Das Geheimnis der sprechenden Bäume und weitere Erzählungen - Burkhard Riedrich - E-Book

Das Geheimnis der sprechenden Bäume und weitere Erzählungen E-Book

Burkhard Riedrich

4,8

Beschreibung

Rätselhafte Inseln, geheimnisvolle Höhlen und Grotten, verborgene Quellen und ungezähmte Wasserläufe, dunkle Keller und sonderbare Ruinen - die Orte, an denen sich die Erzählungen abspielen, haben häufig etwas Magisches, Unheimliches an sich. Doch immer wieder lässt eine augenzwinkernde Auflösung oder eine heitere Wendung die Leser und Leserinnen mit einem Lächeln auf den Lippen weiterblättern. Ursprünglich als Reihe von kleinen Erzählbänden erschienen, liegen die zwölf Geschichten nun erstmals in gesammelter Form vor.

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Rätselhafte Inseln, geheimnisvolle Höhlen und Grotten, verborgene Quellen und ungezähmte Wasserläufe, dunkle Keller und sonderbare Ruinen – die Orte, an denen sich die Erzählungen abspielen, haben häufig etwas Magisches, Unheimliches an sich. Doch immer wieder lässt eine augenzwinkernde Auflösung oder eine heitere Wendung die Leser und Leserinnen mit einem Lächeln auf den Lippen weiterblättern.

Burkhard Riedrich, *1943 in Freiburg/Brsg., hat sich einen Ruf als Geschichtenerzähler bereits während seiner Tätigkeit als Lehrer im Hegau erworben. Seit seiner Pensionierung widmet er sich mit unverminderter Leidenschaft dem Schreiben von Erzählungen für kleine und große Leser.

Was für Burkhard Riedrich das Schreiben ist, war für seine Frau Mathilde (1949-2016) zeitlebens die bildende Kunst. Sie schuf im Laufe der Jahre zu jeder der Erzählungen ausdrucksstarke Linoldrucke.

Ursprünglich als Reihe von kleinen Erzählbänden erschienen, liegen die zwölf Geschichten nun erstmals in gesammelter Form vor.

Für Mathilde

Inhalt

Marko und das Geheimnis der sprechenden Bäume (2015)

Die Verwandlung von La Doncella (2008)

Die Kellergeister aus der Kramergasse (2011)

Das Märchen von den vier Söhnen (2007)

Die Prinzessin, die auch fröhlich sein wollte (2010)

Benno Rotkehls seltsames Erlebnis (2009)

Der Aufruhr der Zwerge (2013)

Die Quellnymphe Najada (2014)

Die Insel der farbigen Grotten (2013)

Das Geheimnis der Zauberlupe (2012)

Der Geist des Ritters Tudorius (2013)

Die wundersame Verwandlung des Knechts Winzling (2016)

Vorwort

Was bewegt einen Menschen, sich mit Geheimnisvollem, bisweilen Unwirklichem und Märchenhaftem auseinanderzusetzen, obwohl er längst ein Alter erreicht hat, in welchem ihn reales Gedankengut auf Schritt und Tritt verfolgt. Eine mögliche Antwort darauf bieten vielleicht die Gegenden, in welchen ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, vielleicht aber auch jene Landschaften, in welchen ich mich heute bewege.

In meiner Erinnerung tauchen oft rätselhafte Inseln, geheimnisvolle Höhlen und Grotten, verborgene Quellen und unbeherrschte Wasserläufe, dunkle Keller und sonderbare Gebäude auf, die mir Anlass genug geben, Geschichten darüber zu schreiben. In einigen Erzählungen wob ich sogar eigene Erlebnisse merkwürdiger Art ein, hatte ich doch zu jedem dieser Orte eine bisweilen äußerst starke Beziehung.

Da meine Frau sich in dieser Zeit kunsthandwerklich betätigte, stand es für sie außer Frage, mich mit ihren Drucken zu unterstützen. Heute bilden gerade diese Illustrationen für mich eine lebendige Erinnerung an sie.

Eigeltingen, Herbst 2016

Marko und das Geheimnis der sprechenden Bäume

Auf dem Fohrenberg

Fohrenberg nannten Marko und sein zwei Jahre älterer Bruder Franziskus einen der Hügel am Rande ihres Dorfes. Nicht nur bei ihnen war der Berg beliebt, sondern auch bei ihren Freunden. Denn sie sahen in ihm ein begehrtes Ausflugsziel, weil man von seiner Kuppe im Höllentempo mit den Fahrrädern wieder in den Ort zurückrasen konnte.

Seit einigen Wochen war es für die Buben und Mädchen noch spannender geworden, den Fohrenberg aufzusuchen. Denn Fremde hatten in einen Teil des Hügels seltsame Gräben gezogen und ganze Wiesenstücke abgetragen. Mit kleinen, gelben Baggern hatten die Männer Erdreich ausgehoben und es an eine Stelle befördert, wo es die Ausgräber nicht störte.

Neugierig setzten sich jetzt Marko und Franz auf die Kuppe des Hügels und verfolgten gespannt, wie das Grabungsteam vorging. Sie trauten sich nicht näher heran, sondern blieben lieber in angemessener Entfernung unter den beiden riesigen Kiefern sitzen, die den Abschluss der Kuppe bildeten. Vor lauter Staunen vergaßen sie sogar, auf die weit ausladenden Äste zu klettern, was sie sonst oft getan hatten. Auch hörten sie das Kratzen und Scheuern der Äste nicht, wenn diese sich im Wind berührten. Nur die Kiefernzapfen hob Marko auf, steckte sie, so gut es ging, in seine Hosentaschen, um sie dort so lange zu verwahren, bis er sie Antonio, seinem Vater, zum Rösten aushändigte. Denn geröstete Kiefernkerne knabberte Marko für sein Leben gerne.

Jetzt wurde es richtig spannend, was die Ausgräber taten. Mittlerweile hatten sie unter Anleitung eines älteren Mannes ein ganzes Fundament ausgegraben, welches aus hellen, grob behauenen Steinklötzen bestand. Die vier Mauern waren viel dicker als Marko sie von den Häusern im Ort kannte, und aus Backsteinen waren sie auch nicht. Jeder der Ausgräber verrichtete eine andere Tätigkeit: Mit schwarz-weißen Messlatten und dreibeinigen Messinstrumenten hantierten die einen, andere fotografierten und zwei Frauen kehrten Lehmbrocken und Grasreste von der Mauerkrone weg. Zwei andere Ausgräber siebten den Abraum durch ein feinmaschiges Gitter und suchten nach Dingen, die die Buben nicht erkennen konnten. Nachher wollten die Brüder feststellen, was die Ausgräber gefunden hatten. Aber als dann zwei weitere Leute um die ganze Ausgrabungsstelle ein rot-weißes Absperrband spannten, wurde es den Buben klar, dass sie dort nichts verloren hatten. Obendrein verstauten die Männer und Frauen jetzt ihre Werkzeuge und Fundstücke in einem hölzernen, grün angestrichenen Bauwagen, so dass niemand auf den Gedanken kommen konnte, weiterzuforschen. Das zeigte dann auch das aufgestellte Schild amWagen:

Betreten der Grabungsstelle verboten!

Eltern haften für ihre Kinder!

Warum standen solche Schilder nur immer an diesen Stellen, wo Marko und seine Freunde spielen wollten?

Zum Schluss deckten die Fremden Mauern und das Innere des Fundaments mit weißen Folien ab und beschwerten diese mit Feldsteinen. Danach setzten sie sich in ihre Autos und fuhren davon. Nur der Teamleiter lief nochmals die Grabungsstelle ab, überprüfte, ob die rot-weißen Bänder gut befestigt waren und vergewisserte sich, ob der Bauwagen richtig abgeschlossen war. Zufrieden mit den Arbeiten schaute er sich nochmals um, bemerkte die beiden Buben unter den Kiefern und winkte ihnen freundlich zu. Dann setzte er sich in seinen schneeweißen Kombi und ließ die Baustelle zurück.

Die Brüder schauten sich fragend an. „Das muss wohl der Boss gewesen sein, der die Ausgrabung leitet“, vermutete Franz, und Marko nickte ihm zu. „Morgen wollen wir mal schauen, ob im Abraumhaufen noch etwas Brauchbares für uns übriggeblieben ist“, schlug Marko seinem Bruder vor. Dann setzten sie sich auf ihre Räder und rasten den Fohrenberg in ihr Dorf hinunter. Huiii, wie ihnen der Fahrtwind ins Gesicht blies!

Am folgenden Nachmittag, als Schule und Hausaufgaben längst vergessen waren, nahmen die Brüder auch Hannelore aus Franz’ Klasse mit. Sie konnte ohne abzusteigen den Fohrenberg mit ihrem Rad hochfahren. Marko musste immer wieder staunen, wieviel Kraft in ihren Beinen steckte. Aber als Sechstklässlerin war sie auch älter als er. Von allen wurde sie Hanne genannt.

Die Ausgräber waren noch bei ihren Arbeiten, als die drei oben ankamen. Nach kurzer Verschnaufpause unter den beiden Kiefern fasste sich Hannelore ein Herz und forderte die beiden Brüder auf, sie zu den Fremden zu begleiten. Weil sie die Neugierigste der Gruppe war, stellte sie als erste den Leuten eine Frage: „Dürfen wir Ihnen beim Ausgraben zugucken?“ Eine der Ausgräberinnen, die gerade dabei war, eine Bodenplatte aus Ton freizulegen, schaute erstaunt auf. Aber als sie in die drei neugierigen Augenpaare blickte, musste sie lachen und deutete auf den Grabungsleiter hinter ihr.

„Herr Professor, haben Sie etwas dagegen, wenn uns geholfen wird?“, fragte sie ihn spitzbübisch lächelnd und deutete auf die Kinder. „Na ja, wenn sie hinter dem Absperrband bleiben und uns in Ruhe lassen, nicht“, antwortete der ältere Herr schmunzelnd. „Ich bin Professor Sonnenschein, Friedel Sonnenschein“, stellte er sich ihnen freundlich vor. „Und das sind alles meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie studieren an der Uni in der Stadt am See.“

Jetzt hörten die anderen Leute ebenfalls auf zu arbeiten und gönnten sich eine kleine Verschnaufpause. Einer trank aus seiner Thermoskanne, ein anderer biss in einen Schokoriegel, und die junge Frau an der Bodenplatte klopfte sich den Schmutz von ihrer Hose. „Ich bin Hannelore aus der 6. Klasse und das sind die beiden Brüder Franz und Marko“, stellte sich das Mädchen vor. „Was für ein Fach studiert ihr?“, wollte sie wissen und schaute dabei die junge Frau an. „Archäologie“, antwortete diese. „Archäologen untersuchen Funde, die aus früheren Zeiten stammen.“ Jetzt fasste sich Marko auch ein Herz und stellte dem Professor direkt die Frage: „Und nach was graben Sie hier an unserem Fohrenberg?“ Der ältere Herr schaute Marko fest ins Gesicht und machte dabei eine bedeutungsvolle Handbewegung. „Das sind römische Mauerreste“, beantwortete er seine Frage. „Was du hier siehst, ist fast 2000 Jahre alt. Es handelt sich um das Fundament eines Stalles oder einer Scheune aus der Römerzeit“, fügte er hinzu. „Wir vermuten, dass irgendwo in unmittelbarer Nähe ein römischer Gutshof unter dem Erdboden steckt. Vielleicht sogar unter den beiden Bäumen, wo eure Räder stehen.“

„Ich will später auch mal Aschologe werden“, sagte Marko mit fester Stimme. „Einer so wie Sie, Herr Sonnenschein.“ Der Professor musste schmunzeln und nickte Marko ermunternd zu: „Na, dann pass mal gut im Geschichtsunterricht auf, was die Römer und Alemannen vor uns gemacht haben, Herr Ar-chä-olo-ge in spe!“ Dabei sprach er die letzten Worte besonders langsam und betont aus und setzte seine Arbeit fort.

Als Marko und Franz nach Hause kamen, fanden sie ihren Vater in der Küche vor. Er war gerade dabei, eine riesige Portion Spaghetti zu kochen. Die Tomatensoße brodelte bereits in einem anderen Topf. „Ihr kommt gerade richtig zum Abendessen“, meinte Antonio und forderte seine beiden Söhne auf, die Hände zu waschen und den Tisch zu decken.

„Papa“, fing Marko nach dem Essen an und schaute seinen Vater aufgeregt an. „Ich weiß jetzt, was ich später einmal werden will: Aschologe wie Herr Sonnenschein“, erklärte er bestimmt. „Und wer, bitte, ist Herr Sonnenschein?“, wollte Antonio wissen. „Professor Sonnenschein ist Aschologe“, gab Marko zur Antwort. „Er gräbt mit einer Gruppe ein römisches Haus am Fohrenberg aus“, erklärte Marko fachmännisch. „Dann ist er bestimmt ein Ar-chä-o-lo-ge“, verbesserte ihn sein Vater. „Ja, so ähnlich hat er sich vorgestellt“, fiel Franz ins Wort.

„Dann könnt ihr ja in unserem Garten schon mal üben“, lächelte er seinen Söhnen zu. „Vielleicht will Franz dir dabei helfen?“ Doch Franziskus spielte lieber mit seinem iPhone als im Sandkasten und schaute dabei abschätzig auf seinen Bruder.

So kam es, dass Marko tatsächlich an den nächsten Nachmittagen sich mit Schaufel und Pickel aus seinen ehemaligen Sandelsachen bewaffnete und im Garten hinterm Haus seine Untersuchungen begann. Doch außer Steinen fand er nichts. Deshalb schmiedete er einen Plan, von dem Franz und sein Vater nichts erfahren durften.

Marko wird erwischt

Eine neue Woche begann. Dieses Mal begab sich Marko alleine zur Ausgrabungsstelle. Seine kleinen Gartengeräte hatte er in einem Beutel mitgenommen, den Proviant – die gerösteten Kiefernkerne von zu Hause – trug er in den Hosentaschen. So konnte es an die Arbeit gehen.

Sein Fahrrad lehnte er an einen der Bäume und machte sich sofort daran, die Grabungsstelle abzusuchen. Da keiner der Ausgräber hier oben war, konnte er die ersten ,Untersuchungen‘ vornehmen und dafür kleine Gräben ziehen, gerade so, wie es die Männer gemacht hatten. Dazu musste er das rot-weiße Band überschreiten, das so lustig im Wind flatterte. Dabei bemerkte er plötzlich, dass sich jemand hinter einem der Bäume versteckte. Schnell schob er seine Sandelsachen in den Beutel, denn keiner sollte sehen, was er vorhatte. Als er Hannelore hinter ihrem Versteck entdeckte, lief sein Gesicht rot an. Denn er schämte sich, mit Sandelsachen zum Arbeiten gegangen zu sein. Aber Lore, wie sie von seinem Bruder genannt wurde, übersah großzügig das gelbe Schäufelchen. Sie kam sowieso gerne hierher, weil sie Mountain-Bike fuhr und für ihren Verein täglich trainieren musste. Sie fragte ihn, warum er eigentlich Archäologe werden wollte. Gedankenverloren zog er mit dem Rechen Rillen durch den Erdhaufen. „Ich will wissen, ob meine Vorfahren auch Römer waren“, erklärte er ihr. „Denn meine Eltern kommen aus Italien in der Nähe von Rom. Dann waren es bestimmt Römer.“ Hannelore musste lachen. „Das sind verschiedene Leute“, versuchte sie ihm zu erklären. „Die Römer heute wohnen in der italienischen Stadt Rom. Die Römer aus der Geschichte vor 2000 Jahren waren die Bewohner eines großen Reiches rund ums Mittelmeer. Die gibt’s aber nicht mehr. Nur ihre Bauwerke haben sie uns hinterlassen. Stammen eigentlich beide Eltern aus Italien?“, wollte Hanne schließlich wissen, denn jetzt war sie richtig neugierig geworden.

„Mein Vater stammt aus Italien, hat aber hier Mama kennengelernt“, erwiderte Marko mit stockender Stimme. „Sie ist jedoch an einer unheilbaren Krankheit gestorben. Jetzt helfen wir Papa im Haushalt. Tagsüber arbeitet er in einer Fabrik und wir kümmern uns um das Haus. Aber verrate ja nicht Franz, dass du mich mit den Sandelsachen gesehen hast. Der lacht mich bestimmt aus.“ Da sich Hanne mit Ausgrabungen nicht befassen wollte, mischte sie sich tunlichst nicht in die Angelegenheiten der beiden Brüder ein. Lieber setzte sie sich unter eine der Kiefern und schaute Marko zu, wie er mit seiner kleinen Schaufel die Erde durchs Sieb schüttete, um Steinchen für Steinchen zu untersuchen. „Stumpfsinnige Arbeit!“, dachte Hannelore für sich, als sie auf einmal eine Gestalt kommen sah.

„Na, na, na! Wer versetzt denn hier ganze Berge?“, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme hinter Marko. „Da verwechselt jemand tatsächlich meine Abraumhalde mit einem Sandhaufen.“ Als sich Marko erschrocken umdrehte, erkannte er den Professor und wurde zum zweiten Mal rot. Doch Professor Friedel Sonnenschein sah dieses Mal gar nicht so freundlich aus wie letzte Woche. Marko konnte eine tiefe Zornesfalte im ernsten Gesicht des älteren Mannes entdecken.

„Ich habe nur die Erde nochmals durchgesiebt“, entschuldigte sich Marko zögernd. „Vielleicht haben Ihre Ausgräber nicht alles gefunden.“ – „Das ist vielleicht gut gemeint von dir“, beruhigte sich der Archäologe, „aber deshalb dürfen Absperrbänder trotzdem nicht überschritten werden. Komm, wir setzen uns zu deiner Freundin unter den Baum!“, schlug er ihm vor. „Das ist nicht meine Freundin!“, erwiderte Marko zornig, „Hanne ist älter als ich und geht mit meinem Bruder in die 6. Klasse.“ – „Um so besser“, bekräftigte der Professor seinen Vorschlag, „dann kann sie ja auch hören, was ich dir zu sagen habe.“

Beide nahmen unter den Bäumen neben Hannelore Platz. Der Professor wischte sich die Stirn mit einem riesigen Taschentuch ab, denn er war vom Parkplatz am Waldrand hinter dem Fohrenberg den Feldweg hinaufgekommen. Außerdem war es die letzten Tage sehr heiß.

„Schaut mal, was ich hier habe!“, begann der Archäologe. Dabei zeigte er ihnen einen leicht gekrümmten Nagel, dessen Stift viereckig war und nicht rund wie bei üblichen Nägeln. „Dieser Stift wurde handgeschmiedet und für die Scheune vor uns verwendet. Für uns Archäologen ist das eins unter vielen Beweisstücken für eine römische Fundstelle. Deshalb ist jeder noch so kleinste Teil wichtig, der in und um die Ausgrabungsstelle gefunden wird. Es darf von niemandem mitgenommen werden. Alles wird aufgeschrieben, gemessen, manchmal gezeichnet oder öfters noch fotografiert. Dann werden die Fundsachen gesäubert, im Archiv gelagert und später im Museum ausgestellt.“

Hier machte Professor Sonnenschein eine unfreiwillige Pause, weil ihm ein riesiger Kiefernzapfen auf sein lichtes Haupt gefallen war. Marko und Hanne mussten kichern, weil sich das Gesicht des Mannes rot verfärbte. Die Äste über ihnen knarrten, als ob sie sich auch lustig machen wollten. „Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt“, schloss der ältere Herr seinen Vortrag, stand unmittelbar auf und schüttelte sich die Kiefernsamen von Jacke und Hose.

Marko kam der Mann jetzt so groß vor, dass er sich wie ein Zwerg fühlte. „Ich habe im Erdhaufen nur nach Münzen gesucht, nach römischen Münzen“, gab er kleinlaut zu. „Wenn ich welche gefunden hätte, hätte ich sie an euern Bauwagen gelegt.“ – „Ich glaube, du willst tatsächlich Archäologe werden, junger Mann“, beruhigte sich der Professor. „In Zukunft darfst du hier an deinen freien Nachmittagen um das Absperrband herum im Gras Fundstücke suchen. Gold-, Silber- und Bronzemünzen werden bei mir persönlich abgegeben, falls du überhaupt so etwas finden solltest. Eisennägel, Scherben oder Knochen legst du, in Plastiktütchen verpackt, unter meinen Bauwagen!“ Dabei musste der Archäologe wieder, wie früher, schmunzeln und er zwinkerte auch Hannelore zu, damit sie ebenfalls merkte, wie es ihm Spaß machte, Marko persönliche Aufträge zu erteilen. Zuletzt begab er sich zu seinem grünen Bauwagen, holte ein paar Dinge heraus, die er im Labor schon einmal untersuchen wollte und machte sich auf denWeg zu seinem Kombi.

Wieder sammelte Marko alle Kiefernzapfen ein, steckte sie nacheinander in seine sehr ausgebeulten Hosentaschen und brachte sie nach Hause. „Porcellino! – Schweinchen!“ , pflegte sein Vater immer zu sagen, wenn Marko seine Hosentaschen von Zapfen und Kernen befreite. Aber immer röstete er ihm seine Kernchen in einer kleinen Pfanne, damit sein Sohn niemals ohne Proviant auf den Fohrenberg gelangte.

An seinen nächsten freien Nachmittagen begab sich Marko tatsächlich unentwegt zur Grabungsstelle, suchte die Wiesen rund ums Absperrband nach Fundstücken ab und knabberte dann zur Belohnung geröstete Kiefernkerne unter den Bäumen. Auch wenn er, wie meistens, nichts gefunden hatte.

Eines Tages schlief er unerwartet unter den ausladenden, schattenspendenden Ästen der beiden Kiefern tief ein. Ihm war, als träumte er, dass die Bäume über ihm sich in krächzender Stimme unterhielten:

Wollen wir die Zapfen halten

an den Ästen, an den Zweigen,

an den morschen, an den alten?

Oder lassen sie schnell fallen

auf die Kinder unter uns?

Plumps!!

Lass sie purzeln

an die Wurzeln

durch das dürre, trock’ne Gras!

Macht das Spaß!

Durch den Kiefernzapfen, der ihm direkt auf den Kopf gefallen war, wachte er auf. „Seltsam, dass Bäume sprechen können?“, wunderte er sich und versuchte, sich das Sprüchlein zu merken. Tage später, als Professor Friedel Sonnenschein ihn unvermutet beim Suchen antraf, lobte er seinen ,Lehrbuben‘ über den grünen Klee und versprach, ihm sonntags sein Museum in der Stadt bei freiem Eintritt zu zeigen. Selbstverständlich dürften dabei auch sein Vater, sein Bruder und das neugierige Mädchen ihn begleiten. Das war für Marko das Zeichen, dass ihn der Professor sehr ernst nahm und freute sich schon jetzt auf den Besuch.

Seltsame Begegnung

Heute war ein besonders heißer Tag. Als Marko das Sträßchen zum Fohrenberg hinauffuhr, musste er früher als sonst vom Rad absteigen und den Rest schieben. Aber er hatte es sich ja in den Kopf gesetzt, um die Ausgrabungsstelle herum etwas zu finden.

Etwas, das ihn ganz berühmt machen sollte. Nachdem er sein Fahrrad samt Rucksack voller Ausrüstung an eine der Kiefern gelehnt hatte, suchte er mit Argusaugen die Wiesen ab. Trotzdem spähte er immer wieder ins Dorf hinunter, ob nicht doch jemand aus seiner Klasse kommen würde. Wahrscheinlich waren alle beim Baden unten am Zusammenfluss der beiden Bäche.

Nach einer Weile legte er die erste Pause im Schatten der beiden Bäume ein, wie er es schon oft gemacht hatte. Zuerst trank er seinen Sprudel fast leer und schüttete den Rest aus der Plastikflasche ins Gras, weil das Wasser bereits warm geworden war. Danach verzehrte er genüsslich einen Kiefernkern nach dem anderen.

„Ah, tut das gut! Das Wasser hat unseren Wurzeln gerade noch gefehlt“, hörte Marko plötzlich über ihm eine krächzende Stimme sagen. Aber weder einen Vogel noch einen Menschen konnte er in den Ästen entdecken. Als er verwundert weiter kaute, wurde die Stimme lauter. „Schau mal, Pinus Secondus! Der Kleine da unten macht’s wie Claudius von früher.“

Jetzt gab es für Marko kein Halten mehr. Er stand auf, legte eine Hand über seine Augen und suchte alle Äste, alle Zweige über ihm ab. Nichts war zu entdecken! Ungläubig starrte er mit offenem Mund nach oben. Da fingen auf einmal alle Äste und Zweige dermaßen an zu wackeln, dass sich ein Zapfen nach dem anderen löste und nacheinander ins Gras fiel. Mit Feuereifer sammelte Marko sie ein und steckte sie alle in eines seiner Plastiktütchen. Dabei hörte er deutlich, wie jemand wieder mit krächzender Stimme sagte: „Kleiner, bewahre die Kerne gut auf! Nur wenn sie geröstet sind, kannst du sie essen. Und nur dann kannst du verstehen, was wir beide sagen.“

Völlig sprachlos schaute Marko erst seine mitgebrachten Kiefernkerne, dann die Äste der Kiefern an. „Ich habe noch nie Bäume sprechen gehört“, antwortete er in die Baumkrone hinauf und meinte immer noch, dass jemand mit ihm seinen Schabernack spielen wollte.

„Wir müssen über deine Verwunderung lachen“, setzten die knarrenden Stimmen ihre Reden fort. „Wir sind übrigens Pinus Primus und Pinus Secondus. Unsere Vorfahren waren als Pinienzapfen vom Zenturio Rufulus über die hohen Berge gebracht worden. Der Zenturio hatte sie dann an dieser Stelle eingepflanzt, wo wir jetzt wachsen. Wir sind die Kinder der Kinder ihrer Kinder.“

Marko hatte seine Stimme wieder gefunden und fragte beherzt in die Äste hinauf: „Wie alt seid ihr heute?“ Nach kurzem Zögern antwortete eine der Kiefern: „Wir selbst zählen unser Alter nur in Ringen. Heute müssten wir wahrscheinlich 500 Ringe besitzen. Wenn du unsere und alle Ringe unserer Vorfahren zusammenzählst, kommst du fast auf 2000! Das ist ein stolzes Alter, Kleiner“, prahlten sie und streckten ihre Äste und Zweige noch weiter aus, dass sich die Kiefernnadeln berührten. Das kitzelte, und die Bäume mussten lachen. Aber trotzdem fügten sie noch hinzu: „Aber vergiss nicht, unsere Pinienkerne zu essen, sonst kannst du uns nicht mehr verstehen!“

Marko befolgte ihren Rat. „Was ist ein Zenturio, von dem ihr geredet habt?“, wollte er von den Bäumen wissen. „Wenn du das wissen willst, musst du die ganze Geschichte der Römer kennenlernen!“, gab Pinus Primus zur Antwort. Und Pinus Secondus erklärte ihm: „Ein Zenturio ist ein römischer Soldat. Dieser hieß Rufulus. Er hatte zu seinem Ruhestand das Land bekommen, worauf wir wachsen. Darauf hatte er einen römischen Gutshof bauen lassen. Damit der Innenhof immer beschattet sein sollte, setzte er die Piniensamen hier in den Boden. So haben bereits unsere Vorfahren schon die Aufgabe übernommen, seine Villa im Sommer zu beschatten und im Winter vor Regen und Schneefall zu beschützen. Denn Römer lieben es trocken“, schlossen die Bäume ihren Vortrag ab.

Marko schwirrte der Kopf. Er musste unbedingt Papa sagen, was er alles erlebt hatte. Schnell schnappte er sich die Tüte mit den Zapfen, steckte sie zu der leeren Flasche und seinen Werkzeugen in den Rucksack und sauste in Windeseile den Fohrenberg hinab. Er hörte nur noch, wie ihm die Bäume nachriefen: „Beim nächsten Mal wollen wir Pinus Primus und Pinus Secondus genannt werden!“

Antonio war zu Hause gerade dabei, wieder seine berühmte Tomatensoße zu rühren, als Marko sich auf den nächsten freien Stuhl setzte. Franz hatte bereits den Tisch für alle drei gedeckt und wunderte sich, dass sein kleiner Bruder nach Luft japste. „Papa“, fragte Marko atemlos, „können Bäume reden?“ Antonio glitt der Kochlöffel aus der Hand und bespritzte die Herdplatten mit roter Soße. „Ob Bäume sprechen können?“, wiederholte sein Vater. „Natürlich nicht! Nur uns Menschen ist es vergönnt, die Sprache zur Verständigung zu benutzen. Tiere geben Laute oder Zeichen von sich, Pflanzen bleiben stumm.“ Dann beugte er sich besorgt zu Marko hinunter, fasste ihm an die Stirn und meinte kopfschüttelnd: „Marko, du solltest dich nicht so lange in der Sonne aufhalten! Ich glaube, du hast einen Sonnenstich.“ Dann führte er ihn ins Badezimmer, legte ihm einen kalten Waschlappen auf die Stirn und brachte ihn anschließend ins Bett. „Vielleicht hat Papa recht?“, dachte Marko und schlief in seinen Kleidern auf dem Bett ein. „Nächstes Mal lassen wir Marko nicht mehr allein Archäologe spielen“, meinte Antonio zu seinem ältesten Sohn. „Du solltest ihn lieber begleiten!“ Franz verzog sein Gesicht und murmelte vor sich hin: „ Der will doch Archäologe werden, nicht ich!“

Die letzten Schultage vor den großen Ferien zogen sich unendlich langsam hin. Aber für Marko verging die Zeit wie im Flug. Heute waren sein Bruder und Hannelore mit auf den Fohrenberg gekommen. Als sie ihre Räder an die Bäume lehnten, wurde Franz von einem Zapfen getroffen. Da er meinte, Lore habe ihn beworfen, spottete er:

Lörchen, Lörchen,

mit den kleinen Öhrchen!

Hannelore wusste nicht, was in Franz gefahren war und gab wütend zurück:

Aber mit ’nem klugen Kopf

denk ich besser, armer Tropf!

Da Franz keine Antwort darauf wusste, stieg er beleidigt auf sein Fahrrad und raste wie von Sinnen ins Dorf zurück. Hannelore schüttelte den Kopf und musste sich noch mehr wundern, als Marko sie seltsam anschaute und fragte: „Hanne, kannst du dir vorstellen, dass Bäume sprechen können?“ Schlagfertig gab sie zurück: „Eher hörst du das Gras wachsen, als dass Bäume sprechen können.“ Marko schüttelte nur den Kopf und meinte: „Dann pass mal gut auf, was jetzt passiert!“ Dabei nahm er einen Kern nach dem anderen aus seiner Tüte, verzehrte sie und begann, in die Baumkronen zu sprechen: „Da bin ich wieder, Marko, der Aschologe!“ Seltsame, unheimliche Stille. Hanne musste ihr Lachen krampfhaft unterdrücken. Aber Marko bot ihr von seinen Kieferkernen an, die das Mädchen sofort probierte.

„Wir wollen Pinus Primus und Pinus Secondus genannt werden!“, hörte sie plötzlich zwei Stimmen sprechen. Verwirrt suchte das Mädchen jetzt auch, wer das sagte. Als die Stimme fortfuhr, musste Hanne sich verblüfft ins Gras setzen.

„Wir kennen euch beim Namen, Marko und Hanne. Denn uns ist nicht nur die Sprache gegeben, wir können obendrein horchen und belauschen. Das hängt aber davon ab, woher der Wind weht. Da wir keine Augen zum Sehen haben, müssen wir uns aufs Hören verlegen. Mit der Rinde hören wir vieles, was sich Menschen unter uns erzählen: der Zenturio Rufulus, Claudius, seine Familie, seine Gäste, seine Bediensteten, aber auch seine Feinde und jetzt auch euch, Marko und Hanne.“

Nun war es Marko, der auf die Bäume neugierig wurde. „Pinus Primus und Pinus Secondus, wer hat euch das Hören und Sprechen beigebracht?“, wollte er wissen, und auch Hanne war gespannt, was die Kiefern antworten würden.

Die linke Kiefer, wohl Pinus Primus, schüttelte ihre Äste und Zweige zum Zeichen, dass sie jetzt das Wort ergreifen wollte. „Der uralte römische Zauberer Rombulus wurde einst von einem mutigen Legionär aus seinem brennenden Wald gerettet. Daher bekam der Retter vom Zauberer einen Wunsch erfüllt. Der Legionär hatte sich nämlich eine Pinie gewünscht, mit der er sich später im Ruhestand unterhalten konnte. Der Zauberer erfüllte ihm sogar noch mehr: Alle Nachkommen dieser Pinie sollten die Gabe besitzen, zuzuhören und sprechen zu können.“

Als die beiden Kinder nicht mehr aus dem Staunen herauskamen, fügte der linke Baum hinzu: „Das nächste Mal erzählt euch Pinus Secondus über den Zenturio Claudius, den letzten, der hier wohnte. Dazu müsst ihr ausreichend geröstete Pinienkerne essen und unsere Wurzeln vorher tüchtig begießen. Denn es ist furchtbar heiß in diesem Sommer.“ Dann schüttelten beide Bäume ihre Äste und Zweige. Zapfen für Zapfen fielen auf die Wiese. Marko und jetzt auch Hanne sammelten alle ein und nahmen sie zum Rösten nach Hause mit. Für das Wasser aus dem Bach in der Nähe wollten sie ihre kleinen Gießkannen mitbringen. Artig verabschiedeten sie sich von den sprechenden Kiefern und sausten das Sträßchen ins Dorf hinunter. „Nicht vergessen: Kerne rösten! Wasser bringen!“, riefen ihnen beide Bäume nach.

Was die Bäume erzählten

Gleich am ersten Ferientag machte sich Marko auf, seine Bäume zu besuchen. Das Graben, Schaufeln und Sieben war für ihn zunächst beiseite geschoben worden. Er wollte viel mehr wissen, was die Kiefern über die alten Römer erzählen würden. Hanne begleitete ihn, denn mittlerweile war sie genauso neugierig geworden wie Marko.

Sorgfältig begossen beide die Wurzeln der Bäume, setzten sich in den Schatten und begannen, Kiefernkerne zu knabbern. Da keiner der Bäume zu sprechen begann, begrüßte sie Marko laut: „Wir sind wieder bei euch, Pinus Primus und Pinus Secondus.“ Erst jetzt bewegten sich Äste und Zweige. Pinus Secondus räusperte sich auf seine Art, dann begann er: „Zunächst verstanden unsere Vorfahren nur die römische Sprache, wie alle Zenturien sie zu sprechen pflegten. Später, als die Wilden mit den Bärten kamen, mussten sie umlernen. Jetzt, wo ihr hier seid und unter uns sitzt, fällt es uns leicht, eure Sprache zu verstehen. Ihr sprecht so deutlich, so glockenhell aus. Vergesst trotzdem nicht, eure Kerne zu kauen!“ Nur allzu gerne kamen die zwei der Bitte nach. „Warum hat der erste Römer gerade hier oben seine Kiefern gepflanzt?“, wollte Marko wissen, „hier windet’s und zieht’s doch so stark.“ Hanne fand Markos Frage ziemlich gescheit und war selbst gespannt auf die Antwort.

„Der Zenturio Rufulus wollte seinen Gutshof im Trockenen stehen haben“, holte Pinus Secondus aus. „Zur Zeit der Römer gab es unterhalb dieses Hügels viele Sümpfe, viel Schilf und auch viele Büsche. Aber auf einer Anhöhe war der Boden meist trocken. Das war die eine Voraussetzung, um einen Hof zu errichten. Und als Rufulus erkannte, dass der Innenhof Schatten brauchte, pflanzte er eben unsere Ahnen. Waren unsere Urgroßeltern alt geworden, pflanzten andere Bewohner aus den Samen neue Pinien. Deshalb stehen wir heute an dieser Stelle.“

„Dann muss ja unter euern Wurzeln der Hof von diesem Rufulus begraben sein?“, fragte Hanne ungläubig. „Du hast es richtig erkannt“, antwortete der rechte Baum. „Aber die Mauern sind mit der Zeit eingefallen, das Dach ist eingestürzt und über alles ist Gras gewachsen.“ Marko schaute sich um. „Deshalb stehen da keine Häuser mehr“, stellte er fest, „und deswegen graben die Aschologen die Fundamente aus und wollen wissen, wie Römer gebaut hatten.“ Beide Bäume nickten mit Ästen und Zweigen, um ihm zu zeigen, dass sie mit seiner Feststellung einverstanden waren.

Mittlerweile gesellte sich auch Franz zu den beiden Kindern. Er wunderte sich, dass jetzt Lore auch Kerne aß. „Was die kann, kann ich schon lange“, sagte er sich. Er pulte aus dem nächstbesten Zapfen die Samen heraus. Dann löste er die Schalen und fing an, einen Kern nach dem anderen zu verzehren. „Ich weiß gar nicht, was an denen so besonders Gutes sein soll?“, fragte er sich, knabberte aber trotzdem weiter.

„Ihr grabt ja heute gar nicht“, stellte er verwundert fest, als er seinen Bruder und das Mädchen am Baum sitzen sah. „Wir betrachten die schöne Gegend“, gab ihm Hanne schnippisch zur Antwort. Denn Franziskus wäre der Letzte, dem sie von ihren seltsamen Gesprächen mit den Kiefern erzählen wollte.

Plötzlich rannte Franz hinter einen der beiden Bäume und musste sich lautstark übergeben. Sein Gesicht war aschfahl geworden. Hanne und Marko mussten ihn stützen und setzten ihn ins trockene Gras. „Ich glaube, ich hätte die Kiefernkerne nicht essen dürfen“, murmelte er. „Du spinnst!“, schrie ihn Marko an. „Nur geröstete Pinienkerne sind genießbar. Alles andere ist giftig!“

Kurzerhand setzten sie Franz auf Hannes Sattel. So vorsichtig es ging, schoben Hanne und Marko Franz zu seinem Vater. Als dieser erfuhr, was sein Ältester gegessen hatte, brachte er ihn ins Krankenhaus, wo er fachmännisch behandelt wurde.

„So eine Schweinerei“, ärgerte sich Pinus Primus. „Hat mich dieses Ferkel an meiner Rinde so beschmutzt!“ Dabei schüttelte er seine Äste und Zweige voller Ekel. Aber das bekamen Hanne und Marko natürlich nicht mehr mit. Und Franz erst recht nicht!

Trotz ihrer Verstimmung über den Vorfall schickten sich die beiden Kiefern wieder an, Marko und Hanne weiter aus dem Leben der Römer zu erzählen. Denn bereits am nächsten Tag trafen die Kinder mit ihren Rädern samt Gießkannen und gerösteten Pinienkernen wieder auf dem Hügel ein. „Wir nennen ihn ab heute Römerbergle und euch Römerbäume“, schlug Marko den Kiefern vor. Diese hörten das sehr gerne und honorierten den Einfall mit einer weiteren Geschichte.

„Heute will ich euch vom letzten Zenturio erzählen“, schlug Pinus Primus vor. „Bereits die Vorfahren von Claudius, nämlich Rufulus und Petronius, hatten veranlasst, den römischen Gutshof mitsamt der Scheune und dem Tempel auf diesem Berg errichten zu lassen. Denn hier war man vor Feinden einigermaßen sicher. Claudius musste sich, als er sein Soldatenleben in Rom beendet hatte, nur ins gemachte Nest setzen. Die Felder ringsum euer Römerbergle waren bereits angelegt, im Teich konnte er nach Herzenslust fischen, die Römerstraße war schon vor ihm gebaut worden. So konnte er mit Pferd und Wagen, mit Ochs’ und Karren, überall hingelangen, wo er hin musste: in den nächsten vicus, in die nächste colonia oder sogar zu Rhenus und Danubus.“

„Was sind das für zwei Männer?“, wollte Marko wissen. Denn solche Namen hatte er noch nie gehört. „Iss deine Kerne weiter!“, forderte Pinus Secondus ihn auf. „Das sind keine Männer sondern Flüsse im Süden und Norden von uns.“ Hanne konnte sich vorstellen, dass er Rhein und Donau meinte. Nur mit vicus und colonia konnte sie nichts anfangen. Das sollte sie später erfahren. „Claudius besaß vieles“, fuhr die erste Kiefer fort. „Sogar Canus, seinen Wachhund. Der rettete ihm und seiner Familie sogar das Leben, kam aber selbst dabei um.“ Hanne schaute Marko entsetzt an. „Was ist damals passiert?“, wollte sie wissen.

„Vielleicht könnt ihr euch vorstellen“, setzte Pinus Primus seine Geschichte fort, „dass jeder Zenturio für seinen Ruhestand eine Menge Silbermünzen bekam. Diese musste er verstecken, denn in jener Zeit gab es immer wieder Räuberbanden, die es auf solches Geld abgesehen hatten. Geschickterweise hatte Claudius seinen Schatz im Tempel versteckt, und zwar so geheim über den Holzschindeln unter den Ziegeln, dass sie heute noch dort sein müssten. Canus hatte sich die Lunge aus dem Leib gebellt, als er die Räuberbande entdeckte. Dabei hatte er sich dermaßen aufgeregt, dass sein Herz aussetzte. Er war eben schon sehr alt gewesen. Claudius musste mit seiner Familie fliehen, denn was konnte schon ein einzelner ehemaliger Soldat gegen eine ganze Räuberbande ausrichten? Als er zurückkam, hatte die Horde alles kurz und klein geschlagen, weil sie kein Geld gefunden hatte. An Stelle des Wachhundes legte sich Claudius eine große Gänseschar an, das waren in römischen Zeiten die besten Wächter.“

Hanne bekam feuchte Augen, als sie vom Tod des Wachhundes erfuhr. „Ich möchte später auch einen Hund haben, einen, der mich beschützt“, sagte sie den Bäumen. Pinus Primus und Secondus reckten ihre Äste und Zweige aus und bedeuteten den Kindern, dass sie genug für heute erzählt hatten. „Pinus Secondus wird euch beim nächsten Mal eine weitere Geschichte von Claudius erzählen. Bringt uns wieder Wasser und gießt unsere trockenen Wurzeln!“

Marko kann den Professor ablenken

In der Nacht hatte es kräftig geregnet, ein starkes Gewitter war vorausgegangen. Ein heftiger Sturm hatte manchem Baum Äste und Zweige abgeschlagen. Marko war zu Fuß zum Römerbergle gestiegen. Denn einerseits hatte er nur eine Bürste dabei, mit der er alle Fundstücke abbürsten wollte. Schließlich sollten sie ja sauber unterm Bauwagen abgelegt werden. Andererseits wollte er danach Franziskus’ Fahrrad nach Hause bringen, welches sein Bruder gezwungenermaßen zurückgelassen hatte.

„Du hast ja ganze Arbeit geleistet“, hörte Marko plötzlich die Stimme des Professors. „So viele Fundstücke hatte ich nicht erwartet. Dazu noch so sauber abgebürstet. Das bringt doch nur ein Fachmann wie du fertig. Übrigens, wo hast du deine Freundin gelassen?“, fragte der ältere Herr spitzbübisch. „Das ist nicht meine Freundin“, erwiderte Marko trotzig. Hatte er nicht schon vor ein paar Tagen dem Professor das beigebracht? „Sie muss für ihren Verein trainieren. Demnächst fährt sie für ein Bezirksrennen.“

Mittlerweile musterte der Archäologe Markos Fundstücke. Dann nahm er ganz ernste Gesichtszüge an. „Das sind keine römische Sachen“, meinte er nachdenklich. „Es sind vielmehr Scherben alter Tontöpfe oder Dachziegel. Irgendein Landwirt hat sie zum Wegebau verwendet.“ Markos Gesicht wurde immer länger. Als der Professor das merkte, gab er sich einen Ruck, klopfte dem Jungen auf die Schulter und schlug ihm vor: „ Morgen ist Sonntag. Wenn ihr Schatzgräber alle Zeit habt, zeige ich euch im Museum richtige römische Tonscherben: terra sigillata.“

So kam es, dass Marko und Hanne mit dem Professor und dessen Frau ins Museum fuhren. Franz war noch zu krank, so dass Antonio bei ihm daheim blieb. Hanne und Marko saßen im Fond des weißen Kombis und warteten schon aufgeregt auf die echten römischen Funde.

Unterwegs erzählte der Professor immer wieder, was er mit seinen Studenten gerade ausgrub. Als er an einer Ampel besonders lange warten musste, verriet er den Mitfahrern seine nächste Absicht. „Wir vermuten stark, dass unter den beiden riesigen Kiefern auf dem Fohrenberg ein römischer Gutshof steckt. Da wir mit unserer Ausgrabung der Scheune demnächst fertig werden, suchen wir neue Beweisstücke für die Existenz der Römer. Falls wir diesen Gutshof dann freilegen, müssen wir zuerst die Kiefern fällen und ihreWurzeln ausbaggern.“

Da der Archäologe keine Antwort von seinen beiden jungen Gästen erhielt, drehten er und seine Frau sich um. Da schauten sie in zwei aschfahle Gesichter. „Siehst du, Friedel!“, sagte die Frau zu ihrem Mann. „Den Kindern ist es von deiner schnellen Fahrweise schlecht geworden. Ihre Gesichter sind ganz käseweiß.“

Marko und Hanne konnten der Führung des Professors im Museum kaum folgen. Immer wieder mussten sie daran denken, was mit ihren Römerbäumen geschehen sollte. Nie würden sie aber dem Professor ihr Geheimnis verraten, in welcher Verbindung sie mit den Kiefern standen. So bedeuteten beim Rundgang durchs Museum all die herrlichen Fundstücke aus der Römerzeit ihnen nur so viel, dass sie schön anzusehen waren: prachtvolle Amphoren, kunstvolle Statuen, glänzende Münzen, kostbares Geschirr, silbernes Besteck, gefährliche Waffen und ungewöhnliche Kleidung.

Gleich am nächsten Tag erzählte Marko den Kiefern vom Vorhaben des Professors. „Entsetzlich, dass so etwas auf uns zukommen muss!“, ängstigten sich die beiden Bäume und zitterten mit ihren Zweigen. „Wir müssen uns unbedingt einen Ausweg überlegen. Euch beiden sagen wir erstmals vielen Dank, dass ihr uns schon einmal vorgewarnt habt.“

Die nächste Woche regnete es so viel, dass weder Professor Sonnenschein mit den Studenten seine Ausgrabungen fortsetzte noch Marko und Hanne auf dem Römerbergle erschienen. Dann aber ging alles Schlag auf Schlag: Der Professor ließ rot-weiße Absperrbänder um die Kuppe mit den beiden Kiefern spannen. Der grüne Bauwagen konnte an Ort und Stelle stehen bleiben. Bagger und Raupe wurden ganz in die Nähe gefahren, damit am Grabungstag keine Zeit vergehen sollte.

Als Marko und Hanne später ihre Bäume mit einem „Salve Pinus Primus! Salve Pinus Secondus!“ begrüßten, forderten diese die Kinder zunächst einmal auf, recht viel Pinienkerne zu knabbern. „Passt jetzt gut auf, was wir euch erzählen werden!“, raunte Pinus Primus den erstaunten Kindern zu. „Seht ihr die zwei markanten Bergspitzen im Osten? Wenn ihr genau in diese Richtung hundert Schritte geht, erreicht ihr die Stelle, wo Claudius seinen Schatz versteckt hatte. Dort unter der Wiese muss der Tempel sein. Macht dem Archäologen den Vorschlag, dort zu graben, statt unter uns!“ Da an diesem Tag eine gute Fernsicht herrschte, entdeckten die beiden sofort die auffällige Doppelspitze der Berge hinterm Wald. Sorgfältig zählte Marko hundert Schritte in diese Richtung und markierte die Stelle mit einem Stock, den er fest in den Boden drückte. Anderntags führte er den Professor, bevor dieser überhaupt mit seinem Team an den Römerbäumen ausgraben konnte, an den Platz. Er gab vor, dass Hanne und er den gleichen Traum gehabt hatten. Darin kam vor, dass genau an diesem Ort lauter Silbermünzen in einem römischen Tempel versteckt seien. Um den kleinen Jungen nicht zu enttäuschen, ließ Professor Sonnenschein den Bagger seine Arbeit tun. Aber nichts war zu finden! Jetzt war es Hanne, die ganz unruhig wurde. Denn ihr war eingefallen, dass die Römerbäume ja die Männerschritte von Claudius und nicht die Bubenschritte von Marko meinten. Sie forderte deshalb den Archäologen auf, hundert Schritte von den Kiefern nach Osten abzuschreiten. Auch dazu ließ sich der Professor noch erweichen und tat wie geheißen. Der Baggerführer wurde einige Meter weiter beordert und fing mit seiner Arbeit von Neuem an.

Wie verwundert war daher der Professor, als er tatsächlich in der Schaufel des Baggers die ersten Münzen entdeckte. Nach jedem Schaufeln tauchten Tonziegel und Münzen auf, so viel, dass der Archäologe sein ganzes Team zusammenrief und ihm die Funde zeigte. Jeder war verblüfft. Wie konnten zwei Kinder eine so bedeutende Fundstelle ausmachen?

„Wir unterlassen zunächst die Grabung um die beiden Kiefern herum und nehmen uns dafür die Stelle mit dem angeblichen Tempel vor!“, wies der Professor seine Mitarbeiter an. Und Marko und Hanne machte er zu den Helden des Tages. „Ihr beiden dürft von nun an unter meiner Anleitung bei dieser bedeutenden Ausgrabung des Tempels mit seinem Silberschatz mithelfen“, erlaubte er den Kindern. „Aber denkt immer daran: Gold, Silber und Bronze bei mir persönlich abgeben! Alles andere wie gehabt!“

In der Mittagspause, als jeder sein Vesper zu sich nahm, setzten sich Hanne und Marko wieder unter ihre Römerbäume und knabberten Kerne. „Ihr seid die Helden des Tages, haben wir die Archäologen sagen hören“, lobte Pinus Secondus. „Für uns natürlich auch! Zum Dank werden wir euch ein noch viel größeres Geheimnis verraten als das, was ihr vor Kurzem erfahren habt. Lasst uns noch etwas Zeit zum Ausruhen. Denn das Reden mit euch strengt uns an.“ Damit ließen die beiden Kiefern wieder Zweige und Nadeln erzittern. Das war für Marko und Hanne das Zeichen, die Bäume vorerst in Ruhe zu lassen.

Markos großartige Entdeckung

Mittlerweile neigte sich der Sommer seinem Ende zu. Fast alle Felder um das Römerbergle waren abgeerntet. Nur der Mais mit seinen hohen Stängeln störte Hanne und Marko noch. Denn er versperrte ihnen die Aussicht auf ihr Dorf. Das Grabungsteam hatte den größten Teil des Römertempels freigelegt. Immer wieder hatten die Archäologen Silbermünzen entdeckt, sehr zur Freude des Professors, aber vor allem von Marko und Hanne. Hatten sie ihn doch auf die Fundstelle aufmerksam gemacht! Dafür hatten sie an manchen Tagen mit suchen dürfen. Aber da sie dabei sehr vorsichtig sein mussten, schauten sie den Leuten lieber von ihren Römerbäumen aus zu.

Von ihnen erfuhren sie auch die nächste Geschichte über Claudius und dessen Frau Fiorita. Noch nie hatten Pinus Primus und Secondus von ihr etwas erzählt. Aber als Hanne die Kiefern fragte, was Römer damals aßen, regten sich die Bäume so auf, dass ihre Zweige zitterten.

„Ihr müsst wissen“, begann Pinus Primus, „dass es bei Claudius und seiner Frau in der Villa und bei den ehemaligen Sklaven in der Scheune oft nur punischen Brei gab. Der bestand aus zerstampftem Getreide mit Frischkäse aus Ziegenmilch. Dazu tranken die Erwachsenen posca, ein Getränk aus Essig und Wasser.“

Marko konnte sich das nicht vorstellen. Wenn er da an seine Pizza oder die Spaghetti mit Antonios berühmter Tomatensoße dachte, lief ihm jetzt schon das Wasser im Mund zusammen. „Warum kochte diese Fiorita immer das Gleiche?“, wollte Hanne wissen. „Claudius war früher Soldat und hatte im Lager niemals das Kochen gelernt“, erklärte ihr der Baum. „Fiorita stammte aus einer römischen Mietskaserne, wo es den Bewohnern streng untersagt war, Kochstellen anzulegen. Denn offenes Feuer hätte die Häuser zerstören können. Deshalb hatte Claudius’ Frau niemals das Kochen gelernt. Man aß an einer tavola calda unten an der Straße, einer Art Imbissstube. Dagegen gab es hier in der villa rustica eine Kochstelle im Innenhof. Aber immer wieder musste der verzweifelte Claudius seiner Fiorita zeigen, wie man ein schmackhaftes Abendessen zubereitete. Er besorgte ihr Kichererbsen, Linsen und Feldbohnen. Für den Dinkel oder den Emmer besaß sie eine einfache Steinmühle, in der sie das Korn zerrieb. Damit bereitete sie ein Mus oder Brotfladen zu. Aber Claudius fehlte oft Fisch oder Fleisch dazu, weshalb er ab und zu vor der ‚Kochkunst‘ seiner Frau flüchtete und sich in den vicus unten im breiten Tal begab.“

Marko wollte wissen, was ein vicus war. „Der vicus ursingia ist eine Siedlung mit einfachen, langen Wohnhäusern und Tavernen an einer Römerstraße“, erklärte Pinus Primus. „Dort in der Taverne bekam er seine heißgeliebten Fischgerichte oder Hühner. Feigenleber mit Kichererbsen und Huhn in weißer Soße waren Claudius Leibspeise. Dazu bekam er seinen mit Piniennadeln gewürzten Wein. Fiorita dagegen musste sich daheim mit dem übrig gebliebenen Ziegenkäse, altem Gemüse und sauren Beeren zufrieden geben.“

Jetzt wurde Marko seltsam unruhig. „Weißt du“, fragte Marko in den Baum hinauf, „wo sich diese Ortschaft heute befindet?“ Pinus Secondus konnte es ihm erläutern. „Claudius hatte unseren Ahnen jedenfalls erklärt, dass dieser vicus ursingia an der Stelle liegt, wo zwei Bäche zusammenfließen. Dort soll auch eine Brücke sein, über die die Römerstraße zum Rhenus führt.“ Für Marko gab es kein Halten mehr. Er musste die letzten Ferientage noch ausnutzen, diesen Ort zu finden. Er meinte, die Stelle zu kennen, die Pinus Secondus erklärt hatte. Denn dorthin war er oft mit Franz gefahren, um an einer besonders breiten Stelle zu baden oder Groppen zu fangen. Von seinem Dorf aus musste er immer nur einen dieser Bäche entlangfahren. Der Weg war eben, es kostete ihn viel weniger Anstrengung als zum Römerbergle hinauf. Hanne hatte keine Lust mitzufahren. Sie sagte nur: „Wer will denn Archäologe werden? Du oder ich?“ Dabei blieb es.

Da die Felder voller Lehm und die Wiesen feucht waren, musste Marko seine Gummistiefel anziehen. „Richtige Aschologen tun das auch“, sagte er sich, packte Schaufel, Rechen und Proviant in seinen Beutel und begab sich an die Stelle, wo er den vicus vermutete. Aber Tage vergingen, ohne dass er etwas Interessantes fand. Viele Steine musste er umdrehen, ritzte da und dort in den Lehm oder grub schon mal tiefe Löcher in die Erde. Nichts!

Doch dann, als er fast ans Aufhören dachte, entdeckte er unter einer Erdscholle eine handgroße Metallfigur. Schnell befreite er sie mit einer alten Zahnbürste notdürftig vom Lehm und steckte sie aufgeregt in eine kleine Tüte. Zu Hause stellte er seinen Fund auf den Gartentisch und bewunderte ihn von allen Seiten: Ganz deutlich konnte er das Gesicht, den Körper und die Beine erkennen. Aber ein Arm fehlte ganz, der andere war zur Hälfte abgebrochen. Deutlich konnte er sogar die langen Haare und den Bart erkennen. Die Kleidung der Figur war schlecht auszumachen, denn der Rost hatte dem Metall stark zugesetzt. Als sein Vater von der Arbeit zurückkam, stellte Marko ihm seinen Fund stolz vor. „Zeig ihn deinem Professor am Fohrenberg oben“, riet er ihm sofort. „Der wird eine helle Freude haben. Vielleicht ist es auch etwas Römisches?“

Das ließ sich Marko nicht zweimal sagen. Schnell musste er noch den Fund Franz und Hanne zeigen, so stolz war er auf sich. Am folgenden Tag machte er sich wieder auf den Weg zum Römerbergle und fand den Professor mit seinem Team noch vor. Aufgeregt packte er seinen Fund aus und stellte ihn dem Archäologen vor.

„Woher hast du diesen kleinen Kerl?“, rief dieser erstaunt aus, so laut, dass alle Teilnehmer herbeieilten. „Der lag unter einer Erdscholle im vicus“, antwortete er bescheiden. „Im vicus?“, wunderte sich der Professor. „Wo soll denn dein vicus sein? Weißt du überhaupt, was ein vicus ist?“ Der Archäologe war fassungslos über die Erklärung dieses seltsamen Jungen geworden. „Vicus? Wieso wusste der Kleine etwas von einem vicus?“, dachte er sich. Dann untersuchte er umständlich die Metallfigur und stieß einen seltsamen Pfiff aus. „Das muss ein lar sein!“, rief er aus. „Ein kleiner Hausgott.“

Der Archäologe war jetzt ganz aus dem Häuschen. „Kannst du uns den Fundort zeigen? Jetzt auf der Stelle!“, bat er Marko inständig. „Nichts lieber als das“, freute sich der Junge. Schon saß er im Kombi des Professors. Einen Teil der Studenten nahm der Grabungsleiter auch mit und los ging die Fahrt.

Sie mussten nicht allzu lange fahren und bogen zum Schluss in einen Feldweg ab. Marko erinnerte sich genau an die Fundstelle und führte den Professor mit seinen Studenten dorthin. Schnell hatte der Archäologe gefunden, was er suchte: Tonscherben!

Auf einmal wurde er richtig ernst. „Wieso hast du dir ausgerechnet diese Stelle zum Suchen ausgedacht?“, wollte der Wissenschaftler erfahren. „War das wieder einer deiner Träume?“ Marko wurde verlegen. Über die Römerbäume wollte er nichts preisgeben. Also musste ein weiterer Traum dafür herhalten. „Mir träumte vor einigen Tagen, dass an dieser Stelle ein römisches Dorf unter dem Feld begraben liegt“, schwindelte er. „Deshalb habe ich Tag für Tag die Felder und Wiesen abgesucht. Dann bin ich gestern auf diese Figur gestoßen.“