Das Geheimnis von Sittaford - Agatha Christie - E-Book

Das Geheimnis von Sittaford E-Book

Agatha Christie

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

 Ein verschneiter Winterabend im beschaulichen Sittaford. Die Séance der Nachbarn bringt ein ganz und gar nicht beschauliches Ergebnis: Mord. Das Opfer ist auch schon bekannt. Captain Trevelyan ist ein reicher, etwas sonderbarer Mann – und zwei Stunden später tatsächlich tot. Fast alle Bewohner des Dorfes hatten mit ihm zu tun und ein jeder hätte ein Motiv. Als auch der zugereiste Neffe des Toten unter Verdacht gerät, macht sich seine eigensinnige und pfiffige Verlobte daran, den herbeigerufenen Inspector mit eigenen Ermittlungen zu unterstützen. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 292

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Agatha Christie

Das Geheimnis von Sittaford

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Michaela Grabinger

Atlantik

Für M.E.M.,

mit dem ich zur Beunruhigung aller in unserem Umfeld die Handlung dieses Romans ausgiebig besprochen habe.

1Sittaford House

Major Burnaby stieg in seine Gummistiefel und knöpfte den Mantelkragen zu. Dann nahm er sich eine Sturmlaterne aus dem Regal neben der Tür, öffnete langsam die Eingangstür seines kleinen Bungalows und spähte hinaus.

Vor ihm lag eine typisch englische Landschaft, wie man sie auf Weihnachtskarten und in altmodischen Rührstücken dargestellt fand. Alles war mit Schnee bedeckt – nicht nur zwei, drei Zentimeter hoch bepudert, sondern dick verhüllt. Seit vier Tagen schneite es nun schon über ganz England, und hier, am Rand des Dartmoor, lag er inzwischen mehr als einen Meter hoch. Im ganzen Land stöhnten die Hausbesitzer wegen geplatzter Rohre, und nichts ging gerade über die Freundschaft mit einem Klempner (oder auch nur einem Klempnergesellen).

Hier, in dem schon zu normalen Zeiten entlegenen, jetzt aber fast völlig von der Außenwelt abgeschnittenen Dorf Sittaford, wurde jeder harte Winter zu einem sehr realen Problem.

Major Burnaby verfügte allerdings über eine robuste Natur und stapfte, nachdem er zweimal geschnaubt und einmal geknurrt hatte, entschlossen in den Schnee hinaus.

Sein Ziel lag nicht weit entfernt. Es ging nur ein paar Schritte einen gewundenen Feldweg entlang, dann durch ein Tor und über eine teilweise geräumte Zufahrt zu einem Haus von beträchtlicher Größe, das ganz aus Granit erbaut war.

Ein adrett gekleidetes Hausmädchen empfing ihn und nahm ihm Wintermantel, Gummistiefel und den nicht mehr ganz neuen Schal ab.

Dann wurde eine Tür geöffnet. Als der Major den Raum betrat, fühlte er sich wie in der Verwandlungsszene eines Theaterstücks.

Schon jetzt, um halb vier, waren die Vorhänge zugezogen, das Licht brannte, und im Kamin prasselte munter ein großes Feuer. Zwei Frauen in eleganten Nachmittagskleidern erhoben sich, um den strammen alten Recken zu begrüßen.

»Wie schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben, Major Burnaby«, sagte die ältere.

»Ich bitte Sie, Mrs Willett, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Wie schön, dass Sie mich eingeladen haben«, erwiderte er und schüttelte beiden die Hand.

»Wir erwarten noch Mr Garfield und Mr Duke«, fuhr Mrs Willett fort. »Mr Rycroft hat sich ebenfalls angekündigt, wird aber bei diesem Wetter und in Anbetracht seines Alters wohl eher nicht kommen. Es ist ja wirklich scheußlich da draußen, man muss sich einfach irgendwie aufheitern. Violet, leg noch einen Scheit ins Feuer.«

Sofort erhob sich der Major galant, um die Aufgabe zu übernehmen.

»Wenn Sie erlauben, Miss Violet.«

Nachdem er das Holz mit geübter Hand an die richtige Stelle gelegt hatte, kehrte er zu dem von der Gastgeberin zugewiesenen Sessel zurück und sah sich verstohlen um. Erstaunlich, dass zwei Frauen den gesamten Charakter eines Raums verändern konnten, ohne dass man zu sagen vermocht hätte, wie.

Sittaford House war zehn Jahre zuvor von Captain Joseph Trevelyan gebaut worden, nachdem er den Abschied aus der Royal Navy genommen und seinen Ruhestand angetreten hatte. Trevelyan, ein vermögender Mann, hatte schon immer den Wunsch gehegt, im Dartmoor zu leben, und sich für das kleine Dorf Sittaford entschieden, das im Gegensatz zu den meisten anderen Weilern und Gehöften nicht im Tal, sondern auf einer Anhöhe am Rand des Moors im Schatten des Hügels von Sittaford lag. Er hatte ein großes Stück Land gekauft und darauf ein komfortables Haus errichtet, das über eine eigene Stromversorgung sowie eine kräftesparende elektrische Wasserpumpe verfügte. Zusätzlich hatte er Geld in den Bau von sechs kleinen Bungalows investiert, die auf jeweils tausend Quadratmeter großen Parzellen hintereinander am Rand des Feldwegs standen.

Den ersten, nah an Sittaford House gelegenen Bungalow hatte er seinem alten Freund und Kameraden John Burnaby überlassen und die restlichen nach und nach verkauft, denn es finden sich noch immer Leute, die, sei es freiwillig oder aus Not, gern in der Abgeschiedenheit leben. Das Dorf selbst bestand aus drei malerischen, aber baufälligen kleinen Häusern, einer Schmiede und einem Süßwarenladen, der zugleich als Poststelle diente. Die nächstgelegene Stadt, das sechs Meilen entfernte Exhampton, erreichte man über eine Straße, die stetig abfiel, weshalb dort, wie so häufig im Dartmoor, Schilder mit dem Hinweis »Autofahrer niedrigsten Gang einlegen« aufgestellt waren.

Captain Trevelyan war wie gesagt vermögend, aber trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – sehr darauf bedacht, sein Geld zu vermehren. Ende Oktober hatte ihm ein in Exhampton ansässiger Makler geschrieben und gefragt, ob er Sittaford House vermieten würde, da sich eine Dame bei ihm gemeldet habe, die den Winter dort verbringen wolle.

Zunächst war dem Captain der Gedanke zuwider, doch dann bat er um weitere Informationen. Bei besagter Dame handelte es sich um eine gewisse Mrs Willett, eine Witwe mit einer Tochter, beide erst kurz zuvor aus Südafrika eingetroffen und auf der Suche nach einem Haus für den Winter.

»Zum Teufel, die Frau muss verrückt sein«, rief er. »Oder was denkst du, Burnaby?«

Burnaby vertrat die gleiche Meinung und äußerte sie ebenso ausdrucksstark wie sein Freund.

»Du vermietest auf keinen Fall! Soll die komische Frau irgendwo anders hingehen, wenn sie unbedingt frieren will. Noch dazu, wenn sie gerade aus Südafrika kommt!«

Doch letztlich setzte sich Captain Trevelyans Gier durch. Die Chance, mitten in der kalten Jahreszeit ein Haus zu vermieten, bekam man nicht alle Tage. Er ließ fragen, was die Dame zu zahlen bereit sei.

Das Angebot – zwölf Guineen die Woche – gab schließlich den Ausschlag. Captain Trevelyan fuhr nach Exhampton, mietete sich für zwei Guineen die Woche in ein Häuschen am Stadtrand ein und trat Sittaford House an Mrs Willett ab, nicht ohne sie die Hälfte der Miete im Voraus bezahlen zu lassen.

»Eine Närrin und ihr Geld sind nicht lang Freund in der Welt«, knurrte er.

Doch auch an diesem Nachmittag konnte Burnaby beim besten Willen nichts Närrisches an Mrs Willett entdecken, während er sie heimlich musterte. Sie war groß und verhielt sich manchmal ein bisschen seltsam, doch aus ihrem Gesicht sprach Intelligenz, nicht Dummheit. Sie neigte zu übertrieben eleganter Kleidung, sprach mit starkem südafrikanischem Akzent und zeigte sich mit den Umständen der Vermietung vollauf zufrieden. Dass sie eindeutig wohlhabend war, machte die Sache in Burnabys Augen noch merkwürdiger. Wie eine Frau, die die Einsamkeit liebte, wirkte sie jedenfalls nicht.

Sie hatte sich als eine geradezu beschämend freundliche Nachbarin erwiesen und wirklich jeden zu sich eingeladen. Captain Trevelyan wurde von ihr ständig gedrängt, über Sittaford House so zu verfügen, als hätte sie es nie gemietet. Doch Trevelyan, dem in seiner Jugend Gerüchten zufolge ein Mädchen den Laufpass gegeben hatte, war kein Freund der Frauen und schlug beharrlich jede Einladung aus.

Mittlerweile waren seit der Ankunft der Willetts zwei Monate vergangen, und das anfängliche Staunen über ihren Einzug hatte sich gelegt.

Burnaby, ein von Natur aus einsilbiger Mensch, setzte die Beobachtung seiner Gastgeberin fort, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen, und kam zu dem Schluss, dass Mrs Willett nur so tat, als wäre sie eine Närrin. Er ließ den Blick zu Violet Willett schweifen. Ein hübsches, wenn auch sehr mageres Mädchen, aber mager waren sie ja heutzutage alle. Warum Frau sein, wenn man nicht wie eine aussah? In der Zeitung stand allerdings, weibliche Kurven seien wieder im Kommen. War auch an der Zeit.

Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch zu lenken.

»Wir hatten zunächst angenommen, dass Sie, wie von Ihnen bereits angekündigt, nicht kommen könnten«, sagte Mrs Willett. »Umso größer war unsere Freude, als wir erfuhren, dass es nun doch klappen würde.«

»Freitag«, erwiderte Major Burnaby, als wäre das Erklärung genug.

Mrs Willett warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Freitag?«

»Ich besuche Trevelyan jeden Freitag, jeden Dienstag besucht er mich. So halten wir es seit Jahren.«

»Ach so, verstehe. Sehr nachvollziehbar, wenn man so nahe beieinander lebt.«

»Eine Gewohnheit.«

»Und folgen Sie dieser Gewohnheit weiterhin, obwohl er jetzt in Exhampton wohnt?«

»Warum hätten wir sie aufgeben sollen?«, erwiderte Major Burnaby. »Diese Abende würden uns beiden sehr fehlen.«

»Sie beschäftigen sich gern mit Buchstabenspielen und Kreuzworträtseln, nicht wahr?«, sagte Violet.

Burnaby nickte.

»Ich löse Kreuzworträtsel, Trevelyan verfasst Akrosticha. Jeder bleibt bei dem, was er kann. Letzten Monat habe ich in einem Kreuzworträtselwettbewerb drei Bücher gewonnen.«

»Nein, wirklich? Wie schön! Interessante Bücher?«

»Keine Ahnung, ich habe sie nicht gelesen. Aber sie sehen eher langweilig aus.«

»Das eigentlich Wichtige ist, dass Sie überhaupt gewonnen haben«, erwiderte Mrs Willett, um irgendetwas zu sagen.

»Und wie kommen Sie nach Exhampton?«, fragte Violet. »Sie haben ja kein Auto.«

»Zu Fuß.«

»Tatsächlich? Das sind sechs Meilen!«

»Bewegung tut gut. Zwölf Meilen – was ist das schon. Da bleibt man fit, das ist wichtig.«

»Du liebe Güte, zwölf Meilen! Aber waren Captain Trevelyan und Sie nicht schon immer sehr sportlich?«

»Früher sind wir oft zusammen in die Schweiz gefahren. Wintersport im Winter, Bergsteigen im Sommer. Auf dem Eis hat Trevelyan immer eine ausgesprochen gute Figur gemacht. Inzwischen sind wir natürlich zu alt dafür.«

»Stimmt es, dass Sie einmal das Army-Rackets-Turnier gewonnen haben?«, fragte Violet.

Der Major errötete wie ein Backfisch.

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Captain Trevelyan.«

»Joe sollte seine Zunge im Zaum halten, er redet zu viel. Was macht denn das Wetter?«

Violet, die seine Verlegenheit spürte, folgte ihm zum Fenster. Gemeinsam zogen sie den Vorhang zurück und betrachteten die triste Szenerie.

»Es wird wieder schneien«, sagte Burnaby. »Ziemlich heftig sogar, würde ich sagen.«

»Herrlich, einfach nur herrlich!«, erwiderte Violet. »Ich finde Schnee so romantisch. Ich habe ja bisher nie welchen gesehen.«

»Gefrorene Rohre sind alles andere als romantisch, Dummerchen«, bemerkte ihre Mutter.

»Haben Sie Ihr ganzes Leben in Südafrika verbracht, Miss Willett?«, fragte Major Burnaby.

Schlagartig war die Begeisterung der jungen Frau verschwunden. Sie wirkte angespannt, als sie antwortete.

»Ja, ich bin zum ersten Mal fort von zu Hause. Für mich ist das alles hier ganz schrecklich aufregend.«

Sie fand es aufregend, in diesem abgelegenen Dorf im Moor eingeschlossen zu sein? Ein seltsames Faible! Burnaby wurde nicht schlau aus den beiden.

Die Tür ging auf, und das Hausmädchen verkündete:

»Mr Rycroft und Mr Garfield.«

Ein altes verhutzeltes Männlein und ein jungenhafter Bursche mit frischer Gesichtsfarbe traten in den Salon. Der Jüngere ergriff zuerst das Wort.

»Ich habe ihn mitgebracht, Mrs Willett. Hätte ihn ja schlecht im Schnee versinken lassen können, ha, ha. Schön haben Sie es hier. Sogar Christklötze im Kamin!«

»Ja, mein junger Freund war so liebenswürdig, mich hierherzubegleiten«, sagte Mr Rycroft, während er reihum allen sehr förmlich die Hand gab. »Guten Tag, Miss Violet. Ungemein winterlich da draußen. Zu winterlich, würde ich sagen.«

Er setzte sich vor den Kamin und unterhielt sich mit Mrs Willett, während Ronald Garfield sofort Violet in Beschlag nahm.

»Könnten wir nicht irgendwo hier in der Nähe Schlittschuh laufen? Gibt es keine Teiche in der Umgebung?«

»Ich fürchte, Ihre sportliche Betätigung wird sich aufs Schneeschaufeln beschränken.«

»Ich habe den ganzen Vormittag nichts anderes gemacht.«

»Oh! So ein starker Mann!«

»Das ist nicht zum Lachen. Ich habe Blasen an den Händen.«

»Wie geht es Ihrer Tante?«

»Wie immer. Ihr zufolge mal besser, mal schlechter, aber in Wahrheit immer gleich. Mein Leben ist ziemlich grauenhaft. Jedes Jahr frage ich mich, wie ich das aushalten soll, aber was bleibt mir übrig. Wenn ich mich zu Weihnachten nicht bei der Alten blicken lasse, vererbt sie ihr Geld am Ende dem Tierheim. Sie hat nämlich fünf Katzen. Ständig streichle ich die Biester und tue so, als wäre ich ganz verrückt nach ihnen.«

»Ich mag Hunde viel lieber als Katzen.«

»Ich auch. Kein Vergleich. Ein Hund ist einfach – also, ein Hund ist einfach ein Hund.«

»War Ihre Tante schon immer eine Katzennärrin?«

»Als alte Jungfer wird man wahrscheinlich zwangsläufig so. Wie ich die Viecher hasse!«

»Ihre Tante ist zwar nett, aber sie macht mir auch irgendwie Angst.«

»Gut nachvollziehbar. Wie sie mir manchmal über den Mund fährt! Sie hält mich nämlich für ziemlich beschränkt.«

»Warum denn nur?«

»Das brauchen Sie gar nicht in diesem Ton zu sagen. Viele Jungs wirken wie Idioten, sind aber in Wirklichkeit richtig clever.«

»Mr Duke«, verkündete das Hausmädchen.

Der stattliche, ruhige Mr Duke war ein Neuankömmling. Erst im September dieses Jahres hatte er den letzten der sechs Bungalows gekauft und hielt sich viel in seinem Garten auf. Sein Nachbar Mr Rycroft, der sich für Vögel begeisterte, hatte sich mit ihm angefreundet und schlug alle Bedenken der anderen in den Wind, die da lauteten, Mr Duke sei zwar ein netter, bescheidener Mensch, aber woher kam er eigentlich und was hatte er früher gemacht?

Niemand wagte es, ihn danach zu fragen, und im Grunde wollte man es auch lieber nicht wissen. Denn wenn man es erfahren hätte, wäre es vielleicht peinlich geworden, und in einer so kleinen Gemeinde stand man besser mit jedem auf gutem Fuß.

»Bei diesem Wetter verzichten Sie wohl auf Ihren Besuch in Exhampton«, sagte er zu Major Burnaby.

»Ja. Heute Abend erwartet mich Trevelyan bestimmt nicht.«

»Es ist auch wirklich zu grauenhaft«, sagte Mrs Willett und schüttelte sich. »Eine entsetzliche Vorstellung, Jahr für Jahr hier begraben zu sein.«

Mr Duke warf ihr einen kurzen Blick zu, und auch Major Burnaby sah sie verwundert an.

Doch dann kam schon der Tee.

2Die Botschaft

Nach dem Tee schlug Mrs Willett eine Partie Bridge vor.

»Wir sind zwar zu sechst, aber zwei Mitspieler könnte man später einwechseln.«

Ronnie strahlte.

»Fangen Sie erst mal an«, sagte er. »Miss Willett und ich lassen uns einwechseln.«

Doch Mr Duke erklärte, er spiele kein Bridge.

Augenblicklich verdüsterte sich Ronnies Miene.

»Wie wäre es dann mit einem Gesellschaftsspiel?«, fragte Mrs Willett.

»Oder Tischrücken«, rief Ronnie. »Dieser düstere Spätnachmittag ist wie gemacht dafür. Wir haben uns erst neulich darüber unterhalten, erinnern Sie sich? Und Mr Rycroft und ich haben auf dem Weg hierher auch darüber gesprochen.«

»Ich bin Mitglied der Psychical Research Society«, erklärte Mr Rycroft in seiner präzisen Ausdrucksweise, »und konnte meinen jungen Freund in ein, zwei Punkten korrigieren.«

»Alles Blödsinn«, entgegnete Major Burnaby entschieden.

»Aber es macht Spaß«, wandte Violet Willett ein. »Niemand glaubt ernsthaft daran, es ist nur ein harmloser Zeitvertreib. Was meinen Sie, Mr Duke?«

»Ganz wie Sie wünschen, Miss Willett.«

»Wir brauchen einen geeigneten Tisch und müssen das Licht ausmachen. Nein, Mutter, nicht den. Der ist viel zu schwer.«

Man traf die entsprechenden Vorbereitungen. Aus dem Nebenzimmer wurde ein kleiner runder Tisch mit polierter Platte hereingetragen und vor den Kamin gestellt. Dann nahmen alle ihre Plätze ein, und die Lampen wurden gelöscht.

Major Burnaby saß zwischen der Gastgeberin und Violet, während Ronnie Garfield an der anderen Seite der jungen Frau Platz genommen hatte. Zu meiner Zeit haben wir Grummeln gespielt, dachte der Major sarkastisch lächelnd und versuchte auf den Namen des Mädchens mit dem lockigen blonden Haar zu kommen, dessen Hand er unter dem Tisch einmal ziemlich lange gehalten hatte. Das war zwar ewig her, aber Grummeln war ein tolles Spiel gewesen.

Hin und wieder kam am Tisch Gelächter auf. Dazwischen wurde getuschelt und die eine oder andere abgedroschene Floskel geäußert.

»Die Geister lassen aber lang auf sich warten.«

»Es ist eben ein weiter Weg.«

»Pst! Wenn wir die Sache nicht ernst nehmen, passiert überhaupt nichts.«

»Bitte jetzt alle ganz ruhig sein!«

»Es tut sich nichts.«

»So schnell geht das nicht, es braucht Zeit.«

»Wenn nur alle endlich still wären!«

So ging es weiter, bis das Gemurmel nach ein paar Minuten erstarb.

Alle schwiegen.

»Dieser Tisch ist mausetot«, murrte Ronnie Garfield.

»Sch!«

Plötzlich fuhr ein Zittern durch die polierte Platte, und der Tisch begann sich ruckartig zu bewegen.

»Jetzt müssen wir Fragen stellen. Wer fängt an? Sie, Ronnie.«

»Äh, dann würde ich gern … Was soll ich denn fragen?«

»Ob ein Geist anwesend ist«, schlug Violet vor.

»Na gut. Hallo, ist da ein Geist?«

Der Tisch machte einen heftigen Ruck.

»Das bedeutet Ja«, erklärte Violet.

»Und, äh – wer bist du?«

Keine Antwort.

»Er soll seinen Namen buchstabieren.«

»Wie soll das gehen?«

»Wir zählen die einzelnen Bewegungen.«

»Na gut. Buchstabiere bitte deinen Namen.«

Der Tisch ruckelte heftig los.

»A B C D E F G H I – war das jetzt ein I oder ein J?«

»Fragen Sie ihn. War das ein I?«

Der Tisch machte einen einzigen Ruck.

»Ja. Den nächsten Buchstaben, bitte.«

Der Name des Geistes lautete Ida.

»Hast du eine Botschaft für einen von uns?«

»Ja.«

»Für wen? Für Miss Willett?«

»Nein.«

»Für Mrs Willett?«

»Nein.«

»Für Mr Rycroft?«

»Nein.

»Für mich?«

»Ja.«

»Eine Botschaft für Sie, Ronnie! Schnell weiter jetzt! Der Geist soll die Botschaft ausbuchstabieren.«

Der Tisch buchstabierte »Diana«.

»Wer ist Diana? Kennen Sie eine Diana?«

»Nein. Das heißt …«

»Aha. Also doch.«

»Fragen Sie den Geist, ob diese Diana verwitwet ist.«

Der Spaß ging weiter. Mr Rycroft lächelte nachsichtig. Junge Leute brauchten ihr Vergnügen. Einmal loderte das Feuer kurz auf und tauchte das Gesicht der Gastgeberin in seinen hellen Schein. Es wirkte besorgt, fast entrückt. Sie war mit dem Kopf ganz woanders.

Major Burnaby dachte an den Schnee. Abends würde es wieder losgehen. Er konnte sich an keinen so strengen Winter erinnern.

Mr Duke war dagegen mit großem Ernst bei der Sache, obwohl ihm die Geister zu seinem Leidwesen kaum Beachtung schenkten. Alle Botschaften richteten sich entweder an Violet oder an Ronnie.

Violet erfuhr, dass sie nach Italien reisen werde. Nicht allein, sondern in Begleitung. Nicht in Begleitung einer Frau, sondern eines Mannes, eines gewissen Leonard.

Alles lachte. Der Tisch buchstabierte den Namen der Stadt. Ein russisch klingendes Durcheinander, ganz und gar nicht italienisch.

Daraufhin wurden die üblichen Anschuldigungen erhoben.

»Sie schieben ja, Violet!« (Auf das »Miss Willett« verzichtete Ronnie inzwischen.)

»Das ist nicht wahr. Sehen Sie – er bewegt sich, auch wenn ich ihn gar nicht berühre.«

»Klopfen gefällt mir besser. Ich bitte ihn einfach, laut zu klopfen.«

Ronnie wandte sich an Mr Rycroft und fragte: »Klopfen gehört doch dazu, oder nicht, Sir?«

»Unter den gegebenen Umständen halte ich Klopfen für eher unwahrscheinlich«, antwortete Mr Rycroft trocken.

Eine Pause trat ein. Der Tisch bewegte sich nicht und beantwortete keine Fragen mehr.

»Ist Ida verschwunden?«

Der Tisch produzierte nur einen müden Ruck.

»Könnte bitte ein anderer Geist erscheinen?«

Nichts. Doch dann erbebte das Möbel und tat fast einen Sprung.

»Hurra! Bist du der neue Geist?«

»Ja.«

»Hast du eine Botschaft für einen von uns?«

»Ja.«

»Für mich?«

»Nein.«

»Für Violet?«

»Nein.«

»Für Major Burnaby?«

»Ja.«

»Für Sie, Major. Geist, bitte buchstabiere.«

Der Tisch geriet langsam ins Schaukeln.

»T-R-E-V – sollte das wirklich ein V sein? T-R-E-V – das ergibt keinen Sinn.«

»Das soll Trevelyan heißen, ist doch klar«, sagte Mrs  Willett. »Captain Trevelyan.«

»Meinst du Captain Trevelyan?«

»Ja.«

»Du hast eine Botschaft für Captain Trevelyan?«

»Nein.«

»Was dann?«

Die rhythmischen Schaukelbewegungen, in die der Tisch nun geriet, waren so langsam, dass es nicht schwerfiel, die einzelnen Buchstaben abzuzählen.

»T …« Eine kurze Pause. »O-T.«

»Tot.«

»Jemand ist tot?«

Anstatt mit Ja oder Nein zu antworten, rückte der Tisch so lange, bis er den Buchstaben T erreicht hatte.

»T – meinst du Trevelyan?«

»Ja.«

»Trevelyan ist tot?«

Ein heftiger Ruck. »Ja.«

Einer der Anwesenden sog scharf die Luft ein, und alle am Tisch erwachten aus ihrer Starre.

Als Ronnie weiterfragte, klang seine Stimme plötzlich beklommen, ja fast ehrfürchtig.

»Soll das heißen, dass Captain Trevelyan tot ist?«

»Ja.«

Es wurde still. Niemand wusste, was man noch fragen könnte und wie man mit der unerwarteten Wendung umgehen sollte.

Während alles schwieg, begann der Tisch erneut zu rücken. Langsam und rhythmisch sprach Ronnie die Buchstaben nach.

M-O-R-D …

Mrs Willett schrie auf und nahm blitzschnell die Hände vom Tisch.

»Mir reicht es. Das ist ja grauenhaft.«

Mr Duke übernahm und stellte dem Tisch mit klarer, sonorer Stimme die nächste Frage.

»Soll das heißen, dass Trevelyan ermordet wurde?«

Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, kam auch schon die Antwort. Es war nur ein einziger Ruck, der jedoch so heftig ausfiel, dass der Tisch beinahe kippte.

»Ja …«

»Für meine Begriffe ist das ein übler Scherz«, sagte Ronnie mit zittriger Stimme und nahm ebenfalls die Hände von der Platte.

»Schalten Sie das Licht ein«, bat Mr Rycroft.

Major Burnaby erhob sich und knipste die Lampen an. In der plötzlichen Helle sah man einen Kreis bleicher, verstörter Gesichter.

Alle blickten sich an. Keiner wusste etwas zu sagen.

»Kompletter Blödsinn«, murmelte Ronnie mit einem gekünstelten Lachen.

»Unglaublich dumm«, sagte Mrs Willett. »Über den Tod macht man keine Witze.«

»Nein, damit darf man wirklich nicht scherzen«, pflichtete Violet ihrer Mutter bei. »Das ist – also, das ist widerlich.«

»Ich schwöre, dass ich nicht geschoben habe!«, rief Ronnie, der sich einem unausgesprochenen Vorwurf ausgesetzt sah.

»Dasselbe gilt für mich«, erklärte Mr Duke. »Für Sie auch, Mr Rycroft?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Mr Rycroft sehr freundlich.

»Sie glauben doch nicht, dass ich zu einem so geschmacklosen Scherz fähig wäre«, knurrte Major Burnaby.

»Violet, Liebes …«

»Ich habe nichts gemacht, Mutter. So etwas würde ich nie tun.«

Die junge Frau war den Tränen nahe.

Alle blickten verlegen zu Boden. Plötzlich lag ein dunkler Schatten auf der fröhlichen Gesellschaft.

Major Burnaby schob seinen Stuhl zurück, trat ans Fenster, zog den Vorhang zur Seite und sah, mit dem Rücken zu den anderen, hinaus.

»Fünf vor halb sechs«, sagte Mr Rycroft nach einem Blick zur Standuhr und verglich die Zeit mit der auf seiner eigenen Uhr. Irgendwie erschien diese Maßnahme allen bedeutungsvoll.

»So, jetzt gönnen wir uns einen Cocktail«, sagte Mrs  Willett gezwungen fröhlich. »Wenn Sie klingeln würden, Mr Garfield …«

Ronnie folgte ihrer Bitte.

Die Cocktailzutaten wurden gebracht, und man ernannte Ronnie zum Mixer. Nach und nach entspannte sich die Atmosphäre etwas.

»Zum Wohl!« Ronnie hob sein Glas.

Auch alle anderen prosteten sich zu – nur die stumme Gestalt am Fenster nicht.

»Ihr Cocktail, Major Burnaby.«

Der Major fuhr zusammen und drehte sich langsam um.

»Danke, Mrs Willett, für mich bitte nicht.« Nachdem er noch einmal in den Abend hinausgeblickt hatte, kehrte er langsam zu der Gruppe am Kamin zurück. »Vielen Dank für den angenehmen Aufenthalt. Gute Nacht.«

»Sie gehen?«

»So ist es.«

»Doch nicht schon jetzt! Noch dazu an einem solchen Abend!«

»Ich bedaure, Mrs Willett, aber es muss sein. Wenn es hier nur ein Telefon gäbe!«

»Ein Telefon?«

»Ja. Ich bin ehrlich gesagt – also, ich möchte mich davon überzeugen, dass Captain Trevelyan wohlauf ist. Reiner Aberglaube oder wie Sie es auch immer nennen mögen, aber so ist es eben. Ich messe diesem Unsinn zwar nicht die geringste Bedeutung bei, aber …«

»Sie können hier nirgendwo telefonieren. Es gibt in ganz Sittaford keinen einzigen Apparat.«

»Das ist es ja gerade. Und weil ich nicht telefonieren kann, muss ich persönlich hin.«

»Bei diesen Straßenverhältnissen kommt kein Auto durch. An so einem Abend fährt Elmer Sie garantiert nicht.«

Elmer, der einzige Autobesitzer in Sittaford, vermietete seinen alten Ford zu einem ansehnlichen Preis an Dorfbewohner, die nach Exhampton wollten.

»Nein, nein, natürlich nicht mit dem Auto. Ich gehe zu Fuß.«

Er erntete lautstarken Protest.

»Das ist völlig ausgeschlossen, Major Burnaby. Sie haben selbst gesagt, dass es wieder schneien wird.«

»Erst in einer Stunde oder noch später. Keine Sorge, das schaffe ich schon.«

»Das lassen wir nicht zu!«

Mrs Willett war zutiefst besorgt, ja fast empört.

Doch weder Argumente noch Bitten konnten den Major umstimmen. Stur, wie er war, ließ er sich von einem einmal gefassten Entschluss niemals abbringen.

Er hatte entschieden, nach Exhampton zu laufen, um sich vom Wohlergehen seines alten Freunds Trevelyan zu überzeugen, und wiederholte diese schlichte Aussage gut und gern fünf-, sechsmal.

Nach und nach wurde den anderen klar, dass er es ernst meinte. Er packte sich in seinen Mantel, entzündete die Sturmlaterne und trat in die Nacht hinaus.

»Ich hole vorher noch bei mir zu Hause meinen Flachmann, dann geht es los«, sagte er fröhlich. »Übernachten kann ich bei Trevelyan. Eigentlich völlig unnötig das Ganze, es ist bestimmt alles in Ordnung. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Willett, in ein paar Stunden bin ich dort, egal ob es schneit oder nicht. Gute Nacht.«

Er stapfte davon, während die anderen zum Feuer zurückkehrten.

Nachdem er kurz den Himmel betrachtet hatte, wandte sich Mr Rycroft zu Mr Duke und murmelte:

»Es wird wieder schneien, und zwar lang bevor er Exhampton erreicht hat. Ich kann nur hoffen, dass ihm unterwegs nichts passiert.«

Duke runzelte die Stirn.

»Ich hätte mitgehen sollen. Einer von uns hätte ihn begleiten müssen.«

»Eine schreckliche Geschichte, einfach schrecklich«, jammerte Mrs Willett. »Dieses dumme Spiel wird hier nie wieder veranstaltet, Violet. Wahrscheinlich gerät der arme Major in eine Schneewehe oder holt sich den Tod in dieser Kälte. Und das in seinem Alter! Ein Irrsinn, einfach loszuziehen. Captain Trevelyan befindet sich bestimmt bei bester Gesundheit.«

»Ganz sicher, ganz sicher«, tönte es aus der Runde.

Doch das allgemeine Unbehagen blieb.

Was, wenn dem Captain doch etwas zugestoßen war …

3Fünf vor halb sechs

Zweieinhalb Stunden später, kurz vor acht Uhr abends, wankte Major Burnaby, die Sturmlaterne in der Hand, das Kinn an die Brust gepresst, um sein Gesicht vor dem heftigen Schneegestöber zu schützen, auf die Tür von Hazelmoor zu, wie das von Captain Trevelyan gemietete Häuschen hieß.

Etwa eine Stunde zuvor hatte der Schneesturm erneut eingesetzt. Major Burnaby war außer Atem. Er keuchte vor Erschöpfung, und die Kälte hatte ihm jedes Gefühl aus den Gliedern getrieben. Mit den Füßen stampfend, schnaufend, pustend und prustend streckte er den Arm aus und setzte seinen tauben Finger an den Klingelknopf.

Im Haus gellte die Glocke.

Burnaby wartete. Als mehrere Sekunden lang nichts geschah, drückte er noch einmal.

Wieder rührte sich nichts.

Er klingelte ein drittes Mal und ließ den Finger auf dem Knopf.

Trotz des anhaltenden Schellens war im Haus kein Lebenszeichen zu vernehmen.

Schließlich griff er nach dem Klopfer und schlug damit so kraftvoll an die Tür, dass es wie Donner hallte.

Im Haus herrschte weiterhin Grabesstille.

Der Major gab auf und blieb eine Weile wie benommen stehen. Dann ging er den schmalen Weg zurück, trat durchs Gartentor und folgte der Straße, auf der er gekommen war, weiter nach Exhampton, bis er nach hundert Metern die kleine Polizeiwache erreichte.

Nach kurzem Zögern fiel sein Entschluss, und er trat ein.

Constable Graves, der den Major gut kannte, erhob sich verwundert.

»Was machen Sie in einer solchen Nacht da draußen, Sir?«

»Hören Sie«, erwiderte der Major barsch, »ich habe mehrmals bei Captain Trevelyan geklopft und geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht.«

»Wie auch – heute ist Freitag«, sagte Graves, der mit den Gewohnheiten der beiden Männer vertraut war. »Soll das etwa heißen, dass Sie bei diesem Wetter von Sittaford hierhergekommen sind? Der Captain rechnet heute bestimmt nicht mit Ihnen.«

»Ich bin aber trotzdem gekommen«, entgegnete Burnaby gereizt. »Und mir wurde wie gesagt nicht geöffnet. Ich habe geklingelt und geklopft – keine Reaktion.«

Offenbar übertrug sich seine Besorgnis nach und nach auf den Wachtmeister, denn der runzelte die Stirn und murmelte:

»Das ist seltsam.«

»Kann man wohl sagen!«

»Er wird bei diesem Schneesturm kaum ausgegangen sein.«

»Natürlich nicht.«

»Wirklich seltsam«, sagte Graves noch einmal.

Die Schwerfälligkeit des Mannes beanspruchte Burnabys Geduld so sehr, dass er ihn anfuhr:

»Nun tun Sie doch etwas!«

»Was denn?«

»Irgendwas!«

Der Wachtmeister dachte nach.

»Vielleicht ist er plötzlich krank geworden.« Seine Miene hellte sich auf. »Ich versuche ihn telefonisch zu erreichen.« Er griff zum Hörer des Dienstapparats und nannte die Nummer.

Doch Captain Trevelyan reagierte auf das Klingeln des Telefons ebenso wenig wie auf das der Glocke.

»Offenbar ist er tatsächlich krank geworden«, meinte Graves und legte den Hörer auf die Gabel. »Und das, wo er sich ganz allein im Haus aufhält. Wir müssen Dr Warren verständigen und mit ihm zum Captain gehen.«

Dr Warren, dessen Haus gleich beim Polizeirevier lag, war nicht erfreut über den Notruf, denn er saß gerade mit seiner Frau beim Essen. Widerwillig erklärte er sich einverstanden mitzukommen, zog Wintermantel und Gummistiefel an und schlang sich einen Schal um den Hals.

Es schneite noch immer.

»Mistwetter!«, brummte der Arzt. »Hoffentlich haben Sie mich nicht umsonst in die Kälte gehetzt. Trevelyan hat eine wahre Rossnatur, dem fehlt nie etwas.«

Burnaby erwiderte nichts.

Als sie bei dem Häuschen des Captains angekommen waren und sich nach weiterem Klingeln und Klopfen wieder nichts tat, schlug Dr Warren vor, zu einem der hinteren Fenster zu gehen.

»Die lassen sich leichter aufbrechen als die Tür.«

Graves willigte ein, und sie machten sich auf den Weg zum rückwärtigen Teil des Hauses. Unterwegs versuchten sie ihr Glück an einem Seiteneingang, der jedoch ebenfalls verschlossen war, und gelangten schließlich zu der verschneiten Rasenfläche hinter dem Haus. Plötzlich rief Warren:

»Das Fenster im Arbeitszimmer steht offen!«

Und wirklich, das bodentiefe Fenster war nur angelehnt. Sofort eilten die Männer hin. Man musste völlig verrückt sein, um in einer solchen Nacht ein Fenster zu öffnen. Ein schmaler gelber Lichtstreifen drang aus dem Zimmer.

Alle drei erreichten die Fenstertür gleichzeitig. Burnaby betrat den Raum als Erster, dicht gefolgt von Constable Graves.

Drinnen blieben sie abrupt stehen, und dem früheren Soldaten entfuhr ein erstickter Schrei. Einen Augenblick später war Dr Warren bei ihnen und sah, was sie entdeckt hatten.

Captain Trevelyan lag, die Arme weit gespreizt, mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden. Im Zimmer herrschte Chaos – die Schreibtischschubladen waren herausgezogen, überall lagen Papiere herum. Die Fenstertür war aufgebrochen worden, der hölzerne Rahmen an einer Stelle zersplittert. Neben dem Captain befand sich eine mit Sand gefüllte dunkelgrüne Filzrolle von etwa fünf Zentimetern Durchmesser.

Dr Warren lief hin und kniete sich neben die ausgestreckt daliegende Gestalt.

Es dauerte nicht lang, bis er sich mit bleichem Gesicht wieder erhob.

»Ist er tot?«, fragte Burnaby.

Der Arzt nickte. Dann wandte er sich an Graves.

»Sie müssen jetzt entscheiden, was zu tun ist. Mir bleibt nur, die Leiche zu untersuchen, aber das mache ich besser erst, wenn der Inspector hier eintrifft. Die Todesursache ist jedenfalls klar – ein Bruch der Schädelbasis. Mit welcher Waffe der Schlag erfolgt ist, kann ich mir auch schon denken.«

Er deutete auf die grüne Filzrolle.

»Die Dinger hat Trevelyan immer als Sandsack unten an die Türen gelegt, um die Zugluft abzuhalten«, sagte Burnaby mit rauer Stimme.

»Eine sehr effiziente Methode.«

»O Gott!«

»Dann ist das«, rief der Wachtmeister, dem, bedingt durch seine geistige Trägheit, erst jetzt ein Licht aufging, »dann ist das hier also ein Mord?«

Er sprang zum Tisch, auf dem ein Telefon stand.

Major Burnaby wandte sich an den Doktor und fragte ihn schwer atmend:

»Können Sie mir sagen, wie lange er schon tot ist?«

»Etwa zwei Stunden, schätze ich, vielleicht auch drei. Aber nageln Sie mich nicht darauf fest.«

Burnaby fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

»Wäre es denkbar, dass er um fünf vor halb sechs getötet wurde?«

Der Arzt betrachtete ihn verwundert.

»Wenn ich einen Zeitpunkt nennen müsste, wäre es ziemlich genau fünf vor halb sechs.«

»O mein Gott«, sagte Burnaby.

Warren starrte ihn an.

Mit starrem Blick tastete sich der Major zu einem Stuhl, ließ sich darauf fallen und murmelte, während sein Gesicht zu einer Maske des Entsetzens erstarrte:

»Fünf vor halb sechs – es war also doch kein Scherz.«

4Inspector Narracott

Am Morgen nach der Tragödie standen zwei Männer im Arbeitszimmer von Hazelmoor, Captain Trevelyans Häuschen.

Inspector Narracott sah sich mit leicht gerunzelter Stirn im Raum um.

»Tja«, sagte er nachdenklich. »Tja.«

Der tüchtige Polizist, ein Mensch von stiller Beharrlichkeit, verfügte über einen ausgeprägten logischen Verstand und ein scharfes Auge für Details, was ihm Erfolge eintrug, wo andere scheiterten.

Er war groß und eher wortkarg. Seine grauen Augen blickten meist versonnen, und er sprach mit dem schleppenden weichen Akzent der Bewohner von Devonshire.

Gleich mit dem ersten Zug war er an diesem Morgen aus Exeter angereist, um den Fall zu übernehmen. In der Nacht selbst hatte sich das als unmöglich erwiesen, weil die Straßen nicht einmal von Autos mit Schneeketten passiert werden konnten. Nun stand er in Captain Trevelyans Arbeitszimmer, das er soeben gründlich in Augenschein genommen hatte. Neben ihm wartete Sergeant Pollock von der Polizei in Exhampton.

»Tja«, sagte Inspector Narracott.

Ein Strahl der bleichen Wintersonne fiel durch das Fenster, vor dem die verschneite Landschaft lag. Etwa hundert Meter vom Haus entfernt war ein Zaun zu erkennen. Gleich dahinter stieg das Gelände steil zu einer ebenfalls mit Schnee bedeckten Anhöhe an.

Inspector Narracott beugte sich noch einmal über die Leiche, die man wegen der Ermittlungen auf dem Boden belassen hatte. Da er selbst viel Sport trieb, war ihm der athletische Körperbau mit den breiten Schultern, den schmalen Hüften und den gut ausgebildeten Muskeln sofort aufgefallen. Der kleine Kopf saß wohlproportioniert auf den Schultern, und der spitz zulaufende Seemannsbart war sorgfältig getrimmt. Der Captain, der Narracotts Recherchen zufolge sechzig Jahre alt war, sah wie ein Mann Anfang fünfzig aus.

»Eine merkwürdige Geschichte.«

»Und ob«, erwiderte Sergeant Pollock.

Narracott drehte sich zu ihm um.

»Wie sehen Sie die Sache?«

»Na ja …« Sergeant Pollock kratzte sich am Kopf. Er war ein vorsichtiger Mensch, der sich ungern weiter aus dem Fenster lehnte als unbedingt nötig. »Also, meiner Ansicht nach ist jemand eingebrochen und hat das Zimmer durchstöbert. Captain Trevelyan hielt sich wahrscheinlich gerade oben auf – der Einbrecher dachte bestimmt, das Haus wäre leer.«

»Wo befindet sich das Schlafzimmer des Captains?«

»Oben, Sir. Genau über diesem Zimmer.«

»Um diese Jahreszeit ist es um vier Uhr nachmittags bereits dunkel. Wenn Captain Trevelyan im Schlafzimmer gewesen wäre, hätte der Einbrecher auf dem Weg zum Fenster das brennende Licht gesehen.«

»Und hätte gewartet, meinen Sie?«

»Kein Mensch von klarem Verstand bricht in ein Haus ein, in dem Licht brennt. Wenn jemand dieses Fenster eingeschlagen hat, dann weil er das Haus für leer hielt.«

Sergeant Pollock kratzte sich am Kopf.

»Kommt mir komisch vor, aber genau so war es offenbar.«

»Lassen wir das erst einmal auf sich beruhen. Sprechen Sie weiter.«

»Angenommen, der Captain hört etwas und geht hinunter, um nachzusehen. Der Einbrecher bemerkt sein Kommen, schnappt sich die Filzrolle, stellt sich hinter die Tür und schlägt den Captain, als er den Raum betritt, von hinten nieder.«

Inspector Narracott nickte.

»Ja, sein Gesicht war zum Fenster gerichtet, als es ihn erwischt hat. Trotzdem halte ich nichts von dieser Idee.«

»Nein, Sir?«

»Nein. Ich glaube, wie gesagt, nicht, dass irgendjemand nachmittags um fünf irgendwo einbricht.«

»Vielleicht dachte er, es wäre eine gute Gelegenheit …«

»Hier geht es nicht um eine spontane Entscheidung, weil ein Fenster offen stand. Wir haben es mit einem vorsätzlichen Einbruch zu tun – sehen Sie sich nur das Durcheinander an. Worauf hat es ein Einbrecher als Allererstes abgesehen? Auf das Silber im Geschirrschrank.«

»Da haben Sie recht«, gab der Sergeant zu.

»Dieses Durcheinander, dieses Chaos«, fuhr Narracott fort, »die herausgerissenen Schubladen und der verstreute Inhalt – reiner Schwindel!«

»Schwindel?«

»Sehen Sie sich die Fenstertür genau an, Sergeant. Sie war nicht verriegelt und wurde aufgebrochen, sondern sie war nur geschlossen und wurde von außen beschädigt, um den Eindruck zu erwecken, sie wäre aufgebrochen worden.«

Leise vor sich hin murmelnd nahm Pollock das Fenster gründlich unter die Lupe.

»Völlig richtig, Sir«, sagte er in respektvollem Ton. »Aber wer macht so etwas?«

»Jemand, der uns Sand in die Augen streuen wollte – es aber nicht geschafft hat.«

Das »uns« hörte Sergeant Pollock ausgesprochen gern, ahnte jedoch nicht, dass Narracott solche kleinen Bemerkungen nur fallen ließ, um seine Beliebtheit bei den Untergebenen zu steigern.

»Also kein Einbruch. Sie glauben, dass der Mörder ins Haus gelassen wurde?«