Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Zwillingspärchen Ghese und Conrad wird nach der Geburt getrennt. Schicksalhaft verbinden sich ihre Wege wieder und nichtsahnend kommen sie sich näher. Nach Conrads Tod übernimmt Ghese dessen Amt als Kirchenbaumeister. Als Mann verkleidet, ständig in Angst lebend und auch noch eine Tochter großziehend, versucht sie zu überleben. Doch nicht nur das ist ihr Geheimnis, denn sie verbirgt noch etwas weit Schlimmeres. Sie ist Anhängerin des alten Glaubens und wird von einem Hexenjäger verfolgt.Dieser Roman ist eine Mischung von fiktiven und realen Gestalten und Ereignissen rund um den Bau der Wismarer Sankt Georgen Kirche. Das Leben einer mittelalterlichen Stadt wird bis kurz vor die Zeit der Reformation sehr eindringlich beschrieben. Glorreiche Zeiten, Brände, Pest, Aufstieg und Niedergang einer kleinen Stadt und ihrer Bewohner sind exakt recherchiert und in einer fiktiven Geschichte wiedergegeben. Aufgelockert wird der Roman durch die authentischen Berichte des Gallus Sympathicus, der ein ziemlich genaues Bild jener Zeit schafft.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Petra Block
Das Geheimnis der Baumeisterin
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
November 1248 – Agnes
November 1248 - Johann Rikeland
März 1250 - Jokoff Moderitz
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
März 1250 – Die Opferhand
März 1254 – Der Entschluss
April 1254 – Ghese
Mai 1260 – Conrad
Juli 1262 – Feuer
August 1262 – Die Beginen
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Februar 1263 - Begierden
September 1263 – Unheil
Mai 1264 – Ungewissheiten
Mai 1265 – Veränderungen
März 1268 – Das Begräbnis
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Mai 1268 – Hochzeit
Dezember 1268 – Nachwuchs
August 1270 – Das Geheimnis
Juni 1276 – Die Rückkehr
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Mai 1300 – Seelenqualen
Juli 1300 – neue Pläne
September 1300 – Geldmächte
März 1301 – Begegnungen
Mai 1301 – Das Marktfest
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Januar 1302 – Tod im Eis
Juni 1303 – Der Neue
April 1320 – Johann Grote
Mai 1320 – Abschied
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
August 1336 – Die Plagen
Februar 1339 – Geldnöte
März 1350 – Katastrophen
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
März 1404 – Die Bittschrift
April 1404 – Freunde
Mai 1404 – Himmelfahrt
Dezember 1404 – Verdächtigungen
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Februar 1405 – Vergangenheit
Juni 1405 – Ansichten
September 1405 – Entscheidungen
November 1405 – Zukunft
März 1406 – Doppelhochzeit
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
August 1406 – Albertus
Januar 1407 – Elerus
Mai 1434 – Das Wiedersehen
Juni 1434 – Enthüllungen
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Juli 1442 – Hermann Münster
Oktober 1460 – Hans Martens
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Impressum neobooks
Schreie gellten durch die kalte Nacht.
Eine junge Frau wand sich in Schmerzen auf ihrem armseligen Lager. Die Pflegerin neben ihr konnte nichts weiter tun, als hin und wieder mit einem Lappen über die Stirn der werdenden Mutter zu wischen.
Kinderkriegen war keine große Sache, jedes Mädchen wurde einmal Mutter, das gehörte zum Lauf des Lebens. Diese hier litt allerdings zweifellos mehr, als alle anderen, die sie bisher bei der Geburt begleitet hatte. Seit Stunden schien sie kein Stück voran zu kommen. Krämpfe schüttelten das junge Ding, und wie im Fieberwahn rief sie immer wieder nach der Mutter Maria. Ob die Angerufene aber helfen würde?
Hierher an den Stadtrand, in das Siechen- und Leprahaus, hatte sich Agnes in der Stunde ihrer Niederkunft geflüchtet. Nun lag sie ein wenig abgeschirmt von den Alten und Siechen auf dem feuchten Laken im Stroh und versuchte ein Kind durch die Geburtswege ihres zarten Körpers zu pressen.
Viel zu früh wollte es kommen, schon die Schwangerschaft bereitete ihr große Probleme. In ihrer Unerfahrenheit schob sie es auf den Zorn Gottes. Unverheiratet hatte sie das Kind durch eine Liebschaft empfangen. Von ihrer Familie war sie davongejagt worden. Vermögen besaß sie nicht, ihr weniges Geld reichte gerade, damit sie in diesem Wismarer Aussätzigenhospital unterschlüpfen konnte. Für eine Hebamme war nichts mehr übrig.
Hin und wieder reichte ihr die Pflegerin einen Schluck Wasser, zwischen zwei Wehen blieb gerade soviel Zeit dafür.
Um ihr Strohlager herum waren große Tücher aufgehängt, nicht jeder der neugierigen Hospitalinsassen sollte einen Blick auf sie werfen können. Weil aber durch die schwere Geburt in dieser Nacht niemand zur Ruhe kam, schlich immer mal wieder eine der alten Frauen herbei und lugte durch einen Spalt. Sich bekreuzigend und Gebete murmelnd verschwanden sie aber gleich wieder. Sie waren sicher, dieses Mädchen musste leiden, es hatte die Frucht in Sünde empfangen, so etwas duldete der sonst so barmherzige Herrgott nicht.
Agnes wurde immer schwächer. Die Novembernacht ging langsam in einen grauen Tag über, als sich das Mädchen ein letztes Mal aufbäumte und sie ein winziges Kind gebar. Hastig griff die Pflegerin danach. Es lebte. Feingliedrig zwar, mit einem Stimmchen wie ein Vögelchen, aber es strampelte und atmete von allein. Schnell trocknete sie es ab und legte es neben seine Mutter. „Dein Kind ist wohlauf“, sagte sie. Agnes lupfte ein wenig das Tuch, in das es gewickelt war. „Wie schön“, antwortete sie, „es ist ein Mädchen.“ „Ja“, murmelte die Frau bedenklich, „und es ist rothaarig.“ Der völlig erschöpften Mutter stahl sich trotzdem ein kleines Lächeln ins Gesicht. Ihre Liebe war Fleisch geworden.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Sie richtete sich halbwegs auf, warf den Kopf nach hinten und schrie schlimmer, als sie es während der gesamten Geburt getan hatte. Sie zuckte und wand sich, sodass die unerfahrene Pflegerin zwar schnell noch nach dem kleinen Mädchen schnappte, dann aber panisch davonrannte. Sie kam gerade in dem Moment mit einer weiteren Schwester des Pflegepersonals zurück, als Agnes das Bewusstsein verlor.
Die Schwester scheuchte alle Gaffer fort und beugte sich über die junge Mutter. Sie hob das dünne Laken an, mit dem diese bedeckt war und erwartete die Nachgeburt zu sehen. Tatsächlich aber war zwischen Agnes Beinen der Teufel erschienen.
Ratsherr Johan Rikeland schaute unwirsch von seinem Teller auf. Warum störte man ihn gerade jetzt? Hatte das nicht Zeit bis nach dem Essen? Verärgert winkte er der Magd. Ausgerechnet Hegemann kam um die Mittagszeit zu ihm? Hatte der nicht selber bei Tische zu sein? Oder gab es heute für ihn nichts zu essen? Nun musste er doch schmunzeln. Hegemann hatte eine zänkische Alte zu Hause, und wenn die in Rage kam, dann blieb meistens die Küche kalt und er ließ sich im Wirtshaus oder bei Freunden beköstigen. War es also wieder einmal soweit?
Rikeland erhob sich um ihn zu begrüßen. „Gott sei mit Dir, Arnhold, und vor allem mit der Furie, die sich Dein Weib schimpft.“
„Du hast gut reden Johan, seit Jahren lebst Du mit Deinem Sohn allein und brauchst Dich um die Frauenzimmer nicht zu scheren.“ Hegemann warf dem Hausmädchen seinen Umhang zu. „Nun, ich wäre ein glücklicher Mann, wenn meine Barbara noch leben würde. Sie war immer sanftmütig und milde gestimmt.“ „Gemach, gemach, ich wollte Dir nicht zu nahe treten, ich weiß wie sehr Du sie vermisst. Mein Kommen hat auch nicht den Zweck, mir bei Dir den Bauch voll zu schlagen. Ein Anliegen von außerordentlicher Wichtigkeit führt mich zu Dir.“
Rikeland ließ trotzdem einen zweiten Teller bringen, und sein Freund und Geschäftspartner strafte augenblicklich seiner Aussage Lügen. Er griff nach dem größten Stück Fleisch und schlug sofort seine kräftigen Zähne hinein. Rikeland lachte. „Du könntest einen ganzen Hammel verschlingen, Arnhold, und das ohne auch nur ein Messer in die Hand zu nehmen. Woher hast Du nur dieses Gebiss? Unter Deinen Vorfahren muss ein Wolf gewesen sein. Ich wünschte ich hätte auch solche Zähne.“
„Das wünschte ich auch, dann könntest Du diese öfter einmal in den Versammlungen Eures Stadtrates zeigen.“ Zwischen den einzelnen Bissen holte Hegemann immer wieder tief Luft und empörte sich heftig. „Du bezeichnest Dich als meinen Freund, aber wenn es darauf ankommt, dann lässt Du mich im Ungewissen. Mir ist etwas zu Ohren gekommen, das Du mir erklären musst. Der Rat soll die Auflösung des Hospitals von Sankt Jürgen besprochen haben? Wie geht das an? Ihr werdet mich ruinieren. Seit Jahren spende ich regelmäßig 60 Scheffel Getreide und nach jedem Braugang ein Fass Bier für die Bedürftigen. Ich bin Pfründner, das weißt Du genau. Schon meine Eltern hatten sich in Sankt Jürgen eingekauft, und auch ich gedenke mich im Alter dort versorgen zu lassen. Sogar testamentarisch habe ich das geregelt. Mein Seelenheil und das meiner Familie ist mir einiges wert.“
Noch immer riss er an dem Fleischbrocken, als gelte es das Tier im Nachhinein noch einmal tot zu beißen.
„Ruhig, lieber Freund.“ Rikeland versuchte besänftigend auf ihn einzureden. „Da wurde Dir nur die Hälfte erzählt. So kommt es, wenn man Neuigkeiten aus zweiter Hand vernimmt. Ein Ratsmitglied kann es Dir nicht zugetragen haben, sonst wüsstest Du die ganze Geschichte.“
„Drum frage ich Dich, was ist dran an dieser Sache?“
„Im Grunde, und das weißt Du auch, sind die Sitzungen des Rates nicht öffentlich. Wer immer Dir etwas daraus berichtet hat, der durfte es nicht. Auch ich würde unrechtmäßig handeln.“
„Red nicht herum.“ Arnhold Hegemann wurde unwirsch. „Noch nie habe ich Dich um solcherlei gebeten. Hier steht aber meine Zukunft, die meiner Familie und ein beträchtlicher Teil meines Vermögens auf dem Spiel. Bist Du mein wahrer Freund? Dann sprich.“
„Na gut, ich weiß Du wirst mich nicht anschwärzen“, Rikeland rief die Magd und bat um einen frischen Krug Bier für beide, dann hub er an zu sprechen.
„Wismar hat sich in den letzten Jahren prächtig entwickelt. Du selbst weißt, wie gut Deine Geschäftsbeziehungen laufen. Die lübischen Händler reißen Dir das Bier fast aus den Händen, und nicht nur die, ich hörte Du hast feste Abnehmer in Köln und liebäugelst sogar mit dem Osten. So geht es vielen hier, die Geschäfte laufen mehr als gut, der Markt quillt über von heimischen Produkten. Im Hafen liegen Schiffe aus fremden Ländern und Kaufleute bieten Waren feil, die ich noch nie gesehen habe. Kurzum, unsere Stadt wächst. Aus diesem Grund erwägt der Rat eine Stadterweiterung. Wir gedenken sie nach Südwesten hin auszudehnen.“
„Also, doch“, erboste sich Hegemann, „die Stadt soll wachsen und das Aussätzigenhospital muss weichen, oder habt Ihr etwa beschlossen, dass es künftig innerhalb der Stadt bleiben darf?“
„Nun, zu Deiner Beruhigung, das Hospital wird verlegt. Westlich von Wismar, am Handelsweg nach Lübeck gibt es Ländereien, die wie geschaffen für ein neues Leprosorium sind. Deine Pfründe werden übernommen, und Du hast die Gewissheit, dass das neue Hospital besser gebaut wird als die erbärmliche Hütte bei Sankt Jürgen.“
„Was aber soll mit dem Friedhof und der alten Kapelle geschehen?“ Arnhold Hegemann kaute nun schon gelassener an dem Fleisch herum. Er war ein stattlicher Kerl, wenn er zum Essen auftauchte, konnte man sicher sein, dass kein Häppchen übrig blieb.
„Der Rat hat beschlossen ein neues Kirchspiel zu bauen, daher wird die Kapelle vorerst bleiben, aber wir werden eine neue Bürgerkirche bauen und somit wird auch der Friedhof weiterhin von der Stadt betrieben.“
„Wie viele Seelen leben eigentlich hier?“
„So an die viertausend mögen es wohl sein.
„Das ist ja eine beträchtliche Anzahl, da sind doch viele Töchter aus guten Häusern dabei, hat denn Dein Sohn noch immer keine Braut gefunden?“
„Bernhard ist nach Flandern unterwegs und versucht neue Handelsbeziehungen aufzubauen. Ich hoffe sehr, dass ihm dort eine Jungfer gefällt. Ich habe ihn bei meinem alten Freund Heesten einquartiert. Der hat gleich zwei liebreizende Töchter und die Mitgift kann sich auch sehen lassen.“
Hegemann lachte. „Als ob er die nötig hätte, Deine Geschäfte laufen seit Jahren mehr als gewinnbringend. Wer auch immer in Deine Familie einheiratet, wird es gut haben. Bernhard ist ein braver Bursche, Geld wird er genug erben und gesund ist er allemal. Aber zurück zur geplanten Stadterweiterung. Meinst Du es lohnt sich, innerhalb des neuen Kirchspiels ein Haus zu bauen?“
„Das könnte sehr wohl sein, ich selbst trage mich mit dem gleichen Gedanken. Darüber können wir aber ein anderes Mal reden, jetzt verrate mir endlich, wer Dir von dem Ratsbeschluss erzählt hat, diese Antwort bist Du mir schuldig. Heraus mit der Sprache, wer ist der Schwätzer?“
„Oh, das kann ich Dir gar nicht sagen. Ich habe vor einer Stunde im Roten Ochsen gegessen und am Nachbartisch ein Gespräch belauscht.“
„Du hast vor einer Stunde erst gegessen und frisst mir hier den Hammelbraten weg? Gütiger Gott Arnhold, Dich darf man nicht leichtfertig zu Tische bitten, da wird man schnell arm. Wer waren die Männer die Du beobachtet hast?“
„Ich kenne sie nicht, sie trugen gutes Tuch am Leib und sahen wohlhabend aus. Einer von ihnen hatte einen merkwürdigen Namen, er wurde von dem Anderen Jokoff genannt. Mehr kann ich Dir zu den beiden nicht sagen. Sie flüsterten sehr eindringlich miteinander.“
„Jokoff? Man erzählt sich, dass in der Familie Moderitz seit Generationen nur Jungen geboren werden, und damit das so bleibt, kriegen sie alle einen Namen mit J verpasst. Du kennst doch auch Jorge, Jost und Jesco. Ob dieser Jokoff wohl dazugehört? Es gibt noch einen Jander, und der ist Mitglied im Stadtrat. Sollte der sich erdreisten, die Ratsbesprechungen mit seinen Brüdern auszuwerten?“
Rikeland kam nicht dazu seine Gedanken weiter auszuführen. Trine, die Magd, bat ihn ins Kontor zu kommen, die alte Benedicta wolle ihn sprechen.
Als hätte ihn ein wildes Tier angefallen, sprang er vom Tisch auf und riss dabei den Bierkrug um. Das der Inhalt sich über den Teller und die lederne Hose seines Gastes ergoss schien ihn nicht zu stören. Hastig durchquerte er den Raum und polterte die Stufen zur unteren Etage hinunter.
Hegemann blieb verwundert zurück und schüttelte den Kopf. Was war nur in seinen Freund gefahren? Die alte Benedicta war weiß Gott kein Weib, deretwegen ein Mann den Kopf verlieren konnte. Mindestens sechzig Jahre musste sie schon zählen, er würde sich glücklich schätzen, wenn er dieses Alter jemals erreichen sollte.
Der Tisch war vom Bier triefend nass, seine Hose durchgeweicht, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich das letzte Stück Braten zu angeln und es genüsslich zu verschlingen. Johan würde schon wiederkommen, bis dahin hatte er Muße noch die Kanne Bier zu leeren.
Johan Rikeland stand unterdessen atemlos vor der Frau und herrschte sie an. „Was hast Du mir zu geben, Vettel, her damit, schnell, schnell.“
Die Alte wühlte unter ihren Röcken einen Beutel hervor und griff hinein. Die Sache schien ihr selber nicht geheuer, und so hielt sie ihm zaghaft zwei kleine Engelsfiguren hin, eine schwarze und eine weiße. Rikeland griff sich ans Herz und taumelte zurück. Damit hatte er nicht gerechnet, welch ein Unglück. Es schien ihm gewiss, dass seinem Hause ab sofort böses Unheil drohte. Zitternd bedeutete er Benedicta den schwarzen Engel auf einen Tisch zu legen. „Den anderen, den bring zurück, und sag, ich bin zur selben Zeit am bekannten Ort.“
Dann sackte er auf einem Stuhl zusammen. So fand ihn wenig später Arnhold Hegemann, der sich anschickte heimwärts zu gehen.
Eisig pfiff der Wind durch die Bäume.
Der Winter war mit ganzer Härte noch einmal zurückgekehrt und machte allen das Leben schwer. Die Tiere in Wald und Flur hatten sich verkrochen, und die Menschen taten es ihnen gleich. Wer nicht unbedingt musste, der blieb in Haus oder Hütte und hielt sich warm, soweit er noch irgend etwas besaß, das er verfeuern konnte.
Diese unwirtliche Zeit war aber auch die Zeit der Halunken und Verbrecher. Niemand sah sie, wenn sie sich nachts durch die Städte und Dörfer stahlen. Die Menschen hatten alle Fensterläden verbarrikadiert, um dem Wind keinen Einlass zu gewähren.
In einer solchen Nacht schlich eine Handvoll düsterer Gestalten etwa zwei Wegstunden von Wismar entfernt durch das Gehölz einer Niederung. Hier verlief die sonst stark belebte Handelsstraße nach Lübeck. In der heutigen Nacht ließ nicht einmal ein Käuzchen seine unheilvollen Schreie hören.
Die Männer froren erbärmlich, aber der Gedanke an das, was sie vorhatten, ließ sie die Kälte ertragen. Im Schutz einer Baumgruppe lauerten sie auf ihr Opfer.
Dieses sollte Bernhard Rikeland sein, der unvorsichtigerweise in einer Schänke Lübecks geäußert hatte, dass er noch in der kommenden Nacht weiter nach Wismar reisen wolle. Er sei jetzt kurz vor der Heimat, und könne nicht abwarten endlich wieder zu Hause zu sein. Zwei Jahre war er unterwegs, vornehmlich in Flandern um Tuch einzukaufen und für das Geschäft seines Vaters neue Handelspartner zu finden. Die Männer am Tisch hinter ihm beachtete er nicht. Das hätte er aber besser getan, dann wäre ihm Jokoff Moderitz aufgefallen, der mit seinen Brüdern eilig aufbrach, noch bevor sie ihr Bier gänzlich ausgetrunken hatten.
Nun horchten sie in die Nacht hinein und brauchten auch nicht lange zu warten. Schon bald ertönte das Rumpeln des Pferdegespannes, und trotz des pfeifenden Windes vernahmen sie die heitere Unterhaltung Bernhard Rikelands und seines Begleiters. Die beiden schienen, wie ihre Pferde, den heimischen Stall schon fast zu riechen. Sie lachten ausgelassen.
Die Pferde scheuten plötzlich und zwei Männer griffen ihnen in die Zügel. Zwei andere hangelten sich sofort auf den Wagen, während ein Fünfter sich breitbeinig vor dem Fuhrwerk aufbaute.
„Sei gegrüßt, Bernhard Rikeland, warst lange weg.“
„Jokoff Moderitz, warum stellst Du Dich mir in den Weg wie ein Wegelagerer? Mach Platz, ich habe es eilig.“
„Eilig um zu Deinem Liebchen zu kommen?“
„Ich war mehr als zwei Jahre unterwegs und freue mich auch darauf Agnes wiederzusehen, ja, das ist richtig. Und wenn sie immer noch will, dann wird sie meine Frau.“
„Meine Schwester wirst Du nicht bekommen, die Familie hat sie ausgestoßen, verjagt, sie lebt jetzt im neuen Hospital vor den Toren der Stadt.“
„Nur weil sie mich liebt und Ihr mich nicht leiden könnt? Du und Deine Familie, Ihr seid gottlos und brutal. Ich werde sie da sofort rausholen und zu mir nehmen.“
„Das sollte Dir schwerfallen, sie ist ehrlos, Dein Vater wird es nicht dulden, dass Du eine Hure mit einem Kind bei Dir aufnimmst.“
„Ein Kind, wieso ein Kind?“
„Ach, tu nicht so als wissest Du es nicht, hast sie erst geschwängert, und Dich dann aus dem Staub gemacht. Hättest sie vorher heiraten sollen. Unsere ganze Familie hat unter ihrem Fehltritt zu leiden. Viele haben sich von uns abgewandt. Du bist der Schuldige und wirst dafür zahlen.“
„Von dem Kind wusste ich nichts, mein Vater hat mir nie Nachricht davon gegeben und auch von Agnes habe ich nichts gehört. Wenn es mein Kind ist, habe ich einen Grund mehr, schnell nach Hause zu kommen. Gib den Weg frei Jokoff, wir unterhalten uns ein anderes Mal.“
„Nichts da, runter von dem Wagen, keinen Schritt werden die Pferde Dich mehr in Richtung Wismar bringen.“
„Was soll das? Lass mich des Weges ziehen, ich werde die Dinge richten, sobald ich angekommen bin.“
„Du wirst nichts weiter tun als vom Wagen zu steigen und der Vogel neben Dir auch.“
Bernhard Rikeland hatte keine Wahl, die Kerle auf dem Wagen zwangen ihn und seinen Knecht hinunterzuklettern.
„Versündige Dich nicht Moderitz, Du willst uns doch nichts antun?“
„Oh nein, so dumm bin ich auch nicht. Niemand von uns wird Hand an Euch legen. Meine Brüder und ich sind ehrbare Männer. Wir krümmen Euch kein Haar.“
„Was willst Du dann?“
„Ich wollte Dir nur sagen, wie leichtfertig es ist, bei diesem Wetter mit so wenig Bekleidung zu reisen.“
„Wovon sprichst Du?“
„Ausziehen!“
„Was?“
„Runter mit den Klamotten!“
Um der Aufforderung Nachdruck zu verschaffen, schnappten sich zwei Brüder von Jokoff Moderitz den vor Angst schlotternden Knecht und entrissen ihm den Umhang. Eh es sich der arme Bursche versah, war er auch seines Schuhwerkes und des Wamses entledigt. Mit einem schnellen Messerschnitt durchtrennte ihm einer der Männer den Gürtel und die Hose rutschte zu Boden. Zitternd stand er im eisigen Sturmwind.
„Um Gottes Willen was macht ihr da?“ Bernhard Rikeland schrie auf. „Er wird sterben!“
„Und Du hoffentlich auch“, erwiderte Jokoff Moderitz und bedeutete ihm seine Kleidung abzulegen. „Mach hin, uns ist kalt, wir wollen nach Hause ins angewärmte Bett.“ Die Männer grölten bei diesen Worten und schlugen sich vor Lachen auf die Schultern.
Bernhard Rikeland zog langsam seine Sachen aus. Er hatte keine Chance gegen die fünf wehrhaften Brüder.
Die warfen inzwischen die Klamotten auf den Wagen, kletterten hinauf und schickten sich an davonzufahren.
„Wartet!“, rief Bernhard. „Wartet, ihr könnt uns nicht einfach hier stehen lassen!“
„Doch, können wir und machen wir. Eine bessere Gelegenheit Dich ohne Blutvergießen aus der Welt zu schaffen, kriegen wir nicht wieder. Wir werden Dich und den Rest Deiner Familie ausrotten. Ihr wart uns schon immer im Weg. Schönen Abend noch.“
Jokoff wendete das Fuhrwerk und fuhr laut lachend zurück in Richtung Lübeck. Nach ein paar Metern drehte er sich um und rief: „Ach übrigens, Deine Tochter heißt Ghese, sie kann längst laufen und ist ein richtiger roter Teufel.“
Fassungslos starrten die beiden nackten Männer dem Karren hinterher. Sie begannen zu rennen und wollten hinten aufspringen, wurden aber mit kräftigen Peitschenhieben abgedrängt.
Mit dem Wagen waren es etwa zwei Stunden bis Wismar. Zu Fuß, bei dieser Kälte und ohne Zeug auf dem Leib, war es unmöglich den Weg zu schaffen. Frost hatte eingesetzt und ließ sehr schnell alles gefrieren.
Aufgeben wollten sie nicht, deshalb setzten sie einen Fuß vor den anderen. Wie weit kamen sie aber? Nach ein paar hundert Metern brachen sie zusammen. Es begann zu schneien und die Nacht breitete ein Leichentuch aus.
----------------------------------------
Eine Woche später wurde Johan Rikeland unruhig. Schon seit langem hatte er seinen Sohn zurückerwartet. In der letzten Botschaft stand, dass er eine Tagesreise von Lübeck entfernt sei und von dort noch ein Fass Rotspon mitbringen wolle. Ob er wohl zuviel davon gekostet hatte? Rikeland schmunzelte kurz. Nein, so einer war der Bernhard nicht, auf ihn konnte man sich verlassen. Trotzdem, irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Er konnte seinen Freund Hegemann überzeugen, mit ihm auf die Suche zu gehen und so ritten sie gemeinsam gen Lübeck.
Meine Vorfahren haben erlebt, dass Wismar Mitte des 13. Jahrhunderts aus allen Nähten platzte. Die Bürger waren fleißig, der Handel florierte, die Stadt wurde wohlhabend. Neue Wohnhäuser und Geschäfte mussten her. Man erbaute sie im Bereich der heutigen Neustadt.
Mit der Errichtung der Pfarrkirche Sankt Georgen (niederdeutsch: Sankt Jürgen), welche, mit modernen Maßstäben gemessen, einer besseren Dorfkirche entsprach, wurde die erste Bauperiode einer neuen Hallenkirche eingeleitet. Man baute fortschrittlich, aber teuer, aus Stein.
Zur selben Zeit tauchte auch der erste meiner Ahnen in Wismar auf.
Wer ich bin?
Nun, mein Name ist Gallus. Das wird Ihnen möglicherweise nicht viel sagen. Um mehr über mich zu erfahren, können Sie in der Geschichte der Stadt Wismar forschen, oder aber diesen Roman bis zum Ende lesen. Ich werde Sie dabei begleiten und das historische Wissen meiner Vorfahren sehr gerne mit Ihnen teilen.
Eines noch, auch wenn meine Familie seit Jahrhunderten in Wismar ansässig ist, schließe ich doch verwandtschaftliche Verbindungen zu irgendeinem der geneigten Leser völlig aus.
Die Ratsleute tobten.
Noch nie war ein solch frevelhafter Antrag auf ihren Tisch gekommen.
Der Bürgermeister griff immer wieder zur Tischglocke und mahnte die aufgebrachten Männer sich zu beruhigen. Sein lauter volltönender Bass wurde allerdings vom Geschrei der anderen erstickt.
Einzig Johan Rickeland saß still am Tisch und starrte mit glasigen Augen vor sich hin..:
Am lautesten schrie Jander Moderitz seinen Zorn hinaus, aber das hatte Rikeland nicht anders erwartet. Nur, dass auch sein Freund Hegemann in den Chor der Entrüstung einstimmte, das befremdete ihn.
Vielleicht aber war ja das, was er da verlangte, und dem Rat auf einem Stück Pergament vorgelegt hatte, tatsächlich ein Frevel.
Er nahm das Blatt an sich, stand auf und augenblicklich war es totenstill in der Ratsstube. „Ich wiederhole noch einmal mein Ansinnen“, sprach er und las das Schreiben langsam vor.
„Ich, Johan Rikeland, der Unterzeichner gar selbst, leibhaftig
und bei geistiger Unversehrtheit, verlange Aufklärung
über die grausame Ermordung meines Sohnes Bernhard.
Seine seelenlose Hülle werde ich auf dem Kirchhof von
Sankt Jürgen der Erde wiedergeben.
Mit diesem Schriftstück aber beantrage ich Folgendes:
Vor der Beisetzung meines Sohnes soll seinem Leichnam die
rechte Hand abgenommen und in der Kirche für jedermann sichtbar
aufbewahrt werden.
Sie wird ein Zeichen für die Anklage dieser barbarischen Tat sein,
ein Zeugnis für meinen Willen, nicht eher zu ruhen, bis der elende
Schurke gefasst ist, der den letzten Erben der Familie Rikeland
ausgelöscht hat.
Wenn der Mörder überführt, verurteilt und gerichtet ist, dann erst darf
auch die Hand des Opfers ihren Frieden finden und seinem leblosen
Körper zurückgegeben werden.
Wird er weder gefunden noch bestraft, so soll sie ruhelos den Verbrecher
verfolgen, seine Familie ins Unglück stürzen und über die Jahrhunderte
allen Menschen Kunde von diesem schrecklichen Ereignis geben.
Johan Rikeland, Tuchhändler zu Wismar
Anno 1250, im März
Wieder brandete eine Woge der Entrüstung auf. Man beschimpfte ihn übel, Ketzer und Gottesverächter waren noch die harmlosesten Beleidigungen, welche man ihm an den Kopf warf. Einer griff gar auf den Teller und warf einen Fisch nach ihm, aber Rikeland blickte so stur und hart in die Augen seiner Ratsbrüder wie zuvor. Ihn konnte man nicht mehr verletzen, mit Nichts, und schon gar nicht mit Worten. Als ihn ein Becher mit Bier traf, schüttelte er seinen Umhang ab und verließ die aufgebrachte Meute. Für ihn war die Ratssitzung heute beendet.
Sein Freund Hegemann lief ihm nach.
„Wie konntest Du das nur tun? Wie konntest Du dem Rat ein solches Anliegen unterbreiten, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen? Ich bin Dein ältester Freund, wir haben zusammen Deinen Sohn gesucht und seinen erfrorenen Körper am Wegrand gefunden. Meine Arme haben Dich an diesem Tag nach Hause getragen, sonst wärest Du neben ihm zu Grunde gegangen. Warum übergehst Du mich?“
„Du hättest mich liegen lassen sollen, neben Bernhard zu sterben wäre die Erfüllung meines Lebens gewesen. Zugegeben, verachtenswert, aber mein Leid von jenem Moment an kannst Du nicht ermessen. Was nützt mir ein Freund, und sei er noch so aufrichtig, was nützt Du mir, habe ich doch alles verloren. Was sollte ich tun? Was, was? Ein Wort von mir, und es wäre gewiss, dass Du mir tagelang dieses Ansinnen an den Rat ausreden würdest. Ich habe doch gehört wie Du Dich eben in der Versammlung ereifert hast, mitgeschrieen mit den anderen und mich angeschaut, als wäre ich der Leibhaftige persönlich. Glaube mir, den fürchte ich nicht, er saß ja mitten unter uns.“
„Johan wie meinst Du das?“
„Ach Arnhold, Du weißt so gut wie ich wer meinen Sohn umgebracht hat. Kann ich mir aber erlauben den Verdacht zu äußern? Wer steht auf meiner Seite? Du etwa?“
„Lieber Freund, denn das bist Du immer noch, und kannst meiner Freundschaft sicherer sein, als jemals zuvor. Wie konnte ich mich im Rat auf Deine Seite stellen? Mich selbst hast Du mit diesem Ansinnen völlig überfahren. Mag es Gott gefallen oder nicht, ob es den Ratsbrüdern behagt ist einerlei, aber mir gefällt Dein Vorschlag mit der Opferhand. Du hättest mich ins Vertrauen ziehen sollen und gemeinsam wären wir vielleicht geschickt genug gewesen, sie wenigstens nachdenklich zu stimmen. Jetzt schreien sie nur rum und bewerfen Dich mit Schmutz. Sicher, ich habe eben mit der Meute geheult, aber das gab mir Gelegenheit sie alle gründlich zu beobachten, und Du hast völlig recht, der getroffene Hund bellte am lautesten.“
„Danke Arnhold, ich glaubte auch Dich verloren zu haben. Wer steht für die Toten ein? Niemand wird sich den Brüdern Moderitz in den Weg stellen. Zuviel ist in den letzten Jahren geschehen, und seit Jander im Rat sitzt, gibt es immer mehr ungeklärte Vorfälle. Auch der tote Knecht tut mir leid. Niemand trauert um ihn, ein Bursche ohne Familie, wen schert es schon wenn so einer ermordet wird. Verscharren werden sie ihn irgendwo. Mich graust es.“
„Du warst schon immer ein Menschenfreund Johan, ich weiß, dass es den Knechten und Mägden bei Dir gut geht, soviel Glück haben nicht viele. Lass uns jetzt gehen, aber nicht in Dein Haus, da versinkst Du nur in Trübsal. Komm mit zu mir, ich will etwas mit Dir besprechen, es wird Dich erfreuen.“
Sie machten sich auf den Weg, während im Rathaus immer noch große Aufregung herrschte. Allerdings schrien sich die Männer nicht mehr an, die Person, gegen die sich ihr Groll richtete, hatte die Versammlung längst verlassen. Das Pergament hatte Rikeland auch mitgenommen, so dass man nicht genau wusste, wie nun zu verfahren war. Eine solche Situation hatte es im Rat noch nicht gegeben.
Sie beschlossen mehrheitlich das Anliegen auf sich beruhen zu lassen. Ihre Abneigung dagegen hatten sie überdeutlich gezeigt und insgeheim hoffte jeder, dass der Antragsteller von seinem Vorhaben absehen würde. Vielleicht hatte er ja nur ein paar Becher Wein zuviel getrunken und käme in den nächsten Tagen zu sich. Der tragische Tod seines Sohnes schien ihm ohnehin die Sinne verwirrt zu haben.
----------------------------------------
Der Winter nahm 1250 tatsächlich kein Ende. Er war so eisig, dass die Krähen mit leisem Knacken von den Bäumen fielen. Johan Rikeland spendete viel für die Armen und Kranken in den Hospitälern der Stadt. Besonders Sankt Jacob hatte es ihm angetan. Er brachte nicht nur Essen und Kleidung dorthin, auch Feuerholz, wärmende Decken, Kräuter und sogar Kinderspielzeug beschaffte er. Er tat es nicht zuletzt eines kleinen Mädchens wegen, das dort völlig verarmt mit seiner Mutter lebte und seine Enkelin war. Auch wenn er sich nicht zu ihr bekennen konnte, niemand wusste von dem Kind, so war sie doch ein Teil seiner Familie, die Tochter seines toten Sohnes. Oft plagten ihn Vorwürfe, ob seiner Hartherzigkeit, als er Bernhard verbot die Schwester der Moderitzbrüder zu ehelichen. Wäre alles anders gekommen, wenn er Agnes als Schwiegertochter aufgenommen hätte? Er versuchte zu tun, was ihm möglich war, um dieses Hospital vor den Toren der Stadt zu versorgen.
Für Einen konnte er nichts mehr tun, er konnte ihn nicht einmal anständig in Gottes Erde bringen, es war einfach zu kalt, um sein Grab auszuheben. So lag Bernhard steifgefroren in der kleinen Kapelle der Holzkirche von Sankt Jürgen und wartete auf seinen Einzug ins Paradies.
Eines Nachts huschten zwei vermummte Gestalten durch Wismars Gassen. Die Gesichter waren mit Kapuzen und Tüchern verhüllt, schwere Wollumhänge machten es unmöglich zu erraten, wen sie verbargen. Vielleicht hätte man sie am Gang erkennen können, aber wer achtete in diesem Winter auf nächtliches Treiben in der Stadt. Der Nachtwächter war gerade in der Nähe des Hafens, als die beiden den Kirchhof von Sankt Jürgen betraten. Einer holte eine Gerätschaft unter seinem Umhang hervor und hebelte mit einem Ruck die einfache Holztür der Kirchenkapelle auf. Sie schlüpften hinein und als wäre Gott mit ihnen, knarrte sie kein bisschen. Im Inneren entzündeten sie eine Kerze und schwacher Lichtschein erhellte den Raum. Eilig begaben sie sich zu dem Sarg, welcher in der Mitte stand und mit einem weißen Tuch bedeckt war.
„Verzeih mir mein Sohn!“ Johan Rikeland war es, der den Deckel anhob und beiseite schob. Er murmelte ein Gebet und starrte dem Toten ins Gesicht. „Schnell, schnell“, mahnte ihn sein Begleiter, der nur Arnhold Hegemann sein konnte, und zog eine Säge hervor. „Du musst es schnell tun, der Nachtwächter wird nicht lange brauchen, bis er hier ist. Rikeland bekreuzigte sich und griff nach dem Arm seines Sohnes. Er holte noch einmal tief Luft, setzte das Werkzeug am Handgelenk an und sägte mit kräftigen Bewegungen die Hand ab.
„Gott sei mit Dir!“ Die Männer flüsterten nur leise, richteten den Sarg wieder her und verschwanden so still, wie sie gekommen waren.
Am nächsten Morgen regnete es kräftig, die Temperatur war gestiegen, der Schnee schmolz sehr schnell und Wismar glich einer einzigen Schweinesuhle.
Der Pastor von Sankt Jürgen stapfte durch den Dreck der Straßen und schimpfte leise vor sich hin. Nicht einmal die hölzernen Trippen, die er sich unter die Füße geschnallt hatte, konnten den Schlamm und Unrat von seinen Kleidern fernhalten. Das würde wieder einen Schmutz in seiner Kirche geben. Ungeduldig fummelte er mit dem großen eisernen Schlüssel im Schloss herum und war über die offene Tür sehr erstaunt. Als er aber feststellte, dass alle Kerzenleuchter an ihrem Platz waren und auch sonst nichts fehlte, selbst der Opferstock war unberührt, gab er nichts darauf. Wahrscheinlich hatte er einfach am Abend vorher vergessen zuzusperren. Er wurde alt, das schien ihm verzeihlich.
Wichtig für ihn war, dass der Sarg endlich unter die Erde kommen würde. In ein paar Tagen taute der Boden sicherlich tief genug und es konnten Gräber geschaufelt werden. Es gab viele Tote in diesem Winter, er zeigte sich unbarmherzig.
Niemandem der Trauergäste fiel während der Beerdigung von Bernhard Rikeland auf, dass der Sarg geöffnet worden war. Niemand wollte noch einmal hineinschauen und niemand ahnte, dass darinnen etwas fehlte.
Überhaupt gestaltete sich das Begräbnis eigenartig. Die Familie Rikeland hatte einen ehrbaren Namen in der Stadt und weit darüber hinaus. Zahlreiche Trauergäste erschienen und der kleine Kirchhof war von Menschen gänzlich überschwemmt. Trotzdem stand Johan einsam an dem offenem Grab. Nur Hegemann gesellte sich zu ihm. Sämtliche Ratsherren waren anwesend, blickten aber allesamt betreten zu Boden und tätigten nicht mehr als die üblichen Beileidsbekundigungen. Insgeheim war jeder froh, dass das unsägliche Anliegen nicht wieder zur Sprache kam und Rikeland anscheinend den schmerzlichen Verlust anderweitig verarbeitete. Die ganze Stadt schien von der eskalierten Ratssitzung zu wissen und die Bürger tuschelten und redeten. Sie taten nur eines nicht, keiner sprach von der Aufklärung des feigen Mordes, niemand fragte, ob er helfen könne. Alle schienen in eine ängstliche Starre verfallen zu sein.
Nachdem der Pastor seine Rede beendet hatte verschwanden die Menschen so schnell es der Anstand eben noch zuließ. Der Regen tat ein Übriges und vertrieb selbst diejenigen, die vielleicht doch mehr als „mein Beileid“ murmeln wollten. Nur die Brüder Moderitz gaben sich den Anschein von besonderer Betroffenheit und schüttelten Johan, der die ganze Zeit nur still und in sich gekehrt dastand, aufdringlich die Hand. Jokoff sagte: „Du solltest nach Hause gehen und Dich an ein wärmendes Feuer setzen, diese nasse Kälte kann tödlich sein.“
Rikeland zeigte mit einer einzigen Bewegung, dass er mitbekam, was um ihn herum geschah. Er drosch Jokoff seine Faust ins Gesicht.
In einer entfernten Ecke des Friedhofes zuckte eine junge Frau ob dieses Schlages zusammen. Es war Agnes Moderitz, die sich nicht näher herantraute. Von der Liebe zu Bernhard Rikeland war ihr nur das Töchterchen Ghese geblieben. Ihre Brüder sollten sie hier nicht weinen sehen. Konnte sie überhaupt noch weinen? Vielleicht; wenn alle fort waren, vielleicht konnte sie dann in aller Stille Abschied nehmen. Völlig durchnässt verbarg sie sich zitternd hinter einem höheren Grabstein. Seit Stunden hockte sie hier und wenn der Regen nicht bald aufhörte und Johan Rikeland nicht nach Hause ging, dann konnte sie sich gleich zu ihrem toten Geliebten legen. Sie begann leise zu husten.
Genau vier Jahre war es nun her, dass er seinen Sohn begraben musste.
Ratsherr Johan Rikeland stand auf dem Kirchhof und blickte auf die Grabplatte zu seinen Füßen. Die Freude war nicht in sein Leben zurückgekehrt.
Hegemann, der nach wie vor zu ihm hielt, hatte inzwischen einen Enkelsohn bekommen. In seinem Hause war immer etwas los. Der Kleine konnte schon prima sprechen und bettelte Onkel „Rike“ immer um eine Kleinigkeit an. Eine Honigwabe, einen Apfel oder ein gekochtes Ei hatte der immer dabei, wenn er zu seinem alten Freund ging. Heute freilich war der dritte Geburtstag des Knaben und unter Rikelands Umhang zappelte das Geburtstagsgeschenk sehr ungeduldig. Ein kleiner Hund versuchte sich aus dem Griff Johans zu befreien.
Dieser verabschiedete sich im Stillen von seinem Sohn und begab sich schnellen Schrittes in Richtung Neustadt.
Das Stadtgebiet war gewachsen, neue Bürger hatten sich dort sehr schnell angesiedelt und auch Rikeland und Hegemann bauten sich an einer der Gruben, die zum Hafen führten, neue Häuser aus guten Hölzern. Der Handel florierte, Wismar platzte längst aus allen Nähten und das Kirchspiel, von dem vor ein paar Jahren nur geredet wurde, nahm langsam Formen an. Eine neue Stadtkirche wollten die Bürger errichten, ganz nah bei der Marienkirche sollte sie stehen, der Platz dafür war schon ausgesucht.
Ach, was sollte es, heute wollte er sich nicht mit Gedanken an Kirchen und derlei Kram befassen. Heute sollte gefeiert werden, und er war auch schon angekommen im Hause des Geburtstagskindes und schritt soeben durch das offen stehende Tor in die Diele. Sofort stürzte ein kleiner Wirbelwind auf ihn zu und bestürmte ihn mit Fragen. „Onkel Rike, was hast Du mir heute mitgebracht? Ist es etwas Großes? Weißt Du, ein Apfel reicht heute nicht, ich habe Geburtstag und möchte etwas ganz Schönes von Dir haben. Was hast Du da unter Deinem Umhang? Hui, es bewegt sich, muss ich davor Angst haben?“
Der Bursche ging vorsichtig auf Abstand.
„Nein, nein“, sagte Johan Rikeland, vor dem hier brauchst Du Dich nicht zu fürchten und zog den Welpen hervor. „Schau wie ängstlich er selber ist, angepinkelt hat er mich.“ Er hob das Tierchen hoch und es tropfte immer noch von seinem Bauch herab. „Hier nimm ihn, ich schenke ihn Dir Gottfried, behandele ihn gut und wenn Du lieb zu ihm bist, dann wird er sein ganzes Leben lang ein guter Freund für Dich sein.“
Gottfried kam vorsichtig näher und sah dem kleinen Hund in die Augen. Dieser nutzte die Gelegenheit und schleckte seinem neuen Herrchen quer über das ganze Gesicht. Der Junge brüllte und Rikeland schlug sich vor Lachen auf die Schenkel.
„Wie ich sehe geht es Dir gut.“ Arnhold Hegemann war dazugekommen und knuffte ihm freundschaftlich in die Seite.
„Ach, Du weißt ja“ sagte dieser, „wenn ich Deinen Enkel sehe, dann berührt ein Sonnenstrahl mein Herz, und meine gequälte Seele gibt ein wenig Ruhe.“
„Das verstehe ich, nie hätte ich gedacht, dass dieses winzige Kerlchen mein Leben so durcheinander bringt. Den werde ich nie mehr hergeben, und die Erbfolge ist natürlich auch gesichert.“
„Für Dich und die Deinen sieht die Zukunft nicht schlecht aus, was aber ist mit mir? Steht mir nicht auch noch ein wenig Glück zu?“
„Keinem gönnte ich es mehr als Dir, und was Du auch tätest, solange es gut für Dich wäre, hättest Du meinen Segen.“
„Dann will ich Dich etwas fragen, aber das braucht hier noch niemand zu hören. Können wir in Deine Schreibstube gehen?“
Arnhold Hegemann ließ einen großen Krug Bier und zwei Becher in das Kontor bringen und die Männer machten es sich bequem.
Rikeland begann zu sprechen. „Dir wird nicht entgangen sein, dass ich in den letzten Jahren die Hospitäler der Stadt mit dem versorge, was sie nötig brauchen. Es gibt viele Arme und Kranke, ich kenne all ihre Namen, einen ganz besonders. Im Heiligen Geist Hospital lebt ein Junge, etwa sechs Jahre alt. Er hat niemanden zu dem er Vater oder Mutter sagen kann. Was für ein aufgewecktes Bürschchen er ist, habe ich gemerkt, als er mir kleine Kieselsteine verkaufen wollte und allen Ernstes behauptete, wenn ich sie meinen Hühner ins Futter mengen würde, dann fräßen sie nur noch die Hälfte, aber legten Eier mit härterer Schale.“
Die Männer lachten und Hegemann stellte fest, dass sein Freund blitzende Augen bekam.
„Der Bursche beeindruckt Dich wohl sehr?“
„Mehr als das, und deshalb habe ich beschlossen ihn in mein Haus zu holen.“
„Einen sechsjährigen Knecht? Du warst doch nie dafür, dass Kinder arbeiten müssen. Deine Entscheidung erstaunt mich.“