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Die Rue du Calvaire im Herzen Gents ist nicht mehr das, was sie einst war: Die Häuser sind verfallen, die Bewohner scheuen das Tageslicht. Eine Straße voll dunkler Geheimnisse...
Nur das vornehme Patrizierhaus der Geschwister Verbrugge hat seinen alten Glanz bewahrt. Doch auch hier sind die Spuren der Vergangenheit nicht zu verwischen. Sie zeugen von Verbrechen und Mord...
Roger D'Exsteyl, geborener Roger Martens (* 22. Dezember 1926 Ledeberg/Belgien; † 26. Januar 1979), war ein belgischer Schriftsteller.
Der kunstvolle und mitreißend-spannende Roman Das Geheimnis der Rue du Calvaire erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1966.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur - von der Kritik als »ein literarischer Thriller von Rang« gefeiert - in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
ROGER DE'EXSTEYL
Das Geheimnis
der Rue du Calvaire
Roman
Apex Crime, Band 215
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS GEHEIMNIS DER RUE DU CALVAIRE
Prolog
Erster Teil: MORD IM NEBEL
Zweiter Teil: DER DÄMON DERER VON BRÜCKSTAUFEN
Epilog
Die Rue du Calvaire im Herzen Gents ist nicht mehr das, was sie einst war: Die Häuser sind verfallen, die Bewohner scheuen das Tageslicht. Eine Straße voll dunkler Geheimnisse...
Nur das vornehme Patrizierhaus der Geschwister Verbrugge hat seinen alten Glanz bewahrt. Doch auch hier sind die Spuren der Vergangenheit nicht zu verwischen. Sie zeugen von Verbrechen und Mord...
Roger D'Exsteyl, geborener Roger Martens (* 22. Dezember 1926 Ledeberg/Belgien; † 26. Januar 1979), war ein belgischer Schriftsteller.
Der kunstvolle und mitreißend-spannende Roman Das Geheimnis der Rue du Calvaire erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1966.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur - von der Kritik als »ein literarischer Thriller von Rang« gefeiert - in seiner Reihe APEX CRIME.
Hugo hielt im Schreiben inne und blickte auf die Straße hinab. Dort bot sich ihm das trostlose Bild grauer Patrizierhäuser mit wurmzernagten Holzbalkonen und Fensterspionen. Das Leben in dieser Straße schien seit dem letzten Kriege wie ausgestorben. Vermutlich verbarrikadierten sich die Bürger noch aus Furcht vor den Schüssen einer Militärpatrouille hinter verschlossenen Läden. Über dieser deprimierenden Szenerie erhob sich wie eine Fackel die strahlend erleuchtete Kathedrale.
Aus dem schwarzlackierten chinesischen Kästchen vor sich nahm Hugo eine leicht parfümierte Zigarette und zündete sie mit einer automatischen Bewegung an. Er tat einige Züge und genoß das leichte Schwindelgefühl, das der zu Kopf steigende Rauch erzeugte.
Dann schrieb er weiter:
»...gleich nach meiner Ankunft hatte ich bereits das Gefühl, man würde mich hier nicht wie einen gewöhnlichen Pensionsgast behandeln: Dafür war der Empfang der Damen Verbrugge zu herzlich. Gewiss trägt auch der Empfehlungsbrief von Dekan Deg... dazu bei. Denn nach allem, was ich erfahren habe, verdanke ich die Gastfreundschaft, die ich einige Wochen lang in Gent genießen werde, hauptsächlich der Vermittlung dieses würdigen Geistlichen. Doch darf man keinesfalls annehmen, dass die Damen Verbrugge eine Pension führen: Es genügt, sie anzuschauen, um den Widersinn einer solchen Mutmaßung zu begreifen. Dazu kommt noch, dass sie in finanzieller Hinsicht als sehr wohlhabend und sogar reich gelten können.
Wie Du weißt, hatte ich Angst, hier mit wohltätigen Frömmlerinnen Zusammenleben zu müssen. Das trifft jedoch keineswegs zu, wenn auch die eine der Damen bereits ein gewisses Alter erreicht hat. Mademoiselle Aurélíe muss etwa fünfzig Jahre alt sein. Vielleicht ist sie auch noch älter. Sie gehört zu jener Kategorie von Frauen, deren Alter schwer zu schätzen ist, weil sie nie alt werden und allerdings auch nie richtig jung gewesen sind. In ihrem Falle ist das übrigens nicht von Nachteil, denn mit ihrem ins Silbrige spielenden, blonden, hochfrisierten Haar und ihren langbewimperten stahlgrauen Augen wirkt sie wie eine große Dame. Obgleich sie sich freundlich entgegenkommend und durchaus nicht herrisch verhält, hat sie doch eine tief beeindruckende Art. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die mit ruhigem Lächeln zuhört, führt Mademoiselle Aurélíe meistens das Wort. Sie verstand es, mich beim Tee geschickt über alle unausgesprochenen persönlichen Wünsche zu befragen.
Um Mademoiselle Françoise zu beschreiben, haben meine farblosen Worte vielleicht nicht die rechte Kraft, und Du wirst sie als romantische Übertreibung belächeln. Doch gestehe ich Dir offen, dass sie für mich ganz einfach das Ideal des Ewigweiblichen mit all seiner mystischen Anziehungskraft darstellt. Sie verkörpert die vollkommene Frau, die Synthese von Schwester im Geiste und hingegeben Liebender. Ist das ein Strohfeuer oder der unwiderstehliche Trieb meines Herzens? Wer weiß? Aber gerade aus diesem Grunde will ich sie objektiv zu beschreiben suchen.
Mademoiselle Françoise ist wesentlich jünger als ihre Schwester und unbestritten eine glänzende Schönheit. Mit ihrem pechschwarzen Haar und ihrem verwirrenden Blick ist sie gerade der Frauentyp, in den junge Leute sich am leichtesten verlieben. Auch wenn sie recht selten an der Unterhaltung teilnimmt, so habe ich doch Gelegenheit, den Klang ihrer vollen, harmonischen Altstimme zu genießen. In der Gesellschaft wäre sie zweifellos eine begehrte Partie gewesen, doch leben die Damen Verbrugge, wie bereits gesagt, recht zurückgezogen, und Mademoiselle Françoise ist wie ihre Schwester unvermählt geblieben.
Warum? Die Erfahrung lehrt, dass das menschliche Leben einem Roman gleicht, der die Dichtung weit übertrifft. Auch die Damen Verbrugge leben zweifellos ihren Roman. Eben dachte ich in der für Träumereien so günstigen Stille meines Zimmers darüber nach. Ich stellte mir die Damen Verbrugge als Heldinnen eines der lebensnahen Romane Cyriel Buysses vor. Als ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, sah ich sie noch deutlicher unter den Zügen der Schwestern Cormelon, den meisterhaft gezeichneten Gestalten in Jean Rays Schreckensroman Malpertuis. Aber lassen wir das... Ich will dieses Thema nicht weiterspinnen.
Dieses recht vage und unvollständige Porträt der Damen Verbrugge möchte ich noch durch den Hinweis vervollständigen, dass sie sich nach der letzten Mode kleiden und - was ich nie erwartet hätte - zurückhaltend, aber geschmackvoll schminken.
Ich habe bisher nur von den Damen Verbrugge gesprochen, weil ich ihrem Bruder, Monsieur Octave Verbrugge, noch nicht begegnet bin. Nach dem, was ich erfuhr, ist er bis zum späten Nachmittag in einer kleinen Firma tätig.
Danach lernte ich die mit der Pflege des Hauses betraute Person kennen: die übliche Dienerin vom Lande, die in der Familie aufgewachsen ist und, wie es sich gehört, Marie heißt. Ihre unschätzbare Kochkunst konnte ich bereits bei dem fürstlichen Willkommensmahl würdigen. Endlich kommt der einfachste Hausbewohner: Joseph, dessen schielende, bucklige Person die diversen Aufgaben eines Boten, Kammerdieners, Butlers und Küchenjungen vereint und der sich mir so zur Verfügung stellte: Wenn was ist, braucht’s Monsieur nur sagen.
Nun kommt das Haus, diese paradiesische Oase inmitten der öden Steinwüste der Rue du Calvaire! Lieber Papa, Du kennst meine Vorliebe für aristokratische, mit Stilmöbeln ausgestattete Häuser. Sie rufen unwillkürlich die Poesie der Manet'schen Palette hervor, oder man denkt an die Verse Verhaerens:
...so schön von Schweigen,
dass ich manchmal die Zeit anhalte, die sich wiegt
in der eichenen Standuhr mit goldenem Pendel.
Unser Heim wollten wir ja auch erst so einrichten, aber der künstlerische Zug in unserem Wesen gewann dann doch die Oberhand, und, aufs Ganze gesehen, passt das genauso gut zu uns.
Hier hingegen trägt alles den Stempel feiner, subtiler Weiblichkeit. Sie geht unter anderem von den feinen Stickereien und Spitzen aus, zahllosen kostbaren Ziersachen, den, weichen Samtsesseln und auch Mademoiselle Françoises großem Flügel, der den zierlichen Salon beherrscht. Eingangshalle und die Räume des Erdgeschosses enthalten außer einer Galerie von Gemälden berühmter ausländischer Meister eine erlesene Sammlung englischer Stiche, unter denen mich besonders ein Christuskopf beeindruckte. Er wurde technisch meisterhaft ausgeführt und zeugt von bemerkenswerter Originalität. Der Blick des Heilands vor allem hat eine zu Herzen gehende Eindringlichkeit. Unter dem Bild steht in vergoldeten Lettern die englische Fassung des Evangeliums: The Lord looked upon Peter and Peter remembered. Die Damen vertrauten mir an, dass dieses Christusbild zu ihren wertvollsten Besitztümern zähle, und das will ich gern glauben.
Beim Betreten meines Zimmers erreichte meine freudige Überraschung ihren Höhepunkt. Das in einer Ecke stehende Bett ist hinter seidenen Vorhängen verborgen, so dass der Raum ganz als Wohnzimmer wirkt. Auch hier findet man bequeme Sessel, weiche Smyrna-Teppiche und feingeschnitzte Möbel. Links vom Fenster steht ein kleiner Bücherschrank mit Werken bekannter Autoren, vor al- lern über französische Malerei und Literatur; rechts ein eleganter Schreibtisch, auf dem ich gerade diesen Brief schreibe.
Das sind bis jetzt meine ersten Eindrücke. Ich halte sie für vielversprechend. Zweifellos bist auch Du überzeugt, dass mir mein Aufenthalt in Gent unauslöschliche Erinnerungen schenken wird.
Grüße Großmama herzlich von mir,
Dein Hugo Saint-Laurent.«
Lächelnd drückte Hugo seinen Siegelring in das knisternde Wachs. Jetzt zeigte der Briefumschlag das Wappen der Saint-Laurent: ein Hugenottenkreuz im Feuerkranz und darunter die Devise: Plus est en toi.
Auch sein Stiefvater und die Großmutter würden sich über sein unerwartetes Glück freuen.
Beim Ankleiden kam ihm der Gedanke, dass sein enthusiastischer Brief seinen Vater zu einem kleinen Abstecher nach Gent veranlassen könnte. Um die Sammlung englischer Stiche zu bewundern, würde er als Grund anführen.
Und bei der gleichen Gelegenheit auch das wunderschöne Fräulein Françoise, fügte Hugo hinzu und zwinkerte sich in dem runden Kristallspiegel zu.
Darin sah er einen jungen Mann von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, schlank, fast mager, mit vollem kastanienbraunen Lockenhaar und einem bleichen, von kurzer Bartkrause umrahmten Gesicht. Hugo Saint-Laurent hatte träumerische Augen, aber einen festen, wohlgezeichneten Mund, der ihn älter und etwas zu ernst machte. Er hatte die reservierte und etwas hochmütige Haltung der Versailler Höflinge; vielleicht war er darum bei Frauen wenig beliebt.
Auf dem Kaminsims ließ die Stutzuhr fröhlich ihr Stundenspiel erklingen: Sur le pont d’Avignon, on y danse...
Ihre Blumenmotive waren ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst.
Irgendwo im Hause erscholl der Widerhall einer heftig zugeschlagenen Tür...
1
Als Hugo die Stufen hinabstieg, hörte er die Damen Verbrugge in der Halle flüstern. Diskret blieb er im Treppenhaus stehen, und so entging ihm, wovon die Rede war. Doch die Schärfe ihrer gedämpften Stimmen verriet so viel Hass, dass er erschauerte. Auf der getäfelten Wand der Halle bewegten sich gespenstisch ihre drohend verzerrten Schatten.
»Meine Geduld ist zu Ende. Wir müssen energisch durchgreifen. Ja, sehr energisch, das sage ich dir... dieser elende Dummkopf...« Mit diesen Worten begab sich Aurélíe, ohne Hugos Anwesenheit zu bemerken, erregt in das Esszimmer.
Erst jetzt sah ihn Françoise. Wie durch ein Wunder verschwand der Zorn aus ihrem Gesicht. Es strahlte wieder die Hugo bekannte Anziehungskraft aus. Trotzdem schien sie verlegen und blieb unschlüssig am Fuß der Treppe stehen. Hugo gab durch nichts zu erkennen, dass er Zeuge des Ausbruchs gewesen war. Er begrüßte seine Gastgeberin mit einer Verneigung.
»Wollen Sie noch einen Spaziergang machen, Monsieur Hugo?«
»Oh, ich komme gleich wieder. Ich muss nur einen Brief einwerfen. Apropos: Würden Sie mir bitte sagen, wo sich der nächste Briefkasten befindet?«
»An der Straßenecke. Aber gehen Sie doch lieber zur Hauptpost am Kornmarkt. Dann besteht die Aussicht, dass Ihr Brief übermorgen ankommt.«
»Gut, dann gehe ich also zum Kornmarkt. Übrigens nur, um mir die beleuchteten Häuser der Altstadt anzusehen. Mein Brief ist nicht besonders eilig.«
»Vielleicht nicht für Sie. Ob der Empfänger gleicher Ansicht ist?«
Françoise lächelte ein wenig spöttisch und drohte mit dem Finger. Hugo errötete wie ein verliebter Schuljunge.
»Oh, wissen Sie, ich habe nur einfach... nach Hause geschrieben.«
»Schon recht, ich glaube Ihnen aufs Wort.« .
Françoise schien plötzlich gesprächiger, als sie es im Verlauf des ganzen Tages gewesen war. Liebenswürdig forderte sie ihn auf: »Monsieur Hugo, wollen Sie vor dem Schlafengehen noch ein Gläschen Likör mit uns trinken?«
»Sehr gern. Aber unter einer Bedingung: Lassen Sie den Monsieur weg. Diese steife Anrede passt nicht zu der wunderbaren Art, in der Sie meinen Namen aussprechen.«
Hugos Galanterie schien Françoise zu schmeicheln. Während sie ihm die Tür aufhielt, warf sie ihm einen verwirrenden Blick zu und sagte kokett: »Ich werde daran denken... Hugo.«
Die Rue du Calvaire, in der das Haus der Verbrugge lag, bot den trostlosen Eindruck, den Hugo in seinem Brief beschrieben hatte, besonders jetzt am Abend. Ihre einzige Attraktion war eine rostige Lampe mit bizarren Ornamenten, die im schwachen Schein ihres flackernden Lichtes aus dem Dunkel tauchte. Auch tagsüber herrschte dort die deprimierende Stille der Provinz. Die einzige Ablenkung bot ein Schwarm farbloser Sperlinge, die sich um die vertrockneten Halme zwischen den Pflastersteinen stritten. Doch die belebten, lärmenden Hauptstraßen der Stadtmitte waren ganz nahe. Bereits zwei Ecken weiter erreichte Hugo den Kornmarkt. Die Häuser mit ihren gestuften Giebeln und vergitterten Fenstern waren typisch für das Gent vergangener Jahrhunderte.
Einige Monate nach dem Tode des Vaters war Hugo in einem solchen Haus zur Welt gekommen. Später ging seine Mutter eine zweite Ehe ein mit Jean-Marie Devos, dem genialen Maler, den die prominentesten Kritiker als den Breughel des 20. Jahrhunderts bezeichneten. Die Familie zog nach Bachten-Saint-Jean, einem Künstlerdorf an der Lys. Dann starb auch die Mutter. Den kleinen Hugo zogen sein Stiefvater und dessen Mutter auf. Von seinem Vater kannte er nur ein vergilbtes Porträt, das einen jungen Mann darstellte, der ihm sehr ähnlich sah; mit den Jahren wurde seine Mutter zu einer geliebten, jedoch abstrakten Erinnerung. Dagegen stand die lebendige Wirklichkeit von Meister Devos, der ihn als Sohn seiner einzigen großen Liebe ins Herz schloss. Hugo war ihm in tiefer geistiger Verwandtschaft und brüderlicher Freundschaft verbunden; solche Bindungen können stärker sein als die des Blutes. Und auch Mamy war da, für die ihre beiden Jungen, der große und der kleine, die Grenzen der Welt bedeuteten.
Hugo beeilte sich nicht. Er genoß den lauen Septemberabend. Die sanfte, schmeichelnde Wärme war untermischt mit einem Tröpfchen Melancholie, der Ankündigung des nahenden Herbstes. Die schlafenden Häuser ließen das Echo seiner gemessenen Schritte gedämpft zurückhallen.
An einer vorspringenden Kirchenmauer der Arriere-Faucille lehnte ein Paar: jedoch nicht aneinander geschmiegt, sondern in lebhaftem Wortwechsel begriffen, der Mann offenbar bemüht, seine Gefährtin zu überzeugen. Irgendetwas in seiner Haltung schien Hugo vertraut. Es veranlasste ihn, seine Erinnerung fieberhaft, wenn auch ergebnislos, zu durchforschen. Das Gesicht des Mannes konnte er nicht sehen, nur seinen Rücken. Er trug einen Sportanzug, zu dem sein altmodischer Melonenhut einen seltsamen Kontrast bildete. Von der ganz im Schatten lehnenden Frau konnte Hugo nur die schlanke Gestalt erkennen. Da hörte er den Mann laut sagen:
»Das kann so nicht weitergehen, ich muss und werde jetzt energisch durchgreifen. Das versichere ich dir...«
Zum zweiten Mal an diesem Abend hörte Hugo die gleiche Drohung: vor zehn Minuten von Aurélíe, jetzt von dem Mann mit dem Melonenhut...
Und plötzlich ertönte in seinem Kopf eine Art Alarmklingel: Die eigentümliche Haltung des Mannes erinnerte ihn an die Damen Verbrugge - an Aurélíe und besonders an Françoise.
Verflixt noch mal, so weit bin ich schon, verspottete sich Hugo in Gedanken. Dieser unwiderstehliche Drang, in jeder Person eine Ähnlichkeit mit dem geliebten Gegenstand zu entdecken... ich bin verliebt!
Aber trotzdem, dass er auch bei einem Manne...
Als er von der Post zurückkam, war das Paar verschwunden. Hoch oben in einer Nische flackerte das unbestimmte Licht einer Kerze vor den grellen Farben einer Madonna aus Weißblech.
In der Rue du Calvaire überholte ihn die untersetzte Gestalt Josephs.
»Guten Abend, Monsieur Hugo!«
»Ah, Joseph! Noch so spät unterwegs?«
»Ich gehe nach Hause, Monsieur. Ich wohne in der Rue Etrille. Wünsche gut zu ruhen, Monsieur.«
Françoise öffnete ihm die Tür. Sie lächelte.
Doch ihr Lächeln erlosch, und ihr Antlitz zeigte wieder Unruhe, als sie sagte: »Mein Bruder ist da, ich stelle ihn Ihnen vor.«
»Das wird mir eine Freude sein.«
»Aber Sie sollten dem, was er sagt, nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Er ist...«
Sie brach ab. Warum? Wer war Monsieur Verbrugge?
Etwas verwirrt betrat Hugo das Speisezimmer. Octave Verbrugge lächelte ihm, gegen den Kaminsims gelehnt, freundlich zu.
Kein Zweifel! Er war der Mann mit dem Melonenhut!
Obwohl Octaves Haltung - Hugo hatte das an der Arriere-Faucille bemerkt - unzweifelhaft an die Damen erinnerte, sah er ihnen äußerlich wenig ähnlich. Er war klein und dick. Seine kurzsichtigen Augen verbargen sich hinter den funkelnden Gläsern eines goldenen Kneifers. Seine Haare waren weder blond wie die von Aurélíe, noch schwarz wie die von Françoise, sondern rötlich und mit glanzlosen grauen Streifen durchzogen. Wenn der Anzug auch sehr gepflegt war, so verlieh der altmodische Schnitt seinem Träger doch den etwas lächerlichen Anstrich eines Provinzlers. Ein Beweis, dass Kleider nicht immer Leute machen, denn Octave Verbrugge strahlte trotzdem eine gewisse Anziehungskraft aus, die im Wesentlichen auf seinem liebenswürdigen Wesen beruhte.
Bald befanden sich beide in einem angeregten Gespräch über abstrakte Kunst. Octave erwies sich nicht nur als ausgezeichneter Plauderer, sondern auch als ein kritisch begabter Beobachter.
Die Damen nahmen an der Unterhaltung überhaupt nicht teil. Françoise, die den Armagnac eingegossen hatte, saß in einem Sessel und blickte träumerisch vor sich hin. Von Zeit zu Zeit fühlte Hugo jedoch ihren eindringlichen und verwirrenden Blick. Aurélíe saß auf dem Sofa. Ihre gute Laune von heute Morgen schien verschwunden: Mit zusammengekniffenen Lippen blätterte sie in einem Modeheft.
»Nur die Musik ist wirklich abstrakte Kunst«, argumentierte Octave. »Glauben Sie mir, Monsieur Saint-Laurent. Damit wird uns das Paradoxe der Dinge bewusst: Unter allen Kunstformen spricht die Musik den Menschen am meisten an, macht sich ihm am besten verständlich - wenigstens glauben wir, sie zu verstehen. Denn die Musik bewirkt in der menschlichen Seele nicht nur eine bestimmte Empfindung: Der Eindruck, den sie erweckt, entspricht immer unserer augenblicklichen Geistesverfassung. Darum ziehe ich diese Kunstform allen anderen vor.«
»Spielen Sie selbst ein Instrument?«, fragte Hugo.
»Oh, ich klimpere ein wenig auf dem Klavier, aber ohne jeden Ehrgeiz. Dafür ist Françoise zuständig - ich meine natürlich das Klavierspiel«, fügte er lächelnd hinzu. »Nein, ganz im Ernst: Sie spielt fabelhaft.«
»Das glaube ich gern.«
»Mein Bruder übertreibt«, sagte Françoise.
»Ganz und gar nicht, das weißt du wohl. Übrigens möchte ich dich bitten, meine Behauptung zu beweisen und uns etwas vorzuspielen.«
»Doch nicht so spät«, meinte Aurélíe, ohne von dem Modeheft aufzublicken.
»Du lieber Gott, ich dachte, du schläfst!«
»Nicht ich, Octave. Aber unsere Nachbarn.«
»Zum Teufel mit den Nachbarn.«
»Octave, deine Redeweise ist vulgär.«
Octave schwieg betroffen. Dann protestierte er schwach: »Uns kann doch niemand hören. Außerdem würde es unserem Gast Freude machen. Wie denkst du darüber, Françoise?«
Françoise stand auf und begab sich in den anliegenden Salon. Aurélíe sagte nichts mehr. Nach kurzem Zögern legte sie ihre Zeitschrift beiseite.
Einige Augenblicke später ertönten die ersten Takte einer brillanten Improvisation.
Octave und Hugo waren Françoise in den Salon gefolgt.
Zweifellos wird sie aus ihrem Repertoire eine imposante Beethovensonate wählen, dachte Hugo. Vielleicht auch ein Concerto von Liszt oder eine sentimentale Romanze von Schubert.
Doch Françoise ließ ihrer Improvisation das rhythmisch so eigenwillige Concerto in Jazz von Donald Philipps folgen. Hugos Erstaunen brachte Octave zum Lachen.
»Lieben Sie Jazz?«, flüsterte er.
Hugo stimmte begeistert zu. Mehr noch als der Musik galt seine Bewunderung der Künstlerin, die mit solcher Virtuosität spielte. Françoises großartige Interpretation gab der berühmten Komposition einen neuen Reiz. Ihre unglaublich geschwinden Finger verschmolzen mit der wellenförmigen Bewegung der Tasten. Sie strahlte einen unwiderstehlichen Zauber aus.
Für einen Augenblick hob sie die Augen. Sie sah Hugo an und bemerkte seine Begeisterung.
Da spielte sie weiter, wie noch nie zuvor...
Am Ende des Stückes war Hugo an ihrer Seite.
»Ich finde keine Worte«, begann er.
Das gleiche rätselhafte Lächeln umspielte die Mundwinkel des jungen Mädchens.
»Das ist nicht nötig: Sie waren auch so beredt genug«, sagte sie mit fast unhörbarer Stimme.
Auch Octave sparte nicht an Lob.
»Du warst brillant, Françoise, einfach herrlich! Spiel uns doch als kleine Zugabe...«
»Nein, heute nicht. Ich bin müde.«
»Vielleicht spielen Sie etwas«, wandte Hugo sich an Octave.
»Ausgeschlossen, mein Lieber. Jetzt nach Françoise - das wäre ganz einfach eine Entweihung...«
Da stand Aurélíe in der Tür. Octave bemerkte sie und sagte betont ironisch: »...da meine liebe Schwester jedoch darauf besteht... dann also los!«
Er spielte Peter Benoits machtvolles Stück feierlicher Einzug des Herzogs von Alba in Brüssel.
Hugo entdeckte, dass sein Gastgeber gar zu bescheiden gewesen war, als er sein Spiel nur als Geklimper bezeichnete. Er besaß zwar nicht Françoises eindrucksvolles Talent, doch zeigte seine Interpretation viel Einfühlung in die Musik des großen flämischen Meisters. Hugo wurde vor allem von der angstvollen Stimmung des Stückes beeindruckt, die Octave voll zur Geltung brachte.
Plötzlich brach sein Vortrag mit einer grellen Dissonanz ab. Hugo fuhr zusammen und blickte sich um: Die Damen Verbrugge waren verschwunden! Er warf Octave einen fragenden Blick zu.
»Ich habe mich getäuscht«, meinte dieser und zog eine Grimasse. »Sie können diese Musik nicht leiden... von Benoit.«
Er lügt, dachte Hugo, und er lügt ohne Überzeugung.
»Noch ein Glas?«, fragte Octave, als sie in den leeren Speisesaal zurückkehrten.
»Nein, danke.«
»Messen Sie bitte dem Verhalten meiner Schwestern keinerlei Bedeutung bei. Sie sind manchmal sonderbar.«
Octave goss sich einen Cognac ein und leerte das Glas mit der Geste eines Gewohnheitstrinkers. »Gehen wir also schlafen«, sagte er dann.
In der Familie gibt es also Spannungen, dachte Hugo, als er die Treppe hinaufstieg, die Schwester warnt vor dem Bruder und umgekehrt.
»So ist es nun einmal, Stille herrscht gewöhnlich nur vor dem Sturm«, sagte Octave, als habe er Hugos Gedanken gelesen.
Plötzlich begann man auf dem Klavier im Salon wieder zu spielen.
»Nein, was ist denn jetzt mit Françoise los«, brummte Octave.
Beide hörten zu. Da sah Hugo, wie Octave tödlich erbleichte: Ohne ein Wort des Abschieds oder der Entschuldigung verschwand er.
Im nächtlichen Schweigen des Hauses spielte Françoise den angsterregenden Totentanz...
2
Wie jeden Tag hatte Octave sich bereits früh in sein im Hafenviertel gelegenes Büro begeben, und als Hugo ins Speisezimmer trat, fand er beim Frühstück nur Françoise.
»Ich fürchte, ich habe mich sehr verspätet«, entschuldigte er sich. »Anscheinend hat Mademoiselle Aurélíe bereits gefrühstückt.«
»Sie sind durchaus nicht zu spät dran«, sagte Françoise. »Meine Schwester hütet heute Morgen das Bett. Sie fühlt sich nicht recht wohl.«
»Hoffentlich nichts Ernstliches?«, fragte Hugo besorgt.
»Aber nein, nur eine kleine Migräne. Welch schrecklicher Nebel, finden Sie nicht auch?«
Hugo trat ans Fenster: Der Nebel lastete wie eine schwere graue Wolke auf den Dächern, verhüllte die Kathedrale und verwandelte die gegenüberliegenden Häuser in gespenstische Silhouetten.
»Für diese Jahreszeit ist er wirklich ganz besonders dicht«, erwiderte er.
Françoise goss ihm Tee ein und fügte einen Tropfen Sahne hinzu.
»Möchten Sie unsere selbstgemachte Himbeerkonfitüre probieren?«
»Sehr gern.«
Und so begann der Tag wie die zehn anderen, die Hugo bereits im Hause der Verbrugge verbracht hatte - mit dem Unterschied, dass er heute die angenehme Hoffnung auf ein Tête-à-Têtemit Françoise hegte.
Seiner neuen Umgebung hatte er sich vollkommen angepasst. Die schwüle Atmosphäre des ersten Abends war verflogen. Vielleicht, weil Octave die wenigen Augenblicke, die er zu Hause war, auf seinem Zimmer verbrachte. Auch war Hugo sehr von der Mission beansprucht, deretwegen er nach Gent gekommen war. Die Ausgrabungen der verfallenen Abtei Saint-Amand, bei denen er als Assistent der Archäologie mitwirkte, gingen rasch voran.