Das Geheimnis meines Turbans - Nadia Ghulam - E-Book

Das Geheimnis meines Turbans E-Book

Nadia Ghulam

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Beschreibung

Als Junge verkleidet unter den Taliban

Unter dem dunklen Turban leitet ein Junge mit vom Bombenangriff vernarbten Gesicht das Morgengebet in der Moschee an. Jeder respektiert ihn und hört zu, obwohl seine Stimme schwach ist und sein Körper klein und zierlich. Er ist ein guter Moslem, aber was seine Freunde und Nachbarn nicht wissen: Unter dem Turban steckt gar kein Junge, sondern ein Mädchen, das bei jedem Kontakt mit den Taliban innerlich zittert vor Angst, ihr Geheimnis könnte entdeckt werden.

Das Buch erzählt die wahre Geschichte von Nadia Ghulam, einem Mädchen, das im Afghanistankrieg schwer verletzt wurde und sich schließlich unter den Taliban zehn Jahre lang als Junge ausgab, um arbeiten und die Familie ernähren zu können.

Ein beeindruckendes Plädoyer gegen die Unterdrückung von Frauen und Mädchen

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Seitenzahl: 359

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Nadia Ghulam · Agnès Rotger

Das Geheimnis

meines Turbans

Als Junge verkleidet unter den Taliban

Aus dem Spanischen von Silke Kleemann

(auf Grundlage der Übersetzung

aus dem Katalanischen von Montse Alberte)

Einige Namen von Personen und Organisationen in diesem Buch wurden aus Sicherheitsgründen geändert.

Die Übersetzung dieses Werks wurde gefördert durch Acción Cultural Española,

Die Übersetzerin dankt Ayeda Alavie für ihre Hilfe bei Ausdrücken aus dem Persischen und bei landeskundlichen Fragen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Juni 2021

© 2010 Nadia Ghulam und Agnès Rotger

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieser Titel wurde vermittelt durch die Agentur Sandra Bruna Agencia Literaria, S.L., über die Literarische Agentur SvH.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »El secret del meu turbant« bei Columna Edicions, S.A., Barcelona/»El secreto de mi turbante« bei Editorial Planeta

Aus dem Spanischen von Silke Kleemann

Lektorat: Andreas Rode, München

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg, nach einer Vorlage von Arte & Diseño

Umschlagmotiv: Alison Wright

kk · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26026-2V001

www.cbj-verlag.de

Für die mutigen Frauen in meiner Familie

AGNÈS

Für meine Mutter

NADIA

Meine Mutter schreit, während sie mit fliegenden Händen die Gips- und Zementbrocken wegräumt, die auf mich gestürzt sind. Voll Panik suchen ihre Augen nach einem Anzeichen von Leben in meinem achtjährigen Körper.

Gerade ist eine Bombe auf unser Haus gefallen. Und meine Mutter wirft sich auf mich, erstickt mit ihrem Körper die auf meinem Körper züngelnden Flammen, umarmt mich fest, um mir so wieder das Leben zu schenken. Sie achtet nicht darauf, dass sie sich selbst verbrennt, dass sie beleibt und wenig beweglich ist; sie achtet nicht auf den Rauch und die Trümmer, reißt mich in ihre Arme und innerhalb weniger Sekunden aus dem, was mein Grab hätte werden können. Erst als sie mich rausgezogen hat und sieht, dass ich noch atme, schwinden ihre Kräfte. Meine Mutter fängt unkontrolliert zu zittern an und wiederholt meinen Namen, immer und immer wieder, als könnte sie nie wieder damit aufhören: »Nadia, Nadia, Nadia, Nadia.«

Damals, in unserem Haus in Kabul, war das letzte Mal, dass meine Mutter mich bei meinem Namen nannte. Als wir wieder ein Haus besaßen, war ich der Mann der Familie.

Das verlorene Paradies

Ich duschte nicht gern, aber meine Mutter ließ sich auf keine Diskussionen ein: »Weißt du nicht, dass Mädchen, die sich nicht waschen, nachts von den Läusen geholt und in den Fluss geworfen werden?«

Die Geschichte mit den Läusen machte mir solche Angst, dass ich Tag für Tag nachgab. Ich folgte meiner Mutter ins Bad, ließ mich von ihr ausziehen und kniff die Augen fest zusammen, während sie mir Shampoo auf den Kopf spritzte und Wasser dazugab, damit viel Schaum entstand, den sie dann kräftig einmassierte. Nach dem Haarewaschen kam etwas noch Schlimmeres: das Kämmen. Ich habe schon immer stark gelocktes Haar gehabt – ein Paschtunen-Erbe von meinem Vater –, und wenn meine Mutter es mit dem Kamm zu entwirren versuchte, war das die reine Folter. Sie sang, um mich abzulenken, und zwischen meinem Wehgeschrei stimmte ich in den Refrain ein. Wir ergaben ein ziemlich komisches Duo.

Bei uns zu Hause gab es kein fließendes Wasser, doch dank unseres improvisierten, aber wirksamen Duschsystems mit heißem Wasser waren wir immer blitzsauber. Wenn ich mich mit einem großen Seufzer aus dem täglichen Reinigungsritual befreite, rannte ich in den Garten zu Zelmai, der mich zwischen Granatapfelbäumen und Pinien versteckt erwartete. Manchmal, wenn es warm war, spritzten wir uns gegenseitig mit Wasser aus dem Brunnen nass. Andere Male fingen wir Frösche und spielten, dass wir die armen Tiere impften. Der Garten war groß, voller Blumen, Pflanzen und Bäume, mit Schlupfwinkeln und Kleingetier, er war unser privates Universum. Nach drinnen ins Haus gingen wir nur, wenn wir mussten, wenn meine Mutter uns rief, weil der Gärtner, unser geliebter Onkel Ayub, schon das warme Brot fürs Frühstück gebracht hatte.

Wir Afghanen sind sehr stolz auf unser Brot, das naan, es ist flach, fluffig und aromatisch wie kein anderes. Zelmai riss es gern in Stücke und tauchte es in seine Tasse mit gezuckertem Tee, und ich machte ihm das immer nach. Zum Frühstück saßen wir neben meinem Vater auf dem Teppich und schauten uns dabei im Fernsehen Zeichentrickfilme an. Rund um uns herum werkelte unsere Mutter: Sie gab meinen beiden kleinen Schwestern Frühstück, bereitete unsere Schuluniformen vor, den Aktenkoffer meines Vaters, das Essen … Sie schwitzte.

»Sag mir, Zelmai jan, was ist die Quadratwurzel von neununddreißig?«

Zelmai jan (also »der liebe« Zelmai) setzte ein Pokerface auf und steckte sich schnell noch ein Stück Brot in den Mund, denn mit vollem Mund darf man ja nicht sprechen …

Mein Vater kontrollierte seinen Lernfortschritt streng, aber mein Bruder, der schlau wie ein Fuchs war, interessierte sich viel mehr für Bollywood-Filme als für Mathematik. Manchmal brachte er mir Tänze aus den Filmen bei, die freitagabends im Fernsehen liefen. Für sich wählte er immer die Rolle des starken und gut aussehenden indischen Prinzen und ich schaute ihm bewundernd zu. Wenn mein Vater uns dabei sah, wurde er sehr wütend auf Zelmai, statt so viel mit einem kleinen Mädchen zu spielen, solle er lieber lernen und arbeiten, sagte er. Dafür schicke er ihn schließlich in die Schule, und aus demselben Grund habe er mit seinem Freund und Geschäftspartner Korban vereinbart, dass er als Lehrling im Teppichladen arbeiten könne. Zelmai antwortete »Ja, aber natürlich, Papa jan«, aber wenn wir allein waren, erzählte er mir immer wieder, dass er absolut keine Lust darauf habe, in einem dunklen Loch wie dem Teppichladen zu versauern. Stets suchte er nach Entschuldigungen, um vorzeitig nach Hause zu kommen, wo er den Geschichten von Onkel Ayub zuhörte oder es sich vor dem Fernseher gemütlich machte.

Ich hingegen fand die Schule toll. Ich fand es toll, meinen Stift und meine Hefte zu haben, ich fand meine Pultnachbarin toll, die Nadia hieß wie ich und das Haar zu zwei Zöpfen gebunden trug. Und wir hörten beide gern zu, wie Fräulein Shikebah die Gedichte von alten persischen Dichtern vortrug, die wir nie wieder vergessen würden:

Ich habe eine Überraschung für dich,

der Frühling ist schon da,

in den Gärten blühen die Rosen,

das Wasser glitzert im Fluss

und die Vögel jubilieren ihr Lied.

Auf einmal unterbrach der Schlussgong den Zauber, und alle verabschiedeten sich respektvoll von der Lehrerin und stürmten nach Hause. Ich blieb im Schulhof und wartete auf Zelmai, weil die Größeren etwas später als wir aufhörten. Mit sechs Jahren war ich die Jüngste in der Schule.

In den ersten Schulwochen wusste ich nicht, was ich tun sollte, um die Zeit rumzubringen. Aber an diesem Tag hatte ich das Springseil mitgenommen, ich rollte es also aus und begann zu hüpfen, dabei zählte ich »Eins, zwei, drei … Eins, zwei …«. Ich konnte das noch nicht so gut und verhedderte mich sofort, und bald war ich richtig sauer und hatte keine Lust mehr. Mit einem Stein zeichnete ich Hüpfekästchen auf den Boden. Aber allein war das nach ein paar Runden langweilig.

An einem Ende des Schulhofs war der kleine Laden von Herrn Fakir. Der langweilte sich auch und vertrieb sich die Zeit damit, Musik im Radio zu hören und den Kindern zuzuschauen, die draußen im Freien Sport machten. Ich beobachtete ihn gern heimlich, denn ich fand ihn irgendwie spannend, mit seinem verrutschten Turban und dem merkwürdigen Lächeln, ich achtete aber immer darauf, dass er das nicht mitbekam.

So ein Pech: »Was? Du willst heute nichts bei mir kaufen?« Herr Fakir lachte und zeigte mir seine Zähne, die mir ein bisschen Angst machten, die Eckzähne spitz wie bei einem Vampir.

»Ich weiß nicht … was gibt es heute, Onkel Fakir?«, fragte ich, obwohl er immer das Gleiche hatte: Trockenfrüchte, frisches Obst, Schokoladenriegel.

Ich nannte ihn »Onkel«, denn so werden in Afghanistan alle erwachsenen Männer genannt.

»Für dich hab ich gesalzene Pistazien. Und schau mal, die Kirschen hier, was hältst du davon?«

Die Pistazien waren schon genug, um den schlimmsten Hunger zu stillen, aber die Kirschen schienen nach mir zu rufen, sauber, dunkel und glänzend, in kleinen Plastikbeutelchen … Mein Vater gab uns jeden Tag zehn Afghani, und normalerweise wollte ich die sparen, um meinem Bruder einen Drachen zu kaufen, aber Langeweile und Hunger wogen schwerer, ich kaufte also beides und aß davon, während ich weiter wartete.

Später kamen Kholedah, die Tochter einer Lehrerin, und Shakra zu mir. Sie waren älter als ich, wohl ungefähr zwölf oder dreizehn, und weil ich die Kleinste an der Schule war, spielten sie gern mit mir, wie mit einer Puppe. Sie winkten mir, damit ich mich neben sie auf den Boden setzte, und fragten mich, ob ich Geschwister habe. Leise antwortete ich, dass mein Bruder Zelmai hieß. Sie sahen sich an und brachen in Lachen aus: »Ah, der Anführer aus der B! Er ist sehr hübsch, nicht wahr?« Ich nickte unbehaglich, denn ich wusste nicht, ob sie über mich lachten. Zelmai war in seiner Klasse Klassensprecher und alle kannten ihn. Dann nahm Kholedah eine Kirsche aus meiner Tüte.

»Gib mir die Hand, Nadia«, sagte sie entschlossen. »Wir machen dich richtig hübsch!«

Ich sah mich um, für den Fall, dass ich schnell wegrennen müsste, denn ich traute diesen beiden nicht so ganz. Kholedah biss ein Stück von der Kirsche ab und drückte sie zusammen, bis Saft herauskam, dunkelrot wie ein Blutstropfen. Mit der Kirschtinte malte sie auf meiner Hand herum, und ihre Freundin tat es ihr nach. Kreise und Spiralen, die auf der Handfläche begannen und sich zu den Fingern schlängelten.

»Super, fertig. Heb die Hände in die Luft, damit sie trocknen.«

Ich gehorchte, ohne einen Mucks zu sagen. Kholedah hatte denselben autoritären Ton wie ihre Mutter. Im Unterricht hatte diese Lehrerin mir einmal befohlen, einer Klassenkameradin eine Ohrfeige zu geben, weil diese den Stoff nicht gelernt hatte. Ich weigerte mich und fing an zu weinen. Am Ende wurden wir beide bestraft, mit dem, was an der Schule »dunkles Zimmer« hieß, und am nächsten Tag beschwerte sich mein Vater: »Wie können Sie derart ein Mädchen behandeln, das noch nicht einmal weiß, wo rechts und wo links ist?«

Der Schulleiter, ein Freund von ihm, entschuldigte sich. Ich hatte Glück und erhielt von nun an eine Vorzugsbehandlung, denn normalerweise wird man in Afghanistan viel geschlagen, wenn man klein ist.

Als Herr Fakir mich mit erhobenen, kirschroten Händen sah, lachte er los: »Die haben dich aber hübsch hergerichtet, Nadia! Du siehst ja aus wie eine Braut mit Henna an den Händen!«

Eine Braut, o nein, wie peinlich! Ich nahm die Hände runter und lief dann doch in eine Ecke des Hofs, um allein zu sein. Ich hörte das Lachen des Verkäufers, das ich überhaupt nicht lustig fand, und die betäubende Musik aus seinem Radio; die Hände versteckte ich zwischen den Rockfalten meiner Schuluniform, die schwarz war, es machte also nichts, wenn sie ein paar Flecken Kirschsaft abbekam …

Zum Glück kam Zelmai gleich darauf aus dem Unterricht, genau in dem Moment, als ich die große und schlanke Gestalt von Onkel Ayub näher kommen sah, der uns abholte, die übliche Wollmütze auf dem Kopf. Onkel Ayub war für uns viel mehr als der Gärtner. Er hatte uns sehr gern und sorgte für uns, als wären wir seine eigenen Kinder, obwohl er schon genug Arbeit mit den neunen haben musste, die bei ihm zu Hause auf ihn warteten.

»Nimmst du mich auf die Schultern?«

»Später, Nadia. Wie war es in der Schule?«

»Kholedah und ihre Freundin, kennst du die? Die großen Mädchen? Die haben mir die Hände angemalt. Wir haben ein Gedicht über den Frühling gelernt, Noriah ist ausgeschimpft worden, weil sie die ganze Zeit gequatscht hat, und weißt du was? Ich hab mich ein bisschen vollgepinkelt. Das war die Schuld von unserem Fräulein, sie hat mir nicht erlaubt rauszugehen, bis ich fast nicht mehr konnte, und das Klo ist ja im oberen Stock, und ich kann mich nicht so gut hinhocken und gleichzeitig den Rock hochhalten, immer passiert dasselbe … Das ist mir so peinlich, wenn ich in die Klasse zurückgehe, falls das jemand sieht und über mich lacht. Ah, und dann haben wir noch ein neues Lied gelernt. Und sie haben mich gefragt, ob wir Rosen von zu Hause mitbringen können für das Lehrerfest, das ist bald … Du hast doch nichts dagegen, oder? Nur ein paar, ganz wenige …«

Ich redete wie ein Wasserfall und unterstrich meine Worte mit den Händen, zeigte ihm, wo sie mich mit Kirschsaft bemalt hatten und wo der Pipifleck war, und ich sang ihm das Lied vor. Onkel Ayub rief mir in Erinnerung, dass es nicht in Ordnung war, manche Dinge laut auf der Straße zu erzählen, auch wenn er unter seinem Schnurrbart zu schmunzeln schien. Er war ein Tadschike wie meine Mutter, ein guter, schüchterner und großherziger Mann, der eine besondere Schwäche für mich hatte.

»Ist ja gut, Nadia, ich nehm dich auf die Schultern. Und bind dir das Kopftuch richtig um, Mädchen!«

Die Schuluniform für die Mädchen bestand aus einer Kombination aus schwarzem Rock und schwarzer Bluse mit einem weißen Tuch, das die Haare bedeckte. Meins schien ein Eigenleben zu führen, denn es fiel mir ständig runter. Onkel Ayub half mir, es zurechtzubinden, und nahm mich auf die Schultern. Dort oben fühlte ich mich wie eine Königin, und als ich ein Mädchen sah, das ich aus meiner Straße kannte, warf ich ihr ein stolzes Lächeln zu.

Die Schule war nicht weit weg von unserem Haus, wir brauchten nicht lang für den Heimweg. Am Gartentor wartete Ali auf uns, ein Junge in Zelmais Alter, eine leere Zwei-Liter-Cola-Flasche in der Hand. Er war einer von den Lehrlingen aus den Werkstätten und Läden in unserer Straße, die normalerweise bei uns im Garten Wasser holen kamen, weil sie selber keins hatten und es für den Tee für sich und ihre Kunden brauchten. Ali machte Botengänge für den Mechaniker und war ziemlich nett. Manchmal blieb er sogar ein Weilchen zum Spielen bei uns. Er war richtig gut mit den Murmeln.

Meine Mutter hörte uns kommen und erwartete uns an der Haustür. Schreiend rannten wir durch den Garten auf sie zu. Ich hatte so viel Schwung, dass ich sie eher umrannte als umarmte, fast warf ich sie um. Meine Mutter war ziemlich füllig, sie umhüllte mich vollständig, wenn sie mich umarmte, und verströmte immer einen köstlichen Geruch nach Essen, Gewürzen, Zwiebeln, Tomaten und frischer Petersilie.

»Geht euch waschen und schnell umziehen, Kinder, wir essen gleich. Und schreit nicht rum, die Kleinen schlafen.«

Ich tauchte Gesicht und Hände gleichzeitig in den Wassertrog, und ohne Zeit mit Abtrocknen zu verplempern, schlüpfte ich aus Rock und Bluse und zog mir ein T-Shirt über, auf dem »Miami« stand, dazu eine verschlissene kurze Baumwollschlafanzughose: das war die bequeme Drinnen-Uniform. Wie jeden Mittag kam ich um vor Hunger.

»Was gibt’s zum Essen, modar?«

Alles stand vorbereitet auf dem Boden, auf der Tischdecke aus Wachstuch mit aufgedruckten Margeriten, die der Stolz meiner Mutter war. Viel praktischer und moderner als die von Onkel Janagah und Tante Delia, sagte meine Mutter, die noch Stofftischtücher benutzten, die man alle naslang waschen musste.

Zelmai rasselte das Gebet in zwei Sekunden runter, bevor er mit geübter Hand den Reis mit Fleisch und Gemüse attackierte. Meine Mutter, die neben uns stand – sie aß erst, wenn wir fertig waren –, schloss verzweifelt die Augen und seufzte: »Zelmai …« Ich begann in gemäßigterem Tempo zu essen, weil ich es nicht mochte, wenn meine Mutter sich aufregte. Ich kaute sogar eher überaus langsam, um das Fleisch eines Lammes, das wir vor zwei Monaten geschlachtet hatten und getrocknet aufbewahrten, gut herunterzubekommen. Ich kaute und kaute und ließ dabei den Blick über die Anrichte schweifen, vollgepackt mit Erinnerungsstücken und Geschenken, die ich in- und auswendig kannte.

»Glaubst du, dass Papa uns heute Nachmittag eine Runde in dem neuen Auto mitnimmt, modar?«

»Von dem Auto möchte ich kein Wort hören, Zelmai. Dein Vater ist ein Verschwender. Und jetzt hat seine Cousine ihn gefragt, ob wir ihr eine Nähmaschine kaufen können. Ich konnte es nicht fassen. Und er hat Ja gesagt! Sechshundert Afghani! Um Himmels willen, was machen wir nur mit diesem Mann? Denkt er etwa nicht an deine Zukunft, mein Sohn?«

Zelmai lächelte beim Gedanken an das neue Auto.

Besagte Cousine und ihre Familie kamen nur in die Stadt nach Kabul, wenn sie zum Arzt mussten oder einen wichtigen Behördengang zu erledigen hatten. Bei ihren Besuchen wohnten sie bei uns, und meine Mutter machte das nervös, weil sie viele Sonderwünsche hatten, obwohl sie, wie meine Mutter sagte, nicht gerade Edelleute waren, sondern eher Landpomeranzen. Zelmai und ich lachten uns kaputt, denn wenn wir den Fernseher anmachten – bei ihnen im Dorf ein unbekanntes Objekt –, bedeckten die Frauen sich schnell das Gesicht aus Angst, die Männer im Fernseher könnten sie sehen.

Als wir mit dem Essen fertig waren, schickte meine Mutter uns zum Mittagsschlaf, was wir beide hassten. Oft protestierte Zelmai, aber an dem Tag sah ich überrascht, wie er gefügig Richtung Zimmer losmarschierte. Als er an mir vorbeikam, bückte er sich und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin nicht müde, und du?« Ich sah ihn an und wusste nicht, was er von mir wollte. Er gab mir einen Klaps: »Wer zuletzt am Brunnen ist, ist ein Dummkopf!«

Das Freitagsfest

Als ich klein war, sah es bei uns zu Hause freitags, an unserem freien Tag in der Woche, wie in einem Restaurant aus. Die Freunde meines Vaters – nie weniger als ein halbes Dutzend – gesellten sich zum Essen zu den Onkeln und Cousins. Während ich im Bett herumfläzte, drang der Geruch von Fleischbällchen mit Trockenfrüchten und Gewürzen zu mir, der Geruch von Duftreis und in Zucker frittiertem Brot … ich meinte sogar Rote-Linsen-Creme mit Joghurt riechen zu können, Kuchen und Gemüsesuppe …

Meine Mutter bereitete all diese üppigen Köstlichkeiten allein zu. Sie musste sehr früh aufstehen und auf dem Herd mit Töpfen und Pfannen und den von meinem Vater besorgten Zutaten hantieren. Die Gäste priesen stets ihre Kochkünste – nicht ohne Grund kamen sie immer wieder –, aber oft verbitterte sich die warme und lebendige Stimmung, wenn der letzte Gast das Haus verließ, nachdem sie noch lange scherzend beim Kartenspiel zusammengesessen hatten. Meine Mutter warf meinem Vater die Arbeit vor, die ihr diese Essen machten, und vor allem die Kosten. Aber mein Vater hätte um nichts in der Welt darauf verzichtet, und um diese festlichen Zusammenkünfte auszurichten, war ihm kein Afghani zu schade.

Die Ladenbesitzer im Viertel wussten das sehr wohl und nutzten ihn aus, so gut sie konnten. Der Fleischer sagte beispielsweise: »Ich habe gerade ein zartes Lamm reinbekommen, das wird Sie entzücken!« Mein Vater malte sich gleich den Erfolg aus, den das bei seinen Gästen haben würde, und bat, die Hälfte für ihn zurückzulegen: »Heben Sie das für mich auf, klar?« Er hörte nicht auf meine Mutter, die ihm an den Kopf warf, alle Welt würde ihn für dumm verkaufen. Er wollte nicht länger mit dieser Frau streiten, mit der er nicht mehr glücklich war, und befahl ihr lediglich, in einem unserer beiden Kühlschränke Platz freizuräumen.

Mein Vater verdiente wohl ziemlich viel Geld. Wir nannten seine Arbeit immer einfach »die Apotheke«, auch wenn es viel mehr war als das. Er war der Einzige aus seiner Familie, der aus dem Dorf weggegangen war. Wie alle jungen Männer hatte er in der Zeit, in der die Sowjets in Afghanistan herrschten, zwei Jahre Militärdienst leisten müssen, und er hatte das Glück gehabt, nach Kabul geschickt zu werden. Dort ließ er den in seiner Heimat üblichen Analphabetismus hinter sich, und als er mit dem Militärdienst fertig war, verpflichtete er sich als Freiwilliger weiter, um sein Studium bezahlen zu können. Er hatte Glück und wurde als Soldat der Lazarettabteilung zugeteilt.

Endlich, den frisch errungenen Abschluss unterm Arm, wurde er im Gesundheitsministerium eingestellt. Als ich klein war, war er für die Medikamentenverteilung in allen Krankenhäusern des Landes verantwortlich. Er war ein Vorbild für die gesamte Familie – seine eigene und die meiner Mutter – und für die Nachbarn, die immer zu uns nach Hause kamen, wenn sie irgendwelche gesundheitlichen Probleme hatten oder Geld brauchten. Nie wies er jemanden ab, was ein ständiger Streitpunkt zwischen ihm und meiner Mutter war.

Für seine Arbeit musste mein Vater Krankenhäuser im ganzen Land besuchen, und ich sah ihn morgens fein hergerichtet das Haus verlassen, gekleidet im westlichen Stil, mit Jackett und Krawatte: Kleidungsstücke, die wenig später eine Seltenheit werden würden. Und da er mit vielen Leuten zu tun und eine gute Stellung hatte, bekam er oft Geschenke. Allmählich füllten sich die Wände bei uns zu Hause mit handgewebten Teppichen, die er gern zur Zierde aufhängte. Ein Arzt, mit dem er regelmäßig arbeitete, brachte ihm einmal von einer Reise nach Russland ein Set Champagnergläser mit, die als Ausstellungsstücke in der Vitrine landeten und zu den von allen meistbewunderten Dingen gehörten. Meine Mutter staubte die Gläser jede Woche ab und zeigte sie stolz ihren Gästen, doch eingeweiht wurden sie nie: Bei uns zu Hause habe ich nie jemanden auch nur einen Tropfen Alkohol trinken sehen. Tee, Fanta und Pepsi waren die einzigen Erfrischungsgetränke, die bei den Treffen gereicht wurden.

Mein Vater lebte für diese fröhlichen und lärmigen Zusammenkünfte, bei denen er sich als Gastgeber präsentieren konnte. Und entgegen dem, was meine Mutter im Streit zu ihm sagte, auch dafür, zu sehen, wie sein Sohn es zu etwas brachte. Doch das alles, das Glück jener Tage und der Traum vom Wohlstand, zerbrach, als in unserer Stadt der Krieg ausbrach.

Für mich fing alles an dem Freitag an, als Amin mir nicht die Hand gab. Ich wartete jede Woche freudig auf ihn, weil ich diesen Freund meines Vaters am liebsten hatte. Er begrüßte Zelmai und mich immer mit einem übertrieben festen Händedruck und einer halben Verbeugung, dabei sagte er: »Der Herr …, die Dame …« Wir lachten uns kaputt. Er und seine Frau, die für mich so umwerfend aussah wie eine Filmdiva, waren immer aufmerksam, sie brachten uns Bonbons mit und vergaßen nie, uns zu fragen, wie es bei uns so lief. Als sie daher an jenem Freitag im Jahr 1992 ängstlich ins Haus stürzten, als wäre ihnen jemand dicht auf den Fersen, und keinen Blick für mich übrighatten, ahnte ich, dass irgendwas nicht in Ordnung war.

In manchen Momenten wirkte alles ganz normal, es war das Geräusch der Karten zu hören, die die Spieler ein ums andere Mal aufnahmen; und das Knacken der gerösteten Kürbiskerne zwischen den Zähnen; das »Tztztz!«, wenn die ausgeteilten Karten nicht gut genug waren; oder das »Mmmhh«, das heißen sollte: »Du wirst schon noch sehen …« Das waren vertraute und beruhigende Klänge, sie standen für entspannte Momente unter Freunden. Doch plötzlich schwang die Stimmung um und die Erwachsenen verstummten, keiner kaute mehr oder mischte die Karten neu, jeder in seine Sorgen versunken. Oder sie sprachen in ernstem Tonfall miteinander, ohne darauf zu achten, ob wir Kinder zuhörten. Nebenbei bekam ich den einen oder anderen Kommentar mit, den ich lieber nicht gehört hätte. Ich hätte spielen gehen sollen, aber ich konnte nicht. Ich stand da wie angewurzelt – irgendwie war mir bewusst, dass das, was den Erwachsenen da Sorgen bereitete, bald unser ganzes Leben auf den Kopf stellen würde.

Ich hörte, wie mein Vater und Amin, die sich seit Langem kannten, daran erinnerten, dass die Mudschaheddin schon vor drei Jahren die sowjetische Armee vertrieben hätten, die Afghanistan ein Jahrzehnt lang besetzt hatte. Dass sie jedoch, statt den Frieden zu bringen, einen neuen Bürgerkrieg begonnen hatten. Nur das Ziel, die Besatzungsmacht rauszuwerfen, habe sie vereint, meinte mein Vater, und jetzt seien sie untereinander verfeindet, weil jeder der Anführer die Kontrolle über das Land für sich wollte.

»Sie zerstören Kabul, sie machen es völlig kaputt«, klagte Amin. »Mein Schwager und meine Schwester sind schon in Pakistan, denn hier war ihnen nichts geblieben, und sie haben gesagt, dass sie nicht zusehen wollen, wie ihre Kinder ermordet werden oder verhungern. Sie sind gegangen – einen Tag, nachdem ihre Nachbarn, die immer schon neben ihnen gewohnt haben, genau vor ihrem Haus niedergemetzelt worden sind, wegen einer Lappalie. Und, Ghulam, das sage ich dir ganz im Ernst«, fügte der Freund meines Vaters hinzu, düster, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, »machen wir uns nichts vor: Die Bomben werden bald auch bis hierherkommen.«

Ich schaute zu meinem Vater, wartete, dass er sagte: »Ach, komm schon, Amin, übertreib mal nicht!«, oder etwas in der Art, aber er schwieg nur weiter und senkte zustimmend die Augenlider.

Und er hatte recht.

Das Haus, der Mittelpunkt unserer Welt, wurde gefährlich, wir mussten es verlassen, als in immer größerer Nähe Bomben niedergingen. Zuerst nahmen uns die Freunde und Verwandten, die oft zu uns kamen, bei sich zu Hause auf. Doch mit der Zeit zerstreute der Krieg die Menschen und wir waren immer mehr auf uns selbst gestellt. Die Händler bewahrten nicht länger die zartesten Lammstücke für meinen Vater auf und die Freitage waren traurig an unseren feuchten Zufluchtsorten. Die ganze Angst verursachte, dass meiner Mutter die Milch ausblieb, mit der sie meine kleine Schwester stillte. Eines Tages nutzte jemand das Chaos auf den Straßen und zündete das Geschäft meines Vaters an, der inzwischen einen Teppichladen besaß. Die Häuser waren nichts mehr wert, die Jobs unsicher und das Geld wurde knapp. Meine Familie musste auf Onkel Ayub verzichten, auch wenn wir einige Zeit noch Kontakt zu ihm hielten. Sein Leben wurde vom Krieg zerstört: Er verlor seine Familie und alterte um tausend Jahre.

Trotz allem versuchten wir, die guten Gewohnheiten beizubehalten, und wann immer wir konnten, luden wir andere ein, den Freitag bei uns zu Hause zu verbringen, wenn die Bombenabwürfe sich von unserem Viertel entfernten. Die Frauen sprachen darüber, wie unbequem die Burka war, ein Kleidungsstück, das sie bis dahin nie getragen hatten. Es war noch nicht zwingend vorgeschrieben, aber viele begannen aus eigenem Antrieb damit, oder üblicherweise auf Druck des Mannes, angesichts der den Frauen drohenden Gefahren. Entführungen und Vergewaltigungen kamen in jener Zeit häufig vor, und um sich zu schützen, begannen die Frauen sich zu verhüllen. Meine Mutter trug keine kurzen Röcke mehr – einige waren sehr kurz gewesen –, und auch keine Strumpfhosen; kurzärmelige Blusen und Blazer verschwanden im Kleiderschrank. Das Tuch, das sie gern als Haarband trug, musste sie auseinanderfalten und sich damit an den Tagen, wenn sie ohne Burka rausging, das Haar vollständig bedecken. Niemand außer uns sah sie je wieder mit ihren zwei langen Zöpfen, auf die sie so stolz war.

So vergingen die Monate, bis meine Mutter eines Abends, nachdem wir in Ruhe mit Tante Shoboboh und einigen Cousins meines Vaters zu Abend gegessen hatten, sagte, sie würde Süßigkeiten holen gehen. Ich lief ihr bis in die Küche nach, doch dann erinnerte ich mich, dass Zelmai neue Comics gekauft hatte, und beschloss, sie mir im Schlafzimmer anschauen zu gehen.

Plötzlich flog alles in die Luft. Und es wurde schwarz.

Die Hölle

Als ich aufwachte, waren die angsterfüllten Augen meiner Mutter das Erste, was ich sah, dunkler denn je und umrahmt von Falten und Augenringen, die ich bis dahin nie an ihr gesehen hatte.

»Mmmm … amm …!«

Was war mit mir passiert? Warum tat mein Mund so weh und es kamen nur unverständliche Laute heraus? Wo war ich? Mit großer Mühe bewegte ich den Kopf und sah mich um: Ich lag auf einer Matratze auf dem Boden, neben mir viele andere Matratzen mit vielen anderen Kindern. Der Raum sah eher wie ein langer Gang aus als wie ein normales Zimmer. Es sah aus wie ein Krankenhaus, aber was machte ich hier? Ich hatte schreckliche Angst und konnte keine Fragen stellen, weil mein Körper nicht auf mich hörte. Aus den Augen meiner Mutter, die fest auf mich gerichtet waren, flossen Sturzbäche von Tränen.

Ein strenger, aufdringlicher Geruch hing in der Luft, eine Mischung aus Essen, Medikamenten, Blut und Schweiß. Von meinem Platz aus konnte ich ein paar jalousienverhangene Fensterchen an der Decke sehen. Die Geräusche drängten sich ebenfalls in die dichte Atmosphäre: Stöhnen, Gesprächsfetzen und mit ernster Stimme gemurmelte Gebete, die ich nur halb hörte, mit dem linken Ohr. Ich tastete nach dem anderen Ohr: Es war komplett verbunden und tat bei der kleinsten Berührung furchtbar weh. Ich ließ die Hand aufs Bett sinken. Und merkte, wie auch meine Augen sich mit Tränen füllten. Aus reinem Schmerz.

Meine Mutter überschüttete mich mit Küssen und dankte unablässig Gott, sie lächelte, doch das Lächeln wurde immer wieder von Schluchzern durchbrochen. Einige Frauen, die Angehörigen von anderen Kranken, kamen herbei, umarmten meine Mutter und weinten vor Rührung mit ihr, flehten, dass wir alle gesund werden mögen und der Krieg endlich vorüberginge.

»Krieg … Krankenhaus … ständiger Schmerz … gesund werden.« Diese Wörter verwoben sich in meinem Kopf, der kurz vor dem Platzen zu sein schien.

Meine Mutter beruhigte sich nicht, bis der Strudel von Leuten, die rund um mich herum lachten und weinten, sich aufgelöst hatte. Dann erklärte sie mir, was passiert war: Eine Bombe war völlig unerwartet auf unser Haus gefallen, genau an der Stelle, wo ich war. Die Verbrennungen an meinem ganzen Körper waren so schwer, dass ich sechs Monate lang im Koma gelegen hatte. Sie erzählte mir, dass sie Tag und Nacht bei mir gewacht habe und sich von Ärzten und Krankenschwestern habe anhören müssen, sie solle die Hoffnung aufgeben. Dass sie darum habe kämpfen müssen, dass man mir überhaupt Medikamente gab. Sie berichtete auch, dass Freunde meines Vaters mir aus Indien eine Medizin beschafft hatten, die in unserem Land nicht zu bekommen war, und dass sie mir selbst gemachte Kräuterwickel angelegt habe, in der Hoffnung, dass die Wunden sich schließen würden. Und, Allah sei gelobt, es hatte funktioniert!

»Alle meinten, man könne nichts machen, es ginge dir sehr schlecht. Aber ich wusste immer, immer, dass du es schaffen würdest, Nadia.«

Meine Mutter ließ alles raus, was sich so lange in ihr angestaut hatte, aber ich hörte ihren Erklärungen nur halb zu, denn sie waren heftiger, als ich ertragen konnte. Außerdem war ich wie besessen davon, meinen Körper abzutasten, um festzustellen, ob noch alles an seinem Platz war. Ich konzentrierte mich ganz darauf, Kraft zu sammeln und Schritt für Schritt vorzugehen. Jede kleine Bewegung schmerzte und war schwierig, weil ich fast vollständig mit Verbänden bedeckt war, aber ich hatte ja alle Zeit der Welt.

An jenem Tag begann ich meine Verluste zu zählen. Ich erfuhr, dass ich schwere Verbrennungen an Kopf, Gesicht, Armen, Händen und Beinen hatte. Aber das Schlimmste kam zwei Tage später, als man mir auf mein inständiges Bitten hin einen Taschenspiegel gab. Der Anblick meines eigenen Gesichts und des linken Ohrs, beides vom Feuer zerstört, verwirrte mich zuerst, weil ich mich nicht erkannte, und machte mich dann völlig fertig.

Auf einmal war ich in einem Albtraum gefangen. Die Erinnerungen an das Spielen im Hof mit Zelmai, an den Brunnen in unserem Garten, an die Kirschen in der Schule gehörten plötzlich einem anderen Jahrhundert, einer anderen Welt an. Ich war erst neun Jahre alt, aber meine Kindheit war schon vorbei. Mich in diesem armseligen, schäbigen Krankenhaus wiederzufinden, inmitten von leidverzerrten Mienen und schrillem Geschrei, das uns mitteilte, dass gerade jemand gestorben war … war so, als wäre ich in ein schreckliches Loch gestürzt.

Ab und an wurde ich wegen banaler Dinge traurig. Ich erinnerte mich an das Fleisch, die süßen Teilchen, an echten Reis … Wie ich das normale Essen vermisste! Da die Verbrennungen mich den Mund nicht richtig aufmachen ließen und das Kauen zu schmerzhaft war, fütterte meine Mutter mich in der Zeit im Krankenhaus wie ein Baby: Mit einem kleinen Löffelchen gab sie mir Milch, Brei, sehr flüssige Reissuppe … Manchmal tröstete mich das und gab mir das Gefühl, behütet zu werden. Andere Male quälte mich die Erinnerung an Haselnüsse, die zwischen den Backenzähnen zerknackten, an das »Krack-krack« von Keksen oder das Gefühl, einen Bissen von dem Schmorbraten zu kauen, den meine Mutter so gut zubereitete, wie sich dann der Mund mit dem Geschmack von Fleisch und Gemüse füllte …

Und doch war nicht das Essen das Schlimmste, sondern die Stille und die allmählich offenbar werdenden Geheimnisse. Die Dinge, die ich nicht verstand. Das Leben, das ich nicht wiedererkannte.

An jenem Tag, als ich im Krankenhaus erwachte, und der für meine Mutter einer der glücklichsten ihres Lebens war, trat ich in die Hölle ein. Mein zierlicher, gelenkiger Mädchenkörper war zu einem Gerippe geworden, und ich würde fast zwanzig Jahre brauchen, bis ich ihn nicht lieben, aber immerhin anschauen konnte, ohne loszuheulen.

Der glückliche Fuchs

Ich sah viele Verwundete, die ruhig und still waren. Vielleicht fügten sie sich in ihr Schicksal, oder vielleicht hatten sie auch aufgegeben und ließen das Leben – oder den Tod – machen, als hätten sie selbst mit dem weiteren Verlauf nichts mehr zu tun. Das war bei mir anders. Ich war wütend, mein Körper war zu meinem Feind geworden und meine Gedanken brodelten vor Entrüstung. Ich konnte diesen heftigen, unaufhörlichen Schmerz nicht ertragen, noch schlechter vertrug ich jedoch vielleicht die Wut, die mich auffraß und sich zu einer Frage zuspitzte, die ich keinen Moment lang vergessen konnte: »Warum hat es mich getroffen?« Von einem Tag auf den anderen hatte ich alle Hoffnung für die Zukunft verloren.

Meine Mutter erzählte mir Geschichten und sang Lieder für mich, um mich abzulenken und zu beruhigen, denn meine Verzweiflung brach ihr das Herz.

»Komm, Schatz, möchtest du nicht die Geschichte vom Fuchs und vom Wolf hören?«, versuchte meine Mutter es.

Oft funktionierte das, ich hörte sofort auf zu schluchzen und ließ mich allmählich davontragen in eine Welt, in der immer die Guten gewannen. Ich liebte alle Geschichten, aber besonders die mit Tieren, mit den so dummen Wölfen und den schlauen, listigen Füchsen, die die Wölfe immer an der Nase herumführten. Meine Mutter tupfte mir die Tränen weg und streichelte mich dabei auch gleich noch, während sie zu erzählen begann: »Es war einmal ein Fuchs, der nichts zum Jagen fand. Er kam um vor Hunger, und je mehr Hunger er hatte, desto wütender wurde er. Er lief und lief und kam in einen großen Garten, der voller Obstbäume war. Es gab Äpfel, Granatäpfel, Pflaumen …«

Ich hing ihr begeistert an den Lippen und mir lief das Wasser im Mund zusammen.

»… Pfirsiche, Aprikosen, Kirschen … einfach alles. Der Fuchs war so wild vor Hunger, dass er begann, mit den Pfoten gegen die Baumstämme zu schlagen.«

›Gib’s den Bäumen, na los, feste!‹, dachte ich mitfiebernd, voll und ganz mit der Hauptfigur identifiziert.

»Er nahm Anlauf und … geschafft! Als ein paar Stunden später der Bauer kam, sah er, dass irgendwer das ganze Obst runtergeschüttelt hatte und es jetzt auf dem Boden lag und faulte. ›Wer war das bloß?‹, fragte er sich.«

Meine Mutter machte die Stimme des verärgerten Mannes nach und brachte mich damit zum Lachen, »Aua!«. Und so ging die Geschichte weiter, wir hörten von den gerissenen Tricks des Fuchses, der später wie üblich einen Wolf übertölpelte, der sich ebenfalls dort herumtrieb. Ich kannte die grobe Richtung der Geschichte schon, aber meine Mutter wob jeden Tag neue Details ein, die die Spannung für mich aufrechterhielten. Das machte sie, weil sie eine großartige Erzählerin war (oft merkten wir, dass es still im Saal wurde und alle Kranken und Angehörigen ebenfalls ihrer Geschichte lauschten), und auch, weil sie den Moment fürchtete, in dem es heißen würde: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« Ich weinte immer, wenn eine Geschichte zu Ende war, und meine Mutter war zur Expertin fürs Hinauszögern, Variieren, Ergänzen von Geschichten geworden, denn so füllten wir die Stunden, und mit ein wenig Glück schlief ich ein, während sie noch erzählte, und sie konnte sich das Ende sparen.

Meine Mutter hatte die Kunst des Geschichtenerzählens als junges Mädchen erlernt, als ihre Eltern starben und sie zu ihrer großen Schwester und deren vielköpfiger Familie ziehen musste. Sie schuftete im Haus wie ein Maulesel: in der Küche, beim Saubermachen oder beim Aufpassen auf ihre Neffen und Nichten, aber sie hatte auch das Glück, die Märchen, Gedichte und Lieder zu hören, welche die Schwiegermutter ihrer Schwester den Kindern vortrug. Zu jener Zeit, als es in den Häusern noch keine Fernseher gab und die meisten Leute nicht lesen konnten, war es normal, dass die Großmütter viel Zeit damit verbrachten, Geschichten zu erzählen und Gedichte aufzusagen, die die Kinder auswendig lernten, so wie ich es auch im Krankenhaus tat.

Nicht alle Geschichten waren so naiv wie die vom Fuchs und vom Wolf. Viele waren patriotisch, erfunden von Menschen, die aus dem Land hatten fliehen müssen und es vermissten; eine andere typische Gattung waren unglückliche Liebesgeschichten. Schreckliche Tragödien, in denen die Liebenden in Versen sprachen und die uns Rotz und Wasser heulen ließen. Diese Geschichten gefielen allen: Wir kannten Passagen davon auswendig, sangen sämtliche Lieder mit und verfolgten die erzählten Abenteuer wie einen Kinofilm.

Meine Mutter war eine außergewöhnlich gute Erzählerin, doch früher oder später – sofern ich nicht einschlief – gingen die Geschichten oder die Kräfte zu Ende, und ich schlüpfte aus dem Fell des schlauen Fuchses und wurde wieder zu einem Mädchen, das schwer verletzt im Bett lag.

»Ich möchte spielen, Mama! Ich möchte eine Puppe!«, warf ich ihr manchmal wütend entgegen.

Noch vor wenigen Monaten hatte ich die Tanzpuppe gehabt. Mein Vater hatte sie für mich gebaut, und sie war aus Holz, so eine, die Arme und Beine hebt, wenn man an einem Faden nach unten zieht. Und noch früher hatte ich noch viel mehr Sachen gehabt. Früher, als das Leben normal war und wir immer im selben Bett schliefen und nur vor Gespenstern und ausgedachten Monstern Angst hatten, statt vor wirklichen Bomben und Maschinengewehren. Die Freunde meines Vaters, die nach Russland reisten – das Privileg schlechthin –, kamen immer mit Geschenken für Zelmai und mich zurück. Ich erinnere mich besonders an ein Mal, als sie meinem Bruder eine Spielzeug-Kalaschnikow mitbrachten und für mich eine sehr große Puppe, die die Augen zumachte, wenn ich sie hinlegte. Das kam mir wie Zauberwerk vor, und ich legte sie unaufhörlich hin und nahm sie wieder hoch, legte sie hin und nahm sie wieder hoch … und Zelmai erschoss sie ein ums andere Mal mit seiner neuen Waffe.

Der Wohlstand hatte sich nach und nach verflüchtigt, je mehr Gewalt rund um uns herum war. Schule, Arbeit, Läden, Spielsachen, die freitäglichen Zusammenkünfte … nach und nach verloren wir alles. Wenn wir das Dröhnen der Bomben und Schüsse in der Nähe hörten und überstürzt das Haus verlassen mussten, bis die Situation sich wieder beruhigte, versuchte meine Mutter ein paar Decken und ein bisschen Essen mitzunehmen, und mein Vater wurde unruhig und sagte ihr, sie solle sich beeilen, es gebe keine Zeit zu verlieren. Ich dachte unterdessen nur an eines: meine Tanzpuppe einzupacken.

Aber auch die ging verloren.

Knöpfe

Eines Tages brachte meine Mutter mir zwei Knöpfe und ein Stück Faden mit ins Krankenhaus. Sie fädelte sie auf und verknotete den Faden, und indem ich den Faden spannte, konnte ich die Knöpfe im Kreis schwingen lassen. Dieses einzige Spielzeug erfüllte zeitweise seinen Zweck, aber es war nicht sehr widerstandsfähig: Nach ein paar Tagen riss der Faden und einer der Knöpfe fiel runter und war unauffindbar. Ich weinte, als hätte ich eine ganze Barbie-Sammlung verloren. Und meine Mutter versprach mir, dass sie mir einen neuen Knopf mitbringen würde.

Das war viel leichter gesagt als getan. Zunächst einmal, weil es an traditionellen afghanischen Kleidungsstücken keine Knöpfe gibt, daher konnte sie auch keinen von ihren Anziehsachen oder denen meines Vaters nehmen – seine gesamte westliche Kleidung war zusammen mit unserem Haus verbrannt –; und zweitens, weil meine Mutter kein Geld hatte, um einen zu kaufen. Trotzdem war sie fest entschlossen, mir die Freude zu machen. Sie ging hinaus auf die Straße, den Blick fest auf den Boden gerichtet – vielleicht hatte sie ja Glück und jemand hatte einen verloren. So, mit gesenktem Blick, angestrengt hinter dem dichten Gitternetz der Burka hervorspähend, erreichte sie das Stadtzentrum, wo es viele Stände mit Second-Hand-Kleidung gab. Eigene Stücke, gekaufte oder in verlassenen Häusern gefundene, wer wusste das schon … Auf diesen Haufen gab es Hosen und Hemden in westlichem Stil, voll mit Knöpfen. Alles war sehr billig, aber dennoch unerschwinglich für jemanden, der nicht einen Afghani in der Tasche hatte. Was konnte sie tun? Nur eines, und schon der bloße Gedanke brachte ihre Beine zum Zittern und ließ ihr Herz wild klopfen.

Meine Mutter lief an den besonders überquellenden Ständen entlang und sah den Verkäufern ins Gesicht, suchte nach dem, der am gutmütigsten oder am abgelenktesten aussah. Ihr schien es, als müsse jeder ihre Absicht auf den ersten Blick erkennen. Doch sie beruhigte sich: Sie war nur eine weitere Frau in Burka, gesichtslos, ohne zittrige oder ruhige Beine. Ein Gespenst unter so vielen anderen. Sie wählte das Zielobjekt: einen sehr hohen Kleiderhaufen, in dem schon andere Leute herumwühlten. Wenn sie es schnell machte, würde es vielleicht gar nicht auffallen … Sie trat an den Haufen heran und bückte sich. Ließ ein altes Hemd unter der Burka verschwinden und begann mit einem Knopf zu kämpfen. Er war gut festgenäht und wollte sich nicht lösen. Sie führte das Hemd an den Mund, um die Fäden durchzubeißen, da hörte sie den Schrei: »Hey, Sie! Was machen Sie da? Die Frau bestiehlt mich!«

Meiner Mutter gefror das Blut in den Adern. Sie ließ das Hemd sofort los.

»Nein, nein, es tut mir leid, Bruder! Ich wollte nicht stehlen! Ich … ich wollte nur einen Knopf für meine Tochter.«

Der Verkäufer zeigte mit dem Finger auf sie, und eine Menschentraube bildete sich um sie herum. Meine Mutter war völlig verzweifelt.

»Ich wollte nur einen Knopf für meine Tochter, sie hat nichts zum Spielen. Es tut mir leid, Bruder! Bitte, ruf nicht die Polizei, lass mich gehen. Ich habe nichts, und meine Tochter braucht mich.«

Zur damaligen Zeit der Mudschaheddin-Regierung war die Polizei brutal, korrupt und ging völlig willkürlich vor, ihr in die Hände zu fallen bedeutete also keine Gerechtigkeit, sondern Terror.

Der Mann ließ den anklagenden Finger sinken. Meine Mutter drehte sich halb weg, schluchzend, und der Kreis von Leuten, die sie anstarrten, öffnete sich, um sie durchzulassen. Als sie ein paar Meter weit gegangen war, hörte sie die Stimme des Verkäufers: »He, Sie, Schwester, kommen Sie zurück! Nehmen Sie! Ein Knopf für Ihre Tochter!«

Meine Mutter drehte sich nicht um. Sie lief noch schneller. Sie fühlte sich derart gedemütigt und schuldig, dass sie dem Mann nicht noch einmal ins Gesicht blicken wollte.

Als sie im Krankenhaus ankam, war sie noch immer völlig außer sich, die Augen rot vor lauter Weinen.

»Bitte mich um nichts mehr, Nadia. Deine Mutter kann nicht stehlen.«

Und ich hatte wieder kein Spielzeug.

Tod und Dämonen