Das Geheimnis der Hüterin - Ben Hawkes - E-Book

Das Geheimnis der Hüterin E-Book

Ben Hawkes

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Beschreibung

Die Welt der Vorzeit ist zerbrochen und die letzten Überlebenden rotten sich zu einer Gemeinschaft in einer abgelegenen Bucht zusammen. Nur mit Anstrengung aller und dem Wissen der Hüterinnen trotzen die Menschen der Natur. Kisi trägt als Sammlerin in der Wüste ihren Teil bei. Dort in der endlosen Weite auf dem Rücken ihrer Rubinechse fühlt sie sich frei. Als sie eines Tages einer jungen Hüterin das Leben rettet und sich mit dieser anfreundet, ahnt Kisi nicht, welche Ereignisse sie ins Rollen bringt. Das Machtgefüge der Bucht bröckelt und bedroht damit nicht nur Kisis schlichtes Leben, sondern die gesamte Menschheit. In den Flächenbrand um die Vorherrschaft werden Kisi und ihre Freundinnen hineingezogen – ob sie wollen oder nicht. Mit Entschlossenheit stemmen sie sich gegen den Zerfall alles Bekannten, nur um festzustellen, dass der Funke einen unerwarteten Ursprung hat. Eine packende Dystopie, die zeigt, dass wir mit Mut, Freundschaft und einem Amulett alles bewältigen können.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ben Hawkes

Das Geheimnisder Hüterin

© 2024 Benjamin Ziech

Autorenwebsite:www.ben-hawkes.com

1. Auflage 2024 Lektorat: Dr. Benjamin Ziech Korrektorat: Irina Sehling Umschlaggestaltung & Satz: Dr. Benjamin Ziech

ISBN Broschur 978-3-7579-9012-1 ISBN ePub 978-0-473-70447-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Alex, Anne, Chrissi & Thea

Prolog

»Es ist vorbei!« Stille – die Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Miriama rollte sich von der Bauchlage auf die Schulter und setzte den Feldstecher auf einem Stein neben ihrem Kopf ab.

»Ich komme runter.«

Ihr Herz hämmerte. Sie atmete dreimal tief ein und erhob sich bedächtig. Rotgrauer Staub haftete an ihrem schweren Mantel. Mehrmals klopfte sie auf den rauen Stoff – effektlos. Die Farbe würde nie wieder eine andere sein.

Was soll’s? So schnell würde sie den Dreck eh nicht los. Dafür waren sie mittlerweile zu weit in die Wüste vorgedrungen. Unter dem Ärmel verborgen, schmiegte sich das Amulett mithilfe von Lederriemen fest an ihren linken Unterarm. Das beruhigte sie. Wenn es hart auf hart kommen würde, wäre das ihre Rettung.

Sie schnappte sich das Fernglas, stopfte es in den abgenutzten Rucksack und kletterte den sandgeschliffenen Felsen hinunter.

Vor dem Felsen traf Miriama auf die anderen, die gespannt auf weitere Details warteten. Mit einem kraftvollen Sprung bewältigte sie den letzten Meter. Schwer landete sie auf dem Boden und versank dabei knöcheltief im rotgrauen, alles bedeckenden Sand. Ihr Filter war durch den Aufprall verrutscht. Bedächtig schob sie ihn zurecht. Wegen eines solchen Ungeschicks sich etwas einzufangen, musste wahrlich nicht sein. Das Risiko, die Masken mit der schützenden Funktion zu besorgen, war enorm gewesen. Zu groß, um sich durch einen leichtsinnigen Fehler in Gefahr zu bringen. Da nahm sie auch den andauernden Gummigeruch hin.

Miriama richtete sich auf und starrte in die getönten Schutzbrillen der anderen, die sich erwartungsvoll vorneigten. Niemand wagte, ohne einen entsprechenden Augenschutz in den endlosen Dünen herumzulaufen.

In ihrem Headset, das sie unter der Atemschutzmaske trug, knisterte es.

»Also?«

Es war nicht eindeutig, wer fragte. Durch ihre Qualität anonymisierten die Mikrofone manche Stimmen. Letztlich spielte es keine Rolle.

»Scheinbar ist es vorbei. Der Horizont im Norden war sauber. Ich habe keinen Rauch aufsteigen sehen«, murmelte Miriama. »Leider.« Sie stockte. »Ich habe im Süden Staubwolken entdeckt.«

Nachdenkliche Stille. Den fünfen war bewusst, was das bedeutete.

»Es hilft nichts.« Wie üblich unterbrach Miriama das Schweigen als Erste. »Wir müssen weiter. Entweder finden wir die Stelle – auch ohne Rauch – oder es wird Zeit umzudrehen. Wir haben unsere Gesundheit lange genug aufs Spiel gesetzt.«

Zustimmendes Nicken – die anderen waren erwartungsgemäß ihrer Meinung. In der Wüste war es gefährlich. Sie hatten bereits eine Begleiterin an Strahlung und erbarmungslose Hitze verloren. Es mussten nicht mehr werden.

Die Gruppe hatte Jodtabletten und Filter eingepackt. Zusätzlich versuchten sie, sich bestmöglich vor der Hitze zu schützen. Allerdings war es möglich, dass sie alle schon eine Überdosis erwischt oder das Wasser falsch kalkuliert hatten. Ersteres würden sie zweifellos in den kommenden Tagen nach ihrer Rückkehr herausfinden. Der gefürchtete blutige Husten, begleitet von Haarausfall, konnte jede aus der Gruppe treffen, insbesondere die Unvorsichtigen. Miriama kontrollierte erneut ihren Filter und stellte zufrieden fest, dass alles an seinem Platz war. Immerhin ein kleiner Trost. Ihre Kleidung bot ihr nur einen mittelmäßigen Schutz gegen die Strahlung, etwas Besseres war in der Eile nicht zu bekommen gewesen. Es war fraglich, ob überhaupt angemessene Schutzkleidung über die vergangenen Jahrzehnte überlebt hatte.

Es war, wie es war. Zeitverschwendung, darüber länger nachzudenken. Die Herausforderung momentan bestand darin, die Absturzstelle zu finden. Ohne den Rauch hatten sie nur eine vage Vorstellung, wo der Krater sich befand. Zudem erhöhten die Verfolgenden den Zeitdruck.

Miriama kramte eine eingeschweißte, in die Tage gekommene Karte aus einer Seitentasche des Rucksacks heraus. Derart weit war sie noch nie in die Wüste vorgedrungen. Mit Informationsfragmenten aus den Erzählungen der Alten und unzähligen Erkundungsausflügen ihrer Gruppenmitglieder hatte sie über Jahre eine rudimentäre Karte zusammengetragen. Sie deutete auf die Region, in der sie ihr Ziel vermutete.

»Der Einschlag wird von Weitem sichtbar sein.« Lilani schob sich von links in Miriamas Sichtfeld. Auf ihrem braunen Ledermantel glänzte ein militärisches Abzeichen. Heutzutage – eigentlich schon seit Ewigkeiten – bedeutungslos.

»Ich vermute, ja, aber sicher können wir uns nicht sein.«

Die Gefährtinnen stapften zu den Echsen. Miriama strich die Folie an der Flanke ihres Tiers glatt, deutete auf den westlichen Teil des Zielgebiets und aktivierte wieder ihr SRD – ein Short Range Device. Das Funkgerät mit geringer Reichweite war ideal für ihren Einsatz. Es besaß eine hohe elektromagnetische Verträglichkeit und konnte nur schwer aus der Entfernung aufgespürt werden.

»Lasst uns eine Entscheidung treffen! Wenn wir uns auf dieses Gebiet beschränken, wäre ein Rückzug über den Gebirgsausläufer möglich. Dort ist es ein Leichtes, sich vor den Verfolgerinnen zu verstecken. Allerdings besteht damit die Gefahr, dass wir das Ding nicht finden.«

»Oder«, klinkte sich Lilani ein, »wir überprüfen die gesamte Region und haben eine höhere Chance, es zu entdecken – jedoch keine Garantie dafür. Nur der Weg in die Bucht wird wesentlich aufwendiger, sei es durch den Orden oder unsere Wasservorräte.«

Miriama gab ihren Begleiterinnen nur wenig Zeit zum Überlegen. Energisch rollte sie die Karte zu einer Röhre und schob sie zurück in den Rucksack. Ihre Hand verweilte an der Tasche und kontrollierte, ob sie sicher verwahrt war. Auf keinen Fall wollte sie diesen Schatz, die Früchte unzählbarer Risiken und Stunden, verlieren.

»Ich will nicht alles aufs Spiel gesetzt haben, um jetzt aufzugeben – so kurz vor dem Durchbruch.« Sie schaute in die maskierten Gesichter ihrer Mitstreiterinnen und erkannte durchweg Zustimmung in den Mienen. »Also gut, lasst uns zusammenpacken!« Wieder klopfte sie sich auf den Mantel. Verdammter Staub. »Je früher wir losgehen, desto eher können wir uns ausruhen.«

Keine Beschwerden, damit war es beschlossen: Sie suchten die Region so lange ab, bis sie die Stelle gefunden hatten.

Die Gruppe versammelte sich bei einem Felsbrocken, der weitere zwei Stunden im Norden aus einer Düne herausragte. In Zweierteams hatten sie versucht, eine größere Fläche abzudecken.

»Nichts.« Miriama war alleine geritten.

Yemaya hatten sie heute Morgen im Wüstensand zurückgelassen. Beim Verlassen der Siedlung war sie übel verletzt worden, kombiniert mit der Strahlung war sie dem Tod geweiht. Miriama kannte sie seit ihrer Kindheit, die Gedanken an sie trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie schluckte schwer. Doch diese Sache war riesig, so viel größer als alles, was sie und ihre Begleiterinnen bisher herausgefunden hatten. Die Lebensgefahr war jeder einzelnen Mitstreiterin von Beginn an bekannt gewesen und in Kauf genommen worden. Sie blinzelte einige Male hintereinander, um eine klare Sicht unter der Maske zu bekommen.

»Nichts«, antwortete die zweite Gruppe.

»Auch nichts.« Das SRD rauschte. »… unsicher … eventuell …«

»Was?«­­ Miriama winkte den letzten Suchtrupp herbei. Er war zu weit entfernt für die geringe Reichweite ihrer Funkgeräte. »Wiederholen!«

Die zwei rauschten heran. Das antike Militärabzeichen glänzte in der tiefstehenden Sonne.

»Ich sagte«, keuchte die Frau im braunen Ledermantel, »wir haben, glaube ich, den Krater gefunden. Ziemlich weit draußen.«

»In welcher Richtung war das?«

»Das ist das Gute: Nordwest. Wenn wir von diesem Punkt einen großen Bogen ziehen, bewegen wir uns auf die Ausläufer des Nebelgebirges zu.«

Miriama prüfte den Sonnenstand, dann die verräterische Staubwolke. Es blieben ihnen bis zur Dunkelheit lediglich wenige Stunden. Zumindest sah es für sie so aus, als ob ihre Verfolgerinnen ebenfalls in der Wüste nur langsam vorankämen.

»Mein Vorschlag ist«, Miriamas Hand wanderte zum Amulett, »dass wir uns dorthin begeben. Es ist der einzige Hinweis.«

»Die Strecke ist weit, jedoch könnten wir es im Tageslicht schaffen.« Lilani rückte ihre Atemschutzmaske zurecht. »Die Tiere sind zugegebenermaßen erschöpft … Ich denke, wir müssen es versuchen. Wie du sagtest, wir haben nur diese Spur.«

»Wenn niemand Einwände hat, lasst die Echsen fünfzehn Minuten ausruhen und uns dann zur vermeintlichen Stelle reiten.«

Es kam kein Widerspruch.

Die Reptilien wurden langsamer, sie waren am Ende ihrer Kräfte. Glücklicherweise befanden sie sich nahe dem Einschlagskrater. Unglücklicherweise verschwand die Sonne soeben hinter den Berggipfeln. Wie es aussah, würden sie den Rest zu Fuß zurücklegen müssen, wenn sie die Echsen nicht zu Tode reiten wollten. Sie waren schließlich ihre Rückfahrkarten.

Die Gruppe stieg ab, auf Miriama wirkten die Tiere erleichtert. Zwei Gefährtinnen holten eine klobige haloLampe mit Handkurbeln aus einer Satteltasche. Beim Ausrüsten vor dem Aufbruch hatte es hitzige Diskussionen darüber gegeben, ob es genügend Raum für den massigen Apparat in der Tasche gab. In diesem Moment waren alle froh, dass sie sich zur Mitnahme durchgerungen hatten. Die schmächtige Bia trug die haloLampe, während eine zweite Gefährtin, die Miriama im Halbdunkeln nicht erkannte, von Zeit zu Zeit kurbelte, um die Batterie aufzuladen.

Die Spitze des Zugs wurde von den Trägerinnen des künstlichen Lichts gebildet, in der Mitte führte eine Frau die Tiere, Miriama und Lilani sicherten nach hinten ab. Eine nahezu sinnlose Aufgabe bei der aufkommenden Schwärze.

Während sie vor sich hin stapften, fiel die Temperatur spürbar und der Wind nahm zu. Der Sand schabte schroff über die Mäntel und peitschte auf jede Stelle, wo die Haut nicht von Stoff bedeckt wurde.

Miriama fluchte. »Es dürfte nicht mehr allzu weit sein. Sind wir sicher, dass wir in die richtige Richtung marschieren?«

»Sicher?« Lilani lachte rau. »Klar. Wir müssen nur lange genug laufen, bis …«

»Da vorne!«, unterbrach Bia. Ihr Kanal rauschte unaufhörlich. »Vor uns sehen wir eine … müsste es sein.«

Aufgeregt beschleunigte die Gruppe ihre Schritte.

Als Miriama bei der Lichtquelle ankam, hatten die anderen den Rand des Kraters bereits erreicht. Die Tiefe war in der Dunkelheit nur schwer abzuschätzen. Das Licht spiegelte sich auf dem geschmolzenen Sand, der die Oberfläche der abfallenden Wände bedeckte. In der Mitte trotzte ein Würfel aus gefaltetem Metall den Elementen.

»Das ist es«, keuchte es über das SRD.

»Drei klettern hinunter, zwei stehen Wache!« Miriama ließ keinen Zweifel aufkommen. Sie würde als Erste in den Krater gehen. Unbeirrt zog sie eine Hacke aus der Satteltasche ihrer Echse, sprang übermütig über die Kante und begann mit dem rutschigen Abstieg.

Die sich nähernde Gruppe in weißen Roben des Ordens bemerkte sie nicht.

1

Zusammengesunken saß Kisi im Schatten. Zwischen zwei größeren Felsbrocken, die mitten in der Wüste aus dem Sand ragten, hatten vor langer Zeit andere Bewohnerinnen Plastikpaneele befestigt. Dieser enge Unterstand eignete sich gut für eine Pause. Es war der einzige ernst zu nehmende Schatten in einem Umkreis von fünfzig Kilometern. Das ausgebleichte Material war durchzogen von Rissen und die Sonnenstrahlen bahnten sich an einigen Stellen den Weg in den vergleichsweise dunklen Schutz. Kisi bemerkte es kaum. Alles war besser, als der brutalen Mittagssonne ausgesetzt zu sein. Bald würde es weitergehen, da wollte sie jede Sekunde nutzen, um ein wenig zu dösen.

Neben ihr wachte Emefa grunzend auf. Sie schnaufte kräftig und schüttelte ihren Kopf. Wie es aussah, hatte sie beim Schlafen Sand ins Gesicht bekommen.

»Wie … wie spät ist es?«

»Die Sonne ist vor Kurzem hinter dem Unterstand verschwunden.«

»Gut, gut«, gähnte Emefa. »Dann habe ich rechtzeitig die Augen aufgemacht.« Für einen kurzen Augenblick überlegte sie, auszuspucken, entschied sich jedoch anders. Ohne Hast zog sie ihren kleinen Trinkschlauch aus einer Seitentasche des olivgrünen Rucksacks und nahm einen kräftigen Schluck. »Ah, besser. Wie viel haben wir noch in den großen Beuteln?«

»Gleich viel wie vor der Pause.«

Emefa schaute stirnrunzelnd auf. Sie war um einiges älter als Kisi und hatte somit das Kommando. Früher leiteten erfahrene Reiterinnen mit Ende zwanzig einen Trupp, das zumindest hatte Kisi in den Erzählungen der Alten gehört. Da war sie schon einige Jahre drüber und noch immer wartete sie auf eine eigene Gruppe. Zugegeben, viele Sammlerinnen gab es nicht mehr. Von den Jüngeren wollte keine in die stetig heißer werdende Wüste. Sie suchten sich lieber Anstellungen in den kühlen Kraftwerken oder Fabriken, selbst die Grünhäuser wurden der trockenen Hitze vorgezogen. Zusätzlich befielen Menschen, die in die Wüste ritten, im Leben häufiger heftiger Husten oder Haarausfall.

Kisi selbst konnte die Entscheidung der Mädchen nicht nachvollziehen. Die unfassbare Weite, der Ritt auf der Echse, einfach über den Sand fliegen – das war Freiheit. Sie musste nicht nach dem Takt der Uhr tanzen und zu frei erfundenen Zeiten an der Werkbank stehen oder im Dreck wühlen, die Sonne diktierte ihr die Arbeitszeit. Die starren Regeln waren in der Wüste biegsam. So frei war Kisi nur hier. Die engen Behausungen und lärmenden Straßen in der LIV, wie die letzte menschliche Siedlung offiziell hieß, schnürten sie ein und nahmen ihr die Luft. Alles in allem war sie mit ihrer Situation zufrieden, sie musste nicht auf ein talentfreies Mädchen aufpassen und Emefa verstand zumindest ihren Humor.

»Ein Beutel ist leer, die anderen beiden sollten voll sein.« Sie beugte ihr Haupt und streckte in übertriebener Unterwürfigkeit ihre Arme mit den Handflächen nach oben Emefa entgegen. »Ich werde es sofort kontrollieren.«

»Dumme Nuss!«

Ein staubiger Lappen traf Kisi im Gesicht. Beide Frauen lachten.

Kisi rappelte sich auf und klopfte gebückt ihre Hose und den Mantel ab. Im Schatten hatte sie Letzteren ausgezogen, er wäre nur unnötig warm gewesen. Jetzt klebte rotgrauer Sand auf Ober- und Unterarmen. Beiläufig strich sie sich über ihre dunkle Haut, um ihn grob zu entfernen. Beim Ritt würden zweifellos wieder Sandkörner durch die Ärmel eindringen. Verdammter Sand.

Flüssig zog sie den in die Jahre gekommenen Mantel über. Er war aus einem dunkelblauen synthStoff und hatte ihr daher einiges an Geschick und Chips auf dem Schwarzmarkt abverlangt. Andere Reiterinnen jammerten ständig über ihre zerfallende Kleidung. Für sie bestätigte jeder Ausflug, dass er alle Plastikstücke wert war, die sie bezahlt hatte. Der Mantel nutzte sich kaum ab, hatte keine Risse und blockte die aggressive Sonne.

Bevor Kisi nach draußen trat, prüfte sie geschwind die Trinkschläuche – zwei waren prall gefüllt, was ein gutes Zeichen war. So konnten sie locker bis zum Abend weitersammeln.

Mit einem Schritt stand Kisi im Sonnenlicht und richtete sich auf. Den kleinen Schattenspender überragte sie um mindestens drei Handflächen. Sie war hochgewachsen, größer als viele andere in der Bucht, dafür etwas hagerer.

Geblendet hob Kisi ihre Hand schützend vors Gesicht. Die rote Scheibe leuchtete noch immer recht kräftig, daher entschied sie sich, ihre Schutzbrille aufzuziehen – ein altes Ding aus abgewetztem Leder, das zwei Fassungen mit abgedunkelten Gläsern enthielt. Die Lederriemen wurden am Hinterkopf mit einer Schnalle geschlossen, was jedes Mal eine Fummelei war. Immerhin konnte sie auf diese Weise einigermaßen sehen.

Sie bewegte sich etwas vom Unterschlupf fort. Drei Echsen entspannten in einigen Metern Entfernung, die Luft in ihrer direkten Nähe flirrte. Zwei waren dunkelgrün, die dritte – Nante – verschluckte das Licht förmlich. Seine schwarze Haut barg eine Überraschung: Wenn er sich bewegte, schimmerten einzelne Schuppen rötlich. Doch sobald er rannte, brannte der gesamte Körper in Rot. Nante war einzigartig, eine wahre Rubinechse. Nur selten schlüpften Tiere mit diesen Eigenschaften. Sie wurden nicht für gewöhnliche Arbeit eingesetzt, mit Ausnahme von Nante.

Als Kisi in seine Richtung schlurfte, ruckte der Reptilienkopf in die Höhe und er musterte die Frau mit seinen tiefschwarzen Augen. Sie legte ihre Hand auf seinen Hals hinter dem Dornenkranz, worauf er sich gemütlich erhob und ein Bein nach dem anderen von sich streckte. Ein kräftiges Gähnen überzog sein Maul.

»Na, ausgeschlafen? Ausgezeichnet, denn wir müssen weiter.« Kisi packte ein Horn im Dornenkranz und zog ihn beiläufig hinter sich her. Er wehrte sich nicht und trottete zu den dunkelgrünen Echsen.

Emefa stand vor dem Unterschlupf und hatte zwei Satteltaschen vorbereitet. Die Reiterinnen bewahrten darin nicht nur Gegenstände auf, sondern nutzten die beiden eingenähten Griffe und Schlaufen auch für die Füße als Reithilfen – integrierte Sättel. Schnell waren die Tiere mit den Taschen bestückt und die Frauen aufgesessen. Kisi saß auf Nante, während Emefa sich auf einer dunkelgrünen Echse zurechtrückte. Das zweite grüne Reptil diente ausschließlich als Lastentier für das Sammelgut.

Gemächlich trabten sie los. Selbstständig marschierten sie in einer V-Formation – die beiden Reittiere vorne und dahinter mittig das Packtier.

Den Bemühungen der Gärtnerinnen und Pflanzenkundigen zum Trotz war es bisher nicht gelungen, eine stabile Population an essbaren Wüstenpflanzen in den Grünhäusern heranzuziehen. Nach wie vor konnten die Menschen der LIV nicht auf das Sammeln der Kaktussetzlinge verzichten. Die Pflanzen in Gefangenschaft vertrockneten nach einer Erntesaison direkt, daher musste jedes Mal aufs Neue wilder Nachschub herbeigekarrt werden. Die kleinen Setzlinge, die die Reiterinnen sammelten, waren bis dato alternativlos. So blieb es nicht aus, dass sich Sammlerinnen nach all der Zeit in die nördlichen Dünen aufmachten. Der Haken war eben, dass immer weniger bereit waren, diese Strapazen und ihre Folgen auf sich zu nehmen.

Zu alldem hatten Kisi und ihre Begleiterin schon seit längerem festgestellt, dass mit den trockenen Temperaturen der vergangenen Jahre die Kakteenbestände zurückgingen. Für sie hieß das wiederum, vorhandene Felder häufiger aufzusuchen, die mit jedem Mal immer weniger Setzlinge produzierten, und zusätzlich tiefer in die Wüste einzudringen, um frische Bestände zu finden. Nach langem Hin und Her hatten die Hüterinnen tatsächlich eine Karte in den Archiven entdeckt, auf der vielversprechende Kakteenfelder eingezeichnet waren. Das vereinfachte die Suche etwas, ebenfalls half der ausgezeichnete Geruchssinn der Echsen.

»Wie ich das sehe, müssen wir heute circa eine Stunde weiter in Richtung Norden. Dort soll ein zusätzliches Feld stehen.« Emefa riss Kisi aus ihren Gedanken.

»Alles klar! Bis dorthin ist es, laut Karte, eine anspruchslose Strecke. Schlicht Dünen rauf und wieder runter … und wieder rauf … und wieder runter«, brabbelte sie vor sich hin. Da die Sonne frontal ins Gesicht brannte, wickelte sich Kisi ein Tuch um den Kopf, bis nur noch ihre Brille herauslugte. Zu oft schon war ihre Haut nach einer ausgiebigen Wüstentour angeschwollen und verbrannt.

Sie folgten dem Ursprung des Lichts, erklommen die Dünen und stürzten in die Täler. Das Wiederkehrende der Bewegung war abstumpfend. Kisi verfiel in eine Art Trance, die Zeit verstrich und ihre Gedanken wanderten richtungslos umher.

Endlich, auf dem nächsten Kamm, reagierten die Echsen. Sie hatten Witterung aufgenommen und die Kakteen waren nahe. Ab diesem Zeitpunkt übernahmen die Reptilien die Führung, zielstrebig würden sie die beiden Frauen ans Ziel bringen.

Hinter einer weiteren Düne breitete sich ein Plateau vor ihnen aus. Markante Silhouetten zeichneten sich ab. Das typische gärige Aroma lag in der Luft. Dort standen unzählige grünbraune Pflanzen, Kisi hatte schon lange nicht mehr eine derart stattliche Population gesehen. Die Fläche war überzogen mit monströsen Exemplaren, die die Reiterin auf ihrem Tier überragten. Zusätzlich tummelten sich unzählige mittlere und kleinere kugelförmige Kakteen – zu jung, um Setzlinge herauszuschneiden. Gewöhnlich taten sie es dennoch, die großen erbrachten in den näheren Regionen kaum Ertrag.

»Wir werden ordentlich was ernten.« Kisi jauchzte. »Ob wir ausreichend Platz in den synthSäcken haben?« Sie orientierte sich. »Mhm, relativ nahe an den Bergen. Eventuell sollten wir unseren Rückweg über die Ausläufer planen. Die Tiere sind auf festem Untergrund wesentlich schneller.«

»Dort existieren allerhand verdeckte Spalten. Im Zwielicht übersehen die Reptilien sie gerne und stürzen oder bleiben stecken.« Emefa streckte sich. »Lass uns als Erstes die Setzlinge holen, anschließend können wir uns über die Route Gedanken machen.«

»Okay.« Kisi sprang elegant von Nantes Rücken und versank erwartungsgemäß bis zu den Knöcheln im Sand. Die begehrten Pflanzen wuchsen meistens in Gebieten mit feinem Untergrund. Das Hin- und Herbewegen zwischen Kaktus und Lastentier wurde so jedes Mal zur Tortur. Ihre Muskeln machten sich noch immer vom gestrigen Ausflug bemerkbar. Das war eine Sache, die selbst Routine nicht ganz abstellen konnte.

Es half nichts. Kisi packte ihren Erntestab – einen über zwei Meter langen Stock – und eine braune synthPlane, um sich das erste Opfer zu suchen. Ein großer Kandidat in unmittelbarer Umgebung forderte sie heraus. Sie nahm dies mit einem breiten Lächeln an.

Die ausgewählte Pflanze bestand aus einem menschendicken Stamm, von dort zweigten unzählige Äste ab. An ihnen hafteten die bläulichen Knospen, aus denen die Gärtnerinnen Setzlinge ziehen würden. Den gesamten Kaktus schmückten zehn Zentimeter lange Dornen – giftige Stacheln. Ein Stich schmerzte einer heftigen Verbrennung gleich. Kisi hatte das früh in ihrer Sammlerinnenkarriere erfahren. Narben an ihrer rechten Schulter zeugten von einer innigen Bekanntschaft.

Kisi breitete die synthPlane um den Stamm auf dem Boden aus und hackte die blauen Knollen von den Ästen. Die gelösten Knospen fielen auf den braunen Stoff. Was danebenflog, musste sie mühsam aus dem weichen Sand klauben. Unnötige Arbeit, die es zu vermeiden galt.

Nach wenigen Minuten stand sie stolz über ein Dutzend Knollen gebeugt. Gewöhnlich waren es um die fünf, aber diese hohen Exemplare besaßen unerhört viele. Just als sie mit einem kleinen Freudentanz startete, rutschte sie auf der synthPlane aus und verfehlte die Stacheln um Haaresbreite mit dem Kopf. Erschrocken rollte sie über die Schulter ab, um nicht doch aufgespießt zu werden, und landete in der Hocke – Zentimeter vom nächsten Kaktus entfernt. Ihr Kopftuch hing locker, einige Haarsträhnen hatten sich befreit und dem klebrigen Schweiß zum Trotz wippten sie fröhlich auf und ab. Es rumpelte tief im Untergrund. Abrupt sank Kisis linker Stiefel tiefer in den Boden. Mehr und mehr Sand floss ab und entblößte eine glatte, spiegelnde Oberfläche. Immer weiter zog sich der Sand in eine Senke zurück. Einige Pflanzen verloren den Halt und kullerten in einen wachsenden Trichter davon. Im abrutschenden Strom tauchte eine behandschuhte Hand auf. Kisi schaute sich suchend nach Emefa um, sie war auf der anderen Seite des Felds und hatte bisher nichts von alldem registriert.

Sollte sie ihre Begleiterin herbeirufen? Keine Zeit, der Körperteil entfernte sich bereits. Kisi wälzte sich rasch zur Hand und schnappte sie. Durch die neugewonnene Stütze stoppte die Bewegung und der Sand gab den Blick auf den restlichen Körper frei – eine mumifizierte Frau. Der Tod erschütterte Kisi nicht im Geringsten. Die Erde war ein harter Ort, sie vergab nur wenig. In der Bucht verging kein Tag, ohne dass sie daran erinnert wurde.

Die Leiche trug zerrissene Kleidung, deren Farben komplett ausgebleicht waren. Ihr Gesicht wurde von einer seltsamen Maske mit einer Dose in Mundnähe bedeckt. Am Arm funkelte ein mit einem Lederband befestigter Edelstein. Kisi starrte gebannt darauf. Das Licht wurde nicht schlicht reflektiert, es bündelte sich in einem tiefroten Strudel und brannte dort mit einer Lebendigkeit, die Kisi nur von den Schuppen ihrer Rubinechse kannte. Dann glitt ihr Blick doch ab und fixierte einen dunklen Brocken viele Meter entfernt.

»Was zum …?« Kisi richtete sich auf und schlitterte auf das frisch entdeckte Objekt zu. Näher und näher, vom sich bewegenden Untergrund ließ sie sich nicht behindern. Was ist das? Metall? Sind das Propeller an den Seiten des Kastens? Wie kommt es hierhin?

Es war nicht mehr weit, nur noch einen Schritt näher. Eine Hand packte sie an der Schulter. Kisi quiekte laut auf. Mit einem Ruck drehte sie sich um und holte zum Schlag aus.

»Emefa!«

Ihre Begleiterin schaute erst sie an, dann den Metallklumpen und wieder sie. »Wir müssen hier weg«, flüsterte sie mit Nachdruck.

»Weg?« Kisi war fassungslos. »Siehst du nicht, was ich sehe?« Sie wedelte energisch mit ihrem Finger.

Emefa zog eindringlicher an Kisis Mantel. »Das ist nichts, was wir gründlicher untersuchen sollten.« In ihren Augen spiegelte sich Furcht. »Es sieht nicht so aus, als ob es aus der LIV stammen würde. Zu gefährlich, damit zu interagieren … und höchstwahrscheinlich verboten.«

»Ich verstehe nicht. Interessiert dich nicht, was es ist? Oder zumindest, wer die Tote ist?«

»Nein. Pack deine Sachen zusammen!« Emefa stapfte ein paar Schritte rückwärts und drehte sich langsam von dem unbekannten Metallbrocken weg.

»Was ist mit all den Knospen?«

»Sammel die ein, die noch auf deiner Plane liegen. Der Rest ist verloren.«

Kisi war fassungslos.

»Kisi! Los jetzt!« Der Befehl war eiskalt und ließ keinen Widerspruch zu.

Die Angesprochene reagierte nicht sofort. Sie bückte sich, um die Stiefel zu schnüren. Verstohlen schnappte sie sich das Lederband, das sich ohne Widerstreben löste, und spurtete zu ihrer synthPlane. Nur eine paar Knospen waren liegen geblieben. Seufzend faltete sie die Plane zu einem kleinen Sack zusammen und schleppte ihn zur Transportechse.

Nante betrachtete sie aufmerksam. Nervös verlagerte er sein Gewicht von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Kisi tätschelte ihr Tier und stieg auf. Wie so oft spiegelte er ihre Anspannung.

Emefa war losgetrabt, den länger werdenden Schatten in den Süden folgend. Kisi warf einen letzten Blick über die Schulter zurück – sich wundernd, auf was sie dort gestoßen war und was ihre Begleiterin derart aufgeschreckt hatte. Der metallene Würfel war mittlerweile unter dem Sand verschwunden.

»Kō!«

Nante sprang vorwärts und schloss zu den anderen auf, während Kisi ihren synthMantel enger zog. Sie achtete dabei darauf, dass der Gegenstand in ihrer Innentasche keine sichtbare Beule hinterließ.

2

Die beiden Sammlerinnen waren gestern am späten Abend in der LIV angekommen. Für den Rückweg hatten sie mehr Zeit benötigt. Emefa hatte sich der Route über die Ausläufer verwehrt. Bei ihrer Rückkehr waren sie in die Stallungen der Reptilien geritten und dort wurden sie durch die Tierpflegerinnen versorgt, die Setzlinge würde jemand anderes zu den Grünhäusern transportieren.

Kisi konnte sich erlauben, bis in den Tag hinein zu schlafen. Nach einer Wüstenmission standen den Reiterinnen jeweils ein, zwei Tage als Ruhephase zu, bis sie erneut loszogen. Kisi streckte sich ausgiebig und gähnte laut. Um diese Uhrzeit am Vormittag war die Luft so schwer wie verbraucht und die Gemeinschaftsunterkunft gewöhnlicherweise verlassen. Die meisten der ihr zugeteilten Bewohnerinnen gingen acht Wochentage einer Beschäftigung nach, gefolgt von einem Tag Erholung.

Kisi saß alleine in einer Ecke und prüfte verstohlen die Umgebung.

War wirklich niemand hier?

Die Stockbetten waren leer, in dem angrenzenden Raum mit Tischen und Bänken regte sich ebenfalls nichts. Manchmal war es von Vorteil, dass innerhalb einer Zone nicht alle Frauen eines Arbeitsfelds aufeinandersaßen. Lehrlinge wurden in der Regel in eine Unterkunft gesteckt, aber Ältere sollten nicht nur unter Gleichgesinnten schlafen. Kisi vermutete einen ausgeklügelten Plan der Zonenverwaltung hinter alldem, doch im Grunde war es ihr völlig egal. Sie hatte meistens ihre Ruhe.

Die Belegung der Betten konnte sich jederzeit ändern, daher war ihre blauviolette Umhängetasche der einzige Platz, wo Kisi Privates verstaute. Vorsichtig holte sie das Stoffknäuel aus der Tasche. Andächtig entfaltete sie den Stoff, schaute sich ein letztes Mal um und schenkte anschließend dem mysteriösen Gegenstand ihre ganze Aufmerksamkeit.

Im Tuch ruhte das Lederband mit dem Edelstein. Glücklicherweise waren die Schnallen am Armband problemlos aufgesprungen und ihrer Begleiterin die Tat nicht aufgefallen. Das zumindest hoffte Kisi.

Der Drang, das Band mit seinem Stein näher anzuschauen, hatte sie kaum schlafen lassen. Endlich ruhte es in ihren Händen. Sogar in der dunklen Ecke schimmerte der Edelstein fahl im geringen Licht. Kisi hatte etwas Derartiges noch nie gesehen. Irgendwie hing es mit der Fundstelle und dem vom Sand geschliffenen Metall zusammen, vor dem Emefa erschrocken war. Die zunächst schüchterne Frage in ihrem Kopf hatte sich mittlerweile zu einem überzeugenden Argument entwickelt. Ein Teilen mit anderen Bewohnerinnen oder gar das Verkaufen des Fundstücks war ausgeschlossen.

Kisi war ganz und gar vom Armband fasziniert. Sachte strich sie über das Material. Es roch sehr leicht süßlich, bestimmt von den Kakteen. Im Lederband waren dünne kupferfarbene Drähte eingelassen. Sie verliefen vom Edelstein zu den Verschlussschnallen. Das Kupfer war in irgendeiner Weise am Stein befestigt. Wie und warum, erschloss sich Kisi nicht. Aber genau so hatte sie sich schon immer Amulette in den Geschichten vorgestellt. Sie tastete den Stein ab, die Oberfläche ähnelte Metall.

Zögernd legte sie sich das Lederband um den linken Arm, so wie sie es bei der Leiche gesehen hatte. Deutlich setzte sich das wettergegerbte Band von Kisis dunkler Haut ab. Als sie die Schnallen geschlossen hatte, zog es sich wie von Geisterhand enger.

»Was zum …?«, grunzte sie erschrocken und zerrte mit den Fingern am Band. Dabei rutschte sie tollpatschig vom Bett und landete unsanft auf ihrem Steißbein. Sie jaulte auf.

Dann lag sie still. Ein Grinsen schlich ihr auf die Lippen.

Wie peinlich konnte sich eine einzelne Person eigentlich verhalten?

Mit einem Stöhnen raffte sie sich auf. Wenigstens war sie nur aus dem unteren Bett gefallen und nicht vom oberen. Dann hätte sie vermutlich die Krankenstation aufsuchen müssen.

Im Augenwinkel regte sich etwas. Ihr Missgeschick war nicht unbemerkt geblieben – das fremdartige Armband würde gewiss sofort auffallen. Die Person würde Kisi zuerst zu Emefa und dann unter viel Lärm zur Mana der Zone zerren. Die Situation kam ihr bekannt vor – als hätte sie diese schon einmal durchlebt. Mit einem Kopfschütteln befreite sie sich von den Gedanken. Langsam drehte sie sich zur Person hinter ihr um …

Ihr linker Arm pulsierte, der Druck nahm zu. Kisi hatte den Eindruck, das Armband blockierte den Blutfluss. Mit einem Mal explodierte der Raum in Helligkeit. Geblendet kniff Kisi ihre Augen zu. Es pfiff in ihren Ohren.

Alles war mit einem Schlag dunkel und leise. Sie lag wieder auf dem Boden und ihre rechte Pobacke schmerzte. Ihr war schwindlig. Beschwerlich rappelte sie sich auf. Da, eine Bewegung. Geistesgegenwärtig steckte sie den Arm tief in ihre Umhängetasche und drehte sich zur herantretenden Person um.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Kisi fiel der Name der Frau nicht ein. Wo war sie überhaupt so unvermittelt hergekommen? »Ja … ja, warum sollte es anders sein?« Ihre Stimme zitterte ein wenig.

»Ich habe ein Poltern gehört.«

»Ein Poltern? Ach das. Ich hatte mich falsch auf die Kante gesetzt und bin nach unten gerutscht.« Kisi nickte Richtung Bett, ohne ihre Hand aus der Tasche zu nehmen. »Danke für deine Fürsorge, aber ich muss los.« Sie drehte sich von der Frau weg und warf ihren synthMantel mit gespielter Lockerheit über den Arm. Mit einem entschuldigenden Lächeln entfernte sie sich.

Auf dem Weg nach draußen schlüpfte Kisi eilig in ihren Mantel. Wenn sie das Armband auf die Schnelle nicht entfernen konnte, so sollte sie es zumindest ausreichend unter dem Kleidungsstück verstecken.

Kisi stand vor dem Ausgang der Unterkunft, unschlüssig, wo sie hingehen sollte. Diese Zone war unübersichtlich und verwirrte sie. Aufgewachsen war sie in Mpoano am Meer, die Bewohnerinnen hatten es offen angelegt. In Nordduku war alles eng sowie muffig – und unter der Erde. Lehmwände waren allgegenwärtig. Wie in der Nachbarzone Edwa waren die Häuser hier zur Hälfte in den Boden eingelassen und hatten ebenso Kuppeldächer, wenn auch wesentlich höhere. Die Überdachungen größerer Bauten bestanden meistens aus einer Vielzahl von Kuppeln nebeneinander. Die gesamte Umgebung sah aus der Ferne wie eine Ansammlung von Termitenhaufen aus.

Fahrig schüttelte Kisi den Kopf. Was war da eben im Schlafraum geschehen? Hatte sie die Situation doppelt erlebt?

Beruhig dich, befahl sie sich monoton. Dafür gibt es eine logische Erklärung. Weiter atmen, einfach weiter atmen.

Das Armband lag ihr warm auf der Haut. Es saß noch immer fest, aber glücklicherweise schnürte es nicht mehr das Blut ab. Kisi traute sich nicht, den Ärmel höherzuziehen, um einen Blick darauf zu werfen. Stattdessen tastete sie es mit den Fingern ab. Sie überlegte, ob sie es doch abnehmen sollte – falls überhaupt möglich. Entschied sich dann aber dagegen. Am Arm unter der Jacke war es besser aufgehoben als in ihrer Tasche. Zudem gefiel ihr das Gefühl, etwas Einzigartiges zu besitzen.

Knurrend meldete sich Kisis Magen. Gestern Nacht hatte sie nur einen Snack nach ihrer Mission zu sich genommen. Der Lebensmittelmarkt bot eine ausgezeichnete Möglichkeit, über den seltsamen zweifach erlebten Sturz aus dem Bett nachzudenken und – natürlich – zu essen.

Vor der Gemeinschaftsunterkunft befand sich eine Halle. Nur wenige Gestalten schlurften umher, damit beschäftigt, Kisten herumzuschleppen. Eine Vielzahl von Tunneln mündete in den Raum sowie ein schmaler Ausgang, der zum Schutz vor Sand und Staub mit transparenten Plastiklamellen verhangen war. Unwirksam, wie Kisi feststellte. Eine Minidüne häufte sich hinter dem Durchgang auf.

Um in Nordduku von A nach B zu gelangen, verwendeten Bewohnerinnen unterirdische Verbindungen. Die Unterführungen lagen derart tief, dass die Straßen an der Oberfläche passierbar blieben. So durchzogen die gesamte Zone unzählige Tunnelgewölbe, die beim Gebäudewechsel vor der erbarmungslosen Sonne schützten, auch wenn die Mehrheit diese Möglichkeit mittlerweile verstärkt ignorierte. Kisi schob das auf das Gerümpel, das sich in den engen Tunneln auf beiden Seiten angesammelt hatte. Vieles davon wurde in nächster Zeit nicht mehr benötigt und wurde daher üblicherweise unter der Oberfläche gelagert, für den Fall, dass es später gebraucht würde. Doch das Material wurde zügig vergessen und vergammelte an Ort und Stelle. In manchen Tunneln ähnelte das Durchqueren einem Hindernislauf.

Der erste Durchgang zu Kisis Rechter führte zum Lebensmittelmarkt. Sie lief los und stieg vier Stufen abwärts in den Tunnel. Abgestandene Luft empfing sie. Schmale Lichtschlitze tauchten die Röhre in dumpfes Licht. Staub tanzte in den hereingelassenen Sonnenstrahlen. Erfreulicherweise war das Gewölbe dieser Verbindung ausreichend hoch, Kisi würde ihren Kopf nicht anschlagen.

Der Sonnenschutz der unterirdischen Anbindungen war durchaus positiv. Doch wer sich im Untergrund nur dürftig auskannte, verirrte sich im Nu in dem weitverzweigten Netzwerk. Die von Kindesbeinen an antrainierte Orientierung fehlte Kisi, für sie ähnelten sich die Gänge allesamt. Doch den Weg zum Lebensmittelmarkt fand sie aus Notwendigkeit mittlerweile blind.

Ab und an berührte etwas ihr Haar und Kisi hoffte, dass es alte Kabel und nicht Spinnennetze waren. Die Erbauer der Netze wurden von Jahr zu Jahr scheinbar massiver. Sie wuschelte sich durch ihre Locken. Zum Glück fanden ihre Finger nichts. Doch sie war derart abgelenkt, dass sie über eine scharfkantige Kiste stolperte. Sie rieb sich das Schienbein mit einem Fluch auf den Lippen. Wütend trat sie gegen die Übeltäterin und schlängelte sich weiter.

Zwei Verbindungstunnel später erreichte Kisi den Vorraum des Lebensmittelmarkts und betrat ihn durch eine breite Doppeltür aus angerostetem Stahl. Die Luft in der Essenshalle war nicht nur warm, sondern auch ranzig. Trotz des fortgeschrittenen Morgens waren nicht viele beim Essen. Damit sparte sie Zeit fürs Anstehen, selbst wenn die heutige Proteinpaste ungewöhnlich ekelhaft aussah. Es fehlten noch die Maden, die sich darin wanden. Kisis Magen knurrte dessen ungeachtet.

»Jaja, ist gut. Ich hole uns etwas«, grummelte sie zurück.

Der Weg für die Hungrigen war durch Absperrungen vorgegeben. Kisi stellte sich in die dafür vorgesehene Schlange an der rechten Seite.

Hatte sie überhaupt Chips dabei? Ohne sie bekam niemand eine Ration.

Alle zwei Wochen wurden jeder Bewohnerin Essensmarken, graublaue runde Plastikscheiben, nicht größer als die Kopfschuppe einer Echse, für ihre erledigte Arbeit zugeteilt – abhängig vom Arbeitsplatz. Kisi erhielt zwanzig. Benötigte sie weitere Chips, musste sie einen der kleinen Dienstbotengänge in der Zone übernehmen. Die zusätzlichen Einnahmequellen waren heiß begehrt und Willige standen früh auf oder erledigten sie in ihren Pausen. Beides war für Kisi gewöhnlich nicht verhandelbar. Sie wollte ausschlafen und ihre arbeitsfreie Zeit verbrachte sie in der Wüste, nicht gerade in Reichweite der Zone. Normalerweise kam sie mit ihrer Menge zurecht.

Allgemein waren Chips nicht nur fürs Essen gut, sondern die Standardwährung auf dem Schwarzmarkt in Edwa. Für ihren synthMantel beispielsweise hatte sie sich eine längere Zeit eine Handvoll Chips vom Munde absparen müssen. Mit Vorbereitung ging das, doch jetzt hatte sie Hunger.

Fassungslos klopfte sie ihre Hosentasche ab. Das charakteristische Klacken des Plastiks war nicht zu vernehmen. Die Hände wurden schwitzig. Hastig wühlte sie in der Umhängetasche. Ebenfalls nichts. Schon bereute sie, keine zusätzlichen Aufträge ergattert und ausgeführt zu haben.

Kisi rieb ihre feuchten Hände am Mantel ab und schaute sich nervös um. Kannte sie eine in der kurzen Schlange oder an den Tischen, die ihr einen Chip borgen würde? Niemand. Mit hängenden Schultern schlurfte sie zurück zum Ausgang.

Plötzlich streifte Kisi eine kühle, grazile Hand am Unterarm. Die Kälte war selbst durch den Ärmel spürbar. Erschrocken drehte sie sich um.

Neben ihr stand Nana. Ihre Statur war klein und zierlich, sie reichte Kisi nicht einmal bis zum Ellenbogen. Die alte Frau strahlte sie an. Ihre weißen Haare waren in einen dicken Zopf geflochten und bildeten einen extremen Kontrast zu ihrer dunklen, runzligen Haut.

»Schön, dich zu sehen. Es ist lange her, seit wir uns zum letzten Mal getroffen haben. Hast du mich etwa gemieden?« Sie kramte in ihrem eigenen Beutel. Rasch hatte sie gefunden, was sie suchte, und präsentierte es lächelnd. Ein Chip erschien vor Kisis Gesicht. »Kann ich dir damit aushelfen, mein Kind?« Sie kicherte.

Kisis Augen leuchteten auf. »Oh ja, vielen Dank. Das wäre großartig, Nana. Ich werde es dir so schnell wie möglich zurückzahlen.«

»Mach dir darüber keine Gedanken, Liebes. Betrachte es als Geschenk.«

Nana drückte den Chip in Kisis Hand und wackelte zum Ausgang, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Kisi wollte sich erneut bedanken, allerdings war die kleine Frau schon durch die Tür verschwunden.

Ziemlich schnell für ihr Alter.

Kisi suchte kurz den Ausgang ab, drehte sich dann auf dem Absatz um und reihte sich in der Essensausgabe ein. Den Chip warf sie in den dafür vorgesehenen Schlitz, ein Klackern bestätigte ihr Recht auf Essen. Rasch holte Kisi sich ihre Mahlzeit.

3

Nach dem Essen wollte Kisi in den Stallungen der Echsen vorbeischauen. Das war ein strammer Marsch. Warum ihr zugewiesener Schlafplatz derart weit von den Tieren entfernt lag, war ihr schleierhaft. Ob sie für die Taten ihrer Mutter büßen musste? Aber das lag schon Jahre und länger zurück. Seit ihrem Verschwinden gab es niemanden, der dazu ein Wort verlor. Die Zuweisung war mit Sicherheit kein Zufall – wie alles in den Zonen. Zum Glück kannte Kisi eine Abkürzung. Ein breites Tor in Gelb wies ihr den Weg. Verstohlen schlich sie sich in diese Abteilung, um nicht unnötig aufzufallen. Es war nicht gern gesehen, wenn sich jemand grundlos auf eine Erziehungsstation begab – aber verboten war es ebenfalls nicht. Schaler Gestank, vermischt mit einem Hauch von Schimmel, schlug ihr entgegen – Luft, geatmet von hunderten Lungen, wie überall in der Bucht, wo sich unzählige Menschen in den Tunneln versammelten. Die tristen, graubetonierten Wände wurden von Türen in unterschiedlichen Farben des Regenbogens aufgebrochen, die jeweils ein rundes Fenster enthielten. Durch sie schaute Kisi im Vorbeigehen in die Räume. Auch wenn sie selbst in Mpoano erzogen worden war, ähnelten sich die Räumlichkeiten. Für die jüngeren Mädchen existierten Sitzkissen und niedrige Tischplatten, die an der Wand montiert waren. Gerade bastelte die Gruppe aus vielleicht zwanzig Kindern mit Lehm und Holz. Im nächsten Zimmer saßen Jugendliche aufrecht auf Metallbänken und lauschten der Lehrerin. Vermutlich wurden ihnen die Regeln der LIV eingebläut. Kisi erinnerte sich lebhaft an die überaus trägen Vorträge. Sie schüttelte den Kopf. Vieles davon war in der späteren Arbeitswelt nur schwer anzuwenden.

»Hallo? Kann ich dir helfen?« Eine Erzieherin lugte aus dem grünen Raum heraus. Sie hatte ihre Augen zu kleinen Schlitzen zusammengezogen.

»Äh, nein, danke.« Kisi deutete den Flur entlang. »Ich … ich muss lediglich zum Wartungstunnel. Der nach dem Sportraum.«

»Ah, alles klar.« Die Frau verweilte im Türspalt. »Ich will nur sichergehen, dass sich keine Unbefugte herumtreibt.«

»Unbefugt?« Kisi lachte gespielt. »Seit wann wird eine Erlaubnis für die Station benötigt? Das wäre mir neu.«

»Fremde lenken unsere Mädchen ab. Außerdem haben jüngst einige Frauen probiert, die Kinder zu besuchen, die sie geboren haben. Und du weißt ja selbst, wie wichtig es ist, dass unsere Schützlinge alles korrekt erlernen. Irrationale Verbindungen führen zu nichts. Die Mutter hat mit der Geburt des Kindes ihre Pflicht erfüllt, ab hier sind die Erzieherinnen gefragt.« Ihr Blick hatte weder an Missbilligung noch an Misstrauen verloren.

»Schon gut.« Kisi winkte ab. »Sehe ich wie eine Mutter aus? Ich bin sofort verschwunden.«

Sie sputete sich, um möglichst rasch zur nächsten Abzweigung zu gelangen. Mit derart Regeltreuen war nicht zu spaßen. Nachdem Kisi das Sportzimmer mit den schwitzenden Kindern, die Kisten von der einen Seite zur anderen schleppten und wieder zurück, passiert hatte, öffnete sie eilig die Klappe zum Wartungstunnel. Natürlich stand dieser auch nicht jeder offen. Das hinderte Kisi allerdings nicht, ihn zu nutzen, um Zeit zu sparen.

Der Gang endete in einer kleinen Hütte, die mit unterschiedlichem Krempel vollgestopft war. Kisis Blick wanderte über Schaufeln und Eimer, Säcke und Stützbalken. Es roch nach Rost und Moder. Wie es schien, wurde hier Notfallausrüstung für einen Tunneleinsturz gelagert. Im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden bestand diese Abstellkammer nur aus einem kleinen Raum mit zwei Türen – eine führte zum Tunnel und die gegenüberliegende aus Metall an die Oberfläche. Kisi durchquerte die Hütte mit drei Schritten und rüttelte an der Klinke. Nichts. Die Tür klemmte. Vermutlich hatte sich das Material verzogen oder Sand blockierte die Scharniere. Der Ausgang war sicherlich länger nicht verwendet beziehungsweise gar gepflegt worden.

Kisi stemmte ihr linkes Bein mit voller Kraft gegen die Wand und zerrte erneut an der Klinke. Ohrenbetäubend flog die Tür quietschend und schabend auf. Die abrupte Bewegung brachte Kisi aus dem Gleichgewicht und sie plumpste mit dem Hinterteil voran auf den Boden. Sofort nutzte der Sand die Gelegenheit und fand einen Weg in ihre Kleidung.

»So ein Dreck!«

Die Sonne lachte ihr unverschämt ins Gesicht und Wärme strömte in die Hütte. Kisi rappelte sich auf und verließ schmollend die Abstellkammer. Mit Anstrengung gelang es ihr, die Tür wieder einigermaßen zu schließen. Der Sand schabte dabei unangenehm zwischen Metall und Boden. Doch Ausgänge mussten unbedingt geschlossen werden, das wurde jeder Bewohnerin von Kindesbeinen an eingebläut.

Eine Felsformation erhob sich direkt vor ihr. Höhlen in den Felsen beheimateten die Tiergehege. Die meisten befanden sich weit oben im Gestein. Um zu ihnen zu gelangen, stieg Kisi in Stein geschlagene Stufen hinauf, die sich an der steilen Felswand entlangwanden. Ihr Ziel war der Höhleneingang, wo sich ein betagter, knorriger Baum an den Stein klammerte. Seine saftigen Nadeln glänzten grün. Hier war der Alte vor den Äxten der Vergangenheit geschützt gewesen und mittlerweile war er ein Wahrzeichen. Niemand durfte ihm jetzt eine Nadel krümmen, ohne ernsthafte Konsequenzen zu fürchten. Bevor Kisi die Höhle betrat, berührte sie, wie es Brauch war, eine Wurzel, die die Pflanze jedem Neuankömmling entgegenstreckte.

Die Höhle war dunkel, einige Schächte an der Decke sorgten für ein schummriges Licht. Kisis Augen gewöhnten sich nicht sofort an das Dämmerlicht. Das Kratzen von Leder und Schuppen füllte den Raum. Endlich sah sie die Tiere. Im hinteren Areal glitzerte es unregelmäßig. Das spärliche Licht wurde von dunkler Reptilienhaut reflektiert. Ein Schnauben, ein Scharren, dann trat eine Echse aus dem Schatten und baute sich einige Meter vor Kisi auf. Einen Augenblick verharrte das Tier, blinzelte hektisch und schlängelte sich in geschmeidigen Bewegungen auf den Ankömmling zu. Zwei, drei Mal umkreiste das Reptil die Frau, bis es schließlich zum Stehen kam. Um Kisi herum ruhte der massige Echsenkörper in Form eines Kreises. Liegend reichte der Rücken bis knapp unter Kisis Brust. Der Echsenkopf lag vor ihren Füßen und tiefschwarze Augen starrten sie erwartungsvoll an. Das Tier peitschte freudig mit dem Schwanz. Langsam berührte Kisi den breiten Schädel mit der Hand. Sanft strich sie über die matten Schuppen. Sie liebte Echsen, insbesondere dieses Exemplar – ihre Rubinechse. Sooft es ihr möglich war, versuchte sie außerhalb ihrer Missionen im Gehege vorbeizukommen.

Der Besitz eines persönlichen Reptils war in der LIV unüblich, Kisi war die Ausnahme von der Regel. Als Nante vor acht Jahren aus dem Ei schlüpfte, war sie durch Zufall in der Zuchtstation gewesen. Die winzige Echse brach durch die Schale und Kisi streichelte sie reflexartig. Damit war das Tier lebenslang auf sie geprägt. Der Orden reagierte mehr als verschnupft. Nicht nur hatte sie gegen die Regeln verstoßen, sie hatte auch ausgerechnet eine seltene Rubinechse an sich gebunden – das Wahrzeichen der höchsten Hüterin. Seitdem konnte keine andere Person als Kisi auf dem Reptil reiten, und das war ihr nur erlaubt, weil wenige Echsen und noch weniger Reiterinnen im Dienst der LIV standen.

»Da freut sich jemand, mich zu sehen.« Ihre Hand wanderte zum Hals. »War ich dir zu lange weg?« Nante schnaubte aufgeregt.

»Und ich hatte mich gefragt, wann du wieder auftauchen würdest.« Die dünne Stimme verklang im hohen Gewölbe. »Die Mana hat mich gebeten, mit dir zu sprechen.« Der Klang kam näher. Kisi suchte die Quelle. Bei Nantes Hinterbeinen entdeckte sie einen schwarzen Lockenschopf. Die schmächtige Frau hatte Mühe, über den massigen Rücken zu schauen.

»Ah, Abena, ausgezeichnet, dass du da bist. Dich habe ich gesucht«, flunkerte sie. Tatsächlich hatte sie gehofft, dass nur die junge Tierpflegerin im Stall war. Zu ihr hatte sie von jeher einen guten Draht. Kisi holte tief Luft, wusste aber nicht, wie sie starten sollte.

»Du möchtest die Echse für einen Ritt mitnehmen.« Abena hatte es erraten.

»Ertappt.« Kisi lächelte schuldig. Es gab nie einen anderen Grund, warum sie ins Tiergehege kam.

»Schon gut.« Abena winkte ab. »Aber dir ist klar, dass du erst gestern von einem Ausflug zurückkamst? Nante wird noch müde sein.«

Kisi horchte auf. Ihr Gegenüber nannte das Reptil erstaunlicherweise beim Namen. Echsen wurden nicht personalisiert, sie erhielten eine Nummer. 5652r – für Kisi von jeher nicht akzeptabel.

»Das wird schon gehen.«

»Wann ist deine nächste Mission angesetzt?«

»Ach, nicht so bald.«

»Wann?«

Kisi überlegte. »Hm, in zwei Tagen?«

»Du scheinst dir ja sicher zu sein.« Ihr Ausdruck war streng. Wenn es um das Wohl der Reptilien ging, kannte die Pflegerin keinen Spaß.

»Zwei Tage, ich bin mir sicher.« Kisi schüttelte energisch den Kopf und klopfte sanft auf Nantes Seite. »Er hat genügend Zeit, sich auszuruhen.«

Abena ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie weitersprach. »Als du letztes Mal zwischen deinen …«, ihre Augen richteten sich auf Nante, »… seinen Missionen mit ihm einen Ausflug unternommen hast, war er hinterher reichlich erschöpft. Das ist ein Problem. In den Ruheperioden soll er der Zuchtstation zur Verfügung stehen.«

»Jaja, Babys machen. Das hat bisher ja ziemlich gut geklappt.«

Abena seufzte.

»Ich verstehe, dass er erst seit kurzem im richtigen Alter ist«, übersetzte Kisi die Reaktion der schmächtigen Frau. »Echsen benötigen Zeit und das korrekte Timing«, rezitierte sie in leierndem Ton, »und das ist …« Eine Augenbraue von Abena wanderte ein Stück nach oben. Diese Mimik ließ Kisi stocken. »Okay, ich gebe dir recht. Nante benötigt seine Ruhe. Aber schau ihn dir an: Er will wieder raus, er will, nein, er muss sich bewegen.«

»Schon gut. Die Paarungssaison startet offiziell eh erst in zwei Monaten.« Abena lächelte gewinnend. »Während dieser Phase hätte es für dich vermutlich Konsequenzen. Die Mana Yaa wäre auf jeden Fall nicht erfreut, wenn unsere Rubinechse zu müde für eine Paarung wäre. Mit dieser Aktion würdest du ihren Blutdruck ordentlich in die Höhe jagen. Aber du musst dich ohne Ausnahme in die Liste eintragen und deine Ausritte genehmigen lassen. Sonst wird Yaa ein Besuchsverbot aussprechen, auch vor der Paarungssaison.«

Stille – Kisi nickte schuldbewusst. Ein Verbot konnte sie nicht riskieren.

»Danke, ich bin dir was schuldig.« In einem unschuldigen Ton sprach sie weiter: »Du hast nicht zufällig die Liste bei dir?«

Triumphierend zeigte Abena auf ein Klemmbrett in ihrer Linken. Dort waren die Tiernummern aus diesem Gehege mit Pins markiert. Im unteren Drittel befanden sich Namen der zugelassenen Personen. In Zeitlupe bewegte Abena Nantes Pin zu Kisis Namen.

»Danke, danke, danke! Ich werde auch nicht zu lange wegbleiben.« Mit einem Sprung war sie auf dem Rücken, wickelte sich eilig ihr Kopftuch um und hauchte: »Kō.«

Nante reagierte unmittelbar. Mit einem Ruck stand er auf allen vieren und galoppierte zum Ausgang. Rasch winkte Kisi in die Dunkelheit, doch Abena war sofort mit den Schatten verschmolzen. Die Echse rauschte über die Felskante. Die Steilwand bereitete ihm keinerlei Probleme, die Reptilienzehen fanden auf diesem Untergrund problemlos festen Halt. Außerhalb der Missionen kam Kisi ohne Sattel aus. Sie konnte sich geschickt zwischen den ausgeprägten hornartigen Rückenschuppen festklemmen.

Einen Herzschlag später jagten beide durch den Wüstensand nach Nordwesten. Nantes Haut flammte im Licht rubinrot auf.

4

Kisi hatte sich überlegt, die Fundstelle des Amuletts aufzusuchen. Doch sie lag dermaßen tief in der Wüste, dass sie ohne Vorbereitung in den sicheren Tod geritten wäre. Stattdessen steuerte sie die Ausläufer der Nebelberge an, um endlich wieder alleine zu sein und durchzuatmen. Die Berge erhoben sich im Westen gegenüber dem Meer – die LIV war dazwischen angesiedelt. Zum Norden und Süden hin wurde eine der letzten Zufluchten der Menschheit von Wüsten begrenzt. Somit existierten in allen Himmelsrichtungen naturgegebene Grenzen, die die Bewohnerinnen der Bucht vor Gefahren schützten.

Mit hoher Geschwindigkeit näherte sie sich den Felsen, die am Horizont auftauchten und schnell größer wurden. Hinter sich ließ das Paar eine voluminöse Staubwolke. Doch sobald sich die Sandkörner setzten, war ihre Spur verschluckt und niemand konnte ihnen folgen. Die Wüste war verschwiegen.

Je näher die Ausläufer kamen, desto steiniger wurde der Boden. Als die Echse den Fuß auf den ersten Stein setzte, bekam der Ritt eine neue Dynamik. Im Gegensatz zum Sand konnte Nante seine gesamte Kraft auf den Untergrund übertragen. Kisi breitete die Arme aus – stolz darauf, sich freihändig auf dem Echsenrücken zu halten – und schlug sie auf und ab. Sie schwebte, derart geschmeidig schlängelte sich das gewaltige Reptil über das Terrain. Der Wind riss an ihrem Kopftuch und befreite Locke um Locke. Auch ihre Haare wollten frei sein. Voller Überschwang rupfte Kisi ihre Kopfbedeckung herunter, die wie ein Schal ihren Hals umschlang. Sand und Sonne fanden nun ungehindert ihren Weg in den Schopf, doch Kisi war es egal. Sie lachte, quiekte, schrie lauthals. Alles musste raus – und mit der Luft aus ihren Lungen verließ sie auch der Druck auf dem Brustkorb, den sie allzu häufig in der Enge der LIV verspürte. All diese Regeln, für was? Konnte sie nicht einfach mal sein?

Nach einer Weile war die überschüssige Energie aufgebraucht und Nantes Bewegungen wurden ruhiger – und so auch Kisi. Sie band sich das Tuch wieder eng um den Kopf und stopfte aufsässige Locken darunter.

Ordnung muss sein! Welche Ironie.

Bei dem Gedanken schmunzelte Kisi. Manche Anweisungen hatten vielleicht doch ihre Berechtigung.

Zeit für eine kleine Verschnaufpause. Um diese fortgeschrittene Uhrzeit fanden sich reichlich Schatten zwischen dem Geröll und in Spalten. Zwar hätten sie in den höheren Lagen bessere Chancen auf das kühle Halbdunkel gehabt, aber Kisi hatte nicht vor, dorthin zu gehen.

Reiterin und Tier suchten die erstbeste Felsspalte, die für Nante ausreichend Raum bot. Sie fanden eine, vor der ebenfalls ein kantiger Brocken ruhte. So mussten sich beide nicht in den Spalt zwängen, sondern sie legten sich in den Schatten des Findlings. Während sie es sich bequem machten, scheuchten sie ungewollt eine Riesenschabe auf. Diese Dinger waren mindestens so lang wie Kisis Unterarm. Für Nante war es ein willkommener Snack. Mit einem markanten Knacken barst die harte Chitinschale, als das Reptil zuschnappte. Klatschend landete etwas von den Innereien auf dem Fels, fermentiertes Aroma verbreitete sich. Etliche Male hatte Kisi dieses Schauspiel beobachtet, doch sie konnte sich daran nicht gewöhnen. Angewidert drehte sie sich weg.

Ein Glitzern erregte ihre Aufmerksamkeit. In der Ferne, nicht viel höher als ihre eigene Position, reflektierte etwas die Sonnenstrahlen. Das Objekt bewegte sich. Es wackelte auf und ab, immer wieder verschwand es hinter Felsbrocken oder in Spalten.

»Was ist das?« Kisi kratzte sich am Kopf.

Schaben glänzten nicht in dieser Farbe und um diese Tageszeit spazierten sie keinesfalls an der Oberfläche herum. Es existierten zwar alte Rohre aus der Vorzeit, die an manchen Stellen aus dem Berg ragten, doch sie bewegten sich logischerweise nicht.

Die Bewegung des Glitzerns stoppte jäh und verschwand in einer großen Senke, die parallel zum Gefälle verlief. Eine Vielzahl markanter Brocken umringte die Stelle. Ein Steinschlag vor nicht allzu langer Zeit hatte zu dieser Sammlung geführt. Kisi hatte das Geschehen damals aus sicherer Entfernung miterlebt – sie musste sich ungefähr an derselben Stelle wie heute aufgehalten haben. Es half nichts, sie wollte herausfinden, was es mit dem Blinken auf sich hatte. Ihre Neugierde war übermächtig. Sie schlitterte auf dem Hintern zum dösenden Reptil und tätschelte seine Flanke.

»Na, Nante, hast du Lust auf ein kleines Abenteuer?«

Die Rubinechse öffnete die Augen und stellte wie zur Bestätigung den Kopf schräg. Kisi kletterte auf den Rücken.

»Auf zum Blinken! Kō!«

Nante ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schob sich aus dem Schatten, schüttelte mit einer einzigen Bewegung den Staub von den Schuppen und flitzte los. Kisi lenkte ihn mit einem Schenkeldruck in die richtige Richtung. Meistens befolgte Nante den Vorschlag – jedoch nicht immer. Echsen hatten ihren eigenen Kopf, insbesondere dieses Exemplar. Doch diesmal waren sie sich einig. So schlängelten sich beide zum verschwundenen Glitzern. Vorbei an Spalten und Rissen stießen sie unterhalb der Stelle auf ein ausgetrocknetes Flussbett.

Im nordöstlichen Hang existierten unzählige dieser schlafenden Flüsse. Wer weiter in den Süden reiste, traf seltener auf diese Besonderheit. Dort dominierten steile Klippen das Nebelgebirge.

Das von Kisi betretene Flussbett war breit – vier ausgewachsene Echsen hätten nebeneinander hineingepasst. Bei jedem Schritt knirschte es. Der Boden bestand aus grauem Geröll. Die kleinen und großen Steine wiesen keine scharfen Kanten auf, sie waren von einer längst vergangenen Strömung glatt geschliffen. In manchen Abschnitten ragten die Seitenwände steil zum Himmel – für Menschen unpassierbar. Echsen sahen darin nur bedingt ein Hindernis, aber ob sich Kisi ohne einen Sattel in diesem Winkel auf Nantes Rücken halten konnte, war eine andere Frage. Sie wollte es nicht unbedingt ausprobieren.

Die Sonne war schon über das Gebirge gestiegen. Der Weg zur Senke hatte ziemlich viel Zeit benötigt. Angespannt trotteten sie im Flussbett bergauf, im Dunkeln wollte Kisi nicht auf unbekanntem Gebiet sein. Jetzt aufzugeben, war allerdings ebenfalls keine Alternative.

In unregelmäßigen Abständen musste Nante gewaltige Steinstufen bewältigen. Ohne ihren treuen Gefährten wäre Kisi verloren gewesen, diesen Weg hätte sie nie zu Fuß meistern können. Als sie wieder einmal eine höhere Stufe bewältigt hatten, lag das Ziel vor ihnen.

Nante stoppte andächtig, an dieser Stelle war das Flussbett ein tiefes Tal. Es war von unten bis oben mit neuen, scharfkantigen Brocken gefüllt. Manche Steine waren gespalten, einige waren zerkrümelt und wieder andere hatten allem widerstanden. Sie waren riesig – doppelt oder dreifach so groß wie Nante. Auch auf den Klippen erkannte Kisi Steine. Das mussten die markanten Formationen sein, wo die Reflexion verschwunden war.

»Ich glaube, unser Zielort befindet sich auf der anderen Seite.« Wie zur Bestätigung setzte das Reptil den rechten Vorderfuß auf den nächsten Steinbrocken. »Wir verstehen uns.« Sie leckte sich über die trockenen Lippen. »Vielleicht hätte ich im Lebensmittelmarkt doch eine Wasserflasche mopsen sollen. Nun ist es zu spät. Kō.«

Bedächtig begann Nante den Aufstieg. Er testete häufiger, ob seine Zehen Halt fanden. Der ein oder andere Stein löste sich dabei und polterte nach unten. Dennoch schob das Tier sich stetig bergauf. Oben angekommen, sprang Kisi ab und schaute sich erwartungsvoll um.

Was bist du?, grübelte sie und lockerte ihr Kopftuch, um besser sehen zu können. »Wo versteckst du dich?«

Sie wanderte ein wenig hin und her. Unversehens stoppte sie, beinahe hätte sie es übersehen. Vor ihr flatterte eine ehemals weiße Weste, sie war halb in eine Lücke zwischen zwei Steinen gerutscht. Kisi zog sie aus dem Spalt, klopfte sie ab und untersuchte sie genauer. Unter dem linken Arm war der Stoff der Länge nach aufgerissen.

»Weiße Kleidung ist dem Orden vorbehalten. Aber wer von denen würde sich in diesen Teil der Berge verirren?« Kisi schüttelte nachdenklich ihren Kopf, klemmte die Weste kurzerhand unter ihren Gürtel und suchte die Umgebung um den Fundort genauer ab.

Hörte sie ein Wimmern?

»Nante, sei mal leise. Ich glaube, da ist etwas.«

In der Hocke versuchte sie, die Geräusche zu orten. Langsam krabbelte sie über das Geröll, entfernte sich vom Fundort der Weste. Die Laute nahmen minimal zu. Wenige Schritte vor ihr klaffte ein schwarzes Loch auf.

»Warte du hier. Ich steige runter«, flüsterte sie zu Nante. Wie zur Bestätigung legte sich das Reptil in die Nähe. »Das kann mir doch niemand erzählen, dass der mich nicht versteht«, nörgelte sie und glitt mit den Füßen voran in die Dunkelheit. Schon nach wenigen Metern konnte Kisi nichts mehr erkennen, dennoch kletterte sie weiter. Halt zu finden, fiel ihr nicht schwer, der Fels bot genügend Vorsprünge zum Festhalten und Abstützen.

Das Schluchzen wurde deutlicher. Kisi schaute nach oben. Der Eingang bildete über ihr einen hellen Fleck. Wie tief sie schon war, war kaum abzuschätzen. Ihr Fuß traf unvermittelt beim Ertasten des nächsten Vorsprungs auf den Boden. Keuchend ging sie in die Knie.

Am Grund starrte sie in einen Gang, der ins Berginnere führte. Vereinzelt drang das Restlicht des endenden Tages in die Düsternis und ließ Kisi Schemen erkennen. Dennoch schlug sie ihren Kopf einige Male an, bis sich der Tunnel spürbar verjüngte. An dieser Stelle war die Decke teilweise eingestürzt und unter den ersten Steinen erblickte Kisi einen menschlichen Körper. Das Jammern kam von dort. Sie krabbelte zum Ursprung der Töne.

»Hallo?« Sie stockte. »Hallo, brauchst du Unterstützung?«

Das Wimmern verstummte.

»Bist du verschüttet?«

»Mein Arm ist eingeklemmt«, schluchzte die Verschüttete. »Ich schaffe es nicht, mich loszurütteln. Die Steine sind zu schwer.«

»Ich werde sie zur Seite räumen.« Kisi tastete sich vor und fand die schmächtige Verletzte bäuchlings auf dem Boden liegend. Der rechte Arm schien nicht mehr an der korrekten Stelle zu sein.

Ausgekugelt. »Der Brocken auf dem Arm scheint beachtenswert schwer. Ich werde versuchen, ihn zur Seite wegzurollen, aber zuerst entferne ich das Geröll um dich herum.«

Die kleineren Steine waren schnell ohne Aufwand entfernt. Für die größeren musste Kisi beide Hände verwenden. Sie presste die Gesteinsstücke an den Bauch, rutschte ein paar Meter rückwärts und lagerte sie dort. Dabei achtete sie immer darauf, nicht auf die Liegende zu treten. Zu guter Letzt wartete der massivste Stein auf sie. Sie rüttelte am Felsbrocken, um zu testen, wie sie ihn am besten entfernen konnte.

»Aaah!«, kreischte die Verletzte.

»Der letzte Geröllblock lässt sich kaum bewegen.«

»Du musst! Du kannst mich nicht hier zurücklassen.« Die Eingeklemmte weinte. »Ich will hier nicht sterben.«

»Das hatte ich nicht vor«, knurrte Kisi. »Ich versuche es mit Rollen. Wo ist dein Kopf?«

Ihre Hände fanden das verschwitzte, stoppelige Haar. Sanft schob sie den Kopf möglichst weit vom Stein weg. Dann stemmte sie sich gegen den Felsbrocken. Nichts – nur die Verletzte rührte sich und stöhnte auf.

»Zweiter Versuch«, murmelte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit Sorge bemerkte Kisi, wie das Licht schwächer wurde, die Sonne sank tiefer. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis es im Tunnel stockdunkel sein würde. Schwungvoll schmiss sich die Frau mit beiden Händen gegen den Felsbrocken, ihre Arme waren ausgestreckt, die Füße versuchten sich im unebenen Boden zu verkanten. Kurz bevor sie aufgeben wollte, wackelte das Geröll sachte. Beflügelt legte sie mehr Gewicht in ihren Stoß. Der Stein schwang widerstrebend ein Stück zur Seite.

»Weiter, weiter!« Die Eingeklemmte weinte schmerzverzerrt und jubelte gleichzeitig.

»Komm schon, du Mistding!«, schrie Kisi. Der Stein erhörte sie und rollte vom Arm. Knirschend kam er neben dem Kopf der Liegenden zum Stehen. Geistesgegenwärtig zog sie die Verletzte von der Einsturzstelle weg, zurück in den Gang, näher zum Ausgang. Bewusstlos hing die Verletzte in Kisis Armen. Die letzte Aktion war zu schmerzhaft gewesen.

Wie soll ich sie bloß hier rausbekommen? Kisi grübelte, während sie die Ohnmächtige auf dem Boden ablegte und aus der Weste eine provisorische Armschlinge bastelte.

Die Sonne verlor ihre letzte Kraft und es wurde dunkel im Tunnel.

»Na toll!«, gab Kisi entnervt von sich. »Als hätten wir nicht schon genügend Schwierigkeiten.« Sie legte der Verletzten die Schlinge an und tätschelte ihr leicht ins Gesicht. »Genug geschlafen, wir müssen aus dem Tunnel.«

Keine Reaktion. Die Schläge wurden etwas fester. Die Geschlagene keuchte.

»Hey, ist gut, ich bin wach.« Die Stimme hallte im Tunnel wider. Ihr Körper spannte sich etwas.

»Wir müssen hier raus. Wer weiß, wie lange das alles hält. Wenn wir es rausschaffen, wartet dort meine Echse auf uns. Allerdings vermute ich, dass es mit deinem Arm schwer wird, nach oben zu klettern.« Sie zeigte in die Richtung des Aufstiegs – es war so dunkel geworden, dass sie die Hand vor ihrem Gesicht nicht mehr sehen konnte. »Das Tier ist leider zu groß für den Einstieg, um uns nach oben zu ziehen. Du hast nicht zufällig ein Seil bei dir?«

»Nein.«

»Okay, dann werde ich hochsteigen und dort nach etwas suchen, mit dem wir dich aus dem Loch ziehen können.«

Bei diesen Worten ging ein Ruck durch ihr Gegenüber. Kisi wurde an der Schulter gepackt.

»Nein, nein, lass mich nicht alleine!«, flehte die andere. »Ich will hier nicht sterben. Geh nicht.«

»Jaja, schon gut. Aber wie kommen wir wieder an die Oberfläche?«

Schluchzen füllte die Stille.

Den Abend hatte sich Kisi anders vorgestellt. In einem dunklen Tunnel mit einer Fremden zu sitzen, hatte nicht auf ihrer Liste gestanden.

»Wie kommst du überhaupt hierher? Wie bist du in diesem schäbigen Loch gelandet? Noch dazu so tief im Gang?« Nachdem ihr Adrenalin abgeflacht war, strömten jetzt die Fragen aus Kisi heraus. »Und seit wann lagst du unter dem Stein? Wer bist du eigentlich?«

Es kam keine Antwort.

»Ich bitte dich, nicht alle Informationen auf einmal.« Kisi gab sich eingeschnappt.

»Ich bin hergelaufen und hineingefallen. Weiß ich nicht und weiß ich nicht. Ich heiße Tayo.«

Kisi rollte die Augen. »So einen Namen habe ich noch nie gehört.« Jemand war bei der Namensgebung kreativ gewesen.