Das Geheimnis des Abtes von Croyland - Jeremy Potter - E-Book

Das Geheimnis des Abtes von Croyland E-Book

Jeremy Potter

5,0

Beschreibung

England, 1536. Henry VIII. hat sich vom Papst in Rom losgesagt und sich selbst zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche erklärt. Nun lässt er die Klöster im Land schleifen, den Klosterbesitz verkaufen und die Mönche in alle Winde verstreuen. Doch es regt sich Widerstand im Land. Als heimlicher Führer der Gegner des Tudor Königs gilt der Abt des Klosters Croyland. Angeblich verwahrt er in der Bibliothek des Klosters Dokumente, die auf zwei noch lebende Thronerben aus dem Hause York hinweisen, die den Hinrichtungen der Tudors am Ende der Rosenkriege entkommen sind. In ihnen könnten die Gegner Henrys neue Führer für ihren Widerstand und einen neuen König finden. Als Bruder Thomas aus Croyland nach beharrlichem Drängen endlich vom Abt die Erlaubnis erhält, sich auf die Suche nach ihnen zu begeben, ahnt er nicht, in welche Gefahr er dadurch gerät und wieviel Unheil er auf sich und das Kloster herabbeschwört …

Ein fesselnder Krimi vor opulenter Kulisse, basierend auf wahren Begebenheiten und realen historischen Persönlichkeiten.


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Über Jeremy Potter

Jeremy Potter (1922-1997) war Autor zahlreicher Bücher zu verschiedenen Themen der englischen Geschichte sowie Kriminalromanen mit historischem Hintergrund. Zudem war er 18 Jahre lang Vorsitzender der Richard III Society. Privat war er mit der Schriftstellerin Anne Melville verheiratet.

Informationen zum Buch

1536. Henry VIII., selbsternanntes Oberhaupt der anglikanischen Kirche, lässt die Klöster im Land schleifen, den Klosterbesitz verkaufen, die Mönche in alle Winde verstreuen. Auch dem altehrwürdigen Kloster Croyland droht dieses Schicksal. Die Gegner des Königs haben nur noch eine Hoffnung: In zwei Thronerben aus dem Hause York, die den Hinrichtungen der Tudors am Ende der Rosenkriege möglicherweise entkommen sind, könnten sie neue Führer ihres Widerstandes und einen neuen König finden. Bruder Thomas aus Croyland verfolgt ihre Spur durch das halbe Königreich, begibt sich in Gefahr für Leib und Leben. Doch als er den letzten Spross der Yorks endlich aufgespürt hat, schwört er damit noch weitaus größere Konflikte auf sich und das Kloster herab.

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Jeremy Potter

Das Geheimnis des Abtes von Croyland

Historischer Kriminalroman

Aus dem Englischen von Friedrich Baadke

Inhaltsübersicht

Über Jeremy Potter

Informationen zum Buch

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Vorbemerkung des Autors

Teil I Die Abtei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil II Die Untersuchung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil III Die Spur

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil IV Das Ende der Suche

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil V Das Nachspiel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Epilog

Impressum

Vorbemerkung des Autors

Dies ist eine erfundene Geschichte, die auf historischen Tatsachen beruht. Die Informationen über Richard III. verdanke ich hauptsächlich der Biographie von Paul Murray Kendall. Inspiriert hat mich der Roman »The Daughter of Time« von Josephine Tey. Seit ihrer angeblichen Ermordung sind die Prinzen im Tower ein Rätsel der englischen Geschichte geblieben. Die Frage der Schuld Richards III. ist schon fast fünfhundert Jahre lang diskutiert worden. Für meine Version der Ereignisse nehme ich nicht mehr in Anspruch, als dass sie ebenso plausibel ist wie die, die drei frühere Verfasser von Kriminalgeschichten in Umlauf gebracht haben: H. Tudor, T. More und W. Shakespeare.

Ein Stammbaum der Plantagenet-Familien York und Lancaster befindet sich auf Seite 6.

Die Suche nach den Prinzen, eine Spur von Blut,

zieht sich durch schmutz’ge Sudelschriften

der unbeugsamen Zeit.

O Herrschermacht,

unter den schwarzgefärbten Roben der Vergangenheit,

wie viele Untaten, erstickte Wahrheiten

liegen da auf deinen Befehl verborgen?

»König Edward V.«

(Fragmente des Prologs aus der »Harleian Miscellany«)

Teil I Die Abtei

1

»Ihr sprecht von Hochverrat«, sagte der Abt.

»Nicht doch«, erwiderte der Kanzler. Er hatte ein grobes Gesicht mit einer Eberschnauze.

Sie waren Feinde von altersher, und der Abt zog es vor, den Widerspruch zu überhören.

»Hochverrat«, wiederholte er. »Ihr würdet mich an den Galgen hängen und lebendig wieder abnehmen lassen. Dann würdet Ihr mir die Eingeweide herausreißen und vor meinen sehenden Augen verbrennen lassen. Ihr würdet Stücke meines nackten Fleisches öffentlich zur Schau stellen.« Er sprach gelassen und ohne erkennbaren Vorwurf.

»Da sei Gott vor!« Der Kanzler bleckte seine schwärzlichen Zahnstümpfe in einem Judaslächeln.

»So geschah es unserem Bruder in Gott, dem Prior Houghton vom Kartäuserkloster in London.«

»Der Prior suchte den Märtyrertod. Ihr, Lord Abt, seid zu klug dafür.«

Provokation und Schmeichelei; Anstachelung zum Hochverrat. Der Abt seufzte. Als er von einer Reise nach London in kirchlichen und staatlichen Angelegenheiten nach Hause zurückkehrte, erwarteten ihn zwei unwillkommene Besucher, die seinen wohlverdienten Frieden störten: John Rayne, der Kanzler und Generalvikar der Diözese Lincoln, und Robert Aske, ein dreister junger Anwalt aus dem Norden.

Sein Zuhause war Croyland. Fünfzehnhundertundsechsunddreißig Jahre waren vergangen, seit Gott Seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hatte, um die ganze Menschheit von ihren Sünden zu erlösen, und seit mehr als achthundert Jahren hatte die Abtei im Marschland im Dienste Seiner Sache in einer immer sündigeren Welt gestanden. John Wells’ Herrschaft als Abt dauerte zwar erst bloße vierundzwanzig von diesen Jahren, aber das Gewicht der Jahrhunderte lastete auf seinen Schultern. Wenn es Schultern in diesen gefährlichen Zeiten zu tragen vermochten, dann die seinen. Sie waren breit und aufrecht. Inzwischen über sechzig, war er immer noch groß und von frischer Gesichtsfarbe und besaß die Haltung eines Edelmanns. Gutaussehend, ruhig und weltlich.

Mit diesen Worten konnte man auch sein Empfangszimmer beschreiben, in dem er mit seinen Gästen und dem Prior saß. Die Eichenbalken der Decke stammten aus dem Forst von Rockingham. Farbenfrohe Wandbehänge mit ländlichen Szenen, in Flandern gewebt, schützten vor Zugluft. Ein Erkerfenster wies das moderne Wunder wirklich durchsichtigen Glases auf. Das Feuer, das sie wärmte, brannte in einem neuen Kamin, und der war aus dem besten Stein in christlichen Landen – ein Geschenk der Abtei König William des Eroberers in Caen.

Äbte waren nicht wie gewöhnliche Mönche. Davon zeugte schon das mit Pelz verbrämte Samtgewand. Sie hatten einen Fuß in jeder der beiden Welten. Ihre Wohnräume lagen außerhalb des umschlossenen Klosterbezirks. Hier in Croyland grenzten sie an die Südmauer der Abteikirche, aber sie wandten der Abgeschiedenheit der Kreuzgänge den Rücken zu und öffneten sich lieber dem geschäftigen Treiben des äußeren Hofes.

In diesen Räumen beherbergten die Äbte auch die vornehmen Reisenden, die ihre Gastfreundschaft suchten. Niemand kehrte in einem Wirtshaus ein, wenn er in einer Abtei Unterkunft finden konnte. In einer Abtei war das Essen besser, die Betten waren weicher, und man bezahlte nur, wenn man wollte. Reisende galten wie Kranke als Notleidende, und man erwies ihnen die gebührende Barmherzigkeit. Selbst Königen hatte es gefallen, in Croyland Quartier zu nehmen: Angefangen von Ethelbald von Mercia im achten Jahrhundert über den frommen Henry von Lancaster bis zu dem alles andere als frommen Edward von York in jüngeren Zeiten.

König Henry war in der Fastenzeit gekommen, um zu fasten und zu beten. Er hatte verkündet, er würde am liebsten die Kutte nehmen und seine restlichen Tage als einer der Brüder im Kloster verbringen. Edward hatte sich über die Kälte beklagt und schändlicherweise verlangt, die hübsche Tochter des Torwächters solle ihn im Bett warmhalten. Bei seiner Abreise schenkte er der Abtei ein Goldstück und dem Torwächter eine Handvoll davon. Als Eintrittsgeld, wie er sagte.

Hier herrschten die Äbte auch über ein Besitztum, das es mit dem eines jeden weltlichen Lords aufnehmen konnte. Sie sorgten für die Erziehung der Söhne des Landadels der ganzen Umgebung, die ihrer Obhut anvertraut wurden, damit sie Lesen und Schreiben, geziemendes Benehmen und gewandte Umgangsformen lernten. Hier wurden die Geschäfte der Abtei abgewickelt, die Verwaltung ihrer Güter geregelt und ihre Bilanzen aufgestellt. Hierher kamen Leute in Zeiten des Krieges und der Pest und der Unsicherheit, um ihre kostbarsten Besitztümer in den sicheren Gewahrsam eines Hauses Gottes zu geben. Oft waren die Zeiten so unsicher, dass sie niemals zurückkehrten, um sie wieder abzuholen.

Wenn der Abt durch das Glas seines Fensters hinausschaute, konnte er den ständigen Regen fallen sehen. Feuchte zu Feuchte. Die Gegend war so mit Wasser gesättigt, dass die Leute sie Holland nannten. Der Name Croyland selbst bedeutete so viel wie »schlammiger Boden«. Als der heilige Guthlac ihn vor so langer Zeit als Ort für seine Einsiedlerzelle ausgesucht hatte, war er noch eine unbewohnte Insel. Selbst jetzt, da die Abtei auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Ruhmes stand, schien er noch immer Gottes besonderes Missfallen auf sich zu ziehen. Der vorige Sommer war der sonnenloseste seit Menschengedenken gewesen und der Winter so hart wie die Nachrichten, die er aus London mitbrachte. Endlich war es Mai geworden, aber das Februarwetter hatte noch nicht aufgehört.

Vielleicht hatte Gott beschlossen, sich von ganz England abzuwenden. Konnte man es Ihm verdenken, so wie sich der König aufführte? Was man auch von Kardinal-Erzbischof Wolsey halten mochte, er hatte die Angelegenheiten des Landes gut besorgt, während der König sich seinen Vergnügungen hingab. Nun war er in Ungnade gefallen und gestorben, und ein emporgekommener Kaufmann war zum Lenker des Staatswesens bestellt worden. Der König hatte sich zum Oberhaupt der Kirche von England erklärt und hatte Thomas Cromwell zu seinem Generalvikar ernannt.

Das war der Mann, der den Vorsitz bei der Synode führte, die der Abt in London besucht hatte. Schon allein die Anwesenheit eines niedriggeborenen Laien war eine Beleidigung, und sie hatten scharfe Worte gewechselt wegen des Gesetzes über die Auflösung der kleineren Klöster. Im Laufe der Sommermonate sollten diese Häuser Gottes geschlossen, ihre Besitzungen eingezogen, ihre Gebäude abgerissen und ihre Mönche vertrieben werden.

Der König war ein Verschwender. Selbst die Münzverschlechterung hatte ihn nicht gerettet. Er brauchte Geld, und die religiösen Häuser besaßen es. Das war der Kern der Sache, und Master Cromwell war die Made im Kern. Er war über alle kirchlichen Würdenträger des Reiches erhoben worden, damit er sie ausplündern konnte. Er warf seine gierigen Blicke auf die klösterlichen Ländereien und auf die edelsteinbesetzten Schreine ihrer Heiligen.

Der Abt unterdrückte mit Mühe ein Fluchwort. Croyland war sicher – einstweilen. Zu Weihnachten hatte Cromwell einen Beauftragten mit den Vollmachten eines königlichen Kommissars entsandt, aber der Abt hatte ihn bezwungen. Nun kam noch der Streit in London hinzu. Mit größerem Ärger war zu rechnen gewesen, aber er hatte nicht vorausgesehen, dass er so schnell kommen würde und in der aufgedunsenen Gestalt von Kanzler Rayne. Mit gewohnter Schläue hatte Cromwell einen Feind aus den eigenen Reihen gewählt.

Die klaren blauen Augen des Abts wanderten vom Fenster zum Kamin. Darüber hing das Schwert des heiligen Guthlac. Früher war es eine verehrte Reliquie in der Kirche gewesen, nun war es ins Empfangszimmer verwiesen worden. Er hatte nicht umhinkönnen, die unzweifelhaft normannische Ziselierung auf der Klinge zu bemerken, die sich nicht mit der Tatsache vereinbaren ließ, dass der Gründerheilige ein Angelsachse und einige Jahrhunderte vor der normannischen Eroberung gestorben war. Dennoch tröstete ihn der Anblick des Schwertes.

»Ihr nennt mich klug«, sagte er, »aber heutzutage ist Klugheit vielleicht nicht genug.«

»Ist das der Grund, weshalb Ihr das Schwert des Heiligen so blank haltet?« Der Kanzler hatte ihn beobachtet, mit der gleichen Geduld, mit der ein Jäger darauf wartet, dass sein Wild eine falsche Bewegung macht.

»Und scharf auch«, erwiderte der Abt ruhig. »Dafür sorgt mein Leibdiener Gervase.«

»Ihr würdet es aber wohl kaum gebrauchen«, vermutete der Kanzler weniger ruhig. »Wir sind Männer des Friedens – davon gehe ich wenigstens aus. Das ist unser Beruf.«

»Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert«, sagte der Abt. »Matthäus zehn, Vers vierunddreißig. Wer aber kein Schwert hat, der kaufe eins. Lukas zweiundzwanzig, Vers sechsunddreißig. Dies sind die Worte unseres Herrn.«

»Dann seid Ihr ein Krieger und werdet nicht zögern, das zu tun, worum wir Euch in Christi Namen bitten.«

Diesmal hatte der junge Mann gesprochen. Sein Gesicht war gerötet, die Haut spannte sich über den Wangenknochen. Er hatte nur ein Auge, das andere Lid deckte die Blindheit einer leeren Augenhöhle. Aber ein Auge genügte, den Abt das Feuer darin erkennen zu lassen.

»Einen rechtmäßigen König zu suchen kann kein Verrat sein«, fuhr der junge Mann fort. Seine Stimme zitterte von der Leidenschaft eines Fanatikers.

Ein gefährlicher Verbündeter, dachte der Abt. Eine Gefahr für sich selbst und für andere.

»Wer außer Gott kann die Rechtmäßigkeit von Königen beurteilen?« fragte er.

»Das Gesetz«, erwiderte der junge Mann, ein Rechtsgelehrter.

»Und Gottes Vertreter hier auf Erden«, setzte der Kanzler hinzu, der sowohl Rechtsgelehrter als auch Geistlicher war. »Aber reden wir doch nicht von Verrat. Wir wünschen nur, dass Ihr, Herr Lord Abt, Vollmacht für eine Untersuchung erteilt. Weiter nichts.«

»Und wer soll sie vornehmen?« forschte der Abt.

Der Prior hüstelte nervös und meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Bruder Thomas, wenn es Euch recht ist, Mylord«, sagte er.

2

Als Bruder Thomas erwähnt wurde, machte der Abt eine Bewegung, und vom Gesäß her durchzuckte ihn ein Schmerz. Auf dem letzten Teil seiner Reise von London hierher war er an diesem Vormittag einen versumpften Pfad entlanggeritten, der weder für einen Menschen noch für ein Pferd geeignet war. In der Hoffnung, so seine Beunruhigung über die vorgeschlagene Untersuchung verbergen zu können, verwandte er offenkundige Mühe darauf, einen weichen Platz für seinen geschundenen Leib in den Tiefen seines gepolsterten Sessels zu finden.

Der scharfzüngige Aske ergriff wieder das Wort. »Nach einem halben Jahrhundert der Missherrschaft der Tudors fragen wir uns, wer sind die überlebenden Plantagenets? Wo halten sie sich jetzt auf? Das möchten wir herausbekommen.«

»Und zu welchem Zweck?« fragte der Abt leise.

Der Kanzler öffnete den Mund, aber der junge Mann war schneller.

»Der Kanzler spricht für seine Sache. Ich meinerseits will auch keinen Verrat. Da ich hier unter Kirchenmännern und Freunden bin, erkläre ich, dass meiner Meinung nach die wahren Verräter diejenigen sind, die Henry unterstützen, der ohne die Gnade Gottes unrechtmäßig König von England ist, unrechtmäßig König von Frankreich, unrechtmäßig der Herrscher Irlands, der nicht länger der Verteidiger unseres Glaubens ist, das selbsternannte Oberhaupt unserer Kirche – ein Ketzer, ein Ehebrecher, ein Usurpator.«

»Erspart uns Eure Beschimpfungen«, verlangte der Kanzler, empört vom Kopf bis zu den Sohlen seiner fellgefütterten Pantoffeln. »Bedenkt gefälligst, dass Henry unser gekrönter und gesalbter souveräner Herrscher ist – unser unbestrittener König.«

»Es sei denn, dass ein Anwärter mit einem besseren Anspruch existiert.«

»Selbst dann wären Eure Worte nicht zu entschuldigen. Ihr müsst Eure Zunge im Zaum halten, Master Aske, sonst kann ich nicht länger mit Euch zusammenbleiben.«

»Dann geht Ihr eben. Ihr habt mich hierher gebracht. Damit ist Euer Auftrag erfüllt.«

Das feurige Auge forderte ihn heraus. Der Kanzler wandte den Blick ab und rührte sich nicht.

Der Abt beobachtete sie und versuchte Kanzler Rayne im Geiste einzuschätzen. Aske tat er ab als zu ungestüm für diese Welt und überdies ohne Bedeutung und ohne Anhang. Der Kanzler war ein anderer Fall. Als Generalvikar des Bischofs von Lincoln vertrat er die bischöfliche Autorität in einer Diözese, die sich vom Humber bis zur Themse erstreckte, von den schafreichen Ebenen von Lincolnshire bis nach Oxford und noch darüber hinaus.

Diese Diözese zog einen Streifen quer durch das Herzland Englands. In ihr lagen mehr religiöse Häuser als in jeder anderen. Die schwarzen Mönche saßen in Croyland, Peterborough und Ramsey. Die schwarzen Kanoniker hatten Leicester, Dunstable und Oseney inne. Die Verfügungsrechte, die der Bischof über diese Klöster und viele andere besaß, wurden an seiner Statt durch den Kanzler wahrgenommen. In Croyland und allen seinen Besitzungen herrschte der Abt absolut. Außer während der Visitationen. Vor fast zehn Jahren hatte es eine solche Visitation gegeben, eine bischöfliche Untersuchung der moralischen Verfehlungen und der finanziellen Missbräuche in den Klöstern. Nach Croyland war John Rayne gekommen mit Vollmachten, die die des Abts zeitweilig außer Kraft setzten. Von daher rührte ihre Feindschaft.

Nicht, dass irgendwelche Skandale aufgedeckt worden wären, wie sich der Abt dankbar erinnerte. Die Ordensregel wurde getreulich eingehalten. Der Chor erfüllte seine Pflichten ohne jede Nachlässigkeit. Es wohnten keine lockeren Weiber auf dem Gelände; im Refektorium wurde kein Fleisch gegessen. Die Bücher wurden ordnungsgemäß geführt.

In anderen Häusern herrschten ganz andere Zustände. In Peterborough hatte der Kanzler festgestellt, dass das Tor der Abtei die ganze Nacht unverschlossen blieb und die Mönche die Freuden des Fleisches genossen. Das Dach des Schlafsaals war undicht, und es gab keinen Grammatiklehrer für den Unterricht der jüngeren Brüder. In Humberstone hatten die Mönche die Ordensdisziplin gänzlich aufgehoben und das Eingreifen des Kanzlers übel aufgenommen. Er hatte sie daran gehindert, im Dorf Tennis zu spielen und in den Schankstuben um Geld zu würfeln.

Ohne Zweifel hätte er liebend gern über solche Missstände auch in Croyland berichtet, der bedeutendsten unter den Abteien. Aber er hatte sich damit begnügen müssen, dem Abt vorzuwerfen, er habe das Amt des Kellermeisters an sich gezogen, und mit einer scharfen Bemerkung über den Vorsteher der Torhüter, der beschuldigt wurde, Pilger, die sich nach dem Weg zum Schrein Unserer lieben Frau in Walsingham erkundigten, böswillig in die Irre zu schicken.

Doch das waren nur Nadelstiche. Im Kern ging es bei dem Streit zwischen dem Abt und seinem Besucher um die Archive des Klosters. Zu ihnen gehörte die Historia Croylandensis, die berühmte Chronik von Croyland, die Abt Ingulph zur Zeit William des Eroberers begonnen hatte und die ohne Unterbrechung bis ins gegenwärtige Jahrhundert fortgeführt worden war. Zuweilen war der Chronist ein gebildeter Mönch wie der gelehrte Peter von Blois. Manchmal fiel das Amt aber auch Männern zu, die eine aktive Rolle bei den Ereignissen gespielt hatten, die sie nun aufzeichneten, Männern, die sich von den Regierungsgeschäften zurückgezogen hatten oder hierher geflüchtet waren, um der Nachwelt die Wahrheit zu überliefern.

Croyland hielt solche Schätze verborgen. Als der Kanzler verfügte, sie sollten der bischöflichen Bibliothek in Lincoln »geliehen« werden, waren alle Chroniken und Urkunden und Statuten auf unerklärliche Weise verschwunden. Vergeblich erinnerte er den Abt an seine Vollmacht als Visitator. Der Abt verwies ihn an den Präzentor, der die Aufsicht über die Dokumente führte, aber dieser gute Mann hatte (mit Erlaubnis des Abts) klugerweise ein Schweigegelübde abgelegt. In der Kapitelversammlung machten es die Mönche klar, dass sie nicht dem Bischof Gehorsam schuldeten, sondern der Regel des heiligen Benedikt und ihrem Vater in Gott, dem Abt John.

Der Abt hegte keinen Zweifel daran, wer die Archive haben wollte und warum. Es war ein Gerücht aufgekommen, dass sie Beweismaterial enthielten, das das Haus Tudor vom Thron stürzen würde. Nach Kanzler Raynes Fehlschlag hatte er in Ruhe auf den nächsten Versuch gewartet. Nur wer eine größere Machtvollkommenheit besaß als er selbst, konnte auf Erfolg hoffen.

Schließlich wurde eine weitere Visitation angeordnet. Diesmal war es eine königliche. Der Mann, der sich an die Stelle des Papstes gesetzt hatte, wollte seine eigene Untersuchung vornehmen. Die Reichtümer und die Moral der sogenannten religiösen Häuser sollten durchforscht und öffentlich dargestellt werden. Insgesamt gab es fast sechshundert von ihnen, und es hieß, dass ihnen zusammen etwa ein Drittel des Königreiches gehörte. Dieser Reichtum war es, den der König begehrte, aber die Visitation eröffnete auch noch andere Möglichkeiten. Master Cromwell, ein Geschöpf des Königs, der diesem versprach, er werde ihn zum reichsten König machen, der je über England herrschte, hatte die Geheimnisse von Croyland nicht vergessen.

Der Kommissar des Königs kam an einem dunklen Tag des langen Winters an. Er war mit königlicher Bosheit ausgesucht worden.

Thomas Bedyll hatte dem König als Rechtsberater in dem großen Scheidungsprozess gedient, der zum Sturz des Kardinals und zum Aufstieg Cromwells und zum Angriff auf die Klöster führte. Er hatte auch die Aufgabe erhalten, den orthodoxesten Geistlichen den Suprematseid abzuzwingen. Er hatte Kanzler More und den Bischof von Rochester verhört, bevor sie hingerichtet wurden.

Normalerweise folgte eine Visitation einem vorgeschriebenen kanonischen Verfahren. Jedes Mitglied der Gemeinschaft wurde einer individuellen Befragung unterzogen. Aber Master Bedyll hatte es eilig. Er kam an der Spitze seiner Gefolgschaft auf der Straße von Bury herangaloppiert und hatte die kostbarsten Reliquien der Abtei des heiligen Edmund des Märtyrers in seinen Satteltaschen. In seiner Schändlichkeit und Gottlosigkeit hatte er ihre Kohlestücke gestohlen, die von dem Feuer übriggeblieben waren, mit dem der heilige Laurentius geröstet worden war.

Weit entfernt davon, irgendwelche Scham zu zeigen, hatte er im äußeren Hof mit ihnen jongliert und verkündet, er habe nur wenig Zeit für Croyland. Er wolle schnell weiter nach Walsingham. Dorthin zog ihn eine Kristallphiole, die Tropfen der Milch der Mutter Gottes enthielt. Er habe Durst, sagte er, auf einen Schluck Muttermilch von der Jungfrau.

Dieser grobe, unverfrorene Mensch stellte die Toleranz des Abts auf eine harte Probe. Information über Finanzen und über Skandale war das, was er verlangte. Religion interessierte ihn nicht mit Ausnahme dessen, was er abergläubische Praktiken nannte. Information über die Finanzen erhielt er. Skandale gab es nicht zu berichten. Der Abt gestand die abergläubische Praxis ein, Gott anzubeten. Dann kam der Augenblick, auf den er schon lange gewartet hatte. Wo waren die Archive, von deren Berühmtheit man dem Kommissar berichtet hatte?

Es waren Vorkehrungen getroffen worden. Aus den Archivschränken in den Kreuzgängen waren alle Dokumente von Wichtigkeit entfernt worden. Auch die schrecklichsten Drohungen machten auf den Abt, den Prior und den Präzentor keinen Eindruck: Sie logen zwar nicht, aber nichts konnte sie dazu bringen, die Wahrheit zu sagen. Hätte er genügend Zeit gehabt, hätte der Vernehmer von More und Fisher sie vielleicht kleinkriegen können, aber Walsingham lockte, und dahinter erstreckte sich noch eine lange Reihe von Abteien und Klöstern.

Also verließ Bedyll Croyland mit leeren Händen. Er gehörte nicht zu denen, die sich ihre Ziele durchkreuzen lassen, ohne sich dafür zu rächen. Bevor er ging, forderte er die Brüder auf, ihn um eine Befreiung von ihren Gelübden zu bitten, die zu erteilen er Vollmacht hatte. Als niemand darauf reagierte, griff er sich die beiden jüngsten heraus und entließ sie kurzerhand aus dem Kloster, da sie zu jung seien, als dass sie ihre Gelübde hätten mit vollem Bewusstsein ablegen können.

Sein Abschiedsgeschenk an den Abt war eine Liste von unangenehmen Anordnungen zur künftigen Regelung der Angelegenheiten der Abtei. Im Austausch nahm er den Narren des Abts mit. Der Narr des Königs ließ schon nach, und er hoffte in der Gunst des Königs zu steigen, wenn er ihm einen Nachfolger besorgte. Der Abt, der den Narren zum Vergnügen seiner Gäste und nicht zu seinem eigenen hielt, betrachtete das als einen geringen Preis. Die Anordnungen ignorierte er gelassen.

Das war vor fünf Monaten. Inzwischen hatte Bedyll seinen Bericht bei Cromwell erstattet, und Kanzler Rayne war unter einem flüchtigen Vorwand gekommen, um die Archive zu holen und Rache zu nehmen. Diesmal stand alles auf dem Spiel – das Leben des Abts, die Existenz der Abtei, der Glaube selbst.

3

Obwohl die biblischen siebzig Jahre des Kanzlers abgelaufen waren, gab Gott in Seiner unerforschlichen Weisheit noch kein Zeichen, dass er ihn in Seinen Schoß nehmen wolle. Die Wangen des Alten waren wettergebräunt von Reisen und straff wie gegerbtes Leder. Das Alter hatte weder seiner Gesundheit noch seiner Schlauheit etwas anhaben können. Als der Abt ihn über den Tisch hinweg betrachtete, spürte er seine Zuversicht schwinden. Alter Groll trieb tiefe Wurzeln, und der Strom der Ereignisse nahm seinen Lauf in der Richtung des Kanzlers.

Aske war ein Rätsel. Seine Suche nach einem anderen König schien echt zu sein. Die Ansichten, denen er Ausdruck gab, wurden von vielen geteilt. In London hatte der Abt solche Worte in den Ecken flüstern hören, während gleichzeitig die formellen Treuereden an die Krone gehalten wurden. Aber so offen damit herauszukommen, einem Vertreter der herrschenden Ordnung wie dem Generalvikar des Bischofs so weit zu vertrauen – das hieß doch, die Unvorsichtigkeit bis zum Wahnwitz zu treiben. Die Berührung mit Robert Aske konnte so tödlich werden wie die Berührung mit der Pest. Zweifellos war das der Grund, weshalb er nach Croyland gebracht worden war.

Ein weiterer Schwachpunkt war der Prior, der nun wieder in diskretes Schweigen gehüllt neben ihm saß: ebenso alt wie der Kanzler, aber gebrechlich, harmlos und ganz Gott und dem religiösen Leben ergeben.

Unglücklicherweise ruhte während der häufigen Abwesenheiten des Abts die Last der Geschäftsführung des Klosters auf den weltfremden Schultern des Priors. Kehrte der Abt zurück, bestand seine erste Sorge unweigerlich darin, unkluge Entscheidungen rückgängig zu machen und vieles von dem wieder abzuändern, was mit soviel gutem Willen und schlechter Wirkung getan worden war. Zu welchen törichten Indiskretionen und Zusagen hatten diese beiden Besucher den armen unschuldigen Prior verleitet? Ohne Zweifel war der Zeitpunkt ihres Besuchs sorgfältig gewählt worden, damit er in die Zeit seiner Stellvertretung fiel. Aber auch so konnten sie nur wenig Schaden angerichtet haben, wenn Bruder Thomas fest geblieben war. Dass er darin verwickelt war, bereitete dem Abt die größte Sorge.

»Der Kanzler hat recht«, sagte er, um ihnen Loyalität vorzuspielen. »Wir schulden König Henry Treue und Gehorsam. Er ist unser weltlicher und geistlicher Herrscher, unser König und der einzige Schutzherr und das Oberhaupt der Kirche und der Geistlichkeit von England.«

»Und Ihr seid der Führer der Partei der Äbte!« rief Aske ungläubig aus. »Seine Heiligkeit der Papst ...«

»... ist der Bischof von Rom«, unterbrach ihn der Abt, »und besitzt keine Hoheitsrechte mehr in diesem Königreich. Das habe ich beschworen. Der Prior und alle anderen Brüder hier haben es ebenfalls beschworen. Jedes Mitglied unseres Ordens und aller anderen Orden hat es beschworen.«

Der Prior bekundete seine Gewissensqual. »Nicht mit dem Herzen«, protestierte er. »Der äußere Mensch unterwarf sich, aber der innere Mensch stimmte nicht zu.«

»Ein unter Zwang geleisteter Eid ist nicht bindend«, meinte Aske.

»Wo war denn der Zwang?« fragte der Kanzler. »Der Lord Abt hat recht, mein Freund. Wenn Ihr meine Meinung nicht gelten lasst, dann achtet wenigstens seine.« Er lächelte sein schiefes Lächeln.

Der Abt neigte das Haupt, nicht so sehr, um für das Kompliment zu danken, als vielmehr, um sein Misstrauen zu verbergen. »Ein Eid, der vor Zeugen im Namen Gottes geleistet wurde, ist in der Tat bindend«, erklärte er. »Kein unausgesprochener Vorbehalt kann die Verpflichtung des gesprochenen Wortes lockern. Der Suprematseid wurde in gehöriger Form abgenommen. Diejenigen, die ihre Gewissen erforschten und glaubten, dass sie ihn nicht auf sich nehmen könnten, hätten ihn ablehnen und Prior Houghton zum Galgen folgen sollen.«

»Gott möge seine Seele in ewigem Frieden ruhen lassen.« Der Prior bekreuzigte sich und kniete zum Gebet nieder.

»Dazu sage ich amen«, fügte der junge Mann hinzu. Er beugte sich vor und richtete den Blick seines einen Auges anklagend auf den Abt. »Wenn Ihr nichts tut, Mylord, dann wird dieses Haus, das Ihr als Treuhänder für Gott verwaltet, zerstört werden. Dann wird ewiger Friede herrschen, wo wir jetzt sitzen. Croyland wird für immer aufgelöst werden von den Vertretern des Teufels hier auf Erden.«

»So mag es kommen«, sagte der Abt, »wenn das der Wille Gottes ist.«

Der Prior stöhnte, doch seine Worte erstickte sein Gelübde des Gehorsams gegenüber seinem Vorgesetzten. Die Abtei war seine Welt. Vor sechzig Jahren war er nach Croyland gekommen. Prior war er seit fast dreißig Jahren. Beim Tode des Abts Richard meinten viele, dass er sein Nachfolger werden solle. Es fiel ihm oft schwer, in der Wahl des jüngeren Paters John die Hand Gottes zu erblicken.

Im Moment fiel es ihm besonders schwer. »Quantum per Christi leges licet«, murmelte er für sich.

Soweit es die Gesetze Christi erlauben. Das war der Vorbehalt der Geistlichkeit bei der Annahme des Suprematseides, und es war ein ausgesprochener Vorbehalt, kein stiller.

Der Abt hörte ihn und spürte, wie sich die Kluft zwischen ihnen erweiterte. Der Prior führte ein echtes Mönchsleben. Er befolgte die Ordensregel mit Eifer und bestrafte jede Nachlässigkeit bei den Brüdern mit Strenge. Armut und Keuschheit fielen ihm leicht, aber der Abt wusste sehr wohl, welche Anstrengung es ihn oft kostete, die Pflicht des Gehorsams zu erfüllen.

Jeder von beiden war das irdische Kreuz des anderen. Während der Prior mit sich um völlige Unterwerfung unter den Abt rang, erschöpften seine weltlichen Missgriffe den Vorrat des Abts an Vergebung in gefährlichem Ausmaß. Die Fortdauer des Wohlergehens der Abtei hing vom Geschick des Abts in der Leitung und in der Diplomatie ab. Die Bewahrung des Geistes ihrer jahrhundertelangen Verehrung Gottes lag beim Prior. Der Abt herrschte, aber der Prior genoss den Vorrang in der Frömmigkeit.

Diese Meinung spürte der Abt nicht nur bei sich selbst und bei dem Prior, sondern auch allgemein unter den Brüdern. Es war schlimm genug, dass er sich in der Tiefe seines Gewissens nicht davon freimachen konnte. Aber das Stöhnen und Murren des Priors drückte den Mangel an Vertrauen auch anderer aus. Wenn es zum Schlimmsten käme, würde der Prior von Croyland seinen Leib bereitwillig der Folter preisgeben und die Schmerzen erleiden, die nur der Glaube ertragbar machen konnte. Um die Abtei zu retten, würde er sich mit Freuden auf einen Karren binden und zum Galgen schleppen lassen. Doch trotz seiner anerkannten Führerstelle in der kirchlichen Opposition gegen den Willen des Königs – würde das der Abt auch tun?

Es gab viel zu retten. Wieder kehrten seine Gedanken zu der Gemeinschaft zurück, die er liebte und der er vorstand. Croyland hatte seit der Zeit des heiligen Guthlac einen langen Weg zurückgelegt. Es hatte eine Plünderung durch die Dänen, zwei Großbrände und ein Erdbeben überstanden. Durch den Segen Gottes und die Geschenke der Gläubigen war es viermal neu erstanden.

Nicht nur neu erstanden, sondern zu Wohlstand gelangt. Den Brüdern auf dieser sumpfigen kleinen Insel, in diesem verachteten, aber fruchtbaren »cru Land«, gehörte inzwischen nicht nur alles, was man von hier sehen konnte – und in diesem flachen Marschland konnte man weit sehen –, sondern noch viel mehr. Von all den reichen Klöstern in England war nur eine Handvoll noch reicher. Westminster und St. Albans wahrscheinlich. Möglicherweise St. Edmund’s Bury und die Priorei Canterbury. Eventuell Glastonbury im Westen. Das war die Kategorie, in die Croyland gehörte.

In der umgebenden Landschaft herrschte der Abt wie ein weltlicher hoher Feudalherr. Ihm gehörten mehr als fünfzig Güter in fünf Grafschaften: in Lincoln, Northampton, Cambridge, Huntingdon und selbst im entfernten Leicester. Dort galten seine Anordnungen, nicht die des Königs; seine Autorität wurde von niemandem bestritten. Ganze Wochen hintereinander war er unterwegs auf feierlichem Umritt und sprach Recht auf seinen Besitzungen. Andere Äbte beauftragten ihre Kämmerer damit, aber nicht Abt John. Manchmal reiste er zu Pferde, aber noch öfter mit dem Boot auf den verschlungenen Wasserwegen seines Königreichs. Jeden Abend war eines seiner Gutshäuser zu seinem Empfang bereit. Jeden Morgen wurden Gutsverwalter zur Rechenschaftslegung befohlen, damit er sich davon überzeugen konnte, dass die Abtei nicht durch faule Pächter oder ungetreue Diener um die ihr zustehenden Einkünfte betrogen wurde. Er entschied Streitfälle. Er bestrafte. Er belohnte. Er vertrat Gott.

Auch in den Angelegenheiten des Landes spielte der Abt eine führende Rolle. Er stand im Bischofsrang und nahm wie die Bischöfe einen Platz unter den geistlichen Lords des Königreichs ein. Wenn der König ein Parlament einberief und seine hervorragendsten Untertanen zur Beratung kommen ließ, war der Abt von Croyland stets darunter. Er verließ dann sein Gebiet und ritt fort zu größerer Verantwortung und gefährlicheren Verhandlungen. In London lernte er, wie man sich in der Welt bei Hofe verhielt, wie man sich anpasste, wie man manövrierte und manipulierte, wie man schmeichelte und intrigierte. Nur so konnte er in den endlosen Gerichtsprozessen mit den benachbarten Machthabern günstige Urteile erreichen und Übergriffe auf seinen Besitz und seine Rechte verhindern.

Nach zwei Dutzend Jahren an Erfahrungen in solchen Ränkespielen wusste der Abt sehr wohl, dass die Sicherheit und die Wohlfahrt seines Hauses auf ihm und auf ihm allein beruhten. Der Prior in seiner Zurückgezogenheit kannte sich nur in den Formen des Gottesdienstes und des Gebets aus. Hatte es dem Londoner Kartäuserkloster etwas genützt, dass sich Prior Houghton den Bauch aufschlitzen ließ? Weit gefehlt. Für Croyland wäre es besser, wenn die Eingeweide seines Abtes dort blieben, wo sie hingehörten.

Er blickte auf zu der kleinen Tür, die zu seiner persönlichen Kapelle führte. Darüber ruhte auf einem Bord der Schädel eines seiner Vorgänger. Es war eine echtere Reliquie als das Schwert des heiligen Guthlac und erinnerte die nachfolgenden Äbte daran, dass sie ihre Pflicht auch bis in den Tod hinein zu erfüllen hätten.

Abt Theodore hatte der Gemeinschaft vorgestanden, als die Dänen plündernd und mordend nach Croyland kamen. Die kostbarsten Reliquien wie der Leichnam des heiligen Guthlac und seine Geißel und sein Psalter waren in ein Boot geladen und von den jüngeren Mönchen in ein Versteck gebracht worden. Die goldenen Kollektenteller, Kelche und Patenen, sogar der Altaraufsatz wurden in den Brunnen geworfen. Alle flohen bis auf Theodore und ein oder zwei ältere Brüder. Sie übten ihr heiliges Amt zu den vorgeschriebenen Stunden aus, hielten die Messe ab und sangen standhaft die Psalmen, bis die Heiden einbrachen.

Der Anführer dieser wilden Feinde Gottes hatte Abt Theodore erstochen, während er am Altar kniete und für ihre Seelen betete. Das war vor siebenhundert Jahren, aber von seinem Platz aus konnte Abt John den Spalt sehen, den der Dolchstoß am Hinterkopf hinterlassen hatte.

Wenigstens war es ein gnädigeres Ende gewesen als eine Bauchaufschlitzung bei lebendigem Leibe.

4

Das Poltern eines umgeworfenen Stuhls unterbrach seine Gedankengänge. Es war Aske, der in fieberhafter Empörung aufsprang und ihm eine Rede hielt.

»Der König hat mit dem Papst gebrochen, weil er seine rechtmäßige Gemahlin loswerden und seine Hure heiraten wollte. Seine Heiligkeit untersagte ihm das, und deshalb hat der König – der nicht einmal dem geistlichen Stande angehört – sich zum Oberhaupt der Kirche erklärt. Wie könnt Ihr, ein Abt, behaupten, dass Ihr diesen Wahnwitz als eine legale, gottgefällige Tatsache anerkennt, als einen Glaubensartikel, den alle Menschen beschwören müssen?«

»Darf ich Euch daran erinnern«, erwiderte der Abt, »dass der König vor zwei Jahren die Synode von Canterbury befragte, ob in diesem Königreich England dem Bischof von Rom von Gott in der heiligen Schrift größere Herrschaftsrechte verliehen seien als irgendeinem anderen ausländischen Bischof. Die Antwort lautete nein, bei nicht mehr als vier Gegenstimmen. Dieselbe Frage wurde der Synode von York gestellt, und sie gab die gleiche Antwort, ohne Gegenstimme.«

»Euer Bruder in Christus, der Lord Bischof von Rochester, stimmte dagegen. Als wahrer Christ verweigerte er den Eid und starb dafür.«

»Er wird zu den Heiligen gezählt werden«, murmelte der Prior.

»Ihm wurde der Kopf abgeschlagen, bevor er den Kardinalshut tragen konnte, den ihm der Papst sandte. Ein Mann von vierundsiebzig Jahren, dem Dienste Gottes und des Staates ergeben. Ich frage mich, warum die schwachmütigen Brüder unter den Prälaten sich nicht niederlegen und vor Scham sterben, weil sie seinem Beispiel nicht folgen.«

Ein Instinkt aus den lange vergangenen Knabenjahren des Abts trieb ihn, das Schwert von der Wand zu reißen und es diesem einäugigen Klugscheißer durch die Rippen zu jagen, doch er bezwang sich. Wie kam Aske dazu, Höherstehende über Gewissensdinge zu belehren? Der dritte Sohn eines unbedeutenden Landadligen in Yorkshire, so hatte man dem Abt berichtet, mit einer kleinen Praxis im Gray’s Inn und einem kleinen Landgut in Hampshire, und das war ihm zu Kopf gestiegen. Ein Mann in den Dreißigern, zu jung für Weisheit, aber alt genug, um sich Manieren und Vorsicht anzueignen.

»Eure Furchtsamkeit, Mylord Abt, passt nicht zu Eurem hohen Amt.«

Der Mann verhöhnte ihn, versuchte ihn durch Unverschämtheit dahin zu bringen, dass er handelte oder seine Fassung und seine Selbstachtung verlor. Das hässliche Gesicht des Kanzlers strahlte vor unverhohlener Schadenfreude. Der Prior protestierte gegen die beleidigenden Worte, aber in seinem Herzen stimmte er ihnen zu. Das war also der Lohn dafür, dachte der Abt bitter, dass er das Amt des Sprechers der Kirche übernommen hatte, als selbst seine Amtsbrüder von Westminster und St. Alban’s davor zurückscheuten.

Er saß unbeeindruckt da, ein erfahrener Kämpe auf dem Feld der Verheimlichung. Seinen Zorn besänftigte er dadurch, dass er sich das sündige Vergnügen gestattete, sich den jungen Mann sterbend am Boden liegend vorzustellen, wie sein Herzblut die Binsen färbte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Emotionen. Abt Theodores Abtei hatte aus Flechtwerk und Schilfrohr bestanden; ihr Wiederaufbau war in einer Zeit des aufstrebenden Glaubens ohne Schwierigkeiten vollzogen worden. Seine eigenen Gebäude waren aus Stein, und er lebte in einer Zeit, in der der Glaube zurückwich mit der Schnelligkeit der Ebbe im Wash. Eine Katastrophe in der Gegenwart konnte das endgültige Ende der Gemeinschaft bedeuten.

Er sah die Anlage vor sich, wie sie sich ähnlich einer alten Stadt um ihn erstreckte. Die Kreuzgänge, das Stiftshaus, das Refektorium, die Schlafräume, der Krankensaal, seine eigenen Wohnräume – das alles bildete nur den Kern einer Gemeinschaft von Hunderten, die irgendwie beschäftigt waren oder versorgt wurden oder wie Blutegel innen an den langen Mauern und dem großen Torgebäude der Brüder hingen.

Ganz im Zentrum, alles überragend, stand die Abteikirche. In diesem kahlen, flachen Land wurde das Wunder ihres himmelhohen Turmes meilenweit in der Runde bestaunt. Zwei niedrigere Türme flankierten den Westgiebel und ließen das Dorf vor den Toren winzig erscheinen. Im Inneren wies die Kirche drei Schiffe auf, wobei noch die Seitenschiffe für eine gewöhnliche Kirche breit genug gewesen wären. Eins davon stand den Dorfbewohnern als Pfarrkirche zur Verfügung; der Abt konnte es ohne Bedenken entbehren. Er hätte zwei weitere Kirchen aus den Querschiffen machen können und trotzdem noch genug Raum für eine Kathedrale gehabt. Der Chor, der den Brüdern vorbehalten war, erstreckte sich über eine Länge von vollen neunzig Fuß, und wenn die ganze Einwohnerschaft von Lincolnshire zum Gottesdienst gekommen wäre, hätte sie noch genügend Raum zum Stehen und Knien in dem riesigen Hauptschiff gehabt.

Aber nichts auf Erden war unzerstörbar. Ein falscher Zug eines einzigen Mannes, und alles konnte zusammenstürzen wie ein auf Sand gebautes Haus. Zuviel Furchtsamkeit oder zuviel Kühnheit, und das Unheil konnte hereinbrechen. Es würde über die Gemeinschaft kommen und über das Land ringsum. Der Lebensunterhalt jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes in Sichtweite des Turms hing vom Kloster ab. Arbeit für die Gesunden, Almosen für die Armen, Pflege der Kranken – alles das bot die Abtei, und nur die Abtei. Im Schutze von Croyland fanden selbst die Leprakranken eine Heimstätte. In einer Gruppe wackliger Hütten am anderen Ufer des Flusses erhielten die armen, hautfleckigen, aus der Welt Ausgestoßenen Nahrung und Unterkunft gemäß den Vorschriften des heiligen Benedikt.

Der Abt erlaubte sich noch einen leisen Seufzer. Es lag in seiner Verantwortung, all dies und all diese Menschen zu schützen. Besaß er die Stärke des Verstandes und des Glaubens, um seine Gegner zu überwinden?

Die beiden, die ihm gegenübersaßen, waren nur Marionetten, Vorboten der Bedrohung, mehr nicht. Der Kanzler war das Geschöpf des Bischofs, und der Bischof war wie Thomas Cromwell das Geschöpf des Königs. Dass Cromwell hinter diesem Besuch steckte, daran zweifelte der Abt kaum. Master Aske ließ man so viel Leine, dass er sich in der Schlinge selbst aufhängen konnte und den Abt dazu.

War der König ein Mitwisser dieses Plans? Das war die Frage. Am Hofe hielt sich der Abt so weit wie möglich im Hintergrund, aber er kannte den König – kannte ihn seit der Zeit, als er vor mehr als einem Vierteljahrhundert die Krone erbte. Im stillen nannte er ihn Ichabod, denn der Ruhm war von ihm gewichen. Der hochgewachsene hübsche junge Mann, der sich in Gelehrsamkeit, im Sport und in der Geselligkeit auszeichnete, war verschwunden, und an seine Stelle war ein dicker, verschlagener Schurke getreten. Der Abt hatte den Weg der Disziplin für Körper und Willen gewählt. Der König hatte den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, hatte das Fleisch gewählt und alle Formen der Genusssucht. Jetzt war er auch des Zügels von Wolseys leitender Hand ledig, und sein Eigensinn ging mit ihm durch.

Manche meinten, der König stecke hinter jeder Maßnahme, die Cromwell ergriff. Andere glaubten, der Lordsiegelbewahrer habe freie Hand, und der König werde ihn enthaupten lassen, sobald er sich übernähme. Kleinere Klöster abzuschaffen war eine Sache: Wolsey hatte selbst ein paar geschlossen. Aber gegen solche wie Croyland und Walsingham vorzugehen – das würde wohl eher die Abschaffung von Thomas Cromwell bedeuten.

Der Abt neigte zu der ersteren, düsteren Auffassung. Wenn Kanzler Rayne einen Vorwand fände, mit einer Geschichte von Hochverrat nach Lincoln oder London zurückzureiten, dann wäre es aus mit Croyland. Würde er selbst feierlich gehängt, aufgeschlitzt und gevierteilt, dann wäre der Weg frei für die Einsetzung eines vom König ausgewählten Abts. Sobald ihm die Brüder Gehorsam geschworen hätten – und eine andere Wahl bliebe ihnen nicht –, könnte das Eigentum der Abtei widerstandslos der Krone übertragen und all ihre Geheimnisse offengelegt werden.

»Setzt Euch, Master Aske«, sagte er mit einer Stimme, die er sonst nur bei rückfälligen Gliedern seiner Gemeinde anwandte, »oder Ihr lasst mich vergessen, dass die Gastfreundschaft zu unseren Ordensregeln zählt. Und Ihr, Herr Kanzler, was habt Ihr dazu zu sagen? Ihr befindet Euch in seltsamer Gesellschaft für einen getreuen Untertanen. Master Aske stellte Euch frei zu gehen, wenn Ihr anderer Meinung seid als er.«

»Ich übernehme keine Verantwortung für seine Worte.« Der Kanzler starrte sie beide abwechselnd an, als registriere er sie als Zeugen.

»Das verlange ich auch gar nicht«, sagte Aske, »und ich setze mich, wenn ich eine Antwort erhalten habe. Schon jetzt, während ich spreche, wird Kirchenschändung begangen. Was Gott gehört, wird im Namen des Königs beschlagnahmt. Was will der Lord Abt dagegen unternehmen? In seinem bequemen Sessel vor seinem warmen Herd sitzen und sagen: Sei es so, es ist Gottes Wille?«

»Jetzt zitiert Ihr mich falsch. Ich habe gesagt, wenn es Gottes Wille ist.«

»Wie kann es das sein? Wie kann der Diebstahl von Kircheneigentum der Wille Gottes sein? Wie kann die Abschaffung von Gemeinschaften, die sich Seinem Lobe und Seiner Verehrung widmen, im Sinne Seines Willens sein? Gebt mir darauf Antwort, Mylord. Habt Ihr Angst, die Sache Gottes zu verfechten? Wollt Ihr in den Ruinen Eurer Abtei überleben?«

»Gottes Wege sind höher als die menschliche Vernunft«, erwiderte der Abt scharf, durch den Vorwurf gereizt, »aber ich wage zu glauben, dass Er, wollte Er mir Seinen Willen übermitteln, nicht Euch als Seinen Boten benutzen würde.«

»Zumindest vertrete ich hier Männer, die bereit sind, für ihren Glauben zu sterben. Dort, wo ich herkomme, sind Engländer gewillt, sich gegen den königlichen Antichrist zu erheben. In Yorkshire und in Durham und in Cumberland gibt es noch Männer, die ihre Kirche lieben. Hier in Lincolnshire auch. Männer, denen sie so viel bedeutet, dass sie ihr Leben für sie geben. Mutige Männer. Es sind auch Äbte darunter.«

»Wozu braucht Ihr dann mich?«

»Uns fehlt ein Führer.«

»Hier werdet Ihr keinen finden.« Der Abt sprach mit Schärfe.

»Mylord, wenn ich etwas dazu sagen darf. Bruder Thomas ...« Der Prior begann zögernd und verstummte, als sich sein Oberhaupt zu ihm umwandte und sich die Stirn des Abts vor Zorn runzelte.

Innerlich verwünschte der Abt den Prior als einen wirrköpfigen Trottel. Die Einfalt und der Eifer des alten Mannes konnten die ganze Abtei schon in Gefahr gebracht haben. Was Bruder Thomas anging, so enthielt sich der Abt nur so lange des Urteils, bis der ganze Umfang seines Vergehens ans Licht kam. In seinem Fall konnte man keine Wirrköpfigkeit als Entschuldigung anführen.

Da der Prior es nicht wagte, weiterzusprechen, nahm Aske wieder das Wort.

»Vom Kanzler habe ich erfahren, dass Ihr die Möglichkeit habt, einen Führer für uns zu finden. Wir wollen einen echten Thronanwärter. Wir brauchen ein Mitglied des Königshauses von York, dessen Könige geliebt und geehrt wurden. Der Untergang ihrer Herrschaft wird im Norden immer noch bedauert. In Yorkshire gärt es jetzt. Die Leute des Erzbischofs, bei denen ich mich erkundigte, schickten mich nach Lincoln zum Bischof, und dessen Kanzler hat mich hierher gebracht, wie Ihr seht. Wenn wir jemanden finden, den die Menschen akzeptieren, kann die Kirche gerettet werden. Eure Kirche und meine.«

»Dann hat also Euer Unternehmen den Segen der Bischöfe? Ihre Gnaden von York und Lincoln ersuchen mich, Euch zu unterstützen?«

Es war der Kanzler, der darauf antwortete, wie es der Abt auch gewollt hatte.

»Der Erzbischof selbst weiß nichts davon. Der Bischof hat Master Aske eine Unterredung gewährt und mir befohlen, ihn in Anbetracht der Wichtigkeit der Angelegenheit hierher zu begleiten. Aber lediglich als Beobachter. Master Aske hat keine Vollmacht, in seinem Namen zu sprechen. Das muss in aller Deutlichkeit klargestellt werden.«

Der Abt dankte ihm. »Unter diesen Umständen bleibt mir keine Wahl, als jeder Untersuchung meine Erlaubnis zu verweigern und Euren Begleiter zu bitten, mein Haus und mein Gebiet zu verlassen. Ihr werdet uns sicherlich die Ehre erweisen, noch einige Tage unser Gast zu sein.«

Er beobachtete die Enttäuschung auf allen Gesichtern. Seine Verachtung für den Kanzler war noch gestiegen. Sein Zorn auf den Prior hatte nicht nachgelassen. Aber trotz des Ausweisungsbefehls verwandelte sich sein Gefühl Master Aske gegenüber bereits in widerwillige Bewunderung.

»Ich hoffe doch, dass Eure Weigerung nicht endgültig ist«, bat der Kanzler. »Vielleicht habe ich die Meinung des Bischofs nicht richtig wiedergegeben. Er kann zwar nicht umhin, Master Askes Ansichten zu bedauern, aber er ist an der Untersuchung interessiert. Er hat sie tatsächlich selbst vorgeschlagen. Die Archive von Croyland haben lange genug im Verborgenen gelegen. Während meiner Visitation habt Ihr sie mir unrechtmäßig vorenthalten. Master Bedyll war mit der Vollmacht des Königs ausgestattet, aber er hat von einem ähnlichen Verschweigen und Ungehorsam berichtet. In Lincoln besitzen wir auch Urkunden, und nach ihnen können wir vermuten, was uns Eure Geheimnistuerei bestätigt: Dass Eure Urkunden Informationen enthalten, die das Wohlergehen ganz Englands berühren. Ich bin hier als Generalvikar der Diözese, um Euch zur Zusammenarbeit mit dem Bischof aufzufordern.«

»Es würde mich sehr freuen, wenn ich Euch helfen könnte«, sagte der Abt, »und natürlich noch mehr dem Bischof. Das lässt die Angelegenheit in einem anderen Licht erscheinen. Aber ich fürchte ...«

»Mylord ...« Das war wieder der Prior, der sich mit zitternder Stimme einschaltete.

»Euer Prior versucht Euch mitzuteilen«, sagte Aske, »dass er als Euer Stellvertreter Eure Zustimmung vorausgesetzt und die Untersuchung bereits eingeleitet hat. Eure Weigerung kommt zu spät.«

»Stimmt das?« Der Abt sprach wie Jehova persönlich.

Der Prior neigte den Kopf. »Bruder Thomas ist schon bei der Arbeit«, gestand er.

5

Prior und Kanzler. Die beiden alten Männer bildeten ein sehr ungleiches Paar, aber der Abt verwünschte sie gleichermaßen. Einfalt und Verschlagenheit. Frömmigkeit und teuflische Ränke. Der eine bleich von einem Leben des Gottesdienstes in steinkalter Kirche und Mönchszelle, der andere rüstig von Jahren im Sattel auf seinen Umritten im Bistum. Aske schätzte er jetzt ohne Groll anders ein – als einen Mann, der nach seinem eigenen Wert zu beachten war, nicht nur als zufälliger Vorwand für den Besuch des Kanzlers, wie es ihm anfangs geschienen hatte.

Der junge Mann hatte deutlich gemacht, dass er wusste, dass nicht alle Bischöfe Gottesmänner wie einst John Fisher waren. Also war ihm sicher auch bekannt, wie es um John Longland bestellt war, den gegenwärtigen Inhaber des Bistums Lincoln. Ein Bischofsamt war eine Belohnung für der Krone geleistete Dienste; ein reiches Bistum die Belohnung für hervorragende Dienste. Bischof Longland hatte sich die Pfründe Lincoln so verdient, wie er sich zuvor die einträgliche Dekansstelle in Salisbury verdient hatte. Er war der persönliche Beichtvater des Königs gewesen, der Hüter des königlichen Gewissens: eine anspruchsvolle Aufgabe. Er war es auch, der das Scheidungsverfahren eingeleitet hatte, das zum Bruch zwischen England und Rom geführt hatte.

Der Prior mochte sich darauf berufen, dass ihm solche Überlegungen fernlagen, aber Aske musste genau wissen, wie weit er dem Generalvikar Bischof Longlands vertrauen konnte, wenn es darum ging, einen neuen König für England zu finden. Er war ein Rechtsanwalt aus London und nicht der offenherzige Einfaltspinsel von weither, als der er sich ausgab. Seine Tollkühnheit musste einer durchdachten Politik entspringen. Also war er ein Mann von wirklichem Mut. Der Abt hob den Blick und begegnete der Feindseligkeit dieses einen brennenden Auges.

»Es wäre das beste, wenn ich nach Lincoln ginge«, sagte er, »und selbst mit dem Bischof spräche.«

Er hatte nicht die Absicht, das zu tun. Ihre seltenen Begegnungen waren beiden eine Last. Wenn die Äbte von Croyland jemandem Gehorsam schuldeten, dann dem Provinzial ihres Ordens. Seit Jahrhunderten hatten sie Wert darauf gelegt, die geistliche Oberhoheit Lincolns nicht anzuerkennen. Die Bischöfe ihrerseits verübelten den Äbten ihre extraterritorialen Rechte und ihre Gleichrangigkeit als Mitglieder des Oberhauses. Es war ein halbes Jahrhundert vergangen, seit ein Abt Lincoln besuchte oder der Bischof von Lincoln nach Croyland kam.

»Das wird nicht nötig sein, Mylord.« Als selbstbezeugter Bevollmächtigter sträubte sich der Kanzler gegen diesen Vorschlag.

»Was der Prior auch in meiner Abwesenheit veranlasst haben mag, ich denke nicht daran, meine Entscheidung zu ändern und die Abtei auf einen so heiklen Kurs festzulegen ohne die persönliche und unzweideutige Aufforderung durch den Bischof.«

»Der Bischof hält sich gegenwärtig nicht in Lincoln auf und hat diese Sache mir überlassen.«

Der Kanzler legte einen Brief auf den Tisch, und der Prior brachte ihn dem Abt.

Er war in richtiger Form unterschrieben und gesiegelt. Erst als er das geprüft hatte, las der Abt den Inhalt. Der Bischof sandte seinem Bruder in Gott seine Grüße in Liebe und Freundschaft. Die vorgeschlagene Untersuchung hatte seinen Segen. Sein Bruder in Gott könne versichert sein, dass es in dieser wie in allen anderen Angelegenheiten die eigenen Worte des Bischofs wären, die von den Lippen seines vertrauten und sehr geliebten Kanzlers kämen.

Der Abt überflog die vollmundige Lobrede auf den Vizeregenten des Bischofs und hatte keinen Zweifel mehr, wer diesen Brief entworfen hatte. Er legte ihn sorgfältig zur Seite. Wenigstens bot er ihm einen gewissen Schutz gegen die Anschuldigung des Hochverrats.

Sein restlicher Schutz musste darin bestehen, dass er jedes Gespräch unter vier Augen mit dem Kanzler vermied, der in Croyland weder Vertrauen genoss noch sehr geliebt wurde. Was von diesen dicken Lippen kam, mochte durchaus nicht immer die Wahrheit sein. Deren Aussage konnte nur widerlegt werden, wenn er sie niemals ohne Zeugen in Hörweite ließ. Jetzt öffneten sie sich wie die Bügel einer Falle.

»Es ist viele Jahre her, seit wir das Vergnügen hatten, Euch in Lincoln zu sehen, Mylord Abt. Seit den Tagen von Bischof Russell, wie ich glaube, wart Ihr nicht mehr dort.«

»Das stimmt.«

»Bischof Russell, Master Aske, besuchte diese Abtei in seinen letzten Jahren. Er war der Pate des Lord Abts, wenn ich mich nicht irre.«