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Den jungen Pariser Polizeikommissar Robert Depardieu erwartet nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub eine höchst undankbare Aufgabe: Er wird von seinem Chef Bertrand mit den Ermittlungen im rätselhaften Mordfall Deslaumes beauftragt.
Der bekannte Schriftsteller Edouard Deslaumes ist erschossen in seiner Wohnung aufgefunden worden. Zur gleichen Zeit erscheint bei der Polizei die exotische Freundin des Ermordeten, Djenane Farideh. Sie erklärt, bei ihr sei eingebrochen worden. Gestohlen wurde das intime Tagebuch von Edouard Deslaumes, das bei ihr hinterlegt war. Und dieses Tagebuch enthält hochbrisantes Material über eine Reihe bekannter Persönlichkeiten...
Julien Clay (* 1921; † 1986) war ein französischer Kriminal-Schriftsteller.
Der Roman Das Geheimnis des Tagebuchs erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.
Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
JULIEN CLAY
Das Geheimnis
des Tagebuchs
Roman
Die Mitternachtskrimis, Band 10
Der Romankiosk
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS GEHEIMNIS DES TAGEBUCHS
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Den jungen Pariser Polizeikommissar Robert Depardieu erwartet nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub eine höchst undankbare Aufgabe: Er wird von seinem Chef Bertrand mit den Ermittlungen im rätselhaften Mordfall Deslaumes beauftragt.
Der bekannte Schriftsteller Edouard Deslaumes ist erschossen in seiner Wohnung aufgefunden worden. Zur gleichen Zeit erscheint bei der Polizei die exotische Freundin des Ermordeten, Djenane Farideh. Sie erklärt, bei ihr sei eingebrochen worden. Gestohlen wurde das intime Tagebuch von Edouard Deslaumes, das bei ihr hinterlegt war. Und dieses Tagebuch enthält hochbrisantes Material über eine Reihe bekannter Persönlichkeiten...
Julien Clay (* 1921; † 1986) war ein französischer Kriminal-Schriftsteller.
Der Roman Das Geheimnis des Tagebuchs erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.
Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.
Es fällt einem immer schwer, nach dem Urlaub ins Büro zurückzukehren. Heute, am 1. September, ist mir diese Rückkehr besonders zuwider. Es regnet. Es ist beinahe kalt in Paris. Erst gestern habe ich die sonnigen Gefilde der Costa Brava verlassen. Wir, das heißt Catherine und ich, haben in Barcelona das Flugzeug bestiegen. Kaum hatte die Maschine die Pyrenäen hinter sich gelassen, da gerieten wir in dichte Wolkenfelder. Bis zur Landung in Orly kamen wir aus dieser Waschküche nicht wieder heraus. Die langgestreckten Gebäude des Flughafens, die im Regen schimmernden endlosen Betonpisten strahlten einen abstoßenden Reiz aus: So würde wohl unsere künftige Welt aussehen. Der Himmel lastete tief und schwer wie ein Deckel über der Stadt. Ein trübes Tageslicht lag über einer glanzlosen Landschaft, aus der nur das feuchte Grün der Wiesen hervorstach.
»Was für ein scheußliches Grün!«, hatte Catherine erklärt. »Ich habe jedenfalls das Grau der Olivenbäume auf rotem Erdboden lieber. Warum können wir nicht immer in Spanien leben?«
»Weil die Spanier ihre Polizeibeamten nicht aus Frankreich holen. Und das ist eben mein Beruf!«
Catherine hatte nur einen Seufzer ausgestoßen.
Ich seufze jetzt, in dem Augenblick, da ich den Innenhof des Polizeipräsidiums durchquere, jenes Gebäudes im Herzen von Paris unweit der Kathedrale Notre-Dame auf derselben Seine-Insel, dessen Adresse Quai des Orfevres Nr. 36 weltbekannt ist. Es ist ein wunderschöner, ringsum von Bogengängen umschlossener Hof, dessen Architektur die Züge klassizistischer Steifheit und der Strenge der napoleonischen Ära trägt. Mitten im Hof eine Holzbaracke von abscheulichen Ausmaßen, die irgendeine Abteilung der Kriminalpolizei auf genommen hat und seit Jahren einen Schandfleck darstellt. Der Himmel ist heute so verhangen wie gestern. Ich scheine mich immer noch nicht von dem jähen Wechsel erholt zu haben, der sich in zwei Flugstunden vollzog. Es ist mir, als käme ich aus einem langen Exil zurück. Ich gehe durch das Tor zur Treppe, die zu den Zimmern der Kriminalpolizei führt, und habe das komische Gefühl, mich in einer fremden Welt zu befinden.
Und dabei hat sich die Treppe mit ihren Absätzen und plötzlichen Kehren, ihren Holzstufen, über die unzählige Generationen von Polizeibeamten und Delinquenten gestiegen sind, und ihren unglaublich schmutzigen Wänden überhaupt nicht verändert. Ein wohlbekannter Geruch steigt mir in die Nase, der an eine Kaserne denken lässt, und doch anders ist. Er erinnert mit unangenehmer Vertrautheit daran, dass der Urlaub endgültig vorbei ist. Und da ist auch wieder das Stechen in den Wadenmuskeln, das mich immer befällt, wenn ich die steile Treppe zu schnell hinaufeile. Ich bin tatsächlich wieder in vertrauter Umgebung.
Es ist erst zehn Minuten vor neun. Die Gänge sind noch leer. Zwar kommt es vor, dass einige Leute von der Kripo die Nacht im Büro verbringen und arbeiten. Das ist eine von jedermann akzeptierte Dienstauffassung. Aber niemand kommt auf die Idee, zum morgendlichen Dienst überpünktlich einzutreffen. Ich wäre als erster im Büro gewesen, wenn Renaudot mir nicht zuvorgekommen wäre.
Ich freue mich ehrlich, seine schlottrige Gestalt, seinen zerknitterten Anzug, seine lange Nase und sein dümmliches Gesicht wiederzusehen, dessen Ausdruck von zwei lebhaften Augen Lügen gestraft wird.
»Mensch, wie gut du aussiehst!« empfängt er mich mit jenem leichten Stotterton, der so gut zu seinem harmlosen Aussehen passt und seine »Kunden« in Sicherheit wiegt. »Du hast bestimmt deine Opfer an der Costa Brava gefunden!«
»Ich habe mit Catherine Urlaub gemacht. Die genügt mir. Seit drei Monaten steht mein Entschluss fest. Wir müssten schon längst verheiratet sein. Aber ihre Mutter hat etwas gegen mich. Ich versuche ja, Catherine zu bewegen, auf ihre Zustimmung zu verzichten...«
»Da hast du recht. Aus dir würde nie ein zufriedener Junggeselle.«
»Wo gibt es die denn?«
»Nimm mich beispielsweise«, meint Renaudot bescheiden. »Amouren kenne ich schon lange nicht mehr. Ich habe meine liebgewordenen Gewohnheiten, die man mir nicht so leicht über den Haufen wirft. Ich habe meinen Tisch und mein Gedeck im Restaurant Chez la Mere Thérèse. Und spiele allabendlich, außer freitags, meine Partie Boule. Jeden Freitag gehe ich ins Kino auf dem Boul' Mich'. Ich suche die Buchhandlung Chaintreuil auf, wenn mein geistiger Hunger es verlangt. Sonntags führe ich Noemie aus, die Verkäuferin beim Bäcker in der Rue Saint-Andrédes-Arts. An diesem Tag mache ich ihr den Hof, und dafür lässt sie mich unter der Woche in ihr Kämmerlein; sie wohnt nämlich im gleichen Haus wie ich. Das ist praktisch. So bin ich der glücklichste Mann. Weil ich Lebensstil und Ordnung brauche!«
»Ich bewundere dich, mein Alter. Was gibt’s denn sonst noch Neues?«
»Wir arbeiten am Fall Deslaumes.«
»Am Fall Deslaumes?«
»Du weißt doch, der Schriftsteller, den man am letzten Donnerstagabend ermordet in seiner Wohnung gefunden hat. Die Zeitungen sind voll davon.«
»Ob du’s glaubst oder nicht, aber ich habe seit mindestens acht Tagen keine Zeitung mehr aufgeschlagen!«
»Das war ein Fehler. Du hättest schon einen Vorgeschmack von der Affäre bekommen. Umso mehr, als du unverzüglich die Ermittlungen übernehmen sollst. Anordnung vom Alten. Du kommst gerade rechtzeitig zurück: Mesnard, der mit dem Fall beauftragt war, hat gestern erfahren, dass seine Großmutter schwer erkrankt ist. Sie wohnt in Grenoble. Er ist Hals über Kopf abgereist.«
»Was die Affäre Deslaumes anbetrifft, okay! Aber einen Fall von Mesnard übernehmen... Ich kenne ihn. Er ist für die große Tradition. Man geht Schritt für Schritt vor, prüft alles nach und lässt sich Zeit, und währenddessen hat der Schuldige Gelegenheit, sich hieb- und stichfeste Alibis zu verschaffen oder eine Reise in die frische Luft der Kordilleren anzutreten. Das nenne ich einen schlechten Start für mich!« Das Telefon läutet. Ich nehme den Hörer ab. Unser Boss, Hauptkommissar Bertrand, ist am Apparat.
»Renaudot?«
»Nein, hier ist Depardieu. Guten Morgen, Chef!«
»Renaudot ist nicht da?«
»Doch, er steht neben mir.«
»Schicken Sie ihn zu mir herüber. Ich sehe Sie später, Depardieu. Hatten Sie einen schönen Urlaub?«
»Nicht schlecht, Chef. Aber Sie wissen, wie das ist. Ohne Kriminalermittlungen ist das Leben fad.«
»Sie werden bald dem Leben wieder Geschmack abgewinnen können, lieber Freund. Sie sind natürlich über den Fall Deslaumes auf dem laufenden?«
»Ja, Chef. In Spanien habe ich alle französischen Zeitungen gekauft, die ich kriegen konnte. Ich wollte doch wissen, was hier passierte.«
»Sehr gut, Depardieu. Man hat mir gerade gemeldet, dass eine unbekannte Dame mich zu sehen wünscht. Sie kommt im Zusammenhang mit dem erwähnten Fall. Ich habe keine Zeit, sie zu empfangen. Stellen Sie fest, was sie will.« Wenige Minuten später klopft es an meine Tür. Entschlossen und ohne jede Zaghaftigkeit. Ich öffne die Tür. Meine Besucherin ist von mittlerer Größe. Ein sehr eng anliegendes schwarzes Kleid bringt ihren Körper und einladend breite Hüften zur Geltung. Sie tritt sehr sicher auf und lächelt. »Monsieur Depardieu?«
Ihre Stimme ist klar und klangvoll. Man hört nur schwer den ausländischen Akzent heraus.
»Monsieur Depardieu, man hat mich angewiesen, mich in der Sache Deslaumes an Sie zu wenden.«
»Das ist richtig. Mit wem habe ich die Ehre?«
»Djenane Farideh. Sie wollen sicher meine Papiere sehen?« Ich nicke, ganz kurz nur, um ihr zu zeigen, dass ich wirklich ihre Papiere sehen möchte.
Sie sucht sie in einer riesengroßen schwarzen Lederhandtasche. Ihre geringen Bewegungen sind von katzenhafter Geschmeidigkeit. Eine hübsche, wollüstige Katze, denke ich bei mir. Vielleicht verdient sie mehr als diesen banalen Vergleich. Der ganze Charme des Orients liegt in ihren pechschwarzen Haaren, ihrer wohlgeformten Nase, ihrem orangefarbenen Teint, den mandelförmigen Augen und ihrem lebhaften und zugleich sehnsuchtsvollen Blick. Ihr Kleid stammt von einem guten Schneider. Die kurzen Ärmel lassen sehr füllige Unterarme frei, die jedoch bis auf einige Zentimeter weiße Haut von langen Handschuhen verhüllt werden. Ihr Parfüm passt ganz zu dem Eindruck ein wenig unklarer Vornehmheit, den ihre Person ausstrahlt. Ich frage mich nach ihrem Alter. Die faltenlose Haut ist die eines sehr jungen Mädchens. Aber da sind die Augen: zwei haselnussbraune Augen, aus denen die Erfahrung spricht!
Ihr Pass beendet mein Rätselraten. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, Türkin, geboren in Istanbul, von Beruf Studentin. »Bitte sprechen Sie!«
Sie zögert und sieht mich mit unentschlossener Miene an. Sie weiß, dessen bin ich sicher, worauf sie hinauswill, aber sie möchte sich alle Vorteile verschaffen und mir das bejammernswerte Bild eines kleinen entwaffneten und hilfsbedürftigen Wesens bieten. Mein Gesichtsausdruck zeigt Verständnis. Ein Kavalier muss in jedem Stück seine Rolle spielen können. Ein Kriminalbeamter noch mehr. Man muss die gut- und die böswilligen Zeugen ermutigen. Ein Anflug von Anteilnahme im Gesicht, und die ehrbaren Leute erzählen ihre kleine Geschichte bis ins kleinste Detail mit Hingabe. Die Ganoven hingegen verfangen sich, wenn man ein wenig Glück hat, in ihrem eigenen Lügengewebe. »Man muss« – so pflegte einer meiner ehemaligen Chefs zu sagen – »schreiben, schreiben und nochmals schreiben. Alles mitschreiben, was sie sagen. Seite um Seite füllen. Auf diese Weise habe ich die Mörder verwirrt!« Nichts ist besser, als bereitwillig alle Erklärungen zu Protokoll zu nehmen, um später Widersprüche festzustellen. Man redet immer zu viel. Der Kriminelle mehr als alle anderen. Selbst jener, der intelligent genug ist, um sich vor Unklarheiten zu hüten. Wahrscheinlich macht er doch einmal in einem einzigen Punkt Angaben, bei denen sich im Verlauf der Recherchen herausstellt, dass sie falsch waren. Dann stürzt das ganze mühsam errichtete Gebäude zusammen. In dem Augenblick, in dem er sich, durch die Leichtgläubigkeit des Kriminalbeamten in Sicherheit gewiegt, außer Gefahr glaubt, muss man die kleine Frage wie aus der Pistole geschossen anbringen, auf die es nur eine einzige Antwort gibt, die die Niederlage einleitet.
Soweit bin ich mit Djenane Farideh noch nicht.
»Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Madame. Ein Zeuge, der sich freiwillig meldet, ist immer willkommen. Können Sie mit Auskünften über den Tod von Monsieur Deslaumes dienen? Kannten Sie das Opfer?«
»Ob ich es kannte? Aus diesem Grunde bin ich ja hier, Monsieur! Ich war sehr – liiert mit Edouard Deslaumes. Wir sahen uns täglich. Und dann diese furchtbare Affäre. Ich kann nicht mehr schlafen!«
Man sieht es ihr nicht an. Ich würde ihr gern Komplimente über ihr gutes Aussehen machen.
»Wer konnte Edouard derart hassen, frage ich mich. Er war charmant und äußerst sensibel. Das verhinderte allerdings nicht, dass er Feinde hatte wie alle Menschen. Wegen seines ungeheuren Talents. Das ist etwas, was die anderen ihm nicht verzeihen können. Aber ihn deswegen umzubringen...«
Ich möchte gern den Faden der Unterhaltung wieder an mich bringen. Aber wie? Ich weiß noch kein Wort von der ganzen Angelegenheit. Ich entschließe mich, die Dinge zu beschleunigen. »Verzeihen Sie mir die Frage, aber warum sind Sie hierhergekommen?«
Schweigen. Sie blickt mich an, als wolle sie, bevor sie antwortet, meine Reaktion abwägen. Unsicherheit, Betteln um Hilfe, begeistertes Vertrauen – in diesem Blick liegt alles. Er sagt mir, dass sie nicht unempfindlich gegen männliche Bewunderung ist, er fragt mich, ob sie mir wohl gefällt. Mit einem Anflug von Traurigkeit, als ob sie bedauere, dass wir durch einen Schreibtisch getrennt sind, durch einen Mordfall, durch das Leben... Ich bleibe gleichgültig. Sie entschließt sich zu sprechen.
»Edouard ist Donnerstag gestorben. Wir haben heute Montag. Ich weiß, dass die Polizei immer Nachforschungen unter den Bekannten des Opfers anstellt. Zu mir sind Sie nicht gekommen. Daraus habe ich schließen müssen, dass Sie von meiner Existenz nichts wussten.« (Typisch Mesnard, sage ich mir. Drei Tage nach dem Mord hat er noch nicht die Geliebte des Ermordeten vernommen. Bei mir wird sich das ändern.) »Und ich habe mich gefragt, was ich tun sollte. Mit den Beziehungen zur Polizei ist das so eine Sache. Wenn ich mich nicht melde, würden Sie denken, ich hätte etwas zu verbergen. Im umgekehrten Fall könnte man vermuten, ich hätte Grund, mich über den Verlauf der Ermittlungen zu beunruhigen. Ich war ratlos und hätte bestimmt geschwiegen, wenn nicht gestern Abend eine neue Entwicklung eingetreten wäre.«
Sie wirft mir einen Blick zu, als ob sie prüfen wolle, ob ich genügend gespannt bin. Ich bleibe unbewegt. Sie fährt fort: »Ich muss Ihnen noch berichten, dass mir Edouard am gleichen Tag, an dem er abends umgebracht wurde, mehrere große Pakete brachte. Sie enthielten sein Tagebuch, das er seit über fünfzehn Jahren führte. Bitte heb’ es für mich auf, hat er mich gebeten. Es ist bei dir sicherer aufgehoben. Diese Bitte mag Sie überraschen. Edouard hatte einen Tresor in seiner Wohnung. Es wäre leichter für ihn gewesen, dort seine Aufzeichnungen zu verstecken. Aber seine Frau hatte ohne Zweifel einen zweiten Schlüssel. Sie wissen, welcher Art die Beziehungen zwischen Edouard und seiner Frau waren?«
»Wir sprechen noch darüber. Fahren Sie bitte fort.«
»Wie Sie wünschen. Ich habe also die Pakete in einen Schrank gestopft. Mir gefiel das gar nicht. Sie nahmen so viel Platz ein, dass ich wohl oder übel einen Teil meiner Wäsche in einer Kommode unterbringen musste. Heute früh bin ich um zwei Uhr heimgekehrt. Ich bewohne in der siebenten Etage des Hauses Rue Rousselot 32a ein kleines Appartement mit einer Terrasse. Eine bescheidene Wohnung. Aber ich beklage mich nicht: ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Bad – mehr brauche ich nicht. Ich betrete also das Wohnzimmer, finde es sehr frisch, schiebe die Vorhänge beiseite, um mich zu vergewissern, dass das Fenster gut verschlossen ist. Und was sehe ich?
Das Fenster steht auf, die Scheibe ist in Höhe des Fenstergriffs eingeschlagen worden. Bei mir sind Einbrecher gewesen. Sie hatten es leicht. Unser Haus hat ein Flachdach. Man kann vom Dach auf meine Terrasse springen. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt. Vielleicht war der Mann noch da? Beinahe wäre ich davongerannt, da erinnerte ich mich, dass ich in einer Schublade feinen Revolver besaß. Einen ganz kleinen mit Perlmuttergriff, ein entzückendes Ding. Mehr ein Juwel als eine Waffe. Ich habe ihn genommen und die Wohnung durchsucht. Glücklicherweise war der Vogel ausgeflogen. Er hatte keine Unordnung gemacht. Nur im Schlafzimmer hatte er Spuren hinterlassen: die Tür des Schranks war aufgebrochen worden und das Tagebuch Edouards verschwunden! Das bewegte mich dann, Sie aufzusuchen.«
»Warum haben Sie denn nicht noch in der Nacht die Polizei alarmiert?«
»Ich wurde mir sofort über einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und Edouards Tod klar. Der Einbruch konnte nicht ein x-beliebiges Polizeirevier interessieren, sondern Sie!«
»Und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, uns sofort zu benachrichtigen?«
»Ich war müde. Ich wollte nicht um drei Uhr in der Frühe Besucher haben. Daher bin ich heute Morgen als erstes hierhergekommen.«
»In Ihrer Wohnung haben Sie doch nichts angerührt?«
»Nur Dinge, die ich brauchte.«
»Den Schrank zum Beispiel, um etwas herauszunehmen?«
»Ich musste es.«
»Und die Fingerabdrücke? Haben Sie nicht an die Fingerabdrücke gedacht?
»Entschuldigen Sie: nein!«, sagt sie.
Sie richtet große furchtsame Augen auf mich, wie ein kleines Mädchen, das eine große Dummheit begangen hat und um Verzeihung heischt.
Ich schreibe schnell ihre Erklärungen auf der Schreibmaschine nieder, lasse sie die Aussage unterzeichnen und fordere telefonisch den Erkennungsdienst auf, sofort einige Leute in die Rue Rousselot zu entsenden.
»Ich begleite Sie«, gebe ich Djenane Farideh zu verstehen. Wir fahren langsam auf ihre Wohnung zu. Jetzt scheint sie müde zu sein. Sie krümmt sich neben mir auf dem Beifahrersitz zusammen, als fröre sie.
»Das ist eine außergewöhnliche Affäre«, sage ich. »Ein Unbekannter bricht in eine Wohnung ein, um sich das Tagebuch eines Bestsellerautors anzueignen. Warum?«
Sie zuckt ungewiss mit den Schultern.
»Wissen Sie nichts über dieses Tagebuch?«
»Ich habe es nicht gelesen.«
»Ich rate Ihnen, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen«, fahre ich in ernstem Ton fort. »Das Verschwinden des Tagebuchs allein ist schon eine böse Angelegenheit. Es war Ihnen anvertraut worden. Die Erben von Monsieur Deslaumes werden sicher Rechenschaft von Ihnen verlangen.«
»Ich bin auf Hypothesen angewiesen. Edouard war ein sehr verschlossener Mann. Er führte sein Tagebuch mit peinlicher Genauigkeit. Ich glaube nicht, dass er je etwas daraus einem Menschen anvertraut hat. Selbst mir hat er nie verraten, wie es angelegt war, ob es ein literarisches Tagebuch oder ein Journal intime war. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht. Ich bin sicher, dass ich in diesen Aufzeichnungen erwähnt bin. Die Vorstellung ist unerträglich, eines schönen Tages mein Privatleben vor der Öffentlichkeit ausgebreitet zu sehen. Edouard hat mir immer gesagt, ich solle deswegen keine Befürchtungen hegen. Er habe nicht die Absicht, seine Tagebücher zu veröffentlichen.«
Das Appartement von Mademoiselle Farideh hat das Adjektiv bescheiden bestimmt nicht verdient. Das Wohnzimmer ist groß und hell. Eine indirekte Beleuchtung lässt Stilmöbel der spanischen Renaissance gut zur Geltung kommen. Orientteppiche, ein riesiger Diwan, mehrere Sofas, bequeme Sessel, an den Wänden antike Spiegel – die ganze Einrichtung ist mit Geschmack zusammengestellt. Zwischen den Spiegeln allerdings reihen sich Bilder aneinander, moderne Gemälde, deren bunte Gegenstandslosigkeit einen seltsamen Kontrast bietet. »Sie haben eine schöne Sammlung«, sage ich mit dem Ton eines Connaisseurs.
»Sie gehören nicht mir. Für eine alleinstehende Frau ist das Leben in Paris schwer. Meine Eltern senden mir monatlich eine kleine Zuwendung. Aber sie genügt nicht. Deshalb versuche ich, ein wenig Geld dazuzuverdienen. Ich studiere an der dem Louvre angeschlossenen Kunstakademie und glaube, mich mit Bildern auszukennen. Ich habe zwei oder drei Kunsthändler unter meinen Freunden, die mir Bilder in Kommission geben. Hier kommen viele wichtige Leute zu Besuch: Edouard kannte Gott und die Welt in Paris, und ich hatte Gelegenheit, viele Bekanntschaften zu machen. Man kommt zu mir, trinkt einen Mokka, sieht sich die Bilder an, von denen ab und zu eins gefällt. Ich verkaufe es und bekomme eine Vermittlungsgebühr. Davon lebe ich.«
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür am anderen Ende des Wohnzimmers und gibt den Blick auf eine junge, knapp zwanzigjährige Frau frei. Sie trägt als einziges Kleidungsstück einen seidenen Morgenrock, der vom weit offensteht. Sie schließt ihn, als sie mich sieht, mit einem irritierten, freundlichen Lächeln. Nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ich ihre festen jungen Brüste, kräftigen Schenkel und den flaumigen Schatten wahrnehme, der einen jeden Frauenkörper krönt.
Djenane Farideh hat die Augenbrauen gerunzelt.
»Halb elf. Und du bist noch nicht angezogen! Wann wirst du endlich gute Manieren annehmen?«
Die junge Frau zieht sich zurück, wobei sie Mühe hat, mit beiden Händen den leichten Stoff über ihre Rundungen zu ziehen.
»Sei mir nicht böse«, bittet sie. »Ich kann nur am Morgen richtig ruhen. Abends kann ich nicht schlafen. Das ist dir doch oft ganz lieb.« Bei diesen Worten schaut sie mich an. Djenane Farideh regt sich über eine solche Kleinigkeit nicht sonderlich auf.
»Ich habe dir schon... zigmal gesagt, dass ich dieses Sich- gehenlassen nicht mag. Du weißt genau, dass ich sehr böse werden kann, wenn man mir nicht gehorcht!«
Sie hat in sanftem, ein wenig singendem Ton gesprochen und schließt härter: »Zieh dich an! Sofort!«
Die andere lässt mich nicht aus den Augen. Sie wäre, so scheint es, ohne Überlegung bereit, ihren weiblichen Tyrannen gegen einen Tyrannen des anderen Geschlechts auszutauschen. Das ist ganz natürlich. Ich würde ihr gern Mut machen. Nichts geht über ein wenig Intimität, wenn man vertrauliche Informationen zu hören bekommen will. Die ihren würden bestimmt nicht ohne Wert für die Ermittlungen sein. Leider sind wir nicht allein. Sie entscheidet sich, dem Befehl ihrer Freundin Folge zu leisten, macht grazil auf hohen Hacken kehrt und entschwindet im Nebenzimmer.
»Gefällt sie Ihnen?«, fragt Djenane Farideh mit etwas rauer Stimme.
»Was wäre, wenn sie mir gefiele?«
»Nun, das würde beweisen, dass wir den gleichen Geschmack haben.«
»Ist das eine Freundin von Ihnen?«
»Sagen wir ein Schützling. Ich habe sie in Saint-Germaindes-Pres kennengelernt. Sie war dem Verhungern nahe. Sie ist seit drei Wochen in Paris. Vorher hatte sie ihrer Mutter geholfen, die ein Lebensmittelgeschäft in Gueret betreibt. Verkäuferin in Gueret, das muss so ziemlich das Letzte sein. Jedenfalls kam Juliette, die von einer Filmkarriere träumte, gegen den Willen ihrer Mutter hierher, um Karriere zu machen. Was sie fand, waren ein paar Abenteuer mit Männern. Sie war enttäuscht, magerte ab. Ich habe ihr zu essen gegeben. Den Erfolg haben Sie selber gesehen. Jetzt lebt sie bei mir, hilft im Haushalt und in der Küche. Sie leistet mir Gesellschaft. Man wird einmal des Alleinseins müde.«
»Wissen Sie, wo sie gestern Abend war?«
»Natürlich. Mit mir zusammen...«
»Sie selber haben mir übrigens noch nicht verraten, was Sie getan haben, bevor Sie nach Hause kamen.«
»Die Kleine und ich haben gegen neun Uhr bei Roger la Grenouille zu Abend gegessen. Das ist ein sehr amüsantes Lokal. Es war etwas los, sehr viel sogar. Wir konnten zwei Amerikaner, die neben uns saßen, nicht mehr loswerden. Zum Glück hatte der Patron eine Idee... Kennen Sie Roger?«
(Ja, ich kenne Roger la Grenouille. Sehr gut sogar.)
»Als wir aufbrachen, wollten die zwei Amis partout mit uns gehen. Roger hat sie noch im Hof erwischt. Er hat ihnen erzählt, er wolle sich mit ihnen zusammen von einem Reporter der New York Herald Tribune, der zufällig da sei, fotografieren lassen. Dieser Bitte konnten sie, eitel wie sie waren, nicht widerstehen und kehrten mit Roger um. Wir sind in Montparnasse tanzen gegangen, bei Pauline. Bis gegen zwei Uhr. Sie können das nachprüfen lassen: bei Roger und bei Pauline.«
»Ich ziehe Ihre Ausführungen nicht in Zweifel«, erkläre ich majestätisch. Natürlich werde ich mich vergewissern.
Ich werfe einen Blick auf das eingeschlagene Fenster. Die Scheibe ist auf der rechten Seite, ein wenig unterhalb des Griffs, eingedrückt. Weder neben dem Loch noch auf den anderen Scheiben ist ein Fingerabdruck festzustellen. Die Scherben liegen auf dem Fußboden verstreut.