0,99 €
Das Geheimnis ist eine Erzählung von Rainer Maria Rilke. Auszug: Es ist wohl bald dreißig Jahre her, seit jeder echte Karbacher, der einmal Rosine gesagt hat, auch Klothilde sagen muß - und umgekehrt. Das kommt so: Klothilde und Rosine wohnten in Karbach seit den sogenannten undenklichen Zeiten beisammen, und jeder gute heimische Bürger, der an den Fenstern der beiden alten Damen vorüberging, hätte viel weniger erstaunen müssen, wenn die alte Kirche, des Städtchens Wahrzeichen, plötzlich einen ihrer Türme verloren hätte, als wenn einmal neben dem weißen, flüchtig gescheitelten Kopf Rosinchens nicht die strengen, straffen, seltsam schwarzen Scheitel Klothildens hinter den roten Geranienstücken aufgetaucht wären. Man war es gewohnt, die beiden als Eines zu betrachten, was für die gesprächigen Damen hinter den Kaffeetassen kein geringes Opfer war, da durch dieses Sesostristum Klothildchens und Rosinchens eigentlich eine Person weniger zu bekritteln war. Aber einmal war es wirklich schwer, die Pläne unter dem weißen Scheitel gesondert zu betrachten von den Gedanken, die der schwarze Scheitel beschützte, und man fand einen unausgesprochenen Trost darin, daß aus diesem Wechselverhältnis vielleicht mehr am Kaffeetisch "Verwendbares" entstünde, als wenn jede von den alten Jungfern so ganz allein wie eine vergessene Kerze in sich zusammengebrannt wäre.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 20
Veröffentlichungsjahr: 2022
Es ist wohl bald dreißig Jahre her, seit jeder echte Karbacher, der einmal Rosine gesagt hat, auch Klothilde sagen muß – und umgekehrt. Das kommt so: Klothilde und Rosine wohnten in Karbach seit den sogenannten undenklichen Zeiten beisammen, und jeder gute heimische Bürger, der an den Fenstern der beiden alten Damen vorüberging, hätte viel weniger erstaunen müssen, wenn die alte Kirche, des Städtchens Wahrzeichen, plötzlich einen ihrer Türme verloren hätte, als wenn einmal neben dem weißen, flüchtig gescheitelten Kopf Rosinchens nicht die strengen, straffen, seltsam schwarzen Scheitel Klothildens hinter den roten Geranienstücken aufgetaucht wären. Man war es gewohnt, die beiden als Eines zu betrachten, was für die gesprächigen Damen hinter den Kaffeetassen kein geringes Opfer war, da durch dieses Sesostristum Klothildchens und Rosinchens eigentlich eine Person weniger zu bekritteln war. Aber einmal war es wirklich schwer, die Pläne unter dem weißen Scheitel gesondert zu betrachten von den Gedanken, die der schwarze Scheitel beschützte, und man fand einen unausgesprochenen Trost darin, daß aus diesem Wechselverhältnis vielleicht mehr am Kaffeetisch ›Verwendbares‹ entstünde, als wenn jede von den alten Jungfern so ganz allein wie eine vergessene Kerze in sich zusammengebrannt wäre.
Die Leute im Hause wußten, daß es hinter den roten Geranien auch Gewitter gäbe und daß bei diesen Anlässen Fräulein Rosine den Blitz und Fräulein Klothilde den Donner mache, wie das so zu jedem echten gesunden Gewitter gehörte. Sie wußten überdies, daß die Zahl dieser Gewitter viel größer war, als der galligste Wetterfrosch sonst zu prophezeien wagte, und schüttelten nun seit fast dreißig Jahren die Köpfe, so, daß mancher weiß weiterschüttelte, der noch ganz blond angefangen hatte. Sie wunderten sich darüber, was eigentlich die beiden Damen, die weder verwandt, noch besonders an einander gebunden waren, bewogen hatte, aus der Residenz, wo sie gewiß nicht zusammenwohnten, gemeinschaftlich nach Karbach zu ziehen und in dem fast dreißigjährigen Krieg den Beweis zu erbringen, daß sie sich mit Recht – Freundinnen nennen durften.
Das Rätsel war schwer zu lösen. Denn hinter die Geranien durften nur ganz wenige lugen, und was die wenigen dahinter sahen, war das Bild einer arkadischen Eintracht. Außerhalb des Hauses sah man das Zweigespann bloß auf dem Markt und in der Kirche. Und während die schwarze Klothilde sich trefflich auf fette Hühner verstand, hatte Rosinchen viel Mitgefühl für fette Messen und tauschte bei jedem »Dominus vobiscum« einen Blick frommen Verstehens mit dem von heiliger Hast triefenden Pfarrer. Und wie bei Rosinchen das Fingergefühl für die Rosenkranzkugeln zur fast überfeinerten Vollendung gediehen war, so konnte Klothilde die Reife der Erbsen am bloßen ›durch die Finger rollen lassen‹ erkennen.