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Gwen möchte einfach nur ihr Musikstudium an der Accademia di Musica e Arte absolvieren. Doch dieser Plan scheitert, als sie Jan, ebenfalls Student, kennenlernt. Nachdem er an Gwen besondere Fähigkeiten entdeckt, mit denen sie die vier Elemente beeinflussen kann, gerät sie in das Visier einer Terrororganisation, die vor nichts zurückschreckt, um Gwen in ihre Fänge zu bekommen. Wird sie sich den Terroristen anschließen, um ihre Freunde vor Anschlägen zu schützen? Oder kann es ihr mit Jans Hilfe gelingen, die Machenschaften der Organisation zu beenden, und damit nicht nur ihr eigenes Leben zu retten?
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2019
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© Böhmchen privat, Foto: Michal Cajzel
Kenneth Böhmchen
wurde 1996 in einer Kleinstadt zwischen Berlin und Dresden geboren. Von klein auf begleitet ihn seine Leidenschaft für Theater- und Veranstaltungstechnik sowie die Liebe zu Büchern.
Das Schreiben hat er erst während seines Studiums für sich entdeckt. Seither schwirren schon diverse Romanideen in seinem Kopf umher.
Wenn Kenneth nicht schreibt, verbringt er seine Zeit mit lesen und fotografieren oder bei seiner Arbeit am Theater.
Für Dich
Prolog
Erstes Kapitel
Gwen
Jan
Gwen
Zweites Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Drittes Kapitel
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Viertes Kapitel
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Fünftes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Sechstes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Siebentes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Achtes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Neuntes Kapitel
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Zehntes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Elftes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Zwölftes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Dreizehntes Kapitel
Jan
Gwen
Jan
Jan
Vierzehntes Kapitel
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Gwen
Jan
Epilog
Gwen
Jan
Noch bevor ich überhaupt realisiere, was vor sich geht, sind wir von einer Wand aus flammender Hitze umringt.
Wie eine Schlinge zieht sich das Inferno enger um uns. Meine Augen tränen und in meinen Lungen brennt der Rauch.
Laura neben mir ist zu einer Salzsäule erstarrt und blickt mit aufgerissenen Augen ins Feuer.
Die Möglichkeit durchs Feuer zu rennen verwerfe ich. Die Synthetikkleidung würde sofort schmelzen...
Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich greife nach dem Anhänger, den ich immer noch bei mir trage.
Ich konzentriere mich und versuche im Feuer eine Schneise zu erzeugen, durch die wir gehen können. Aber so sehr ich mir das auch vorstelle, es klappt einfach nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich zumindest ein kleines Loch geschaffen, jedoch genügt das bei weitem nicht.
Immer näher rückt das heiße Ungetüm. Ich beschließe, das Element zu wechseln und es regnen zu lassen, doch das Nieseln ist nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein – nutzlos.
Meine Gedanken rasen hin und her. Wenn wir hier nicht rauskommen, bin ich schuld, dass Laura ebenfalls verletzt wird. Der Spaziergang war meine Idee, und das haben wir jetzt davon.
Ich weiß nicht, was mit Laura passiert, aber auf einmal löst sie sich aus ihrer Starre und dreht sich zu mir. Sie packt mich an den Schultern und schaut mir fest in die Augen.
»Schau mich an. Du musst ruhig werden.« Na toll, denke ich. In dem Moment fällt direkt hinter Laura ein lodernder Ast herunter, der unsere feuerfreie Fläche halbiert.
Ich sehe, wie der Schweiß Laura in Strömen über das Gesicht läuft. Bei mir sieht es sicher nicht anders aus.
»Gwen. Du wirst das schaffen. Ich glaube ganz fest an dich. Hör mir zu.« Ich bringe nicht mehr als ein Nicken zustande.
»Atme ruhig... so wie ich. Ein.... und aus... ein... und wieder aus.« Tatsächlich beruhigt sich mein Puls etwas. Ich umfasse wieder meinen Anhänger, der den Rest erledigt.
»Was soll ich tun?«, frage ich, nicht gänzlich ohne Verzweiflung in meiner Stimme.
»Wie hast du das beim Erdbeben damals gemacht?« Und dann fällt es mir ein. Wie konnte ich das nur vergessen?
Ich gehe auf das Feuer zu. Die Hitze ist kaum zu ertragen.
»Was hast du vor?« Laura ist nun hinter mir.
Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht, aber das verschweige ich ihr.
Ihre Entspannungsmethode scheint meinen Körper auf Autopilot gestellt zu haben.
Ich strecke meinen rechten Arm den Flammen entgegen und hoffe, dass meine Kräfte irgendwie dafür sorgen, dass mir die hohen Temperaturen nichts anhaben können, ansonsten war es das mit meiner Karriere. Aber das sollte jetzt keine Rolle spielen. Erst einmal müssen wir hier lebend herauskommen.
Tatsächlich spüre ich nicht mehr als ein leichtes Kribbeln, als die Flammen meine Finger berühren
einige Wochen zuvor
»Beinahe Unfall überschattet Staatsbesuch.
Berlin. Auf der Fahrt vom Flughafen Schönefeld wurde die Fahrzeugkolonne von plötzlich einsetzendem Eisregen und Blitzeis überrascht. Glücklicherweise wurde niemand ernsthaft verletzt. Der Präsident und seine Begleiter sind nach Angaben von Regierungssprechern wohlauf. [...]« (Berliner Tagespresse, 27.05.2015)
Zitternd versuche ich den Briefkastenschlüssel ins Schloss zu stecken. Aber es will und will nicht gelingen. Ist dieses verfluchte Schlüsselloch über Nacht geschrumpft? Quatsch. Bekomm einfach deine Hand in den Griff, dann wird das schon, versuche ich mich selbst etwas zu beruhigen.
Seit drei Tagen wiederholt sich dieses Spiel jetzt. Immer wenn das gelbe Postauto die Einfahrt zu unserem Haus rückwärts verlässt, kann ich kaum an mich halten.
Treppe runter – Tür auf – zum Briefkasten rennen und dabei fast über meine eigenen Füße fallen – alles nahezu zeitgleich. Aber wenn es dann darum geht den Kasten zu öffnen, bin ich plötzlich die Unfähigkeit in Person.
Ich unternehme einen weiteren Versuch, und endlich klappt es.
Der Schlüssel steckt. Jetzt müsste ich ihn nur noch um neunzig Grad drehen. Aber plötzlich überkommt mich Panik.
Das ist der einzige Punkt, der den heutigen Tag von den anderen unterscheidet. Bis gestern konnte ich mich immer damit beruhigen, dass ja morgen auch noch ein Tag ist. Heute geht das nicht mehr. Heute ist der letztmögliche Tag, an dem die Zusage der Accademia di musica e arte eintreffen kann. Hier auf dem Land kann es auch mal etwas länger dauern, bis die Post geliefert wird, selbst das habe ich einberechnet. Heute MUSS der Brief einfach gekommen sein, sonst... keine Ahnung. Seit mir mein Musiklehrer Herr Grismann in der neunten Klasse von der Accademia berichtet hat, kann ich mir keinen anderen Studienplatz vorstellen. Ich muss einfach angenommen werden. Ich muss...
Zitternd atme ich noch einmal tief ein und wieder aus. Langsam öffne ich unseren Briefkasten. Am liebsten würde ich meine Augen schließen, aber so komme ich ja auch nicht voran. Drei Umschläge fallen mir in die Hände. Zwei normalgroße und – mir rutscht das Herz in die Hose – einer in DIN A4. Achtlos lasse ich die anderen auf den Schotterweg fallen, das sind sicher nur Rechnungen für Mama und Papa, die unsere Haushälterin überweisen muss. Der große ist tatsächlich für mich. Scheiße! Heißt es nicht, dass die Zusagen in kleinen Briefen verschickt werden und die Absagen, inklusive Bewerbungsmappe, in diesen A4-Umschlägen?
Als ich mir das durch den Kopf gehen lasse, fällt mein Herz, wenn überhaupt möglich, noch etwas tiefer. Noch ist doch gar nichts sicher!, versuche ich das Gedankenkarussell in meinem Kopf zum Stehen zu bringen. Erfolglos.
Ohne den Schlüssel mitzunehmen renne ich los, den Umschlag fest an mich gepresst. Ich laufe ohne nachzudenken. Meine Beine und mein Körper wissen auch so, wo es hingeht. Es gibt nur einen Ort, an den ich jetzt kann.
Nicht lange und ich habe das Dorf, an dessen Rand unser Grundstück liegt, hinter mir gelassen. Blind folge ich dem Trampelpfad in den Wald und bin nach einigen Metern angekommen.
Ich schiebe mich durch ein paar Zweige, und schon umfängt mich eine Ruhe, wie ich sie nicht einmal in meinem Zimmer zu Hause verspüre. Der kleine Tümpel hier im Wald, umgeben von Sträuchern und Büschen, an denen im Spätsommer die verschiedensten Beeren wachsen, schafft es immer wieder mich zu erden. Seit ich in der Grundschule das erste Mal wegen meiner roten Haare ausgelacht wurde, komme ich hierher. Wenn meine Eltern mal wieder an meinem Geburtstag nicht zu Hause waren, hat diese beruhigende Atmosphäre meinen Kummer vertrieben. Wenn die Bäume sprechen könnten, wären sie wohl in der Lage meine persönlichsten Geheimnisse auszuplaudern.
Niemanden habe ich je hierhin mitgenommen. Einerseits käme es mir wie eine Entweihung vor. Andererseits: Wen sollte ich hierhin schon mitnehmen? Freunde gibt es keine, Chloé, Tarja oder wie auch immer mein aktuelles Kindermädchen gerade hieß, konnte ich hier auch nicht gebrauchen.
Also blieben noch Mama oder Papa – nein. Meistens sind sie ja doch in der Weltgeschichte unterwegs. Und außerdem: Wer lässt seine Eltern schon in seine Tagebücher schauen? Ja, wenn ich so drüber nachdenke, ist das hier der einzige Ort, an dem ich mich öffne. Wenn man ständig Gefahr läuft von der eigenen Mama analysiert zu werden, lernt man schnell, sich eine Maske aufzusetzen und eine Mauer um seine Gedanken zu ziehen.
Ich liebe sie wirklich, aber mit ihren psychologischen Fähigkeiten soll sie sich an der Uni austoben, an der sie als Professorin angestellt ist, aber nicht beim Frühstück am Küchentisch. Ich hasse das total. Immer die gleiche Prozedur: Sie strafft ihren Rücken, um gleich darauf wieder betont locker auf ihren Stuhl mir gegenüber zu sinken. Darauf schiebt sie ihre rahmenlose Brille ein Stück höher und schärft ihren Blick, so als wolle sie durch meine Augen direkt in meine Gedanken eintauchen. Als nächstes dreht sie einen ihrer verschiedenen Armreifen, die sie immer am linken Handgelenk trägt. Zu guter Letzt fehlt nur noch ein seufzendes »Schätzchen« und als krönenden Abschluss der Verwandlung in die angesehene Frau Professor schiebt sie noch ein »... du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, was dich bedrückt« hinterher. Macht sie das mit ihren Klienten auch so? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sich jemand, bei dem saugenden Blick, den ihre Augen annehmen, entspannen kann.
Ich tue mich jedenfalls immer schwer dabei mein Inneres nach außen zu kehren. Vielmehr verspüre ich dann immer den Drang sofort loszulaufen – oft gebe ich ihm nach.
Inzwischen habe ich mich auf einem Baumstumpf niedergelassen. Nachdenklich lausche ich dem Klang der Stille, während mich die beruhigende Atmosphäre und der Geruch des Gewässers einhüllen. Eine seichte Brise lässt einen dünnen Ast auf- und niederwiegen, sodass er mir sanft über meine linke Schulter streift. So als würde er mich aufmuntern wollen, als würde er mir sagen los Gwen, jetzt öffne endlich den doofen Brief, dann hast du Gewissheit....
Also gut. Mit immer noch leicht zittrigen Fingern öffne ich den braunen Umschlag an der Seite. Darin ein loses Blatt, eine Broschüre und eine schwarze Mappe.
Zuallererst nehme ich mir das einzelne Blatt vor.
Sehr geehrte Frau Hesselbach,
ihre Bewerbungsunterlagen sowie ihre Demo-Aufnahme sind fristgemäß bei uns eingegangen und wurden eingehend geprüft.
Wie Sie wissen, sind die Studienplätze an der Accademia di musica e arte sehr begrenzt. Daher wird äußerst genau abgewägt, wem ein Platz an der Accademia angeboten wird.
Ich freue mich Ihnen mitteilen zu dürfen, dass die Aufnahmekommission einstimmig entschieden hat, Sie ab dem Wintersemester 2017/18 aufzunehmen. Herzlichen Glückwunsch!
Ungläubig starre ich das bedruckte Papier an. Immer wieder und wieder lese ich den entscheidenden Absatz: »Ich freue mich Ihnen mitteilen zu dürfen, ... Sie... aufzunehmen« . Seufzend stoße ich die Luft aus, die sich seit einer gefühlten Ewigkeit in meinen Lungen gestaut hat. Ich bin tatsächlich angenommen. Wahnsinn.
Die abschließenden Sätze überfliege ich nur noch.
Anbei übersende ich Ihnen den Mietvertrag für Ihre Unterkunft, den Sie bitte umgehend unterschrieben an uns zurücksenden. Desweiteren liegt eine Broschüre bei, in der aufgeführt ist, was Sie für den Unterricht und den Aufenthalt an unserem Institut benötigen. Dort finden Sie auch alle Antworten auf Fragen, die Ihnen jetzt sicher im Kopf umherschwirren.
Ich freue mich, Sie ab September bei uns begrüßen zu dürfen.
Herzlichst,
Prof. Lena v. Siedenow-Raich
Dozentin für Klavier & Gesang
Akademieleiterin, Intendanz Bernstein-Theater
Viel zu früh klingelt der Wecker. Eigentlich müsste ich ja nicht so zeitig aufstehen, aber den ganzen Tag verschlafen ist auch nicht meins. Müde schlurfe ich nach unten. Jetzt, da meine Abiprüfungen hinter mir liegen, kann ich mich endlich komplett meiner Leidenschaft widmen. Mein Abschluss wird zwar keine Glanzleistung, aber zum guten Bestehen sollte es reichen. Mama mag diese Einstellung zwar nicht, aber einen Weg, mich dahingehend zu ändern, hat sie auch nicht gefunden.
Bevor ich mich in die Küche begebe, wo Mama schon mit dem Frühstück wartet, leere ich noch den Briefkasten.
Dieses Ritual ist noch aus der Zeit übriggeblieben, als wir vor zehn Jahren hierher gezogen sind und ich darauf gewartet habe, dass jemand aus meiner alten Heimat schreibt.
Ich öffne die Haustür und muss erstmal blinzeln. Die Sonne sollte morgens echt nicht so hell scheinen, denke ich, während ich dennoch die wärmenden Strahlen genieße, die meine Haut kitzeln.
Ich beschließe, heute auf jeden Fall das schöne Wetter zu nutzen, um einen Abstecher zum Dornweiher, meinem kleinen Geheimversteck und Ruhepol auf dem Akademiegelände, zu unternehmen. In den vergangenen Tagen habe ich neben meinen Prüfungen oft im Theater ausgeholfen, sodass ich keine Zeit hatte, um Kräfte am See zu tanken.
Ein zwitschernder Vogel reißt mich aus meinen Gedanken.
Schnell schnappe ich mir die Post und gehe in die Küche. Mama sitzt schon auf ihrem Platz.
»Guten Morgen.« Viel besser gelaunt als es um diese Uhrzeit erlaubt sein dürfte, strahlt sie mich an: »Schön, dass du an die Post gedacht hast.«
»Mach ich doch immer«, grummle ich mehr als dass ich sprechen würde. Ich lege die Briefe vor ihr auf den Tisch.
»Ist was Wichtiges dabei?«, fragt sie ohne von ihrer Partitur aufzuschauen. Für mich gehört es zum Alltag, dass Notenblätter den Esstisch bedecken, wie es anderenorts Zeitschriften tun. Andere Mütter lesen morgens die Tageszeitung, Mama hingegen bevorzugt, Opern, Operetten oder Musicals und summt dabei leise vor sich hin.
Nicht selten verwandeln sich dabei Küchenmesser oder Teelöffel in Taktstöcke, mit denen sie dann mal seicht, mal aufbrausend durch die Luft wedelt.
»Keine Ahnung«, gebe ich mein Brötchen kauend zurück.
»Dann schau doch mal nach.«
»Hmpf. Später.«
Ich bin einfach nicht dafür geschaffen morgens schon topfit zu sein. Dennoch genieße ich die gemeinsamen Minuten, denn am Rest des Tages bleibt nicht viel Zeit.
Ich greife nach dem Stapel und überfliege die Absender. »Werbung... Werbung... Rechnung... alles für dich – was für eine Überraschung.« Meine Stimme ist nicht gänzlich frei von Sarkasmus. Als ob jemals Post dabei wäre, die nicht für sie bestimmt ist.
»Hier...«, ich halte einen großen braunen Umschlag fest, »... für mich«, stelle ich nüchtern fest.
»Ach, echt...?« Sie versucht unwissend zu klingen. Dabei höre ich die Nachtigall schon trapsen.
»Ist das wirklich dein Ernst?« Innerlich verdrehe ich die Augen.
»Was denn?«
»Na der Brief...«
»Was ist mit dem?« Sie versucht immer noch, ihre Unschuldsmiene aufrecht zu halten, was ihr zusehends schlechter gelingt.
Ich reiße den Brief auf und überfliege den Inhalt. Anders als bei den anderen Bewerbern hält sich meine Überraschung in Grenzen.
»Du hättest mir auch einfach sagen können, dass ich angenommen bin.«
»Auch beim Sohn der Akademieleiterin muss das Protokoll eingehalten werden. Das Gremium hat über deine Aufnahme genauso entschieden wie bei allen anderen auch – kein Mutti Bonus.«
»Den will ich auch gar nicht«
***
Wie immer setze ich Rick nach dem Training im Sportzentrum zu Hause ab. Seit der Alte mir den Wagen geschenkt hat, bin ich der Chauffeur vom Dienst. Als der nagelneue Golf an meinem achtzehnten Geburtstag vor unserem Haus auf dem Akademiegelände stand, hatte ich mir geschworen ihn nie zu benutzen. Eher hätte ich mir eine Hand abgehackt, als etwas von ihm zu nutzen.
Das war schließlich auch nur einer seiner Versuche, mich zu sich und der Organisation zu locken – aber so billig bin ich nicht zu haben. Nicht für das, was er vorhat – das widert mich einfach nur an – und schon gar nicht nach dem, was er mir und Mama angetan hat.
Noch heute bin ich unendlich froh, dass Mama es vor zehn Jahren endlich geschafft hat, ihn zu verlassen und hier neu Fuß zu fassen. Jetzt bleibt uns nur noch der Name, der uns mit ihm verbindet. Als Künstlerin war es schlichtweg einfacher, den Namen zu behalten, mit dem sie Weltruhm erlangt hat.
Seit wir vom Gut Siedenow-Raich weg sind, leben wir hier auf dem Gelände der Accademia di Musica e Arte. Sie leitet die Akademie und unterrichtet Klavier und Gesang, und ich bin seit heute offiziell immatrikuliert.
Naja, nach einigen Monaten hat dann mein Pragmatismus bezüglich des Wagens gesiegt und meinen Stolz verdrängt. Klar, es fahren stündlich Busse von der Akademie in die Stadt und zurück, aber mit dem Auto ist man einfach schneller.
Vom ersten Tag an durfte ich mir die Witzeleien meines Freundes Rick anhören. Er macht immer seine Scherze darüber, dass ich als von und zu oder hochwohlgeboren nur einen Golf fahre und keinen Mercedes, Maserati oder Bentley.
Aber genau das hat ihn zu meinem besten Freund werden lassen.
Noch nie hat er sich sonderlich dafür interessiert, dass meinen Namen ein von ziert oder ich auf einen Stammbaum bis ins 15.
Jahrhundert blicken kann.
Nach dem ewigen Gerede meines Alten über Tradition und Familienehre war das genau das, was ich brauchte, als wir vor über zehn Jahren hier nach Brandenburg kamen.
Nach meinen bisherigen Erfahrungen habe ich mir natürlich vorgenommen keine engeren Freundschaften einzugehen. Dass man sowas nicht planen kann, hätte mir eigentlich klar sein sollen.
Nach zehn Minuten einsamer Autofahrt stehe ich vor dem Tor zum Akademiegelände, an dessen linker Seite das Pförtnerhäuschen steht. Harry, der gutmütige, alte Pförtner, schaut von seinem Buch auf und nickt mir freundlich zu, während ich meine Key-card scanne. Als ein Piepsen signalisiert, dass alles okay ist öffnet sich die Schranke, und ich fahre auf das Gelände.
Rechts geht es zur Siedlung der Angestellten, wo ich mit Mama das letzte Haus bewohne. Ich stelle mein Auto links davon ab und steige aus.
In meinem Zimmer tausche ich die Sporttasche gegen meinen Violinenkoffer und gehe wieder nach draußen. Wie üblich ist Mama wahrscheinlich noch in ihrem Büro im Verwaltungsgebäude beschäftigt, so bleibt mein kleiner Ausflug unbemerkt.
Ein schmaler Pfad führt hinter unserem Häuschen in Richtung Amphitheater, das im Sommer regelmäßig bespielt wird und an einer natürlichen Anhöhe liegt.
Heute ist spielfrei, so dass mir niemand begegnet, während ich die steinernen Stufen hinabsteige. Vorbei an den Garderoben und Maskencontainern gelange ich in den unteren Wald.
Sobald ich zwischen den Bäumen verschwunden bin, sind es nur noch wenige Meter bis zu einer Gruppe von Sträuchern und Büschen.
Dank jahrelanger Übung schaffe ich es mittlerweile im Schlaf, die grüne Mauer zu durchqueren, ohne mir meine Kleidung oder Haut an den Dornen aufzureißen.
Ich streife die Kette, die ich vor fremden Blicken verborgen unter meiner Kleidung trage, ab, als ich an den Rand des kleinen Tümpels komme.
Hockend lasse ich den schlichten, länglichen Kristallanhänger ins Wasser gleiten. Der blaugrüne Turmalin beginnt langsam bläulich zu schimmern, als er das nasse Element berührt. Das Leuchten umgibt den Anhänger und strahlt mich an.
Augenblicklich umfängt mich eine tiefe Stille und innere Ruhe.
Energiegeladene Wellen durchströmen meine Adern, bis die Haut unter meinem Lederarmband am linken Handgelenk leicht zu kribbeln beginnt.
Nachdem ich dieses unbeschreibliche Gefühl eine Zeitlang genossen habe und das Leuchten nachlässt, lasse ich den Anhänger wieder unter meinem schwarzen Shirt verschwinden, das gerade so locker sitzt, dass man ihn unter dem Stoff nicht erkennen kann.
Mit einem Klicken schnappen die Verschlüsse des Instrumentenkoffers auf. Vorsichtig nehme ich mein Lieblingsinstrument heraus. Nachdem ich den Bogen frisch mit Kolofonium bestrichen habe, entlocke ich der Violine die ersten Töne.
Niemand, nicht einmal Rick oder Mama, ahnt, dass ich nach der Grundschule nicht aufgehört habe zu spielen. Wüsste Mom, wie viel es mir bedeutet, würde sie mich womöglich noch dazu überreden, mich für einen Musikstudiengang einzuschreiben... oder besser gesagt, sie würde mich einschreiben. Aber das würde mir dann die Leichtigkeit und Freiheit nehmen, und das will ich nicht riskieren.
Kein Lehrer der Welt kann mir dieses Gefühl der Freiheit geben, wie ich es hier am Dornweiher verspüre.
Wie jeden Abend liege ich in meinem Zimmer auf dem Bett. Ich liebe mein Turmzimmer – wie ich es nenne – wegen des turmförmigen Erkers in der Ecke, der ringsum verglast ist. In unserer Villa kann ich mir keinen schöneren Ort vorstellen, um Musik zu hören oder zu lesen. Ich liebe es, dort zu sitzen und zuzusehen, wie die Sonne über dem Dorf untergeht und den Dächern der Häuser einen kupferroten Anstrich verleiht – die Farbe meiner Haare.
Ich starre an die weiße Decke meines Zimmers und muss daran denken, dass ich bald woanders einschlafen und aufwachen werde. Ausnahmsweise läuft keine der CDs mit französischen Chansons oder traditioneller skandinavischer Musik, die mir meine Kindermädchen immer aus ihrer jeweiligen Heimat mitgebracht haben.
Ich habe den Brief und die Unterlagen immer und immer aufs Neue gelesen, sodass mir mittlerweile die Augen tränen. Um wieder einen klaren Blick zu bekommen, schaue ich an mir hinab und fokussiere meine Füße, die immer noch in den grünen Chucks stecken.
Als sich meine Augen etwas entspannt haben, nehme ich mir nochmal die Broschüre vor. Ich kann es einfach nicht glauben, aber hier steht es schwarz auf weiß: »Studentinnen und Studenten der Accademia, die auf dem Gelände wohnen, steht es frei, ihre eigenen Instrumente mitzubringen. ...« Die Instrumente würden, so entnehme ich es den Unterlagen, drei Tage vor Beginn der Ausbildung abgeholt. Nach dem Eintreffen in der Akademie würden sie vom hauseigenen Instrumentenbauer gestimmt und auf Wunsch bearbeitet.
Für mich steht außer Frage, dass ich mein Klavier mitnehme, auf dem ich meine ersten musikalischen Gehversuche gemacht habe.
Auf anderen Instrumenten habe ich mich nie so wohl gefühlt wie auf meinem eigenen.
Als ich das Klappern von Absätzen im Flur höre, weiß ich sofort Bescheid. Kurz darauf klopft es an meine Tür und Mama schiebt ihren Kopf herein – natürlich ohne mein herein abzuwarten. Aber Gründe sie davon abzuhalten gibt es ja sowieso keine. Weder nehme ich heimlich irgendwelche Drogen noch gäbe es einen Freund, der sich verstecken müsste oder ähnliches.
»Hey meine Süße« .
Ich hasse es, wenn sie mich so nennt. Aber es ihr auszureden ist anscheinend unmöglich. Ein leises Stöhnen kann ich trotzdem nicht unterdrücken. »Mama!«
»Wenn du nicht mehr hier bei uns bist, wirst du das schon noch vermissen.«
Diesen Kommentar übergehe ich einfach.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich es auf die Accademia schaffe.
Ich bin doch viel zu schlecht. Ich bin nunmal keines dieser Wunderkinder, die sich mit drei Jahren ans Klavier setzen und Eine kleine Nachtmusik fehlerfrei spielen.« Von dem Moment an, als mir klar wurde, dass es nun Wirklichkeit ist – dass ich angenommen bin, plagt mit auch der Zweifel. »Bin ich wirklich gut genug?«
»Ach, Schätzchen...«, sagt sie mit ihrer Beruhigen-Sie-sich-gemeinsam-schaffen-wir-das-Stimme, mit der sie wahrscheinlich ihre Klienten immer gefügig macht. Ich gebe es nur ungern zu.
Wirklich ungern. Aber in Momenten wie diesen brauche ich das irgendwie. »Erstens: du hast es doch gelesen. Eine Kommission entscheidet, wer angenommen wird und wer nicht. Wenn sie dich wollen, dann wird das schon seine Richtigkeit haben. Und zweitens: Schon vergessen, wer den Vater ist? Dein Talent hast du garantiert von ihm geerbt.«
Herrmann Hesselbach. Der berühmte Konzertpianist, der mindestens drei- bis viermal im Monat Konzerte gibt oder für Aufnahmen durch die Welt jettet.
»Papa brauchte aber nicht jahrelang Unterricht, um so gut zu werden!«, gebe ich zu bedenken, wobei ich die Verbitterung nicht komplett aus meiner Stimme verbannen kann.
»Diamanten müssen auch erst geschliffen werden, bis sie funkeln«, erwidert sie, während sie mich an sich zieht und fest drückt.
Ich lehne mich an sie, aber schlucke eine erneute Antwort herunter. Wie sehr mich Zweifel plagen, braucht sie nicht zu wissen.
Da hat auch das hundertmalige Lesen des Briefes nichts geholfen. Wirklich glauben kann ich es nicht.
»Müssen wir einen Überseecontainer mieten, oder meinst du, deine tausenden CDs aus aller Welt können hierbleiben?«, reißt Mama mich aus meinen Gedanken.
»Naja, ein ganzer Container muss es nicht gerade sein, eine Festplatte sollte ausreichen.«
Mit einem Lächeln steht Mama auf und geht. »Na dann sollte das ja kein Problem sein. Ich lass dich dann mal weiter in Ruhe nachdenken. Gute Nacht, Süße.«
Bevor ich ihr noch so etwas wie ein Schnauben hinterherschicken kann, ist sie schon aus der Tür gehuscht.
Ich liege noch ewig wach und lausche den Klängen Chopins, die aus den Lautsprechern rieseln, nachdem ich das Licht meiner Nachttischlampe ausgeknipst und mir meine Chucks von den Beinen gestriffen habe. Mein Gedankenkarussell dreht sich auf Hochtouren und will einfach nicht stillstehen. Eigentlich beruhigen mich die Nucturnes von Chopin abends immer, aber heute will das nicht gelingen. Nach einer gefühlten Ewigkeit und endlosen Grübeleien, die sich teils aus Zweifeln, teils aus Vorfreude zusammensetzen, schlafe ich endlich ein.
***
Noch ein letztes Mal gehe ich hinaus zu meinem Teich im Wald. Wie immer lasse ich mich auf den Baumstumpf sinken und strekke meine Beine aus. Ich atme die warme, nach Wasser und Natur duftende Luft ein. Augenblicklich umfängt mich wieder diese ruhige und entspannende Atmosphäre, die meinen Puls und meine Atmung verlangsamen.
Sofort frage ich mich, wie ich in Fellbach zurechtkommen soll, wenn ich Probleme habe. Werde ich da auch ein Plätzchen finden, wo ich so runterkommen kann wie hier?
Wenn ich den Unterlagen Glauben schenken darf, befindet sich die Akademie inmitten eines ausgedehnten Waldes, in einem Gebiet, wo es viel Wasser gibt. Ich kann wirklich nur hoffen, dass ich einen Ort finde, der eine ähnliche Ruhe auf mich ausstrahlt.
Wo soll ich denn sonst Trost finden, wenn mich mal wieder Zweifel plagen?
Schluss damit! Es ist hier nur ein einfacher Tümpel im Wald wie jeder andere auch. Vermutlich bilde ich mir diese besondere Wirkung sowieso nur ein. Aber ich war so oft hier in den letzten Tagen. Immer hat es mich beruhigt. Kann das wirklich Einbildung sein? Immer wenn ich hier zum Teich hinter den Büschen gekommen bin, konnte ich diese Stimme, die mir sagt, ich sei nicht gut genug, abschalten. Was mache ich nur, wenn es an der Akademie so weitergeht wie bisher? Ich allein. Ohne Freunde. Außenseiter.
Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Dann kann man wenigstens nicht auch noch von ihnen enttäuscht werden. Wenn ich dachte, es könnte sich eine Freundschaft entwickeln, haben die anderen festgestellt, dass man mit den coolen Kids mehr Spaß haben kann, als mit einer wie mir, die ihr Klavier über alles liebt.
Einmal habe ich den Fehler begangen mich auf jemand anderen einzulassen – das passiert mir nicht nochmal.
Langsam wird es Zeit. Ich erhebe mich und gehe an den Rand des Teiches. Ich hocke mich hin und lasse meine Hände langsam durch das vom Sommer erwärmte Wasser gleiten. Als meine Finger eintauchen, erfüllt mich plötzlich eine Energie, wie ich sie noch nie gespürt habe. So, als wolle mir das Wasser die Angst nehmen, vor dem, was kommt. Mich mit der nötigen Kraft erfüllen, um den neuen Schritt zu wagen.
Oh Mann, langsam drehe ich echt durch. Haben die anderen Jugendlichen im Dorf am Ende doch Recht und ich bin nicht ganz richtig im Kopf? Es ist nur Wasser. Himmel! Jetzt komm mal wieder runter und freu dich auf das, was du ab Morgen erleben wirst! Seltsamerweise erfüllt mich auf einmal wirklich unbändige Freude. Die Zweifel scheinen verschwunden. Verdammt! Mama würde mich auf der Stelle zu sich auf die Couch legen, wenn sie wüsste, dass ich mir gerade darüber den Kopf zerbreche, was das Wasser des Sees mit mir macht. Dass es mir eben Energie geschenkt und Zweifel genommen hat.
Entschlossen, niemandem davon zu erzählen, stehe ich auf und mache mich auf den Weg nach Hause. Noch einmal drehe ich mich um und lasse den Blick über meinen kleinen, geheimen Ort schweifen.
***
Am nächsten Morgen ist es dann soweit. Mir ist etwas flau im Magen, meine Beine zittern, aber ich freue mich. Endlich hält das Taxi am späten Vormittag in unserer Einfahrt. Der junge, sportliche Fahrer beginnt sofort meine drei Koffer einzuladen. Mir ist es schon beinahe peinlich, dass ich so viel Zeug mitnehme, aber der eine Koffer geht auf Mamas Konto, die darauf bestanden hat, dass ich noch dieses oder jenes Kleidungsstück zusätzlich einpacke. Dabei sieht doch eh alles gleich aus. Neunzig Prozent meines Kleiderschanks bestehen aus schwarzen Stücken, der Rest ist grau, weniges weiß. Die einzigen Farbtupfer, die ich mir gestatte, sind meine Chucks, die ich in den verschiedensten Farben besitze. Die füllen den kleinsten Koffer komplett aus.
Aus meinem schwarzen Rucksack, in dem ich mein Laptop und die Festplatte mit der Musik transportiere, schaut der Kopf meiner braun-weißen Plüschkuh Frieda heraus.
Natürlich habe ich dafür einen dieser typischen Mama-Blicke kassiert, der fragt, ob das denn wirklich nötig sei. Woraufhin ich mit meinem Tochter-Blick geantwortet habe Ja, ist es.
In der vergangenen halben Stunde ist Mama immer nervöser geworden und pausenlos um mich herumgewirbelt. Papa hingegen, der sich heute extra freigenommen hat, wurde immer ruhiger. Ich wünschte, seine Ruhe würde auf Mama abfärben.
Als es an der Zeit ist aufzubrechen, schließen mich beide in ihre Arme. Ich meine sogar zu erkennen, dass Mamas Augen hinter ihrer Brille etwas feucht werden und sie gegen die Tränen kämpfen muss.
»Pass auf dich auf, Süße, und melde dich, wenn du angekommen bist.«
»Ja, Mama. Mach ich.«
»Mach dir keine Sorgen. Du schaffst das. Ich bin wirklich stolz auf dich.«
»Danke, Papa. Ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen.«
»Sicher nicht. Da fällt mir ein...«, sagt er und stupst dabei Mama an.
»Ach... ja... ich habe noch etwas für dich«, sagt sie.
Aus einer Schmuckschachtel holt sie eine feine silberne Kette.
Eine kleine Eule hängt daran.
»D-D-Danke, Mama«, bringe ich zitternd hervor. »Die ist wunderschön«
Das ist sie wirklich.
»Sie soll dich... beschützen.«, sagt Papa mit Anspannung in der Stimme, »...und dafür sorgen, dass du deine Entscheidungen weise triffst. Und jetzt auf, der Fahrer wartet.«
Noch einmal umarmen mich beide. Ich steige ins Taxi und verlasse mein Zuhause.
»Frankfurt. Gegen 23 Uhr brach auf dem Gelände des größten deutschen Herstellers für Medikamente und Medizinbedarf ein Feuer aus. Große Teile der Produktionsabteilung und des Lagers sind vollständig niedergebrannt. Brandstiftung kann nicht ausgeschlossen werden. Die werkseigene Feuerwehr konnte laut Aussagen der Polizei nicht eingreifen, da Fahrzeuge nicht funktionsfähig waren, obwohl Prüfberichte einen einwandfreien Zustand zertifizieren. Die Polizei ermittelt.«
(Frankfurter Kurier, 23.02.2015)
»Oh Mann, da haben wir es also tatsächlich geschafft.« Rick bricht das Schweigen, als ich am Kreisverkehr die dritte Ausfahrt in Richtung des Wohngebiets nehme. Wir sind wieder einmal auf dem Heimweg nach dem Training.
»Sieht ganz so aus.« Schon in der Grundschule waren wir in einer Klasse, am Gymnasium hatten wir alle Kurse zusammen, da musste das ja so kommen.
»Ob es jetzt anders wird, wenn wir nicht mehr nur Aushilfen, sondern Studenten sind?«, denkt er laut.
Schon seit einigen Jahren helfen Rick und ich in den Ferien bei Theater- oder Musicalproduktionen aus, um unser Taschengeld aufzubessern. Nicht dass ich das nötig hätte, aber ich verdiene lieber mein eigenes Geld, als alles in den Hintern geschoben zu bekommen.
Unsere Liebe zur Arbeit hinter den Kulissen hat auch dazu geführt, dass es ab diesem Semester den Studiengang Veranstaltungstechnik für Musical und Theater an der Accademia gibt, den wir beide belegen.
Frank, der leitende Tonmeister an der Akademie hat, als wir umgezogen sind, mein Interesse für Tontechnik geweckt. Es mag komisch klingen, aber neben Rick gehört er zu meinen engsten Vertrauten. Alle Fragen, die man seiner Mutter nur ungern stellt, hat er mir mit Engelsgeduld beantwortet. Stets hat er sich alle großen und kleinen Probleme mit einer Tasse Kaffee in der Hand angehört und seine Meinung geäußert – ohne dabei zu sehr wie ein Erwachsener zu klingen.
Wenn ich nicht gerade beim Training mit Rick bin oder die Ruhe am See genieße, halte ich mich bei Frank im Tonstudio oder Theater auf. Es gibt für mich nichts Schöneres, als den Sängern und Musikern dabei zu helfen, den großen Saal mit ihren Stimmen und den Klängen der Instrumente zu füllen, und zu sehen, wie das Publikum den Alltag für einige Stunden hinter sich lassen kann. Und nicht zu vergessen: Die Arbeit mit Rick macht einfach Spaß. Er hat für seinen Teil die Beleuchtungstechnik für sich entdeckt, als ich ihn mal mitgenommen habe. Seither verstehen wir uns bei der Arbeit meist ohne Worte, was echt angenehm ist.
Frank und Mama haben wir es zu verdanken, dass der Studiengang eingerichtet wurde.
Ricks Bedenken bringen mich zum Grübeln. Wird es so entspannt bleiben, wie es bisher war?
»Du kennst doch Frank und Sven. So cool wie die drauf sind, wird das schon.« Meine leisen Zweifel behalte ich für mich
»Na, was meinst du...«, fragt Rick mit einem schiefen Grinsen im Gesicht, als ich vor seinem Haus anhalte, »...wie viele Studentinnen werden in diesem Jahrgang was von dir wollen?«
Nicht schon wieder... Ich verdrehe die Augen. »Zu viele...«, gebe ich murrend zurück.
Schon lange habe ich das Problem, dass Mädchen mir nachlaufen. Ich wünschte, ich wüsste woran das liegt, um es abzustellen.
Bisher ist mir jedoch keine Antwort vergönnt.
Alles wäre ja weniger problematisch, wenn es nicht zu gefährlich wäre – für sie... und damit für mich.
Rick kennt nicht den wahren Grund, wieso ich mich von Mädchen fernhalte und keine engen Bindungen zu anderen Menschen eingehe. Er ist sowieso schon zu sehr in Gefahr.
Nachdenklich betrachte ich das Band an meiner linken Hand.
Hätte ich lieber bei ihm bleiben sollen, anstatt mit Mama hierher zu kommen? Wie immer, wenn ich an diese Person denke, von der die Hälfte meines Erbgutes stammt, zieht sich alles in mir zusammen. NEIN! Meine Entscheidung war richtig. Die Kräfte habe ich auch so unter Kontrolle. So wie es scheint, bin ich doch nicht so unfähig, wie er nie müde wurde es zu betonen.
»Ich würde mich freuen, wenn mir auch nur eine so nachlaufen würde, wie sie es bei dir massenweise tun.«
Ricks Worte, in denen er seine Verbitterung nur schwer verbergen kann, reißen mich aus meinen düsteren Gedanken.
Ich verstehe auch nicht, was sie an mir finden. Ich bin keiner dieser gutaussehenden Schmusebarden, wie sie momentan die Charts stürmen oder auf YouTube Karriere machen. Ich habe total nichtssagende graubraune Augen. Meine langen Haare, die ich zusammengebunden trage, sind auch nicht das, was im allgemeinen Mädchenherzen höherschlagen lässt. Und dass ich auch Musik mache, weiß kaum jemand. Einen Punkt gibt es aber dennoch, nur hat der nichts mit mir zu tun.
Der Sohn der Akademieleiterin und begehrtesten Klavierprofessorin zu sein, weckt offenbar das Interesse einiger Studentinnen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Ricks Vater in der Haustür, somit ist das Thema glücklicherweise beendet.
»Danke für den Taxiservice«, sagt Rick wie immer, wenn ich ihn absetze.
»Immer gern. Bis morgen.«
***
Jedes Jahr aufs Neue ist es toll zu sehen, wie sich die Augen der neuen Studenten weiten, wenn sie zum ersten Mal das Gelände der Accademia betreten. Die meisten bleiben zunächst einmal stehen und lassen ihren Blick schweifen.
Da es ein schöner Spätsommertag ist, findet der Empfang vor dem Verwaltungsgebäude statt. Immer mehr junge Menschen werden von den Taxen ausgespuckt. Rick, der sich das Schauspiel nun auch schon zum dritten Mal an meiner Seite anschaut, kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dabei würde er mit Sicherheit genauso vertrottelt dreinschauen, wie die meisten anderen Jugendlichen auch, wenn er das erste Mal hierherkommen würde.
»Wetten...«, sagt Rick grinsend und deutet unauffällig auf ein großes, schlankes Mädchen mit blonden Haaren, einem rosafarbenen Top und engen zartrosa Jeans. Ihre Füße stecken in ebenfalls rosa Ballerinas und auf dem Rücken trägt sie einen – Überraschung – rosa Gitarrenkoffer. Ungewöhnlicherweise sieht das gar nicht so schrecklich aus wie man meinen könnte. »...dass die auch eine von denen wird, die es früher oder später bei dir probieren?« Mittlerweile kann er sein Lachen kaum zurückhalten.
Rick weiß genau, wie peinlich mir das ist, und er zieht mich nur zu gerne damit auf.
»Hmpf... Du weißt, wie ich zu dem Thema stehe. Ich bin allein glücklich. So war es immer und das wird sich auch nicht ändern.
Aber wenn du Interesse hast...«
»Ach, komm... das ist nicht meine Liga...«
»Jetzt hör schon auf... du wirst die Richtige schon noch finden... oder die Richtige dich... und wenn du nicht ständig vom Gegenteil überzeugt wärst,...«
»Jaja... schon gut...« Damit scheint das Thema vorerst beendet, und Rick wendet sich wieder den ankommenden Neulingen zu.
Am Ende der Zufahrt zum Haupttor ist ebenfalls eine Schar Menschen zu sehen. In der Regel sind das diejenigen, bei denen die Taxifahrer zu faul waren auf das Gelände zu fahren. um auf dem Hof zu wenden. So schmeißen sie ihre Fahrgäste schon an Harrys Häuschen aus dem Wagen.
Gerade will ich auf mein Handy schauen, um zu sehen wie viel Zeit uns noch bleibt, bis Mom ihre Ansprache hält, als Rick mir unsanft in die Rippen stößt.
»Da...« Mehr muss er gar nicht sagen.
Zwischen den Jungs taucht immer wieder ein Mädchen auf, das meinen Blick anzieht wie ein Magnet. Sie trägt ein schwarzes Longshirt mit einem Violinschlüssel auf der Vorderseite, dessen Ausschnitt ihre Oberweite... Stopp! Das geht eindeutig in die falsche Richtung!, versuche ich meine Gedanken wieder in die Spur zu bekommen.
Der Aufdruck und ihr Instrumentenkoffer lassen keinen Zweifel, dass sie zu den Musikern gehören wird.
Ihre Beine stecken in engen schwarzen Hosen, die ihre Figur...
ähm... Ihre braunen Chucks passen jedenfalls perfekt zu den Haaren, die wie ein loderndes Flammenmeer im Nachmittagslicht leuchten. Erst als ich nochmal genauer hinsehe, erkenne ich, dass sie ihr bis über den Po reichen und beim Laufen hin und her wippen.
»Jan? Ja-aaan?!?« Rick schnippt mit seinen Fingern vor meinem Gesicht.
»Äh... Ja... was?«
»Ach nix... Ich frag mich nur, ob es möglich sein könnte, dass du deinen Vorsatz dieses Jahr über Bord wirfst?«
»Quatsch. Du weißt, wie ich dazu stehe.« Während ich das sage, kann ich meinen Blick kaum von ihr lösen.
»Jaja...«, erwidert Rick, immer noch lachend.
Nachdem ich das Angebot des Fahrers abgelehnt habe, mich direkt zum Hof zu fahren, lässt er mich am Pförtnerhäuschen aussteigen. Ich will alles sehen, ohne das Fenster des Autos zwischen mir und der Umgebung. Ich folge einer Gruppe anderer, die das gleiche Ziel zu haben scheinen. Der Weg vom Haupttor zum zentralen Platz ist ziemlich lang und zum ersten Mal bekomme ich wirklich einen Eindruck, wie weitläufig das Gelände der Accademia di musica e arte ist. Von einem Platz, der von Bänken umsäumt ist, führen Wege zu den Wohnsiedlungen. Dort werde ich auch in einem Haus wohnen, zusammen mit zwei anderen Mädchen. Wieder überkommen mich leise Zweifel. Kann das gut gehen? Auf so engem Raum? Naja, ich werde mich mit meinem Klavier in meinem Zimmer verbarrikadieren, und dann wird das schon. Dann bekomme ich wenigstens nicht mit, wenn sich die Leute wie am Gymnasium hinter mir ihre Mäuler zerreißen oder sonstige Gemeinheiten aushecken. Und wenn ich das nicht mitbekomme, kann es mir doch egal sein, oder?
Ich taste nach der Eule, die an meiner Kette baumelt. Glücklicherweise ist sie – trotz meines zugegebenermaßen recht tiefen Ausschnitts – nicht zu sehen. Ich weiß nicht wieso, aber ich habe das Bedürfnis, sie vor fremden Blicken zu schützen. Als ich sie ertastet habe, bin ich sofort entspannter. Ich habe bisher nie wirklich Schmuck getragen. Einerseits hat sich mir der Sinn nie erschlossen, andererseits finde ich Ketten, Ringe – egal ob am Finger, Ohr oder Nase (letzteres hab‘ ich nie probiert) oder Armbänder – einfach lästig. Aber bei der Eule, die an einer filigranen Silberkette hängt, ist das anders. So, als wäre sie ein Teil von mir.
Nach einigen Metern, in denen mein Blick über das Gelände schweift, stoße ich auf wartende Studenten, die sich ebenfalls umsehen. Einige stehen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhalten sich oder singen gemeinsam. Ich bleibe etwas entfernt stehen und schaue auf mein Handy.
Es ist kurz vor sechzehn Uhr. In wenigen Minuten dürfte es losgehen. Anspannung überkommt mich, aber diesmal aus purer Vorfreude. Ich bin hier. Hier an der Akademie, so wie ich es mir immer gewünscht habe. Was die Anderen über mich denken, kann mir egal sein, oder? Ich mache einfach meinen Abschluss, und dann sehe ich weiter.
Meine Gedanken werden von einer Frauenstimme unterbrochen, die über den Platz schallt.
»Liebe Studentinnen und Studenten. Herzlich Willkommen an der Accademia di musica e arte. Ich freue mich, Sie nun endlich persönlich kennenzulernen. Ich bin Professor Lena von Siedenow-Raich...«
Einige Meter vor mir steht eine große, schlanke Frau, die noch keine fünfzig Jahre alt zu sein scheint. Klar habe ich sie schon auf Konzert-DVDs gesehen, aber abseits der Konzertbühne sieht sie um einiges jünger aus – und ziemlich hübsch. Auf einem Laufsteg könnte sie auf jeden Fall mithalten. Ihre Stimme klingt sympathisch, und ihre Augen strahlen echte Freude aus. Kein aufgesetztes Fotolächeln.
Ich bin normalerweise niemand, der schnell Herzrasen oder Kreischanfälle bekommt, wenn mir ein Star gegenübersteht (wenn der eigene Vater eine Berühmtheit ist, gewöhnt man sich an sowas), aber bei ihr geht selbst mein Puls in die Höhe. Immerhin hat sie alle möglichen Preise gewonnen...
»... Ich bin die Leiterin der Akademie und werde einige von Ihnen in Gesang und Klavier unterrichten. Aber ich will gar nicht lange reden. Sie sind sicherlich gespannt auf Ihre Unterkünfte und mit wem Sie dort zusammenleben werden. Bevor wir uns heute Abend zum Lagerfeuer am Amphitheater treffen, können Sie sich kennenlernen und einrichten.«
Oh, ja... das wird sicher ein Riesenspaß. Ich kann es kaum erwarten.
»Sie fragen sich sicher, wie Sie an Ihr Gepäck kommen. Keine Sorge, das haben die Heinzelmännchen der Akademie schon in Ihre Häuser gebracht; die Instrumente folgen dann am Montag.
Stellen Sie sich jetzt bitte des Studiengangs entsprechend bei meinen Kollegen an. Dort bekommen Sie Ihre Key-Card. Damit kommen Sie nicht nur in Ihre Wohnungen, sondern auch in die Seminar- und Probenräume. Ach, eins noch: Wenn Sie Sorgen, Probleme, Fragen oder sonstige Anliegen haben, ich und meine Kollegen haben immer ein offenes Ohr. Und nun los... wir sehen uns heute Abend.«
Na dann mal los. Ich stelle mich an meine Schlange an und warte, bis ich an der Reihe bin.
»Und du bist?«, fragt mich der Mann auf der anderen Seite des Tisches freundlich.
»Gwendolyn Hesselbach«
»Hesselbach... Etwa wie Herrmann?«
Na toll. Innerlich verdrehe ich die Augen. »Ja... genau.«
»Wahnsinn wie die Zeit vergeht. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du friedlich im Kinderwagen geschlafen.«
Anscheinend bemerkt der Mann meinen fragenden Blick, denn die Erklärung folgt.
»Entschuldige. Ich bin Frank. Ich war damals Toningenieur in dem Studio, in dem dein Vater einige CDs eingespielt hat. Auch das Chopin-Album, mit dem er dann sogar den ECHO Klassik gewonnen hat.« Das Album, das ich höre, wenn ich abends nicht einschlafen kann. »Du hast immer in der Tonregie gelegen, und wenn dein Vater gespielt hat, bist du ganz ruhig geworden und eingeschlafen.« Ich könnte wetten, dass mein Gesicht die Farbe meiner Haare annimmt, was er glücklicherweise nicht sieht, da er einen Stapel Plastikkarten durchsucht.
Inzwischen hat er meine Key-Card gefunden.
»Na dann viel Spaß. Ich bin schon gespannt, dich mal am Klavier zu erleben. Herzlich Willkommen auf der Accademia.«
»Danke.«
Ich gehe zur Seite und betrachte die Plastikkarte. Auf der Vorderseite stehen mein Name und mein Studiengang. Daneben ist das Foto, das meiner Bewerbungsmappe beigelegt war. Ein Foto aus dem vergangenen Sommer, das Papa im Urlaub gemacht hat. Die Sonne scheint mir schräg ins Gesicht und meine langen kupferroten Haare werden vom Wind durch die Luft gewirbelt.
Ebenfalls steht auf der Karte der Name meines Hauses. Vivaldi und eine sechsstellige Nummer.
Also los. Jetzt müsste ich nur noch wissen, wo genau sich das besagte Haus befindet. Ich laufe in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
Im Gehen schreibe ich Mama schnell eine Nachricht, dass ich vollständig und lebendig angekommen bin. Zumindest habe ich das vor, denn mit gesenktem Kopf renne ich gegen ein Mädchen.
»Sorry, sorry, sorry... Tut mir wirklich leid. Ich hoffe, du hast dir nicht weh getan. Ich wollte nur eben...«, sprudelt es aus ihr hervor.
Sie ist etwas größer als ich. Hat dunkelblonde Haare und ist von Kopf bis Fuß in pink und rosa gehüllt. So viel Selbstbewusstsein muss man erstmal haben, um rumzulaufen wie ein Bonbon. Aber irgendwie steht ihr das.
»Schon gut. Wie du siehst lebe ich noch. Und ich war ja auch nicht gerade aufmerksam.«
»Trotzdem. Tut mir leid. Ich wollte eben meiner Mama Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin und war wohl abgelenkt.«
»Tja, da haben wir was gemeinsam. Das wollte ich auch eben machen.«
»Dann sollten wir das besser schnell erledigen, bevor wir noch andere über den Haufen rennen«, sagt sie mit einer glockenhellen Stimme und mal wieder in einem Tempo, das ich Mühe habe, mit dem Denken hinterher zu kommen.
»Wäre wohl besser.«
Ich schreibe Mama kurz, dass ich angekommen bin und es mir gut geht.
»Also dann...«, murmle ich und will meinen Weg fortsetzen.
»Warte, wohin musst du? Vielleicht können wir ein Stück gemeinsam gehen.«
Na super. So viel zum Thema Ruhe.
»Auf meiner Karte steht Vivaldi ...« Weiter komme ich nicht.
»So wie es aussieht haben wir noch etwas gemeinsam.« Das Mädchen hüpft wie ein Gummiball auf und ab, wobei der Kies unter ihren Ballerinas knirscht. »Wir wohnen zusammen im selben Haus. Du musst mir unbedingt alles über dich erzählen. Ich bin schon die ganze Zeit so aufgeregt, mit wem ich wohl zusammenleben werden.« Klasse. Wie soll ich DIE denn bitte länger als fünf Minuten ertragen?
»Wie wäre es, ...«, versuche ich sie zu unterbrechen, damit sie mal Luft holen kann, »... wenn du mir erstmal sagst, wie du heißt.
Ich bin übrigens Gwendolyn. Gwen reicht aber.«
»Oh Mist, na klar, verzeih mir bitte, ich bin Melissa – du kannst aber ruhig Lissi sagen.«
Nachdem das nun klar ist, versuchen Melissa und ich den Weg zu unserem Haus zu finden. Da wir aber nur die grobe Richtung kennen, beschließt sie, uns Hilfe zu suchen. Am Rand des Platzes sitzen zwei Jungs auf einer Bank, die unbeteiligt schauen. Ohne zu zögern geht meine neue Mitbewohnerin auf die beiden zu.
Nun wird es also wirklich ernst. Heute Abend ist das traditionelle Lagerfeuer, das immer zum Semesteranfang am Amphitheater stattfindet. Den Sonntag über haben wir frei. Das heißt: wir hätten frei, wenn Rick und ich nicht bei der Nachmittagsvorstellung im Theater arbeiten müssten. Montag geht dann der reguläre Unterricht los. Wobei Unterricht klingt viel schlimmer, als es hier an der Akademie der Fall ist. In der Regel läuft alles sehr praxisnah ab. Es gibt kaum reine Theorieseminare. In den meisten Fällen erarbeiten die Musical- und Musikstudenten Konzerte, während die Studenten der bildenden Künste Werke für Ausstellungen herstellen oder an Bühnenbildern arbeiten. Da Ricks und mein Studiengang in diesem Semester erstmalig angeboten wird, kann ich nicht sagen, ob er auch so sein wird. Ich kann es nur hoffen, denn ich habe schon immer besser durch ausprobieren gelernt als durch Lesen von Büchern.
Während Rick und ich hier auf der Bank sitzen, holen die meisten Neulinge ihre Key-Cards. Mein Kumpel hängt vermutlich seinen eigenen Gedanken nach. Bei ihm erkennt man das immer daran, dass er etwas weltentrückt durch seine Brille schaut.
Ich lasse meinen Blick wieder über die Menschenmenge schweifen. Irgendwie ist es schon lustig zu sehen, wie sie alle etwas planlos umherirren. Ich habe Mama schon so oft vorgeschlagen, ihnen einen Plan vom Gelände in die Hand zu drücken. Denn wenn man hier neu ist, kann es wirklich unüberschaubar sein.
Aber sie ist der Meinung, dass die Studenten aufeinander zugehen sollen und somit die Kommunikation untereinander gestärkt wird. Na, wenn sie meint...
»Hey...«, reißt mich plötzlich ein glockenhelles Stimmchen aus meinen Gedanken. Es ist das Rosa-Bonbon-Mädchen, das Ricks Aufmerksamkeit vorhin schon auf sich gezogen hat. »...Wir sind neu hier. Könnt ihr uns möglicherweise sagen, wie wir zum unserem Haus kommen?«
Als ich sehe, wen sie mit wir meint, bleibt mir die Luft weg und nimmt sowohl Sprache als auch klares Denken mit sich – wohin auch immer. Hinter ihr ist die schwarzgekleidete Neue mit den unfassbar langen kupferroten Haaren. Wie lang das wohl gedauert hat, bis sie so lang geworden sind? Ich versuche meinen Blick von ihrem Gesicht zu lösen. Aber es geht nicht. Ihre braunen Augen, die kleine Nase und die Lippen, die weder zu schmal noch zu breit sind, ziehen mich einfach an. Äußerlichkeiten sind mir wirklich ziemlich egal. Wenn es mir nur darum ginge, hätte ich schon genügend Freundinnen haben können. Aber keine hat mich auf den ersten Blick so gefangen genommen wie sie. Oh shit. Ich hoffe, ich schaue gerade nicht so vertrottelt, wie es Rick manchmal tut. Das wäre verdammt peinlich. A propros Rick. Der hat glücklicherweise reagiert und das Reden für mich übernommen.
»Klar. Kein Problem. Wo soll‘s denn hingehen?«, fragt er und hat sich bereits erhoben. Mechanisch tue ich es ihm gleich.
»Vivaldi«, sagt das blonde Mädchen.
»Na dann mal los. Ich bin übrigens Riccardo. Aber so nennen mich nur meine Eltern. Alle anderen bleiben bei Rick. Und das ist Jan.« Er deutet auf mich und setzt sich in Bewegung.
»Gwendolyn«, wispert die kleinere mit den leuchtenden Haaren.
»Melissa. Aber Lissi ist auch in Ordnung.«
Auf dem Weg zu den Häusern sprudelt es die ganze Zeit nur so aus ihr heraus. Sie redet so verdammt viel und schnell, dass ich mir zwischenzeitlich Sorgen mache, sie kippt aus Sauerstoffmangel um. Glücklicherweise fällt durch ihren Wortschwall nicht auf, dass außer Schön, euch kennenzulernen nichts Vernünftiges zwischen meinen Lippen hervorkommt. Da ich es aufgeben habe, auch nur irgendetwas zum Gespräch, naja Monolog trifft es wohl eher, beizutragen, beobachte ich Gwendolyn. Sie läuft leicht vor mir und hält ihren Blick fast die gesamte Zeit auf ihre Chucks gerichtet. Ihren Kopf hat sie eingezogen. Ich war vorhin so von ihrem Aussehen überwältigt, dass mir das gar nicht aufgefallen ist. Aber es scheint, als würde sie sich unwohl fühlen. Obwohl ich sie nicht kenne, versetzt mir das einen Stich. Der Gedanke, sie könnte unglücklich oder verängstigt sein, lässt mir keine Ruhe.
Wie gerne würde ich nachfragen. Aber wie groß wäre schon die Wahrscheinlichkeit, dass sie drei Menschen, die sie gar nicht kennt, erzählt, was sie bedrückt?
Ich kann nur hoffen, dass es die anfängliche Unsicherheit ist, die hier jeden innerhalb der ersten Tage erwischt. Vielleicht können ihre neuen Mitbewohnerinnen etwas aus ihr herausbekommen, wenn sie sich etwas besser kennenlernen. Möglicherweise steckt Melissas hibbelige Art ja an. Schon die ganze Zeit scheint sie Mühe zu haben, in ruhigem Tempo neben Rick herzugehen.
Wahrscheinlich würde sie am liebsten losrennen und sofort alles in Augenschein nehmen. Sie scheint bis in die letzte Haarspitze mit Energie und Tatendrang gefüllt sein. Wenn sie auch nur einen Bruchteil davon an Gwendolyn abgeben könnte, würde das vielleicht die Last, die sie zu erdrücken scheint, mindern.
Mittlerweile sind wir an der Hauptgabelung angekommen.
»So, hier befinden wir uns auf dem Kleinen Hof. Von hier kommt ihr zum Haupttor, ...«, Rick deutet geradeaus, »... der erste Abzweig links von uns führt uns zu den Häusern der angehenden bildenden Künstler. Dahinter geht es zur Siedlung der Angestellten. Und wir gehen jetzt nach rechts. Dort geht es zu den Wohnhäusern der Musik- oder Musicalstudenten.«
Es fehlt nur noch das Holzschild mit einer Nummer drauf, und er würde den perfekten Reiseführer abgeben, denke ich. Aber ich bin froh, dass Rick sich um die Führung kümmert. Ich bin mit meinen Gedanken immer noch bei Gwendolyn.
Wir gehen ein Stück und dann sind wir auch schon vor ihrem Haus.
»So, da wären wir. Viel Spaß im neuen Heim«, beendet unser Tourguide die Führung.
»Vielen Dank fürs Herbringen«, bedankt sich Melissa freudestrahlend.
»Ja, danke sehr«, murmelt Gwendolyn »Ihr solltet euch das Lagerfeuer auf keinen Fall entgehen lassen.
Das Essen ist immer der Hammer«, fügt Rick hinzu.
»Das wird bestimmt richtig toll. Ich kann es kaum erwarten, die anderen Studenten kennenzulernen, und auch die Professoren interessieren mich total.«
»Ich weiß nicht. Ich glaub, ich bleibe hier«, flüstert Gwendolyn.
Endlich habe ich meine Sprache wiedergefunden. »Das wäre aber schade. Willst du später wirklich sagen müssen, du hättest den ersten Abend in der Accademia in deinem Zimmer verbracht?
Komm doch wenigstens kurz vorbei. Und wenn es dir nicht gefällt, kannst du ja immer noch gehen.«
»Klar kommst du mit«, beschließt Melissa immer noch voller Energie.
Hoffentlich kann sie Gwendolyn überzeugen.
Ich habe nicht lange Zeit mich darüber zu ärgern, dass Melissa über meinen Kopf hinweg entschieden hat.
Lissi will gerade ihre Key-Card an den Scanner halten, als sich die Tür von innen öffnet. Vor uns steht ein Mädchen, etwa so groß wie ich. Ihre pechschwarzen Locken umspielen ihr Gesicht, das uns neugierig entgegenblickt. Sie trägt einen bequemen bordeauxroten Kapuzenpulli, der mir für die Jahreszeit zu warm erscheint. Das, was für Lissi pink ist, scheint für das Mädchen bordeaux zu sein. An ihren Füßen trägt sie Nike Theas in eben dieser Farbe.
»Hey«, begrüßt sie uns, »kommt rein. Ich bin übrigens Sina. Euer restliches Gepäck ist auch schon hier.«
Sie tritt beiseite und lässt uns herein. Es ist nicht schwer zu erraten, wem die pinken Koffer gehören, die den meisten Raum im Flur einnehmen. Daneben sehen meine drei schwarzen verdammt klein aus. Außerdem füllen noch ebenfalls schwarze Koffer mit einem roten Band den Flur aus. Die müssen Sina gehören.
Melissa ist schon wieder in ihrem Element, plappert drauf los und stellt uns vor. Während ich stumm daneben stehe.
»Wie um Himmels Willen hast du es geschafft schon hier zu sein?«, fragt Lissi abschließend.
»Naja, Annika, meine Schwester, hat vor einem Jahr hier ihren Abschluss gemacht. Ich habe sie einige Male besucht. Daher kenne ich mich auf dem Gelände aus, und ich war als erstes in der Reihe.«
»Cool. Du musst uns unbedingt alles zeigen. Wo die Proben- und Seminarräume sind und die ruhigen Plätze, wo man ungestört quatschen kann – die Geheimverstecke und so. Du weißt schon.
Und erzähl uns alles über die Professoren. Wie sind die so drauf, vor wem muss man sich in Acht nehmen...«
»Wow«, unterbricht Sina den Wasserfall von Worten, der sich aus dem Mund unserer Mitbewohnerin ergießt.
»Das geht schon die ganze Zeit so. Keine Ahnung, wie sie das mit dem Luftholen hinbekommt«, merke ich an, wobei sich ein sarkastischer Unterton in meinen Satz einschleicht.
Andererseits bin ich ganz froh, dass ich meist nur zuhören muss.
Smalltalk hat mir noch nie gelegen. Entweder ich habe was zu sagen oder ich halte meine Klappe. Das wird schon manchmal unangenehm, wenn man sich gegenseitig anschweigt. Ein weiterer Grund wieso ich gemeinhin lieber alleine meine Freizeit verbringe. Am liebsten würde ich auch jetzt sofort in mein Zimmer verschwinden.
»Oh. Tut mir wirklich leid«, sagt Lissi mit betrübten Blick. »Ich höre immer wieder, dass ich zu viel rede. Aber ich kann dagegen nichts machen. Vor allem, wenn ich aufgeregt bin. Dann geht mir so viel durch den Kopf, und das muss irgendwie raus. Und ich quatsche in einer Tour. Oh man, jetzt rede ich schon wieder Unsinn. Hört am besten gar nicht zu. Tut mir echt leid...«
Jetzt kann ich ein Grinsen auch nicht mehr verbergen, während Sina aus tiefstem Herzen lacht.
»Wie wäre es, wenn wir uns erstmal in die Küche setzen, uns überlegen, wie wir die Zimmer verteilen, und uns etwas besser kennenlernen«, schlägt Sina vor.
Da keiner etwas einzuwenden hat, gehen wir in die Küche und nehmen am Tresen in der Mitte des Raumes Platz.
»Also vielleicht redet ihr jetzt mal, erzählt wer ihr seid und was ihr hier macht«, überträgt Lissi uns das Wort. Mit einem Nicken zu Sina bedeute ich ihr, dass sie ruhig anfangen kann.
»Also wie gesagt. Ich bin Sina Tietze und mein Instrument ist die Querflöte. Seit ich denken kann, mache ich Musik. Meine Mama hat mir und meiner Schwester das Flöte spielen beigebracht.
Und ihr so?«
»Also, ich versuche es wirklich kurz zu machen. Ich heiße Melissa Stark. Und studiere Musical. Und du Gwen?«
Jetzt bin ich also dran. »Gwendolyn Hesselbach, ...« Weiter komme ich nicht. Die Beiden schauen mich mit großen Augen an.