Das Genie - Klaus Cäsar Zehrer - E-Book

Das Genie E-Book

Klaus Cäsar Zehrer

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Beschreibung

Boston, 1910. Der elfjährige William James Sidis wird von der Presse als »Wunderjunge von Harvard« gefeiert. Sein Vater triumphiert. Er hat William von Geburt an mit einem speziellen Lernprogramm trainiert. Doch als William erwachsen wird, bricht er mit seinen Eltern und seiner Vergangenheit und weigert sich, seine Intelligenz einer Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, die von Ausbeutung, Profitsucht und Militärgewalt beherrscht wird.

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Klaus Cäsar Zehrer

Das Genie

Roman

Diogenes

If we wish to have a strong, healthy, happy race of men,

we should lay a good foundation in the education of early childhood.

 

Boris Sidis, 1919

So wird Ihr Kind ein Genie

Als erste Zeitschrift überhaupt stellen wir an dieser Stelle unseren Lesern die faszinierende »Sidis-Methode« vor, die aus durchschnittlich intelligenten Kindern Hochbegabte macht. Mit ihr wurden bereits erstaunliche Erfolge erzielt – und alle Eltern können sie anwenden.

Stellen Sie sich vor, jemand sagt zu Ihnen: »Möchten Sie, dass Ihr Kind ein Genie wird?« Und dann sagt er: »Gut, Sie müssen nur soundso vorgehen. Es kostet Sie vielleicht ein bisschen Mühe, aber im Grunde ist es ganz einfach.«

Im Ernst: Es gibt tatsächlich eine Methode, die eigens dazu entwickelt wurde, ein Kind in ein Genie zu verwandeln. Man braucht dafür kein psychologisches oder akademisches Spezialwissen, und die Ergebnisse sind garantiert beeindruckend. Wichtig ist nur eines: Die Regeln müssen genau eingehalten werden.

Die neuartige Erziehungsmethode beginnt bereits an der Wiege und wurde bislang nur an einem einzigen Kind konsequent angewendet. Die Eltern dieses Kindes haben die Methode selbst erfunden. Das Ergebnis war eine einzigartige, rekordverdächtige Erfolgsgeschichte.

(This Week Magazine, 2. März 1952)

Erster Teil

1

Das Erste, was Boris Sidis tat, nachdem er amerikanischen Boden betreten hatte, war, seinen beiden Reisebegleitern die Freundschaft zu kündigen. Sie hatten zwei Monate ihres Lebens miteinander geteilt, waren nachts im peitschenden Regen zwischen Radywyliw und Brody durch den Wald geirrt, um unbemerkt auf galizischen Boden zu gelangen, hatten sich erst nach Lemberg und von dort aus nach Wien durchgeschlagen, waren mit dem Zug nach Hamburg gereist, hatten eine Passage über Le Havre nach New York gekauft und drei Wochen unter Deck des Segeldampfers SS Lessing verbracht. Und nun standen Alexij und Wladimir morgens um halb acht, erschöpft von den Reisestrapazen und steinmüde, an der Südspitze Manhattans, im Rücken den gewaltigen Rundbau von Castle Garden, zwei von Millionen Einwanderern, die in den letzten Jahrzehnten dieses Tor zur Neuen Welt durchschritten hatten, und mussten sich von Boris zurechtweisen lassen wie Schuljungen.

Er habe bis jetzt geschwiegen, um das Ziel ihrer gemeinsamen Unternehmung nicht zu gefährden, sagte er. Aber nun, da es erreicht und die Stunde der Trennung gekommen sei, gebe es keinen Grund mehr zur Zurückhaltung. Trotz seiner Probleme mit dem linken Bein und gelegentlicher Atemnot habe er während der gesamten Reise nicht ein einziges Mal über die widrigen Umstände geklagt, ganz im Gegensatz zu ihnen. Anstatt sich zu freuen, nach einem langen Tagesmarsch ein Bett in einer preiswerten Herberge vorzufinden, hätten sie sich fortwährend nur beschwert, über das knarrende Bettgestell, die klammen Decken, die Wanzen in den Matratzen. Anstatt dankbar zu sein, dass sie nicht einen einzigen Tag ohne Essen auskommen mussten, sei ihnen das, was sie von den Bauern bekommen hatten, nicht gut genug gewesen, das Brot zu hart, die Milch zu sauer, die Kartoffeln zu faulig. Anstatt sich mit jeder Werst, die sie zwischen sich und die Ukraine brachten, freier zu fühlen, hätten sie unaufhörlich gemurrt, über die Blasen an ihren Füßen, das schwere Gepäck, die Hitze, die Kälte, die Nässe, die Trockenheit, an allem hätten sie etwas zu mäkeln gefunden.

Kurzzeitig habe er gehoff‌t, dass wenigstens an Bord damit Schluss wäre. Von vereinter Wind- und Motorkraft wurden sie in kürzester Zeit über den Ozean geschoben, bei Vollverpflegung und mit einem Maß an Sicherheit und Komfort, von dem die Seefahrer aller Zeiten bloß hätten träumen können. Aber natürlich hätten sie sich gleich wieder an etwas gestört, an der abgestandenen Luft in den Kabinen, der Enge, der Dunkelheit und der Langeweile, die sie von früh bis spät mit Kartenspielen zu überwinden versuchten, freilich ohne Erfolg, weil derlei nichtiger Zeitvertreib die Langeweile nun einmal nicht besiege, sondern überhaupt erst erzeuge. Aber um das Offensichtliche zu sehen, dafür reiche es bei ihnen augenscheinlich nicht hier oben.

Boris tippte sich an die Stirn und wartete einen Moment, um ihnen Gelegenheit zur Erwiderung zu geben, doch da sie ihn nur stumpf anglotzten wie zwei Karpfen, fuhr er fort.

Die Entscheidung, sein amerikanisches Leben ohne sie zu beginnen, habe er vorhin getroffen, bei der Einfahrt in den Hafen, als das Schiff an dem gigantischen Monument vorüberglitt, das sich im Dämmerlicht gegen den Morgenhimmel abzeichnete. Ein ergreifender Anblick, für ihn ebenso wie für alle anderen Passagiere, die in andächtiger Stille auf dem Deck standen. Alle waren tiefbewegt, viele weinten vor Rührung. Nur Wladimir fiel nichts Besseres ein, als Spekulationen darüber anzustellen, was dieses Trumm wohl gekostet hatte, und daraus auf die Reichtümer zu schließen, die ihn in Amerika erwarteten. Schlimmer noch Alexij, der in der Gestalt lediglich ein dralles Riesenweib im Nachthemd erkennen konnte und an diese ohnehin reichlich geistverlassene Bemerkung einige Phantasien von unaussprechlicher Obszönität knüpf‌te, die Boris um keinen Preis wiederholen wollte.

Bei dem imposanten Denkmal, das im Übrigen bald eingeweiht werde, handle es sich – dies als letzter Hinweis, bevor sich ihre Wege endgültig trennten – um die sogenannte Bartholdi-Statue, und die Figur verkörpere nichts Geringeres als die Freiheit, die das Fackellicht der Aufklärung über die Welt bringe. Dieses Licht sei es, das ihn hierher gelotst habe und von dem er sich zeitlebens führen zu lassen beabsichtige, mochten andere auch lieber den faulen Verlockungen des Goldes oder des Fleisches folgen. Er wünsche den beiden, das wahre Glück vom falschen unterscheiden zu lernen, und nun habe er ihnen nichts mehr weiter zu sagen als Lebewohl.

Boris ergriff energisch seinen Koffer, machte mit einer demonstrativ schwungvollen Bewegung auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter einer italienischen Großfamilie, die sich unter aufgeregtem Geschrei und wild gestikulierend über die Frage zankte, wie der beachtliche Haufen an Flechtkörben und Taschen in ihrer Mitte weiterzutransportieren sei.

Irgendetwas missfiel ihm an seinem Abgang, kam ihm inkonsequent und unvollständig vor. Ein paar Straßen weiter sah er unter einem Holzverschlag ein jämmerliches Paar mit fünf schmutzigen Kindern – den rotblonden Haarschöpfen, der ungesund blassen Haut und dem zerlumpten Leinenzeug nach zu urteilen handelte es sich um Iren –, und da fiel es ihm ein. Er stellte den schweren Reisekoffer, das Abschiedsgeschenk seiner Mutter, vor ihnen ab und entfernte sich so zügig, wie sein linkes Bein, das er stets ein wenig nachzog, es ihm erlaubte. Während die Familie noch rätselte, wer der eigenartige Fremde war und was er bezweckte, kam er zurück, zog seine gesamte Barschaft, genau dreiundvierzig Dollar, aus seinem Strumpf, klemmte die Scheine unter den Koffergriff und bog, diesmal endgültig, um die nächste Ecke.

Im Battery Park setzte sich Boris auf eine Bank am Ufer und blickte hinüber zum Freiheitsdenkmal, dessen Kupfer in der Morgensonne glänzte wie eine Flammenzunge. Er vergegenwärtigte sich seine Lage. Nüchtern betrachtet, stand er vor dem Nichts. Allein, mittellos und ohne Beruf in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, wo niemand ihn erwartete, wo er seine beiden einzigen Bekannten soeben von sich gestoßen hatte und dessen Sprache er nicht beherrschte. Er sprach nur Russisch, Ukrainisch, Polnisch, Hebräisch und Jiddisch, zudem, allerdings nicht ohne Akzent, Ungarisch, Bulgarisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Auf Tschechisch, Rumänisch, Niederländisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch und Armenisch konnte er sich leidlich verständigen. Und Altgriechisch und Latein lesen, selbstverständlich. Sein Sanskrit war leider noch immer stark verbesserungsbedürf‌tig, er hatte es für längere Zeit vernachlässigen müssen. Und zum Englischen hatte er noch gar keinen Zugang gehabt, sah man von ein paar Shakespeare- oder Milton-Zitaten ab, die ihm im Augenblick nicht besonders hilfreich waren. Die Schilder, die er bislang gesehen hatte, waren gleichwohl eine leichte Prüfung gewesen: Immigration, Passport Control, Bread & Cof‌fee.

Seine Heimat würde er nach allem Ermessen nie mehr wiedersehen, nicht seine Familie, keinen seiner Freunde. Ihm fiel ein, dass sich im Koffer eine gerahmte fotografische Aufnahme seiner Eltern und seiner vier Geschwister befand. Sie hatten sie vor seiner Abreise eigens für ihn anfertigen lassen. Sollte er noch einmal zurückgehen und sich wenigstens die wiedergeben lassen? Ach, sei’s drum. Alles unnützer Ballast. Besser, einen Schlussstrich zu ziehen.

Es gefiel ihm, dass er nichts mehr besaß, mit Ausnahme von dem, was er am Leibe trug und was er im Kopf hatte. Es gefiel ihm ganz praktisch – kein Gepäck mehr schleppen, vor keinen Dieben mehr auf der Hut sein müssen –, und noch mehr gefiel es ihm als Vorstellung. Den Idealzustand, die paradiesische Voraussetzungslosigkeit eines Neugeborenen, würde er als Erwachsener nie wieder erreichen können, aber das hier kam dem immerhin nahe.

Boris griff in seine Manteltasche und stieß zu seiner Überraschung auf ein paar Centstücke. Ach ja, das Wechselgeld vom Frühstück, das er sich vorhin, noch in der Einwanderungsstation, bei einem fliegenden Händler besorgt hatte. Er ließ die Münzen ein wenig in der Hand klimpern, bevor er sie ins Wasser schleuderte.

Er schloss die Augen, prüf‌te sich und stellte fest, dass er glücklich war. Das Gefühl war so klar und rein, dass er meinte, einem Selbstbetrug aufzusitzen. Ein zweites Mal hörte er in sich hinein, etwas länger und tiefer, aber er konnte nichts anderes entdecken als ungetrübte Ruhe, freudige Zuversicht und unstillbaren Lebensdurst. Ja, er stand vor dem Nichts. Aber das Nichts war kein schwarzer Abgrund, es war eine leere Leinwand, auf die er das Bild seines Lebens malen durf‌te, nach seinem eigenen Entwurf. Was, wenn nicht das, war Freiheit?

Wieder schaute er hinüber zum Monument. War das wirklich eine Fackel, was Fräulein Libertas emporhielt? Von hier aus gesehen, hätte man es auch für einen Pinsel halten können.

Es war Dienstag, der 5. Oktober 1886. Boris Sidis beschloss, das Datum künf‌tig zu behandeln wie seinen Geburtstag.

 

Ohne weiteren Verzug sprach er den nächstbesten Parkbesucher an: Er sei neu in der Stadt und auf der Suche nach einer Beschäf‌tigung, irgendeiner, egal was, egal wo. Er wiederholte sein Anliegen in verschiedenen Sprachen, bis der andere sich mit einer Geste des Bedauerns abwandte. Auch mit dem Nächsten und dem Übernächsten misslang der Versuch einer Verständigung.

Erst der Vierte, ein bärbeißiges Wesen mit lückenhaftem Gebiss und stacheligem Bart, begriff, was Boris wollte. Ob er etwa so aussehe wie einer, der Arbeit zu vergeben habe, blaff‌te er auf Deutsch und deutete auf den fleckigen, fadenscheinigen Anzug, der ihm um die dürren Gliedmaßen schlackerte. Nein, er habe keine Arbeit zu vergeben, er suche selbst welche, seit Wochen schon, so wie jeder Dritte auf dieser verdammten Drecksinsel. Wenn er bis heute Abend nichts gefunden habe, dann, bei Gott, werde er sich hier an dieser Stelle ins Wasser werfen, und noch mit seinem letzten Atemzug werde er den vermaledeiten Zeitungsschmock verfluchen, der ihm die Lüge ins Ohr gesetzt hatte, in Amerika lasse es sich besser leben als zu Hause in der Pfalz.

Ein anderer, mit der buntbestickten Bluse eines bulgarischen Landarbeiters, sah Boris aus hohlen Augen treuherzig an und flüsterte heiser und so leise, dass er kaum zu verstehen war: »Bedaure, Bruder. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute, mehr kann ich nicht für dich tun. Hab ja selbst nichts, sonst würde ich’s mit dir teilen. Bei der Gelegenheit: Du kannst nicht zufällig ein Stückel Brot erübrigen, Bruder? Nichts für ungut! Gottes Segen, Gottes Segen!«

Gottes Segen, erwiderte Boris, sei so ziemlich das Allerletzte, was ihm momentan weiterhelfe. Wer darauf vertraue, brauche sich nicht zu wundern, wenn er kein Brot habe. Dann ging er zurück zu seiner Parkbank, um in Ruhe sein weiteres Vorgehen zu überdenken.

Die Bank war bereits besetzt von einem Herrn, der einen zimtfarbenen Ulster über einem nachtblauen Smoking trug. Seinen Gehstock zierte ein elfenbeinerner Knauf in Form eines Gänsekopfs. Er plauderte auf Französisch mit seiner Frau, die artig ein aufgespanntes Schirmchen mit aprikosenfarbenen Rüschen in ihren schmalen weißen Händen drehte, obwohl sie sich weder vor Regen noch vor Sonne schützen musste. Als Boris sich neben die beiden setzte, rutschten sie hinüber bis an die äußerste Kante der Bank.

»Es ist wahrlich dégoûtant, wie dieses Gesindel sich breitmacht«, sagte der Herr. »Wenn sie wenigstens in der Lower East Side blieben, wo sie hingehören« – er deutete vage in die Richtung, in der anscheinend die Lower East Side lag –, »dann wollte ich nichts gesagt haben. Aber es kommen ja tagtäglich neue Schiffe an, die immer noch mehr von dieser unzivilisierten canaille aus Osteuropa ausspeien – muss man sich wundern, wenn noch nicht einmal mehr Downtown von ihnen verschont bleibt? C’est vraiment une honte, n’est-ce pas, ma chère?«

»Henri, je t’en prie! Prends garde!« Die Frau stieß ihn mit dem Ellenbogen an.

»Was, wieso? Wegen diesem russischen Bauernschädel da? Du glaubst doch wohl nicht, dass der auch nur ein Wort von dem versteht, was wir sagen!«

Boris’ Äußeres wirkte in der Tat wenig vertrauenerweckend. Er war eher klein, aber in seinen dunklen, tiefen Augen, unter einem schwarzen Querriegel buschiger Brauen gelegen, loderte ein Feuer, das einem Angst machen konnte. Sein imposanter Schnurrbart, ein zweiter schwarzer Querriegel, war kaum mehr als solcher zu erkennen, so dicht und lang wucherten ihm die Stoppel schon an Wangen, Kinn und Hals. Seine Kleidung bestand im Wesentlichen aus einem einst weißen, jetzt schmutziggrauen Leinenhemd, einer aus den Nähten gehenden Weste, einer Hose aus derbem Kattun, die mit einem Hanfseil um die Hüf‌ten gebunden war, und klobigen schwarzen Arbeitsstiefeln. Das beste Stück war noch sein Mantel, ein beinahe bodenlanger Überwurf aus grobgewalktem Loden.

Er erhob sich von seinem Platz, zog seine flache Filzmütze, verbeugte sich und sagte in tadellosem, wenngleich nicht ganz akzentfreiem Französisch: »Monsieur, je vous suis des plus obligé, car c’est grâce à vous que j’ai appris quelle est la place d’une racaille telle que moi.«

Dann spuckte er dem Herrn vor die Füße und marschierte, das linke Bein ein wenig nachziehend, los in die Richtung, in der er die Lower East Side vermutete.

Den Kopf in den Nacken gelegt, bestaunte er die mit jedem Straßenzug höher aufragenden Häuser. Er zählte sechs, sieben, manchmal sogar acht Stockwerke. Auf den Straßen wurde es immer enger und voller, obwohl kein Volksfest stattfand und anscheinend auch kein Markttag war. Das laute, bunte Gedränge schien hier ein ganz alltäglicher Zustand zu sein. Für eine Weile vergaß er, weshalb er gekommen war, er trudelte einfach mit im Menschenstrom, wie ein Blatt, das in einem Bach treibt. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er elektrisches Licht und Straßenbahnen, sah er Ananas und Kokosnüsse, sah er Neger und Chinesen.

Die Hochstimmung, in die ihn all die neuen Eindrücke versetzten, endete jäh, als ein kräf‌tiger Mann mit kunstvoll gezwirbeltem Bart und fremder Tracht, der in einer unverständlichen, von Diphthongen durchsetzten Sprache unentwegt vor sich hin schimpf‌te, aus einem Toreingang achtlos auf die Straße lief, mit Boris zusammenprallte, in unfreiwilliger Umarmung mit ihm im Gossenschmutz landete und dabei ohne Unterlass weiterschimpf‌te: »Schaug hoit amoi, wosd’ hilaifst, mir glangt’s eh, wi arr lucking for wörkers hom’s g’schriam, nachat sogn’s, auer wehtsch is feif Dollar in da Woch, nachat sog i, spinnt’s ihr, macht’s eiern Scheißdreck doch alloa und bin naus, und jetzat kimmst du oida Depp a no daher.«

Ohne auch nur einen Augenblick in seinem Wortschwall innezuhalten, rappelte sich der Mann hoch, wischte sich die Hände notdürf‌tig an der kurzen ledernen Hose ab und stapf‌te schimpfend davon.

Boris aber, denn so viel hatte er der Rede dann doch entnehmen können, trat durch das Tor und saß eine Minute später einem Bürovorsteher namens Hlávka gegenüber, einem gebürtigen Böhmen, bei dem er sein Tschechisch zur Geltung bringen konnte. Nach weiteren zwei Minuten hatte er eine Anstellung.

»Name?«

»Sidis, Boris.«

»Geboren in?«

»Berdytschiw, Ukraine.«

»Alter?«

»Achtzehn. Das heißt, nächste Woche neunzehn.«

»Anschrift?«

»Ähm, ich bin erst heute Morgen –«

»Schon gut. Krankheiten?«

»Nein. Obwohl, ich habe hin und wieder asthmatische Beschwerden. Und mein Bein –«

»Ich meine ansteckende Krankheiten.«

»Das nicht.«

»Der Wochenlohn beträgt fünf Dollar. Ich weiß, das ist nicht viel, aber –«

»Einverstanden.«

»Anlernen morgen Punkt fünf fünfzehn in der Produktion. Arbeitsbeginn fünf dreißig, Mittagspause elf bis elf dreißig, reguläre Arbeitszeit bis neunzehn dreißig. Fragen?«

»Nein, alles in Ordnung. Obwohl, doch … Vielleicht, wenn es möglich wäre, eine kleine Vorauszahlung … Es ist nämlich so …«

Mr. Hlávka stöhnte leise auf. Schon wieder so ein Hungerleider. Er kramte einen Dollar aus einer Geldkassette und nahm mit spitzen Fingern Boris’ nach frischen Pferdeäpfeln riechenden Mantel als Pfand entgegen.

 

Erst als er wieder auf der Straße stand, in Weste und Hemd, fiel Boris auf, dass überhaupt nicht die Rede davon gewesen war, was er zu tun hatte. Er wusste noch nicht einmal, bei was für einer Firma er angeheuert hatte und was sie herstellte. Das Schild neben dem Eingang war nicht sehr aufschlussreich: Harold F. Weiss Manufacturing Company. Nun gut, das würde sich zeitig genug erweisen. Jetzt galt es erst einmal, eine Unterkunft zu finden.

Auch diese Aufgabe war schnell gelöst. Dass er nach einem Tenement House Ausschau halten müsse, hatte er sich erfragt, und davon gab es hier jede Menge. Er wählte das nächstbeste, folgte einem hustenden Hauswart durch zwei Höfe, erklomm mit ihm eine Feuerleiter, die an der Fassade eines schmucklosen Hinterhauses aus rohem Backstein angebracht war, bis in den vierten Stock und erreichte über einen kahlen, lichtlosen Flur ein Zimmer von höchstens vier Schritt Länge und Breite.

An jeder Wand stand ein weißlackiertes Metallbett, ausgestattet mit einem Strohsack und einer löchrigen Wolldecke. Diagonal über die Zimmerecken waren Schnüre aufgespannt, an denen ein paar kümmerliche Klamotten hingen. Die Raummitte füllte ein klappriges Tischchen aus. Darauf sowie darunter standen und lagen leere Flaschen. Von der Decke baumelte eine verrußte Petroleumlampe. Ein Fenster gab es nicht, nur eine Lüf‌tungsklappe über der Tür. Drei Betten waren belegt, man erkannte es daran, dass unter ihnen einige Habseligkeiten verstaut waren. Das vierte war noch frei.

Boris nickte zufrieden. Den vom Hauswart mit zwei gespreizten Händen angezeigten Preis von zehn Cent pro Nacht akzeptierte er mit einem zweiten Nicken, ohne Versuch, ihn herunterzuhandeln. Dass das Haus im Erdgeschoss über einen Abort und einen Waschraum mit fließendem Wasser verfügte, den die Bewohner frei benutzen durf‌ten, überraschte ihn positiv.

Er aß in einer Taverne für drei Cent einen Teller Kohlsuppe mit Brot und vertrat sich anschließend ein wenig die Beine. Da es dunkel und kalt geworden war, kehrte er jedoch recht bald zurück in sein Zimmer.

Seine Stubengenossen waren mittlerweile eingetroffen, Leo, Mischa und Nathan aus Schytomyr. Sie waren erfreut, einen Landsmann zu treffen, bot er ihnen doch einen willkommenen Anlass, in Erinnerungen zu schwelgen. Schon glaubten sie wogende Kukuruzfelder zu sehen und Piroggen, Borschtsch und Okroschka auf der Zunge zu schmecken. Die beste Okroschka auf der ganzen Welt mache die Olga Sikorska in Schumsk, sagte Nathan genießerisch, während er sich eine billige Zigarette ansteckte. Ob Boris zufälligerweise schon einmal bei ihr gegessen habe?

Nein, das habe er nicht, weder zufälligerweise noch gezielt, gab Boris zurück, und er werde wohl auch künf‌tig nicht in diesen Genuss kommen. Aber dafür lebe er jetzt in Amerika, wo allen, die der alten, erschöpf‌ten Erde ihrer Heimat entfliehen mussten, die Sonne gezeigt werde und wo die Bedrückten der Welt, ob weiß, gelb oder braun, Aufnahme fänden und zu freien und gleichen Menschen würden. Und das halte er, mit Verlaub, für kostbarer als jede Okroschka.

»Na, du bist mir ja ein ganz Schlauer«, sagte Mischa. »Seit einem halben Tag da und schon ein richtiger Amerika-Experte. Die Sonne hab ich übrigens seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Immer nur die Werkstatt, immer nur diese beschissene Werkstatt. Irgendwann verreck ich in der Werkstatt, vielleicht morgen, vielleicht nächstes Jahr, vielleicht auch erst in dreißig Jahren, egal, das interessiert keinen. Und weißt du was? Mich interessiert’s auch nicht. So ist das halt, diese Stadt frisst Menschen. Hunderttausende oder was weiß ich Millionen hat sie schon verschluckt und verdaut und ausgeschissen, da kommt’s auf einen mehr oder weniger nicht an. Dich hat sie gerade in ihr gefräßiges Maul gekriegt, wart’s nur ab, bald beißt sie zu. So schönes, junges Fleisch wie deines frisst sie am liebsten, davon kann sie nie genug kriegen.«

Mischa machte Schmatzgeräusche, bildete mit beiden Armen einen klaffenden Riesenschlund und ging auf Boris zu, wie um ihn zu schnappen. Boris wich zurück bis an die Wand und erkundigte sich, ob Mischa Alkohol getrunken habe; es komme ihm nämlich so vor.

»Alkohol getrunken, wir?«, antwortete Nathan. »Wie kommst du denn darauf? Nein, wir haben keinen Alkohol getrunken. Wie auch, den Zwei-Cent-Fusel kann man ja nicht trinken. Den für fünf Cent, den kann man trinken. Aber den kann man nicht bezahlen. In Schytomyr, da haben wir jeden Herbst unseren eigenen Schnaps gebrannt, aus Birnen und Äpfeln von meinem Schwager aus Kodnya. Zehn solche« – er zeichnete mit den Händen eine Silhouette – »Bauchflaschen jedes Jahr. Fünf haben wir verkauft und fünf selber getrunken. Ach, ich darf gar nicht dran denken.«

»Das ist nicht gut«, sagte Boris eindringlich. »Ich möchte euch empfehlen, euch beim Trinken unbedingt zu mäßigen, am besten ganz damit aufzuhören. Alkohol tötet den Verstand. Und wer seinen Verstand tötet, tötet sich selbst. Bei der Gelegenheit: Ich fände es auch besser, wenn ihr nicht rauchen würdet, zumindest nicht hier im Zimmer. Mit meinen Lungen steht es leider nicht zum Besten, und die Luft ist schon schlecht genug. Je frischer die Luft, desto gesünder der Schlaf.«

»Schönen Dank für die Belehrung«, sagte Leo, der schon auf dem Bett lag, zugedeckt und zur Wand gedreht. »Im Gegenzug möchte ich dir auch was empfehlen.«

»Und zwar?«

»Halt doch einfach mal die Fresse.«

»Aber ich habe euch doch nur einen guten Rat gegeben, wie ihr euer Leben verbessern könnt.«

»Und ich habe dir den guten Rat gegeben, die Fresse zu halten.« Leo richtete sich noch einmal auf. »Hör mal zu. Ich habe heute vierzehn Stunden lang Zementsäcke ausgeladen, und gestern auch, und ich weiß nicht, an wie vielen Tagen davor auch. Weißt du, wie sich das anfühlt? Vielleicht wirst du es bald wissen. Dann wirst du auch wissen, dass du ab und zu einen Schnaps verdammt gut gebrauchen kannst. Dass du ab und zu eine Zigarette verdammt gut gebrauchen kannst. Dass du ab und zu, wenn das Geld reicht und du nicht zu müde dafür bist, eine Hure verdammt gut gebrauchen kannst. Dass du überhaupt so ziemlich alles verdammt gut gebrauchen kannst. Nur einen dahergelaufenen kleinen Professor, der von nichts einen blassen Schimmer hat und der sich zu dir ins Zimmer setzt und dir ungefragt Vorträge hält, was Amerika ist und wie du dein Leben verbessern kannst, den braucht kein Mensch. So, und jetzt Licht aus und Klappe zu.«

»Amen«, sagte Nathan, und Mischa sagte: »Weise Worte, Meister«, und Boris sagte: »Aber –«, und Leo sagte: »Klappe zu«, stand auf und löschte das Petroleumlicht.

 

Als Boris erwachte, schliefen die drei noch. Er wusste nicht, wie spät es war, spürte aber, dass er verschlafen hatte. Mit vorsichtigen Trippelschritten und ausgestreckten Armen tastete er sich aus dem Zimmer, durch den Flur und die Feuerleiter hinunter auf die dunkle, entvölkerte Straße, wo er auch keinen Hinweis auf die Uhrzeit fand. An jeder Kreuzung lief er entweder nach links, nach rechts oder geradeaus, bis er jegliche Orientierung verloren hatte. Er wurde unruhig. Die Stelle war er bestimmt los, gekündigt noch vor dem ersten Arbeitstag. Ob er wenigstens seinen Mantel zurückbekommen würde? Er wärmte zwar nur mäßig, doch gegen die klamme Morgenkälte, die vom Meer her durch die Gassen bis in die Ärmel kroch, wäre ihm jeder Schutz willkommen gewesen.

Endlich gelangte er in eine Gegend, in der schon Menschen auf der Straße waren, beziehungsweise noch, denn es war die Stunde, in der sich der alte und der neue Tag die Hand gaben. Marktfrauen zogen klappernde Leiterwagen übers Pflaster und bauten ihre Stände auf, Bäcker fütterten ihre Öfen mit Scheiten, während späte Zecher lärmend und singend aus den Destillen nach Hause wankten. An einer kleinen Holzbude, in der die ganze Nacht hindurch Kaffee für einen Cent verkauft wurde, erfuhr er die genaue Zeit: drei Uhr zweiundvierzig. Zu spät, um sich noch einmal schlafen zu legen, aber zu früh, um schon zur Arbeit zu gehen. Er trank aus einer angestoßenen Emailletasse einen lauwarmen, ungesüßten und ziemlich bitteren Kaffee, kauf‌te sich an der Nebenbude ein Stück Brot und ein hartgekochtes Ei zum Frühstück, trank eine weitere Tasse Kaffee und hatte immer noch mehr als genug Zeit, die Fabrik zu suchen. Wartend stand er vor dem Gittertor, bis der Portier kam und es aufschloss.

Das Fabrikgebäude sah nicht viel anders aus als das Tenement House, in dem er wohnte. Hier wie dort ließ die schlichte, schmale Straßenfassade nicht erahnen, wie geräumig der tief nach hinten gezogene, mehrere enge Lichtschächte umschließende Komplex war. Und hier wie dort machte die Architektur sichtbar, was der Boden in dieser Lage kostete. Auf raumfressenden Überfluss wie ein repräsentables Foyer oder großzügige Treppenaufgänge wurde verzichtet, kein Quadratfuß mehr als unbedingt nötig für Freiflächen und Höfe verschwendet, ein kleinteiliger Grundriss sechsfach übereinandergelegt. Das Ergebnis war ein engmaschiges Geflecht aus stickigen Räumen, in die, vor allem in den unteren Etagen, selbst zur Mittagsstunde nur ein dif‌fuses Dämmerlicht drang und die deshalb ganztags zusätzliche Beleuchtung brauchten.

Ein aus Danzig stammender Vorarbeiter namens Joseph erklärte Boris auf Polnisch die Anlage, ein Vorgang, der mit ein paar Fingerzeigen erledigt war: Da drüben die Schmiede und die Schlosserei, dort die Tischlerei und die Drechslerei, da werden die Einzelteile produziert, oben in der Fertigung werden sie zusammengefügt, und die Ware kommt dann da hinten ins Lager.

Anschließend führte er Boris in einen Raum im dritten Stock, hieß ihn auf einem Schemel an einer Werkbank Platz nehmen und zeigte ihm, was zu tun war. Er spannte einen Holzstiel in einen Schraubstock ein, setzte einen Hammerkopf darauf und trieb mit einem einzigen, wuchtigen Schlag eines Fäustels einen Keil so tief ins Holz, dass Kopf und Stiel exakt an der richtigen Stelle untrennbar miteinander verbunden waren. Dann legte er den neu fabrizierten Hammer in eine leere Kiste und reichte Boris den Fäustel: Jetzt du.

Joseph hatte schon öf‌ter erlebt, dass die eigentlich simple Aufgabe einem Anfänger nicht sogleich gelang. Aber dass einer damit grundlegend überfordert sein könnte, hätte er nicht gedacht. Boris klemmte sich einen Finger im Schraubstock ein, er wusste nicht, wie er den Fäustel halten sollte, und die unbeholfene Art, mit der er ihn kraftlos auf den Keil plumpsen ließ, offenbarte, dass er noch nie in seinem Leben ein Werkzeug in der Hand gehabt hatte. Joseph schlug ihm mit seiner Arbeiterpranke aufmunternd auf die Schulter, so dass Boris zusammenzuckte, bemerkte, dass Übung den Meister mache, und verschwand, um anderswo einen anderen Neuling einzuweisen.

Die nächsten Stunden verbrachte Boris allein mit sich, seiner Tätigkeit und vier älteren Männern, die an den weiteren Arbeitsplätzen im Raum zu Werke gingen. Anscheinend arbeiteten sie schon lange da, so lange, dass sie sich vollständig von lebendigen Wesen in Produktionsmittel verwandelt hatten. Ihre Haut war so blassgrau wie der Wandverputz. Mit maschinenhafter Gleichmäßigkeit verrichteten sie ihr Werk, ohne erkennbare Anstrengung, aber auch ohne erkennbare Freude an ihrem Tun. Sie sprachen nur Englisch, und davon kein Wort mehr als unbedingt nötig. Wenn Boris, was mehr als einmal geschah, fluchend aufsprang, weil er sich auf den Daumen geschlagen hatte, schauten sie nicht einmal hin. In der Mittagspause schloss er sich ihnen der Einfachheit halber an und landete in einer nahegelegenen Suppenküche, wo er einen sämigen Erbseneintopf aß, der mehr blähte als sättigte.

Als er zurück in der Fabrik war, nahm Joseph ihn zur Seite. Er habe die Kisten überprüft und müsse sagen, dass Boris nicht nur der langsamste Arbeiter sei, den er je gesehen habe, sondern auch der schlechteste. In seiner Kiste sei nur ein einziges verkaufbares Stück gewesen, und zwar jenes, das er, Joseph, am Morgen selbst gefertigt hatte. Eigentlich sei er verpflichtet, unfähiges Personal sofort zu feuern, aber eine zweite Chance habe jeder verdient. Vielleicht tauge Boris ja wenigstens als Träger etwas.

Für den Rest des Tages schleppte Boris Kisten. Die einen, schwer beladen mit Einzelteilen, mussten aus den Werkstätten in die Fertigung gebracht werden, andere, befüllt mit dem neuen Werkzeug, gingen ins Lager, wieder andere enthielten Abfall, der in der Esse verfeuert wurde. Als ihn die Sirene endlich erlöste und in den Feierabend entließ, schmerzte ihm jeder Knochen im Leib, und er hinkte wie ein schlachtreifer Ackergaul. Er war zu müde zum Essen und zu hungrig zum Schlafen. Halb von Sinnen verleibte er sich irgendwo einen Teller Gerstengrütze ein. Dann taumelte er in sein Zimmer, fiel auf sein Bett und schlief in einer Sekunde ein.

Seine Zimmergenossen, die hereingepoltert kamen, jeder in der einen Hand eine Bierflasche, in der anderen eine brennende Zigarette, rissen ihn aus dem Tiefschlaf.

»Was sehe ich denn da? Liegt unser junger Freund doch tatsächlich mit seinen Schuhen im Bett! Hat er etwa« – Leo senkte seine Stimme dramatisch, als spräche er etwas ganz Unerhörtes aus – »Alkohol getrunken?«

»Das wäre nicht gut, o nein, das wäre gar nicht gut.« Nathan wiegte in vorgeblicher Besorgnis den Kopf, hob einen Zeigefinger und redete, mit mäßigem schauspielerischen Talent einen Onkel Doktor imitierend, lehrhaft auf Boris ein: »Alkohol ist nämlich gar nicht gesund, müssen Sie wissen. Ich empfehle Ihnen dringend, damit aufzuhören.«

»Ach, lasst ihn doch.« Als wäre er eine Mutter, die ihr Kind in Schutz nimmt, rief Mischa mit Fistelstimme: »Er hat heute den ganzen Tag gearbeitet, und jetzt ist er soo müde. Das ist er doch nicht gewohnt, der süße Kleine.«

Er zog Boris die Schuhe aus, deckte ihn sorgfältig zu, strich ihm sanft übers Haar und drückte ihm einen Gutenachtkuss auf die Stirn. Mit ihren Flaschen stießen die drei johlend auf jeden ihrer fabelhaften Scherze an.

Boris versuchte gar nicht erst, sich zu wehren. Zum einen, weil er wie betäubt war vor Müdigkeit und jede Bewegung, jedes Wort über seine Kräf‌te gegangen wäre. Und zum anderen, weil es drei gegen einen stand und er wusste, woraus die Dummen dieser Welt ihr unerschütterliches Überlegenheitsgefühl bezogen: aus der schieren Tatsache, dass sie immer und überall in der Mehrheit waren. Er blieb still liegen, in der Hoffnung, dass ihre Spottlust von selbst versiegen würde, wenn er ihr keine neue Nahrung bot. Darin täuschte er sich, doch nahm er ihr wieherndes Gelächter aus immer größerer Entfernung wahr. Als Nathan ihn mit Bier übergoss, reagierte er nicht einmal. Und dass Leo sich in seine Stiefel erleichterte, bekam er schon nicht mehr mit.

 

Der zweite Arbeitstag lief besser als der erste, der dritte besser als der zweite. Boris gewöhnte sich an die harte körperliche Arbeit, und am vierten Tag glaubte er die Abläufe in der Fabrik gut genug zu kennen, um Joseph bescheiden zu fragen, ob er ein paar Verbesserungsvorschläge unterbreiten dürfe.

Die sogenannten Verbesserungsvorschläge neuer Arbeiter kannte Joseph bereits. In aller Regel handelte es sich um Forderungen nach höherem Lohn oder längeren Pausen, nichts Ernstzunehmendes. Aber Boris’ Vorschläge verblüff‌ten ihn noch mehr als dessen handwerkliches Ungeschick. Sie betrafen die Arbeitsabläufe in der Fabrik und waren umfassend, punktgenau, kristallklar formuliert und dermaßen einleuchtend, dass er sich nicht erklären konnte, warum er nicht schon längst selbst darauf gekommen war.

So regte Boris an, Tragegestelle anzuschaffen, die die Last von den Armen auf die Hüf‌ten verlagern und dadurch die Kräf‌te der Träger schonen. Aber das war nur ein Nebenaspekt. Viel wesentlicher war, dass er einen vollständigen Überblick über den Betrieb gewonnen hatte. Er wusste exakt, welche Rohstoffe, Zwischen- und Endprodukte in dem sechsstöckigen Ameisenhaufen wann von wo nach wo transportiert werden mussten, und er konnte überzeugend darlegen, wie sich dasselbe Ziel mit deutlich geringerem Aufwand erreichen ließe, nur durch verbesserte Organisation. Eine Expertenkommission hätte zu keinem anderen Ergebnis kommen können, und ihr Gutachten wäre jeden Preis wert gewesen.

Joseph nahm Boris in die Arme, küsste seine Wangen – eine Geste, die er sofort bereute, zumal Boris zu Stein erstarrte, aber ihm war spontan nichts Angemesseneres eingefallen – und bat um Entschuldigung, dass er einen solchen Mann hatte Kisten schleppen lassen. Sie würden zusammen zu Direktor Weiss gehen, sofort und unverzüglich, und noch heute, garantiert noch heute, werde er einen Posten bekleiden, der seinen Talenten eher entspreche und um ein Vielfaches besser bezahlt sei.

Direktor Weiss war kurz angebunden, aber Joseph ließ sich nicht abwimmeln.

»Bitte, Herr Direktor, nur fünf Minuten. Sie werden es nicht bereuen. Diese fünf Minuten werden die Zukunft Ihrer Firma verändern, und Ihr Leben auch. Dieser junge Mann hier hat Vorschläge zu machen, mit denen Sie gut und gerne fünfzigtausend Dollar im Jahr einsparen.«

»Fünfzigtausend? Das klingt nicht übel«, sagte Direktor Weiss, der kein Wort glaubte, aber doch neugierig geworden war, welcher undurchführbare Humbug ihm wohl gleich vorgetragen werden würde. Er nestelte seine Uhr aus der Westentasche und öffnete den Deckel. »Also gut. Fünf Minuten. Zeit läuft.«

Einige Momente verstrichen, ohne dass Boris begriff, dass er das Wort hatte.

»Was ist? Kann er kein Englisch?«

»Er ist in dieser Woche erst angekommen. Aus Kleinrussland.«

»Na bravo. Ich würde vorschlagen, Sie gehen zurück an Ihre Arbeit und nehmen Ihren kleinen Russen gleich wieder mit.«

»Sie sind Deutscher, Herr Weiss?«, fragte Boris auf Deutsch.

»Aus Breslau, jawohl. Schön, das hätten wir. Na, nun schießen Sie mal los.«

»Ähm – womit?«

»Na ja, erklären Sie dem Herrn Direktor einfach noch mal dasselbe wie mir vorhin«, sagte Joseph, ebenfalls auf Deutsch. »Wie Sie die Produktionskosten hier im Haus senken wollen.«

»Ach so, das. Das ist doch nicht wichtig.«

»Moment mal«, sagte Direktor Weiss. »Sie haben eine Idee zur Kostensenkung, aber Sie halten sie nicht für wichtig?« Ihm war längst klar, dass er es mit einem Verrückten zu tun hatte, aber als kleine Abwechslung zwischendurch fand er das Ganze recht amüsant.

»So ist es«, sagte Boris. »Sie sehen das anders, das ist mir schon klar. Kosten senken, Gewinne steigern, das ist Ihre Welt. Sie kennen eben nur Ihren Profit und nichts Größeres. Dafür leben Sie, für Ihren Profit. Und Sie zwingen andere, ebenfalls für Ihren Profit zu leben. Sie halten das wahrscheinlich auch noch für normal. Ich halte es für ordinär. Wenn ich Ihnen sage, wie Sie den Arbeitern Lasten abnehmen können, dann denken Sie an Entlassungen und Lohneinsparungen. Die halte ich tatsächlich nicht für wichtig. Ich denke an die Rücken der Arbeiter. Die wiederum sind Ihnen egal. Sehen Sie, so unterscheiden wir uns. Aber vielleicht sind wir uns wenigstens darin einig, dass in dieser Fabrik das Kostbarste vergeudet wird, was es gibt, nämlich menschliche Lebenszeit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Sie lassen es zu, dass Menschen von früh bis spät Kisten eine Treppe hoch- und heruntertragen müssen, weil Sie nicht auf den Gedanken kommen, Flaschenzüge an der Fassade anzubringen, wie sie an Lagerhäusern im Holländischen gebräuchlich sind, um das Material durchs Fenster zu reichen.«

Direktor Weiss schwieg. Einerseits ärgerte er sich maßlos über diesen dahergelaufenen Hilfsarbeiter. So unverschämt war ihm noch nie einer gekommen. Andererseits war an der Idee verdammt noch mal was dran. Sie hätte glatt von ihm sein können.

»Aber viel würde das auch nicht bringen«, fuhr Boris fort. »Im Grunde ist das ganze Haus hier eine einzige Fehlplanung.«

»Gut zu wissen. Der Entwurf stammt übrigens von mir.«

»Mag sein. Brauchbar ist er jedenfalls nicht. Die Lower East Side eignet sich nicht für große Produktionsstätten. Fabriken gehören nicht in die Innenstadt, sondern an den Stadtrand, wo genug Platz ist, um sie zweckmäßig, das heißt menschlich zu gestalten: niedrig, hell und luf‌tig.«

»Sie meinen, ich soll die Bude dichtmachen und irgendwo da draußen neu bauen?«

»Wenn Sie klug wären, dann täten Sie das, ja. Und am besten Arbeitersiedlungen gleich daneben, und die auch niedrig, hell und luf‌tig. Das ist der Gesundheit der Arbeiter dienlich. Genau wie eine Kantine mit guter Verpflegung. Licht, Luft, Nahrung, das braucht der Mensch, um zu gedeihen. Und, über allem, Bildung. Bildung für die Arbeiter und Bildung für ihre Kinder, damit sie freie und glückliche Menschen werden.«

»Ist notiert. Sonst noch Wünsche?«

»Aber sicher. Es müsste noch viel mehr geschehen.« Boris hatte sich warmgeredet. »Warum lassen Sie Ihre Arbeiter so lange arbeiten, warum bezahlen Sie sie so schlecht? Weil Sie nicht nur gierig sind, sondern obendrein dumm. Weil Sie denken, wenn die anderen weniger bekommen, bleibt mehr für Sie übrig. So ist es doch, oder nicht? Aber man kann eine Kuh nicht immer nur melken, man muss sie auch füttern. Schauen Sie sich Ihre Arbeiter an. Wie viele von ihnen sind übermüdet, krank, der Trunksucht verfallen? Wie viele sind ungebildet, weil sie schon mit zehn, zwölf Jahren in die Fabrik geschickt werden anstatt in die Schule? Und sie sind arm. Sie können sich das, was sie Tag für Tag herstellen, nicht selber leisten. Wer soll denn das ganze Werkzeug kaufen, wo soll denn der Gewinn herkommen, nach dem Sie so lechzen? Gehen Sie anständig mit Ihren Leuten um, bezahlen Sie sie anständig, dann werden sie auch anständig arbeiten. Wenn Sie schon nicht fähig sind, es für andere zu tun, dann tun Sie es eben für Ihren geliebten Profit – Hauptsache, Sie tun es.«

Boris rang nach Atem. Er hatte sich erregt. Wieso er das alles gesagt hatte, wusste er selbst nicht. Er war sich auch nicht sicher, ob die Vorwürfe zutrafen, er kannte Direktor Weiss ja gar nicht. Das mit den kranken, trunksüchtigen Arbeitern hätte er sich vielleicht sparen sollen. Trotzdem, im Kern hatte er recht, da war er sich vollkommen sicher. Er brauchte die Diskussion mit Direktor Weiss nicht zu fürchten, er hatte die besseren Argumente.

Für eine Weile sagte niemand etwas, das die Spannung hätte lösen können. Joseph betrachtete seine Fingernägel, als wären sie das Interessanteste auf der Welt. Boris verglich das Ölbild an der Wand – der junge Weiss, forsch, dynamisch, visionär ins Ungefähre blickend – mit dem davor sitzenden, sehr viel älteren und quappigeren, aber auch gemütlicheren Original. Direktor Weiss klappte seine Taschenuhr mehrfach auf und wieder zu und drehte – die Augenbrauen vor lauter Konzentration weit nach oben gezogen, den Mund zu einer Schnute gespitzt – am Aufziehrädchen, um zu demonstrieren, dass er der Herr über die Zeit und somit über die Lage war.

Dann steckte er die Uhr zurück in die Westentasche und sagte so ruhig wie möglich zu Joseph (er würdigte Boris keines Blickes, sprach aber auf Deutsch, damit dieser ihn verstehen konnte): »Das waren keine fünf Minuten, das waren fast sieben. Aber das macht nichts. Ich habe dieser interessanten Lektion sehr gerne zugehört. Jetzt habe ich dem jungen Mann auch etwas zu sagen, das sein Leben verändern wird. Ich brauche dafür aber nur eine Sekunde.«

»Und das wäre, Herr Direktor?«

»Er ist entlassen.«

»Wie Sie meinen, Herr Direktor.«

»Und das für Sie: Wenn Sie mir noch einmal einen anschleppen mit solchen grandiosen Ideen, dann fliegen Sie gleich mit.«

»Jawohl, Herr Direktor. Ich dachte nur –«

»Ich bezahle Sie nicht fürs Denken.«

»Jawohl, Herr Direktor.«

»So, und jetzt darf ich den jungen Mann freundlich bitten, sich auf die Straße zu begeben. Ich hoffe, sie genügt seinen Ansprüchen. Jedenfalls ist sie schön niedrig, hell und luf‌tig.«

Direktor Weiss bemühte sich, einen beherrschten Gesichtsausdruck beizubehalten, bis er allein war. Dann läutete er mit der goldenen Tischglocke seinen Sekretär herbei und wies ihn an, sich nach Preisen für Flaschenzüge zu erkundigen.

 

Boris war bester Laune. Er hatte einen eingelegten Hering mit Bratkartoffeln im Magen, ein außergewöhnliches Mahl für einen außergewöhnlichen Tag. Direktor Weiss hatte ihm den Lohn für eine ganze Woche ausbezahlt, vermutlich, um sich selbst zu beweisen, dass er nicht unsozial und die Entlassung kein Unrecht war. Boris zählte sein Geld: drei Dollar und vierundsiebzig Cent. Das sollte reichen, um sechs, sieben Tage über die Runden zu kommen, mit etwas Sparsamkeit vielleicht sogar noch länger. Und seinen Mantel hatte er auch wieder.

Eine Woche in New York verbringen dürfen, ganz nach Wunsch und Belieben, ohne jede Verpflichtung – war das etwa kein Grund, bester Laune zu sein? Die schöne Dame Freiheit, noch vor ein paar Tagen hatte sie sich ihm nur aus der Ferne gezeigt. Jetzt stand sie schon herrlich verlockend vor ihm. Und er konnte es kaum erwarten, nach ihr zu greifen.

In seine Unterkunft kehrte er nur zurück, um seine Schulden zu begleichen. Noch einmal in sein Zimmer hochzugehen hielt er für unnötig. Das Verhältnis zu Leo, Mischa und Nathan hatte sich nicht wieder eingerenkt. Er hatte sich nicht darum bemüht, und sie noch weniger.

Außerdem hatte er mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass er keine zehn Cent für eine Unterkunft auszugeben brauchte, es gab auch welche für sieben. Man musste nur bereit sein, auf Bequemlichkeiten zu verzichten. Der Schlafsaal lag in einem Keller, seine Einrichtung bestand im Wesentlichen aus langen Balken, die von einer Wand zur anderen reichten und zwischen denen Hängematten aus Sackleinen aufgespannt waren. Wer hier landete, schlief zwischen Tagelöhnern, Krüppeln und kleinen Strauchdieben, das heißt, er war auf der vorletzten Stufe der Gesellschaft angelangt. Darunter kamen nur noch die erbarmungswürdigen Gestalten, die dazu verdammt waren, sommers wie winters auf der Straße zu leben.

Boris warf einen kurzen Blick in den Raum und beurteilte ihn als vollkommen ausreichend. Er hatte es eilig, ins East Village zu kommen, denn dort befand sich, auch das wusste er inzwischen, die Astor Library, die größte öffentliche Bibliothek der Stadt.

Als er vor dem Rundbogen des Eingangs in der Lafayette Street stand, überwältigte ihn ein Gefühl, das ihm unbekannt war, ein Gefühl der Ehrfurcht vor dem Höchsten. Er zog seine Filzmütze vom Kopf, drückte sie an die Brust und durchschritt feierlich die Tür. Behutsam, als wolle er die heilige Stätte nicht durch profane Trittgeräusche entweihen, betrat er das Innere. Ihm war zumute wie einem Altertumsforscher, der die Grabkammer eines Pharaos geöffnet hat.

Die ganze Halle, vom Boden bis hinauf zu den gewölbten Oberlichtern in der Kassettendecke, war mit tausenden, zehntausenden, hunderttausenden Büchern angefüllt. In den seitlichen Bereichen, durch Pfeiler voneinander getrennt, waren auf sinnfällige Weise Kabinette eingebaut, mit randvollen Regalen, deren höhere Bretter nur mittels kleiner Trittleitern erreichbar waren, eine Anordnung, die sich darüber, auf der Galerie, wiederholte. In der freien Mitte des Saals waren Tische aneinandergereiht, an denen die Leser saßen und sich in konzentrierter Stille ihren Büchern und Journalen widmeten. Es sah aus wie eine lange Tafel, an der ein Festmahl des Geistes zelebriert wurde.

Boris stand nur da, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, so berührt war er. Wie glücklich ein Volk, das nicht seinen Unterdrückern Prunkschlösser erbaut, sondern sich selbst! Das sich nicht vor Göttern, Götzen und anderen Gespenstern in den Staub wirft, sondern aufrechten Ganges dem wahren Schöpfer aller Herrlichkeit auf Erden huldigt, dem menschlichen Verstand! Wie glücklich, dieses Amerika!

Ein Bibliothekar trat auf ihn zu und gab flüsternd Auskunft: Das Haus sei offen für jedermann und die Benutzung kostenlos, aber leider könne er heute keine Anmeldung mehr durchführen. Man schließe pünktlich um siebzehn Uhr und öffne morgen um neun wieder.

Boris bahnte sich im Zickzack einen Weg durch die Menschenmassen des Mulberry Bend und fragte sich, wie er die Zeit bis zum Morgen herumbekommen sollte. Es stank nach verrottetem Fisch, faulendem Gemüse, Fäkalien und den Ziegenböcken, die im Abfall nach Nahrung suchten. Seine Hände zitterten vor Erregung. Er hatte das Paradies gesehen. Merkwürdig nur, wie leer es darin gewesen war. Auf jeden besetzten Stuhl kamen zwei freie. Warum standen die Leute nicht Schlange, um die Einrichtung, die überdies beheizt war, nutzen zu dürfen? Warum trieben sie sich stattdessen in den Gassen herum, wo es nichts Interessanteres zu sehen gab als ihresgleichen?

In der Nacht lag er in der Hängematte zwischen vierzig schnarchenden Männern. Unter ihm huschten Mäuse und Ratten über den nackten Steinboden. Er stellte sich vor, er wäre selbst eine Maus und ihm hätte sich die Tür zu einer Speisekammer mit allen Köstlichkeiten dieser Welt geöffnet. Womit sollte er anfangen? Die Frage beantwortete sich von selbst, denn natürlich musste er zunächst einmal Englisch lernen, und dafür war realistischerweise eine volle Woche zu veranschlagen.

Am nächsten Morgen war er der Erste, der unter dem Rundbogen stand und auf die Öffnung der Bibliothek wartete. Gleich nach der Anmeldung stürzte er sich auf den Zettelkasten und suchte sich einige Titel von Lehrbüchern der englischen Sprache heraus. Zu seiner Ernüchterung fand er keinen einzigen der Bände an ihrem angegebenen Regalstandort, sie waren, wie der Bibliothekar vermutete, alle gestohlen worden. Er konnte Boris lediglich einen Russischkursus für englische Muttersprachler anbieten. Boris studierte die zweisprachig abgedruckten Übungsdialoge genau und lernte die Sätze auswendig.

A

My horse is bigger than your cat.

Моя лошадь больше чем твоя кошка.

B

My cat is not very big, but my grandmother is very old.

Моя кошка не очень большая, но моя бабушка очень старая.

A

Can your grandmother sing?

Твоя бабушка умеет петь?

B

A bird can sing, but a grandmother can dance.

Птица умеет петь, но бабушка умеет танцевать.

A

A bird that sings is better than a house without a roof.

Поющая птица лучше чем дом без крыши.

B

I have no roof on my house, but I have vodka in my samovar.

У меня нет крыши на доме, но у меня есть водка в самоваре.

Alles in allem schien es sich beim Englischen um keine besonders schwierige Sprache zu handeln. Boris erkannte einige Vokabeln und strukturelle Eigenheiten wieder, die ihm ähnlich schon im Niederländischen, im Jiddischen und im Deutschen begegnet waren. Auch Einflüsse des Lateinischen waren zu erkennen.

Als Nächstes legte er sich Dantes Divina Commedia auf den Tisch, daneben Longfellows Neuübersetzung. Zeile für Zeile, Wort für Wort verglich er die beiden Ausgaben miteinander.

– Ma tu perché ritorni a tanta noia?

– But thou, why goest thou back to such annoyance?

Nach einer Weile legte er das Original zur Seite und schaute nur noch auf die Übersetzung. Erst gab der Text ihm ständig Rätsel auf, deren Lösung er nachschlagen musste, aber allmählich las er flüssiger, und die Dichtung packte ihn wieder, als läse er sie zum ersten Mal.

Why floats alof‌t your spirit high in air?

Like are ye unto insects undeveloped,

even as the worm in whom formation fails!

Gut gesagt. Das konnte sich so mancher über die Bettstatt nageln.

Er steckte so tief im Purgatorium, dass er aufschrak, als ihn der Bibliothekar bat, zum Ende zu kommen. War das möglich? Es ging tatsächlich schon auf siebzehn Uhr zu. Er streckte sich gähnend, wie aus einem erfrischenden Schlaf erwacht, rieb sich die Augen und sah sich um. Neben ihm saß ein Mann, der ratlos in einem Buch blätterte, es seufzend zuschlug und zum Ausgang lief, so wie alle anderen Benutzer der Bibliothek, nur langsamer und unsicherer. Um die Gelegenheit zu nutzen, sein Englisch zu üben, sprach Boris ihn an: »Who art thou, and where thou goest?«

Der Mann schaute verwundert und antwortete auf Russisch: »Sie sind auch Russe, stimmt’s?«

Wanja – so hieß der Mann – war von Beruf Schneider und lebte im Greenwich Village. Als er anfing, von seiner Familie zu erzählen, unterbrach ihn Boris.

»Was war das für ein Buch, das Sie gerade gelesen haben?«

»Das? Ach nichts, das war, na ja …«, druckste Wanja herum. Es schien ihm peinlich zu sein. »Das Buch heißt Tractatus theologico-politicus. Von einem gewissen Baruch de Spinoza.«

»Ah, interessant! Ich habe es noch nicht gelesen, aber ich habe natürlich davon gehört. Wie finden Sie es?«

»Gut, sehr gut … das heißt … ehrlich gesagt … ich verstehe nicht viel davon.«

»Nicht verwunderlich. Spinoza ist uns sicher etwas fern geworden. Man muss bedenken, ein Jahrhundert vor Kant …«

»Ja … nein … das ist es nicht, es ist …« Wanja senkte beschämt den Blick und murmelte: »Ich kann gar nicht richtig lesen.«

Vorsichtig sah er Boris von der Seite an. Er kam sich furchtbar lächerlich vor. Aber Boris lachte ihn nicht aus, er schenkte ihm einen aufmunternden Blick, und Wanja erzählte.

»Ich soll ein Kleid nähen, für die Frau eines wohlhabenden Kunden. Sie hat ein besonderes Modell vor Augen, das sie auf einer Reise in Paris gesehen hat. Ich habe erklärt, dass es schwierig ist, die Pariser Mode zu kopieren, allein schon weil man die Stoffe dafür in New York nirgendwo bekommt. Daraufhin wurde mein Kunde aufbrausend: Schwierig, was soll denn daran schwierig sein! Er selbst sei Philosophieprofessor und wisse sehr genau, was schwierig ist: Das hier! Er zog das Buch von diesem Spinoza aus der Jackentasche und hielt es mir vor die Nase. Dann sagte er nur noch, dass er mir drei Wochen Zeit gibt, dann will er das Kleid haben, und zwar genau so, wie seine Frau es sich wünscht.«

Wanja beschloss, sich zu rächen. Anstatt ein Kleid zu schneidern, wollte er die Zeit nutzen, um Spinoza zu lesen und den arroganten Professor mit ein paar beiläufig hingeworfenen Zitaten zu düpieren. Als er dann aber in der Bibliothek gesessen sei und so lange in das Buch gestarrt habe, bis ihm schwindlig war, da habe er nur eines verstanden, nämlich, dass man die Finger lassen sollte von Dingen, für die man nicht bestimmt war. Und jetzt wolle er nach Hause und sich an seine Arbeit machen.

Boris war an Wanjas Seite die achte Straße hinuntergelaufen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er hatte aufmerksam zugehört und hin und wieder genickt und »M-hmm« gemacht. Nun blieb er stehen und schaute ihn aus seinen tiefen, schwarzen Augen an.

»In drei Wochen werden Sie Spinoza lesen. Ich bringe es Ihnen bei.«

Es klang nicht wie eine Behauptung oder ein Versprechen, sondern wie eine Feststellung.

»Völlig unmöglich. Meine Eltern haben mich nach drei Jahren von der Schule genommen. Ich kann gerade mal ein bisschen kyrillisch lesen, sonst nichts.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist einfach.«

Wanja wurde wundersam zumute. Es waren simple Sätze, aus jedem anderen Mund hätten sie hohl geklungen, aber Boris sprach sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit aus, dass Wanja am liebsten in die Bibliothek zurückgegangen wäre und das Buch wieder aus dem Regal gezogen hätte.

»Glauben Sie denen nicht, die Ihnen sagen, es sei schwer. Das ist eine Lüge. Sie sagen es nur, weil sie nicht wollen, dass Sie es können. Weil der Herr Professor dann nichts Besonderes mehr ist. Sie können es aber. Und Sie werden es ihm zeigen. Morgen früh fangen wir an.«

 

Boris hielt Wort. Am nächsten Tag erschien er zur verabredeten Zeit in Wanjas Wohnung in der zwölf‌ten Straße West, ließ sich Tee und Gebäck servieren und begann ohne Umschweife mit dem Unterricht.

Wenn es einen begabten Lehrer ausmacht, dass er versteht, die Begabungen seiner Schüler hervorzuholen, dann war Boris ein ausgezeichneter Lehrer. Als er am Abend befand, es sei genug für heute, konnte Wanja die sechsundzwanzig Buchstaben des lateinischen Alphabets sicher auseinanderhalten und kurze Wörter entziffern. Wie er das gelernt hatte, war ihm selbst nicht ganz klar. Die meiste Zeit hatte Boris ihn nichts gelehrt, sondern nur seinen Ehrgeiz gekitzelt, lesen zu können. Er skizzierte die aufregende Welt, die hinter den sechsundzwanzig Buchstaben auf ihn wartete, in so leuchtenden Farben, dass Wanja sich nichts sehnlicher wünschte, als sie bereisen zu können.

Für einige Zeit verlief Boris’ Leben so regelmäßig wie die Tiden im East River. Er aß zum Frühstück einen Kanten Roggenbrot und trank dazu eine Tasse Kaffee, verbrachte zwischen neun und siebzehn Uhr jede Minute in der Astor Library und ging direkt von dort aus zu Wanja, wo ihn ein warmes Abendessen erwartete. Sein Englisch, das er im täglichen Gespräch mit Wanja, dessen Frau Julija und ihren vier Kindern trainierte, klang nur anfangs grob und schwerfällig. Bald schon ging es ihm recht geschmeidig von den Lippen, und auch sein russischer Akzent verflüchtigte sich nach und nach.

Wanja machte ebenfalls beachtliche Fortschritte. Wenn es auch für Spinoza nicht ganz reichte, so kauf‌te er sich doch die Evening Post oder den Brooklyn Eagle und freute sich, wenn es ihm gelang, die Überschrif‌ten oder gar einen ganzen Artikel vorzulesen.

Da Boris kaum noch Ausgaben für Essen hatte, kam er mit seinem Geld deutlich länger aus als berechnet. Schließlich ging es doch zur Neige, und er musste sich als Hilfsarbeiter in einer Hutfabrik bewerben. Als er beim Einstellungsgespräch seinen Namen nannte, sprach er ihn zum ersten Mal nicht russisch, sondern amerikanisch aus. Er war jetzt nicht mehr Barrís Siddis, er war Bouris Seydes.

Eine Woche lang schnitt er mit einer großen Schere einzelne Stücke aus einer Filzbahn aus, die ein gelernter Hutmacher dann zu Zylinderhüten weiterverarbeitete. Die Schablonen, die er dabei zu verwenden hatte, waren von einem Idioten ohne jede Ahnung von Geometrie entworfen worden. Man hätte aus einer Bahn mindestens fünf Prozent mehr Einzelteile gewinnen können, wenn man sie platzsparender auf dem Tuch angeordnet hätte, das war offensichtlich. Boris verkniff sich Verbesserungsvorschläge, so schwer es ihm auch fiel. Er blieb unauf‌fällig und befolgte brav alle Anweisungen, selbst die unsinnigen, und sein Meister fand, er sei durchaus zu gebrauchen. Am Ende der Woche kündigte er unter einem Vorwand, ließ sich seinen Lohn auszahlen und ging zu Wanja, der ihn freudig begrüßte.

Ihre abendlichen Treffen waren zur lieben Gewohnheit geworden und wurden beibehalten, auch als Wanja zum Lesen keine Hilfe mehr benötigte. Unterricht konnte man die lockeren Plaudereien, die sie pflegten, kaum mehr nennen, aber Boris erzählte so lebendig und interessant von Geschichte, Politik, Literatur und Philosophie – auch Spinoza wurde behandelt, Boris hatte die Anregung aufgegriffen und den Tractatus in der Bibliothek gelesen –, dass Wanja sich in Bildung getaucht fühlte wie in ein warmes Wannenbad.

Natürlich bemerkten seine Bekannten, wie sehr er sich in letzter Zeit verändert hatte und wie anders er auf einmal redete; die einen nannten es gescheit, die anderen geschwollen. Er behielt nicht für sich, woran das lag, und wenn er sich bisweilen auch das alte Sprichwort vom Schuster und seinem Leisten anhören musste, so wurde doch der eine oder andere neugierig und fragte, ob er zur entsprechenden Stunde einmal vorbeischauen dürfe. Boris hieß jeden, der etwas lernen wollte, herzlich willkommen, und bald hatte sich eine feste Runde gefunden.

Jeden Sonntag saßen sie beisammen, ein Schneider, ein Fleischer, eine Bäckerin, eine Wäscherin und ein Barbier. Wann immer Wanjas Schwager Juri in der Stadt war, ein Lokomotivführer der Boston and New York Air-Line Railroad, kam er hinzu. Sie waren es nicht gewohnt, über komplizierte Fragen nachzudenken, aber sie genossen es, sich für ein paar Stunden mit etwas anderem zu beschäf‌tigen als mit Arbeit, Familie und Alltagssorgen. Wenn Boris sich aufmachte zu seiner Hängematte, war es oft schon tiefe Nacht, doch sie fühlten sich nie vollgestopft und ausgelaugt, sondern angeregt und leicht, und in ihren Köpfen hüpf‌ten die Gedanken.

Gerne hätten sie ihm etwas für seine Dienste gegeben, aber jedes Mal, wenn jemand Boris eine Münze in die Hand drücken wollte, gab er sie beleidigt zurück. Bildung sei so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen, erklärte er. Nur Unmenschen könnten Geld dafür nehmen.

Wanja bot an, ihm wenigstens ein paar Kleider zu machen. Da auch das auf barsche Ablehnung stieß, musste schließlich eine List helfen. Er zeigte Boris einen nagelneuen Wintermantel und sagte: »Den hat ein Kunde bei mir bestellt und im Voraus bezahlt, aber nie abgeholt. Ich denke, ich werde ihn den Lumpensammlern geben. Oder wollen Sie ihn vielleicht mal anprobieren?«

Überraschenderweise passte der Mantel wie angegossen. Er kam auch genau zur richtigen Zeit, denn der New Yorker Winter zeigte längst seine Zähne, und Boris hatte ihm immer noch nichts Besseres entgegenzusetzen als den Überwurf, mit dem er angekommen war. Auf ähnliche Weise gelangte er an neue Hemden, frische Leibwäsche, ein Paar Lederschuhe und sogar einen ganzen Anzug.

Nun, da sein Widerstand gebrochen war, ließ er es auch zu, dass die Wäscherin jeden Sonntag ein Paket schmutziger Wäsche mitnahm und eine Woche später gereinigt wieder mitbrachte. Als er vom Stuhl des Barbiers, den er unterrichtete, aufstand, war sein Scheitel sauber gezogen und sein Schnurrbart zu einem akkuraten schwarzen Streifen gestutzt, und er duf‌tete fein nach Lavendel. Jetzt hätte ihn niemand mehr als russischen Bauernschädel bezeichnet, er sah eher aus wie ein junger Landgraf.

So gab es nichts mehr, was ihm fehlte. Sein Englisch war besser als das der meisten Einwanderer, besser sogar als das vieler gebürtiger Amerikaner. Seit ihn die Bäckerin mit Brot versorgte, musste er kein Geld mehr dafür ausgeben, und der Fleischer legte ihm noch Dauerwürste dazu.

Mit einer Woche Fabrikarbeit konnte er sich zwei Bibliothekswochen verdienen, das war ein Erfahrungswert, der sich wiederholt bestätigte. Dieses Verhältnis fand er vollkommen akzeptabel. Sicherlich hätte sich auch eine besser bezahlte Anstellung finden lassen, aber dann hätte er sich einem Arbeitgeber längerfristig verpflichten müssen, und dazu war er nicht bereit.

Eines Sonntags war die komplette Gruppe in Wanjas Wohnung versammelt, nur Boris fehlte. Alle machten sich Sorgen um ihn, da sie ihn als stets zuverlässig kannten. Doch weil niemand wusste, wo sie nach ihm suchen sollten, blieb ihnen nach zwei Stunden vergeblichen Wartens nichts anderes übrig, als sich zu zerstreuen.

Drei Tage danach erreichte Wanja eine Postkarte mit einer dürren Nachricht: »Grüße aus Boston, B.S.«

Das war für lange Zeit das Letzte, was er von Boris wusste. Erst ein Vierteljahrhundert später entdeckte er in der New York Times ein ausführliches Porträt über ihn. Inzwischen war er selbst ein hoher Gewerkschaftsfunktionär geworden, und Boris Sidis, wie er las, ein berühmter Mann.

2

Eigentlich hatte Boris nicht vorgehabt, in Boston zu bleiben. Juri, der Lokomotivführer, hatte ihm einen Freifahrtschein besorgt und wollte ihn, so der Plan, am übernächsten Tag wieder mit nach New York zurücknehmen. Boris hatte Boston schon lange einmal sehen wollen. Seit er irgendwo gelesen hatte, die Stadt sei das intellektuelle Zentrum der Neuen Welt, fragte er sich, was das sein sollte, ein intellektuelles Zentrum, und wozu man so etwas brauchte. Als ob es keinen Buchdruck gäbe und die Gelehrten sich noch immer auf der Agora treffen müssten, um einander auf den neuesten Stand des Wissens zu bringen.

Doch bereits bei seinem ersten Spaziergang hatte er das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Mit Unbehagen dachte er an Manhattan, besonders an die Gegend, die sie Five Points nannten, dieses unkontrolliert wuchernde Geschwür mitten im Herzen der Stadt mit all dem Durcheinander, der Enge, dem Zwielicht, den rohen Sitten, dem Müll, dem Lärm, den Krankheiten, der Gewalt, dem Dreck, der schlechten Luft. Im Vergleich dazu war Boston, ja doch: niedrig, hell und luf‌tig. Boris war beinahe zumute, als wandle er durch einen Kurort.

Sicher, auch Boston war eine Großstadt, die rasant wuchs, aber sie tat es auf viel durchdachtere, planvollere Weise. Auch hier waren die Häuser hoch, aber sie hatten keine sieben oder acht Stockwerke, sondern zumeist drei oder vier, und sie waren nicht durch ständige Erweiterungen, Aufstockungen, Anbauten und Verschläge zu einem verwilderten Wirrwarr verkommen, sondern standen sauber und gerade in einer klaren Linie aus solidem Stein. Ein paar Jahre zuvor war ein erheblicher Teil der alten Bauten in der Innenstadt einem Großbrand zum Opfer gefallen, und beim Wiederaufbau hatte man klugerweise die Gelegenheit genutzt, die Straßen zu verbreitern und neue Plätze anzulegen. Deshalb konnten die Leute hier entspannt flanieren, während sie sich in New York stießen und drängten und gegenseitig aggressiv machten wie Ratten in einem überfüllten Käfig.

Boris atmete auf. Nicht allein die frische Meeresbrise, die von Osten her durch die Straßen strömte, öffnete seine Lungen. Der ganze Ort war, wie sollte er es ausdrücken, von Geist durchflutet. Nirgendwo auf der Welt gab es so viele Buchläden auf so engem Raum, die lokale Presse war vielfältig und auf ansehnlichem Niveau, und ohne dass er gezielt danach gesucht hätte, kam er auf seinem Streifzug an mehreren Museen vorbei. Um seinen englischen Wortschatz zu testen, spielte er mit sich selbst ein Spiel: Er suchte nach möglichst vielen Adjektiven, die die Stadt treffend charakterisierten. Ihm fiel spruce ein und dapper, auch trim und ref‌ined, genteel und jaunty.

Seit Generationen walteten die »Brahmanen von Boston«, eine honorige Kaste von alteingesessenen Familien, über die Geschicke ihrer Stadt. Es war der seltene Fall eines Gemeinwesens, das von seinen kultiviertesten Bürgern gelenkt wurde und nicht von seinen skrupellosesten und machtversessensten, und das sah man.

Ihre vortreff‌liche Bildung bezogen die Mitglieder der »Brahmanen«-Familien nach alter Tradition von der Harvard University, die nur einen Katzensprung vom Zentrum Bostons entfernt lag, in Cambridge, gleich auf der anderen Seite des Charles River. Seit zweihundertfünfzig Jahren lockte Harvard die Intelligenz aus nah und fern an die Massachusetts Bay. Die andere bedeutende Bildungsstätte der Region, das Massachusetts Institute of Technology, war hingegen eine moderne Gründung, sie hatte sich in den zwanzig Jahren ihres Bestehens aber ebenfalls schon Weltruf erworben.

Boris hatte kein Verlangen, Harvard oder das MIT von innen zu sehen. Er konnte Universitäten nicht ausstehen, und Professoren noch viel weniger. Diese saturierten Langweiler verstanden sich prächtig darauf, sich ihre Dutzendgelehrtheit vergolden zu lassen, aber von der Kühnheit, vom Abenteuer, von der Lust und der Leidenschaft, von der mitunter auch quälenden Anstrengung des Denkens wussten sie nichts. Wie fette Hennen hockten sie in ihren gutgewärmten Ställen, zu nichts weiter nutze, als die nächste Generation fetter Hennen auszubrüten, Fleisch von ihrem Fleische, und so den Fortbestand des ewig um sich selbst kreisenden Inzuchtzirkels zu sichern, den man den »akademischen Betrieb« nannte. Niemals wollte er einer von denen werden.