichts, worum Lynkos ihn beneidete, doch Whisker wirkte dennoch ausgeglichener. Er war aber ohnehin anders, als ein Luchs hätte sein sollen, und die Wurzel dessen musste irgendwo in seiner Geschichte vergraben liegen. Die vier Luchse erzählten einander jedoch nicht allzu viel. Lucia, Lynkos und Sidra hatten einander noch nie gesehen. Ihre Gehege lagen so, dass sie sich nur hören und riechen konnten, die anderen aber niemals zu Gesicht bekamen. Whisker lief zwischen ihnen hin und her. Er schien Gesellschaft zu suchen. Oder vielleicht war ihm auch nur stinklangweilig. Das Leben als Haustier bietet einem Rotluchs wie Whisker nicht die notwendige Abwechslung, die eine Wildkatze braucht. Der Kuder, wie man männliche Luchse auch nennt, hatte sich mit seinem Leben allerdings ganz gut arrangiert. Er spielte das Spiel, das der Mensch ihnen allen aufgezwungen hatte, am besten. Ein braves Haustier war aus ihm geworden, wie Sidra nicht müde wurde zu betonen. Wann auch immer sie das sagte, wurde Whisker zornig. Manche können die grausame Wahrheit eben nicht ertragen. Dann zeigte der Rotluchs, wie wenig Haustier in ihm steckte und wie wild er trotz allem noch war. Er ging ins Haus und zerstörte dort wahllos einen Gegenstand. Hauptsache, der Akt der Vernichtung war laut genug, sodass Sidra mit ihrem feinen Gehör Zeugin werden konnte. Sie sollte wissen, wie wild Whisker war und dass er, anders als ein echtes Haustier, die drohenden Konsequenzen keineswegs fürchtete. Zur Strafe ließ der Mensch ihn für gewöhnlich eine Woche nicht mehr zu sich kommen. Die Tür des Hauses wurde versperrt und öffnete sich selbst dann nicht, wenn Whisker die Krallen gegen das dicke Holz schlug. Er fauchte und beschwerte sich, schrie und tobte erbost, weil man ihn seiner Gewohnheiten beraubt hatte. In Zeiten wie diesen mussten die anderen Luchse Whiskers Gejammer tapfer ertragen.
„Ich will mich vor den Kamin legen”, klagte er mit weinerlicher Stimme. Oder: „Im Haus gibt es Teppiche. Die fühlen sich so herrlich weich auf den Ballen an. Eigentlich möchte man den ganzen Tag nur über Teppiche laufen, wenn ihr versteht, was ich meine.”
„Kein Wort”, knurrte Sidra in diesen Situationen und verzog sich in die klapprige Hundehütte, die der Mensch ihr als Unterschlupf ins Gehege gestellt hatte. Dort konnte sie Whiskers Klagen zwar immer noch hören, aber zumindest musste sie seinen elendigen Anblick nicht länger ertragen.
„Du sollst abhauen, Haustier!”, wiederholte Sidra jetzt.
Whisker knurrte etwas Unverständliches in sich hinein, aber er gehorchte und zog weiter. Diesmal hatte er es auf Lucia abgesehen. Die Eurasische Luchsin empfing ihn verhältnismäßig freundlich. „Na, Whisker … Alles klar?”
„Die anderen sind gemein zu mir”, beschwerte sich der Rotluchs.
„Aus guten Gründen”, rief Lynkos ihm zu. Er hatte schon wieder vergessen, wo er zu zählen aufgehört hatte. Seine Pfoten standen zwar genau an jener Stelle, an der er normalerweise siebzehn in sich hineinmurmelte, aber ganz sicher war er trotzdem nicht. Er wandte sich um und ging zurück an den Start. „Eins, zwei, drei, vier.” Verdammt, war das langweilig hier.
„Was hast du denn schon wieder angestellt, mein lieber Whisker?”, fragte Lucia.
„Nichts!”, behauptete Whisker. Lynkos hörte, wie er ein wohliges Schnurren ausstieß. Wahrscheinlich rieb der Rotluchs in diesem Moment seinen Kopf am Zaun von Lucias Gehege.
„Die anderen verstehen einfach keinen Spaß”, fuhr er fort. Seine Stimme klang wehklagend. Jetzt fehlte nur noch, dass Whisker ein schmerzerfülltes Heulen ausstieß, aber Lucia wusste, wie sie den Rotluchs beruhigen konnte.
„Erzähl mir doch von deinem Tag. Was hast du heute schon erlebt? Ist etwas Aufregendes passiert auf der anderen Seite des Zauns?”
Lynkos drehte die Ohren kaum merklich, um keines von Whiskers Worten zu verpassen. Die schwarzen Haare, die wie Pinsel von seinen Ohrmuscheln emporragten, funktionierten wie Antennen. Sie fingen jeden noch so kleinen Laut ein und Lynkos konnte bestimmen, aus welcher Richtung das Geräusch kam.
„Heute war es tatsächlich spannend”, begann Whisker seine Erzählung. Ach, daher wehte also der Wind. Der Rotluchs hatte etwas erlebt und musste es mal wieder in die Welt hinausposaunen. Lynkos verstand das nicht. Jeder normale Luchs war imstande, schweigend durch die Welt zu ziehen. Jeder Luchs trug seine Geschichte mit sich herum wie das wertvollste Geheimnis. Es gibt einen guten Grund, warum manche Menschen den Luchs als Hüter der Geheimnisse bezeichnen. Lynkos kannte die alten Geschichten der Menschen, die seit Jahrtausenden im Einklang mit der Natur lebten. Seine Mutter hatte sie ihm erzählt. Es waren zum Teil absurde Geschichten, die unter anderem davon handelten, wie der Luchs zu seinem kurzen Schwanz gekommen war. Was die Menschen nicht verstehen und selbst mit ihrer Forschung nicht erklären können, dem versuchen sie mit ihrer Fantasie einen Sinn einzuhauchen. Eines musste man ihnen dabei lassen: In all ihren Erzählungen steckte ein Fünkchen Wahrheit und so lagen sie ganz richtig mit ihrer Annahme, dass Luchse ihre Geheimnisse wie Schätze mit sich herumtragen. Schweigend, lautlos, allein. Sie teilten mit niemandem, denn sie waren von Natur aus Einzelgänger.
„Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.” Während Lynkos zählte, dachte er weiter an seine Mutter. Er glaubte, den Klang ihrer Stimme noch zu hören. Als sei sie irgendwo in den feinen Härchen seiner Gehörgänge gespeichert. Er dachte an diese Zeit, die so unbeschwert und sorglos gewesen war. Damals hatte vor Lynkos noch sein ganzes Leben gelegen. Es hatte weder Zäune noch Menschen gegeben, nicht einmal einen Whisker, der rein gar nichts von Geheimnissen zu verstehen schien. Er behielt nichts für sich. Ja, Whisker war eine Plaudertasche, wie man sie sonst nur bei gewöhnlichen Hauskatzen findet.
„Und dann kam ein anderer Mensch in einem lauten Kasten. BRUMMMMMM!, machte der und jetzt weiß ich auch, wie die Dinger heißen. Autos oder Karren oder Wagen. Sie scheinen viele Namen zu haben. Auf jeden Fall hat unser Mensch beim Anblick dieses Autos ganz große Augen gemacht. Es scheint nämlich Unterschiede zwischen den Dingern zu geben, so wie bei uns Luchsen, und dieses Auto war wohl ein sehr ungewöhnliches Exemplar. Ein bisschen wie Sidra. Die ist ja auch alles andere als gewöhnlich. Und dann sind wir gemeinsam ins Haus gegangen und unser Mensch hat wieder so viele kleine grüne Blätter bekommen. Die scheinen ihm sehr wichtig zu sein, denn er freut sich immer riesig über diese Blätter. Auf denen ist ein alter Mann mit einer lustigen Frisur abgebildet und es stehen lauter Kringel darauf. Der Mensch hat die Blätter wieder gezählt. Bis 7.843 ist er diesmal gekommen.”
Lynkos seufzte tief. Seine Ohren schmerzten von all dem Gelaber. Er versuchte, seine Konzentration wieder auf seine eigenen Schritte zu lenken. „Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig …”
„Dann haben die Menschen zusammen gegessen. Es gab köstliche Happen. Das weiß ich, weil sie mir hin und wieder etwas zugeworfen haben. Ich war ganz brav. Mittlerweile weiß ich ja, dass ich ausgesperrt werde, wenn ich mich über ihr Fressen hermache. Aber irgendwie haben die zwei sich nicht recht über das gute Futter gefreut. Sie wurden immer lauter. Zuerst war noch alles in Ordnung, aber dann haben sie ein bisschen so geklungen wie Sidra und Lynkos, wenn sie mit mir streiten wollen. Ja, ich glaube, die beiden Menschen haben miteinander gestritten. Irgendwann ist der fremde Mensch wieder in sein Auto gestiegen und davongefahren. BRUMMMMM!, hat die Karre gemacht und unser Mensch hat gesagt: ,Wenn sich dieser Verräter noch einmal hier blicken lässt, dann …‘ Weiter ist er nicht gekommen, aber ich glaube, die beiden mögen sich nicht mehr. Das war es dann wohl mit den grünen Blättern samt alten Männern darauf. Schade. Dabei war unser Mensch dann so gut gelaunt. Nach der Blätterlieferung habe ich immer ein besonders leckeres Fressen bekommen.”
Lucia, die sich alles geduldig angehört hatte, erwiderte: „Das ist tatsächlich eine seltsame Geschichte, Whisker.”
„Ich würde so gern verstehen, was da passiert ist”, seufzte der Rotluchs.
„Die Menschen machen eigenartige Dinge. Nur wenige davon ergeben für uns Luchse Sinn”, sagte Lucia und Lynkos stimmte ihr im Stillen zu. Menschen waren die wohl eigenartigsten Wesen, die es auf dieser Erde gab. Unberechenbar. Gefährlich. Lynkos hasste sie. Oder zumindest hasste er die wenigen Menschen, die er kannte. Sie hatten ihm alles genommen. Sein Zuhause, seine Freiheit, die Stille.
„Dreißig”, sagte Lynkos mit dünner Stimme zu sich selbst, wandte sich augenblicklich um und fing von vorn an. „Eins, zwei, drei …”
Man sollte meinen, Menschen würden irgendwann zur Ruhe kommen. Aber das tun sie nicht. Es scheint tagaktive und nachtaktive Menschen zu geben und rund um die Dämmerung, morgens und abends, sind sie sowieso am lautesten. BRUMMMM!, macht es dann von allen Seiten. Das Haus und der Garten, in dem Lynkos und die anderen gefangen sind, liegen abseits der großen Stadt auf einem Hügel, doch der Lärm wird vom Wind nach oben getragen. Die Geräusche prallen an den Hängen der umliegenden Berge ab, werden zwischen ihnen hin und her geworfen und dringen dann in die empfindlichen Ohren der Luchse. Es ist ein Ort, der in Lynkos nur einen Reflex auslöst: Flucht. Aber er kann nicht weg. Der Zaun ist hoch und stabil, und wenn man ihn berührt, beißt er. Lynkos hatte es mehrmals probiert, als man ihn damals in dieses Gehege gesteckt hatte. Doch er hatte schnell aufgegeben. Der Mensch hatte ihn dabei mitleidig beobachtet und etwas zu ihm gesagt, das Lynkos nicht verstanden hatte. Whisker hatte es für ihn übersetzt. „Du sollst dich nicht so aufregen, meint der Mensch.”
„Nicht so aufregen? Ich bin gefangen!”, hatte Lynkos protestiert und wäre am liebsten noch einmal mit voller Wucht gegen den Zaun gerannt. Aber sein Kopf hatte geschmerzt und sein Herz wie wild geklopft von all den Bissen. Seltsame Bisse waren das gewesen, die wie Feuer durch seinen ganzen Körper brannten.
„Der Zaun ist elektrisch”, hatte Whisker ihm erklärt und so getan, als wüsste er genau, was das bedeutete. „Elektrisch heißt, dass der Zaun beißt.”
„Sag bloß …” Lynkos hatte sich geschüttelt und sofort damit begonnen, sein zerzaustes Fell wieder in Ordnung zu bringen.