Das Geschäft der Toten - Alain Mabanckou - E-Book

Das Geschäft der Toten E-Book

Alain Mabanckou

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Beschreibung

Liwa Ekimakingaï, seines Zeichens Küchengehilfe im Hotel Victory Palace in Pointe-Noire, hat unter mysteriösen Umständen das Zeitliche gesegnet. Am Abend des kongolesischen Nationalfeiertags trifft er in einem Nachtklub die schöne Adeline, er begleitet sie nach Hause ... und erwacht nicht etwa in ihrem Bett, sondern in einem Grab auf dem Friedhof Frère-Lachaise. Liwa findet den eigenen Tod ziemlich unfair und macht sich auf, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Bei seiner Reise in die eigene Vergangenheit begegnet er höchst illustren Figuren, lebendigen wie verstorbenen. Da ist beispielsweise Augustin Biampandou, der als Hafenmeister das einträglichste Amt der Stadt bekleidet, sich aber trotz seiner Allmacht zum Schutz eine »Haushexe« hält. Oder der Sänger Lully Madeira, bei dessen Auftritten die Frauen gleich reihenweise in Ohnmacht fallen – aber erst seit er einen Buckel hat, in dem Geister wohnen. Liwa muss erkennen, dass sich die Welt der Toten kaum von der der Lebenden unterscheidet. Alain Mabanckou erzählt die wundersame Geschichte eines Mannes, der versucht, seinen eigenen Tod aufzuklären. So entsteht das rasante, humorvolle, aber auch schonungslose Porträt einer postkolonialen Gesellschaft, die stecken geblieben ist zwischen Tradition und Moderne.

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Seitenzahl: 288

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Alain Mabanckou

Das Geschäft der Toten

Roman

Aus dem Französischenvon Holger Fock und Sabine Müller

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»Le Commerce des Allongés« bei Éditions du Seuil, Paris.

© Éditions du Seuil 2022

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Hector Mediavilla / Agentur Focus

Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-170-8

für meine Mutter Pauline Kengué,deren fantasievolle Geschichten hier mehr oder wenigeraufgegriffen werden

für meinen Vater Roger Kimangou,der den Ausführungen meiner Mutter gern widersprach

für die jungen Leute, die mich bei meinem Aufenthalt inGoma und Bukavu (Demokratische Republik Kongo), woich dieses Buch beendete, herzlich aufgenommen haben

DER LÄNGSTE TRAUM DEINES TODES

Neues Leben

Immer wieder sagst du es dir, bis du zuletzt überzeugt davon bist: Vor weniger als einer Stunde hat ein neues Leben für dich begonnen, als ein Stoß das Erdreich um dich herum aufriss und du, wie von einem Wirbelsturm angesaugt, dort hinaufgeschleudert wurdest, wo du jetzt liegst, auf einen Erdhaufen, über dem ein nagelneues Holzkreuz aufragt.

»Ich atme! Ich lebe!«, hast du in diesem Augenblick triumphierend vor dich hin gemurmelt.

Doch nun, da sich der helle Tag am Horizont zeigt, hat dich diese Gewissheit verlassen. Vielmehr treiben dich die Bilder deiner letzten Stunden um, die eines in seinem Sarg eingesperrten Verstorbenen, der mit großem Pomp zu seiner letzten Heimstatt hier auf dem Friedhof Frère-Lachaise gebracht wird.

Es gelingt dir also nicht, dich von diesen Erinnerungen abzuwenden, und du siehst wieder den langen Trauerzug, der dich durch die Hauptverkehrsadern der Viertel von Pointe-Noire begleitet hat. Dieses letzte Geleit, das dem Begräbnis vorausgeht, ist gängige Praxis in der Stadt, und die Bewohner sehen darin eine Art nachträgliche Würdigung des Verblichenen, der mit Bildern ausgelassener Freude von uns gehen soll. Deshalb wirst du von sechs muskelbepackten Riesen mit breiten Schultern in weißen Anzügen und spitzen, glänzenden schwarzen Schuhen getragen. Sie erledigen einen Auftrag und sind nicht da, um zu verstehen, warum der Mensch gestorben ist, den sie schultern. Sie halten sich an die Route, die die trauernden Familien ihnen vorgegeben haben, und während der ganzen Prozession hört man keinen Laut von ihnen.

Während man dich durch besonders eng gewundene Gassen schleppt, ahnst du, eingeklemmt in deinem Sarg, was dir am Ende dieser Reise bevorsteht. Du hast schon an Leichenzügen dieser Art teilgenommen, von denen einige durch die Rue du Joli-Soir führten, wo du bis zu deinem Tod mit deiner Großmutter gelebt hast. Daher weißt du, dass man dich zum Schluss auf den Friedhof Frère-Lachaise bringen wird, wo du nur noch einer unter abertausend anderen Verstorbenen sein wirst. Wenn du Glück hast, kommen außer Mâ Lembé jedes Jahr noch andere Besucher an dein Grab. An Pfingsten wirst du schöne Blumensträuße darauf finden, oder auch am Unabhängigkeitstag, wenngleich dies einer gewissen Ironie nicht entbehrte, da der Grund deines Ablebens mit der Feier dieses nationalen Großereignisses zusammenhängt. Und wenn du erst unter der Erde liegst, wird die Zeit das Ihre tun, und die Entschlossenheit derer, die dich kannten, wird dem Vergessen weichen, bis du in der Trockenzeit keine Seele mehr zu Gesicht bekommst, weil sich niemand mehr zu deinem Grab verirrt. Unkraut wird es überwuchern, und ständig werden es verschiedene Eidechsenarten oder schwarze Schlangen heimsuchen, die nach den Legenden der Babembe, zu deren Ethnie du gehörst, »obdachlose Seelen« sind, kurz, Verstorbene, die auf Erden so viel Schaden angerichtet haben, dass sie zu Recht in Friedhofsreptilien verwandelt worden sind …

Diese deprimierenden Gedanken hätten dich entmutigen können. Stattdessen wischst du sie einfach beiseite und suchst unverdrossen nach neuen Möglichkeiten, dich davon zu überzeugen, dass dir dieses neue Leben nützlich sein wird, das dich in die Lage versetzt, alsbald in die Stadt zu gehen, um bestimmte Dinge zu regeln.

Du schüttelst deine Beine aus, du streckst deine überkreuzten Arme in der Absicht, dich aus der fötalen Position zu befreien, die du instinktiv zu deinem Schutz eingenommen hattest, als du davon überzeugt warst, dass die pflanzlichen Abfälle von überallher auf dir landen würden, die der Erdstoß aufgeworfen und der Wirbelwind durch die Gegend geschleudert hatte. Du lässt deine Finger einen nach dem anderen knacken, als wäre das Platzen der winzigen Bläschen in deinen Gelenken der unwiderlegbare Beweis für diese Existenz.

Jetzt möchtest du prüfen, ob du in der Lage bist, Dinge zu greifen. Es gelingt dir, einen kleinen Kieselstein, rund wie eine Murmel, in die Hand zu nehmen. Du drehst ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, du genießt das entspannende Gefühl der Berührung, dann schließt du die Hand um ihn und schleuderst ihn mit all deiner Kraft, ohne aufzustehen, die Zähne zusammengebissen, die Augen geschlossen, ins Leere.

Zuerst herrscht Stille. Sie kommt dir endlos vor, dann hörst du, wie der kleine Stein mehrmals von der Marmorplatte eines anderen Grabes hochspringt, drei oder vier Friedhofswege von deinem entfernt. Du hattest ihn sehr weit ins Leere geworfen, was an sich eine echte Glanzleistung war.

Deine Lippen entspannen sich zu einem breiten, zufriedenen Lächeln, nun meinst du, du hättest Grund genug, um deinen fröhlichen Humor wiederzubeleben und die Kette dieser trübsinnigen Bilder ein für alle Mal zu durchbrechen, die bis jetzt deine Gedanken blockiert haben.

Von deiner Euphorie getragen, beschließt du sodann, aufzustehen. Zum ersten Mal seit du aus dem Grab herausgekommen bist, richtest du dich auf. Du stützt dich auf das Holzkreuz, und es gelingt dir mehr schlecht als recht, dich aufzurichten, ohne dass es zerbricht. Das Knacken der Gelenke in deinen Ellbogen, das jedes Mal zu hören ist, wenn du die rötliche Erde auf deiner Kleidung wegwischst, stört dich nicht. Du trägst ein orangerotes Sakko aus Crêpe mit breitem Revers und ein neongrünes Hemd, das einen großen Kragen mit drei Knöpfen und große Umschlagmanschetten mit abgerundeten Ecken hat. Die weiße Fliege sitzt ein wenig schief, also rückst du sie zurecht im Gedenken an deine Großmutter Mâ Lembé, die es an Tagen des Kirchgangs nicht duldete, dass sie schief saß. Du hast das Gefühl, du hättest Wasser abbekommen, tatsächlich ist dein Hemd in Höhe der Achseln, im Rücken und am Unterleib feucht. Offenbar hast du in der Abgeschlossenheit deines Sargs geschwitzt, denkst du.

Im Moment betrachtest du voller Bewunderung deine lila Schlaghose, die ebenfalls aus Crêpe ist, dazu die roten Salamander-Lackschuhe mit weißen Schnürsenkeln. Da diese Treter dich in deiner Bewegungsfähigkeit einzuschränken drohen, entschließt du dich, sie auszuziehen und den einen rechts, den anderen links neben das Grab zu befördern, wobei dir mit Verwunderung auffällt, wie übermäßig hoch ihre Plateausohlen sind, da es dir doch nie an Körpergröße gefehlt hat.

Zweifellos waren dir diese Schuhe in aller Eile von einem Schuhverkäufer in der Nähe deines Arbeitsplatzes, dem Victory Palace, empfohlen worden. Unweit dieses französischen Hotels, auf der Höhe des Patrice-Lumumba-Kreisverkehrs, stößt man auf den Grand-Marché, jenen Markt, auf dem sich die Pointenegriner täglich auf die Kleiderballen und Haufen von Schuhkartons stürzen, die aus Frankreich kommen, besonders aus Marseille, Bordeaux oder Le Havre. Die Jugendlichen haben diesen alten Klamotten übrigens einen Namen gegeben: »sola«, was auf Munukutuba so viel wie »auswählen« heißt. Die Ware kommt gepresst, in Plastikfolie eingeschweißt und zum Schutz gegen Diebstahl gut versiegelt im Hafen von Pointe-Noire an. Schuhe sind in festen, ebenfalls versiegelten Stoffsäcken verpackt. Die Großhändler (Libanesen, Senegalesen oder Maghrebiner) kaufen große Kontingente ein, verkaufen sie an die Einzelhändler (die Pointenegriner), die sie wiederum einzeln zu Geld machen. Nach dem Öffnen der Ballen und Säcke werden die Schuhe und Kleider sortiert und mitten auf dem Markt in mehreren Haufen auf Planen direkt auf dem Boden ausgebreitet. Die Kunden schnüffeln daran wie Hunde, probieren die Waren an, ohne sich darum zu kümmern, dass andere Leute ihnen dabei zusehen, wie sie sich in der Öffentlichkeit entkleiden. Sie legen ihre Auswahl zur Seite, klemmen sie sich zwischen die Beine, gehen erst zur Kasse, nachdem man ihnen einen ordentlichen Rabatt gegeben hat, besonders wenn sie einen heraushängenden Faden, einen fehlenden Knopf, ein schlecht herausgerissenes Etikett oder einen Fleck, und sei er noch so winzig, entdeckt haben. Ob der Mangel nur in den Augen des Käufers sichtbar ist, fällt nicht ins Gewicht, der Kunde ist König, was er sieht, zählt. Kein Preis ist in Stein gemeißelt, alles ist »auszuhandeln«.

Der Geruch der sola an dir entgeht dir nicht, ob die ausgewählten Stücke vom Ballen kommen oder, was dir am wahrscheinlichsten erscheint, im Laden deines Lieblingshändlers Abdoulaye Walaye gekauft wurden, der sich ebenfalls auf diesem Grand Marché befindet, vorherrschend ist jedoch ein anderer Geruch, der Duft des Eau de Toilette Mananas, das man gewöhnlich über den Leichen versprüht und das an den Ständen der Libanesen verkauft wird. Niemand in Pointe-Noire würde sich mit Mananas parfümieren, sonst würden ihn alle, denen er über den Weg läuft, für einen Wiedergänger halten oder sogar für jemanden, der auf einem Friedhof oder im Leichenschauhaus arbeitet.

Du erinnerst dich gerade nicht mehr, von welchem Moment an dieser Geruch an deinen Kleidern hing. Doch du weißt genau, dass du deine Kleidung seit fast fünf Tagen nicht gewechselt hast, was bedeutet, dass du in diesen Klamotten bestattet wurdest …

Verkehrte Welt

Voller Sorge inspizierst du die Umgebung.

Die fortdauernde Stille und der anhaltende morgendliche Nebel dämpfen die Jubelstimmung, die dich bis dahin erfasst hatte. Tatsächlich sieht es nicht so aus, als wäre hier etwas umgewälzt oder von Grund auf umgegraben worden, wie du vermutet hattest: Nichts deutet auf eine seismische Erschütterung der Erde hin, sodass man sich fragt, ob dieser Stoß, den du vor nunmehr drei Stunden zu spüren vermeintest, sowie der Wirbelwind, der dich anscheinend hinaufgezogen und schließlich auf dein Grab geworfen hat, nicht die verdorbenen Früchte einer Fantasie sind, derer du nicht mehr Herr bist.

Im Übrigen ist es für dich keine Kleinigkeit, hier rauszukommen. Nicht weil dich jemand gewaltsam daran hindern würde, sondern weil du spürst, dass irgendetwas nicht richtig klappt, dass es nicht genügt, sich hinauszubefördern, ohne das Für und Wider abzuwägen oder die Missgeschicke derer in Betracht gezogen zu haben, die dir vorausgegangen sind. Deshalb stehst du mit herabbaumelnden Armen reglos vor deinem Grab. In vielleicht dreihundert Metern Entfernung siehst du eine Kreuzung mehrerer Friedhofsalleen mit einem riesigen Brunnen in der Mitte. Vorhin hast du gezögert, welchen dieser Wege du nehmen sollst. Der breiteste davon, dem du eigentlich folgen wolltest, scheint endlos zu sein und in der Ferne auf ein winziges, rundes Gebäude oder vielmehr auf eine Art Hütte zuzulaufen, über der ein Kreuz aufragt, auf dem ein riesiger Rabe hockt, während auf dem Dach andere, weniger eindrucksvolle Raben krächzen oder auf einem Bein vor sich hin dösen.

Als wäre das nicht schon genug, wird dir jetzt klar, was dich am meisten beunruhigt: In Wirklichkeit siehst du die Dinge umgekehrt, als befänden sich dein Kopf am Boden und die Füße in der Luft, als stünde das Haus in der Ferne, das du am Ende der großen Allee ausgemacht hast, ebenfalls auf dem Kopf. Überhaupt liegt alles, was du vor dir siehst, in deinem Rücken, und alles, was in deinem Rücken ist, vor dir.

Vielleicht war das von Anfang an so, vielleicht hattest du deshalb das Beben der Erde und den Wirbelwind gespürt, doch statt darauf zu achten, hast du dich vor lauter Freude zunächst lieber davon überzeugt, dass du lebtest, dass du atmen, Gegenstände ergreifen, kleine Steine werfen konntest, während die Orientierungspunkte nicht mehr dieselben waren wie zuvor.

Reib dir nicht die Augen, es ändert nichts.

Der Himmel? Sieh nicht mehr nach oben, wenn du ihn suchst, sieh nach unten.

Die Erde? Sieh nicht mehr nach unten, wenn du sie suchst, sie ist über dir.

Die vielen Friedhofsalleen vor dir, auch die breiteste, die dich beunruhigt, werden zu verzerrten, gewundenen, sogar kreisrunden, schillernden Linien. Sie bilden ein Durcheinander, machen dich schwindelig, verursachen dir Kopfschmerzen, Bauchschmerzen. Das Schwindelgefühl wird noch größer, als du unter und nicht über dir Flugzeuge siehst, die dir das Gefühl geben, du könntest auf sie abstürzen. Instinktiv bückst du dich, wenn sie vorüberfliegen. Jetzt weißt du, wenn du vorwärtsgehen willst, musst du rückwärtsgehen; und wenn du zurückgehen willst, musst du vorwärtsgehen. Eigentlich stört dich weniger, was über dir passiert (also unter deinen Füßen), als der Luftverkehr unten (also über deinem Kopf). Es wundert dich nicht mehr, wenn deine Fußspuren am Boden in die umgekehrte Richtung zeigen, als hätten sich deine Augen und deine Füße gestritten und in ihrer Uneinigkeit ohne deine Zustimmung beschlossen, entgegengesetzte Wege einzuschlagen …

Denn von nun an macht es dir Mühe, deine Füße vom Boden zu lösen, jeder Schritt erfordert Herkuleskräfte, und wenn es dir schließlich doch gelingt, poltert der Schritt in deinem Kopf wie ein Erdbeben, das dich zu dem Erdstoß zurückbringt, von dem du meinst, du hättest ihn Stunden zuvor erlebt. Trotzdem bemühst du dich voranzukommen, bist fest entschlossen, nimmst dir, wie in der Grundschule im Trois-Cents-Viertel gelernt, wo du die Schulbank gedrückt hast, die überlieferte Weisheit des Chamäleons zum Vorbild. Euer Lehrer, Monsieur Malonga, erzählte euch, was es mit der Parabel von diesem Reptil auf sich hat, das die afrikanischen Völker verehren. Wenn das Chamäleon eine Richtung einschlägt, dreht es nicht den Kopf, sondern verdreht vielmehr sein Auge, damit es nicht von seinem Ziel abkommt. Beim Vorwärtsgehen ist es vorsichtig: Zuerst schaut es nach oben, dann nach unten, um die Umgebung zu erkunden, bevor es in ihr verschwindet.

Du hörst Monsieur Malonga, der sich mit seiner tiefen Stimme vor dieser Weisheit aus alter Zeit verbeugt, die du heute gern herbeizitieren würdest, in der Hoffnung, hinauszugelangen.

Immer wieder sagst du dir: eine Richtung einschlagen, nicht den Kopf, sondern das Auge drehen; nach oben schauen, nach unten schauen, bis zu dem Moment, an dem du diesen Ausweg siehst, der dich auf die andere Seite bringt und es dir ermöglicht, in die Stadt hinunterzugehen, um Schluss zu machen mit dem, was dich bedrückt.

Und du sprichst dir Mut zu, murmelst: »Ich, Liwa Ekimakingaï, ich bin ein Chamäleon, ein echtes Chamäleon. Ja, das bin ich …«

Nur leider drehst du dich im Unterschied zum Chamäleon, das vorwärtsgeht, seit Stunden um dich selbst, im Irrglauben, du seist viel gegangen, deine Füße seien schwer und kurz davor zu platzen. Die Strecke von einem Grab zum anderen kommt dir unüberwindbar vor. Du keuchst, dabei kannst du dich nicht erinnern, besonders eilig unterwegs gewesen oder gerannt zu sein. Deine Kehle ist trocken, du würdest dein Bestes geben, also deine Seele, um kühles Wasser zu trinken, das, wie du ahnst, von einem glasklaren, mit blühenden Bäumen gesäumten Fluss käme, ebenso wie das köstliche Gezwitscher verschiedener Vögel, das du zum ersten Mal vernehmen würdest, während du auf einem Stein sitzen und verzückt die majestätische Strömung der Welle und die Sprünge der Fische mit gold schimmernden Schuppen betrachten würdest.

Alles, was du siehst und dem du dich gerne nähern würdest, entfernt sich mit jedem Schritt, den du darauf zu machst, und wenn du denkst, du seist ihm näher gekommen, befindet es sich hinter dir, obwohl es vor dir liegt. Du siehst nach unten und entdeckst enttäuscht, dass du, wenngleich du dich bisweilen fortbewegt hast, immer nur um dein Grab oder nur zwei, drei Gräber weiter, aber nie darüber hinausgekommen bist, und dass hier dein Holzkreuz steht, dass du nur Socken anhast und deine Salamander-Schuhe irgendwo da herumliegen, daneben auch dein orangerotes Sakko aus Crêpe mit dem breiten Revers, das du abgestreift hast, und dass dein neongrünes Hemd mit dem großen, dreimal geknöpften Kragen und den abgerundeten Umschlagmanschetten unter den Achseln, im Rücken und am Unterleib nicht mehr feucht ist dank der Sonne, die aufgegangen ist und schnell alles getrocknet hat, nur diese hartnäckigen Flecken hat sie nicht wegbekommen, die man leicht für die von einem begabten Kartografen skizzierten Umrisse irgendeiner Weltgegend halten könnte.

Noch immer trägst du deine lila Schlaghose, du riechst stark nach Mananas – doch hier überrascht das niemanden.

Furcht und Verzweiflung, die du anfangs im Griff hattest, überkommen dich wieder. Du lässt dich an derselben Stelle auf dein Grab fallen, über der du dich bereits mühsam aufgerichtet hattest. Du begreifst, dass du nicht schnell vorankommen wirst, dass es Elemente gibt, die sich deinem Willen noch entziehen.

Du hörst das Laub eines Baumes rascheln, den der Wind schüttelt. Es ist ein Mangobaum, der neben deinem Grab steht und den du bisher nicht einmal bemerkt hast. Du solltest dich über ihn freuen, denn du hast als Einziger das Privileg, unter einem Obstbaum zu ruhen. Die Luft, die er dank der einvernehmlichen Mitwirkung seiner Blätter im Wind verbreitet, verschafft dir eine Ruhe, als würden dich unsichtbare Kräfte wiegen und trösten.

Du hast dich an diese angenehme Trägheit gewöhnt, und so fällst du allmählich in einen tiefen Schlaf, ohne zu merken, dass du im längsten Traum deines Todes gelandet bist …

Wie Kormorane, die sich aufschwingen

In diesem längsten Traum deines Todes überschlagen sich die Bilder. Ohne eine bestimmte Ordnung tauchen sie auf, folgen den Launen und Fantasien dieses Traums, der ihnen eine Autonomie verleiht, die du in deinen gewöhnlichen Träumen noch nie gespürt hast. Über die Bilder von deiner viertägigen Totenfeier schieben sich Bilder aus deiner Kindheit; darüber dann die Bilder aus deiner Jugend mit den Orten in Pointe-Noire, den Personen oder den wichtigen Dingen, die dein Leben geprägt haben.

Ein gewaltiges Glücksgefühl überkommt dich, nichts widersteht dir, kein Hindernis stellt sich dir in den Weg. Gerade hast du deine Arme ausgebreitet, und jetzt fliegst du leicht wie ein Adler von einem Ort zum anderen. Ja, du entdeckst, dass du jetzt Flügel hast, dass du die Kormorane nicht mehr beneiden musst, die du in deiner Kindheit voller Bewunderung an der Côte Sauvage fliegen sahst, stolze Vögel, die sich aufschwangen und die Schwerkraft mit einer Eleganz überwanden, die dich zum Träumen brachte, und jedes Mal fragtest du dich, was du tun würdest, wenn auch du eines Tages fliegen könntest wie diese Wasservögel.

Und jetzt fliegst du. Du gewinnst an Höhe und siehst von dort oben die baufälligen Dächer der einfachen Viertel. Du folgst eine Zeit lang den Windungen des Tchinouka-Flusses, der den Müll zum Atlantik transportiert. Du beobachtest die Staus der Omnibusse und der Rikschas auf den am meisten verstopften Kreuzungen der Innenstadt. Du machst einen Abstecher ins Stadtzentrum und wirfst einen prüfenden Blick auf seine Kolonialarchitektur, die sich vom Durcheinander der ineinander verkeilten Bauten in den Vierteln von Mouyondzi, Mvoumvou, Kilomètre-Quatre oder Mbota abhebt.

Du fliegst, du fliegst noch höher hinauf, bevor du anmutig wie die Kormorane deiner Kindheit in die Gegend des Trois-Cents-Viertels hinabsegelst, wo du gelebt hast.

Die Leute haben sich um dich versammelt und klatschen dir Beifall. Dieser Empfang bei deiner Landung bewegt dich, besonders, weil man dich mit Komplimenten überhäuft:

»Bravo, Liwa Ekimakingaï! Bravo!«

»Du fliegst wie Superman!«

»Sag, wie fühlt man sich da droben?«

Du bist gelandet, lässt die Arme hängen. Deine Flügel falten sich zusammen, verschwinden unter deinen Schulterblättern. Wie du jetzt weißt, genügt es, die Arme weit nach oben zu strecken und mehrmals mit ihnen zu wedeln, damit diese Flügel wieder hervorkommen und du abhebst.

Du grüßt die Versammelten, die dir applaudieren. Dann tauchst du in die Gassen des Trois-Cents-Viertels ein, wo dich andere Leute von der Tür zu ihrer Parzelle oder von der Terrasse ihres Hauses aus grüßen. Einige erkundigen sich, wo du seit gestern gesteckt hast. Du antwortest, du habest dich in den Wald zurückgezogen, um auszuruhen, und seist gerade auf dem Weg nach Hause, wo deine Großmutter Mâ Lembé auf dich warte. Andere laden dich zum Essen oder zum Tee zu sich ein. Du lehnst ihre Einladung ab, entschuldigst dich, du würdest ein andermal gern kommen, aber Mâ Lembé mache sich Sorgen, weil sie dich seit der Nacht des Unabhängigkeitsfestes am 15. August nicht mehr gesehen habe, und das liege nun schon mehr als fünf Tage zurück. Du siehst die Enttäuschung auf ihren Gesichtern, erklärst noch einmal, wie sehr du es bedauerst, und gehst weiter.

Als du schon über eine halbe Stunde unterwegs bist, machst du dir Sorgen, weil du den Weg zu dem Haus nicht mehr findest, in dem du immer gelebt hast. Im Prinzip hättest du nicht länger als zehn Minuten brauchen dürfen. Du bist dir ganz sicher, dass du in der Straße der Tanzbar Joli-Soir wohnst, oder vielmehr, dass sich die Tanzbar in eurer Straße befindet, und wenn du sie wiederfindest, ist euer Haus nur noch einen Steinwurf entfernt.

Du überwindest deinen Stolz – man macht sich doch lächerlich, wenn man um Hilfe bittet – und erkundigst dich bei Jugendlichen, die vor einer Parzelle Dame spielen, auf der ein Neubau noch nicht fertig gebaut, aber bereits bewohnt ist.

Kaum hast du sie angesprochen, stoßen sie entsetzte Schreie aus:

»Hilfe! Hilfe! Zu Hilfe!«

Sie lassen alles stehen und liegen, nehmen Reißaus, während du zurückbleibst und dich über sie wunderst.

Du gehst auf den Weg zurück, überzeugt, dass diese jungen Leute, von denen einige dein Alter haben, die letzten Vollidioten sind, die ihre Zeit mit Müßiggang und Faulheit verbringen.

Du kommst an den Platz, an dem du unter Applaus gelandet bist. Noch klingen die aufgewühlten Stimmen derer in deinem Ohr, die gesehen haben, wie du aus der Luft herabgekommen bist und deine Flügel zusammengefaltet hast.

Leider nehmen dieselben Leute, die dir Beifall gespendet und deinen Namen skandiert hatten, ebenfalls die Beine unter die Arme, als du dich ihnen näherst. Vier von ihnen bleiben jedoch stehen und scheinen die Konfrontation zu suchen. Schon kommen sie entschlossenen Schrittes auf dich zu. Sie haben menschliche Körper mit den Köpfen unterschiedlicher Tiere: eine Hyäne, eine Spitzmaus, ein Orang-Utan und ein weißer Hai.

»Zurück mit dir zum Frère-Lachaise!«, brüllt der Kerl mit dem Haifischkopf.

Der mit dem Kopf eines Orang-Utans stimmt ein:

»Ja, geh zurück dorthin, wo du hingehörst!«

Der Spitzmausköpfige schreit:

»Du jagst den Kindern Angst ein, die Hunde werden hysterisch wegen dir!«

Der Hyänen-Mann droht unmissverständlich:

»Wenn du nicht umkehrst, stirbst du ein zweites Mal!«

Während sie zu Stöcken greifen, bereit, dich niederzuschlagen, antwortest du versöhnlich:

»Jungs, ihr täuscht euch, wir haben uns doch gerade erst gesehen, ich suche die Straße, in der das Joli-Soir liegt. Ich möchte nach Hause, ich bin wirklich müde, lasst mich doch bitte durch …«

»Hau bloß ab! Geh zu deinesgleichen!«, rufen sie im Chor und immer aggressiver.

Wie ein Dieb, der auf dem Grand Marché Obst und Gemüse gestohlen hat, ergreifst du jetzt die Flucht vor diesen Wüterichen, die ihre Holzstöcke in deine Richtung schleudern und anscheinend eine einmalige Gelegenheit wittern, sich gut zu amüsieren …

Als du zu einem weit abgelegenen Stück Brachland kommst, versuchst du wieder, deine Flügel zu entfalten, um davonzufliegen. Aus deinen Schulterblättern wächst nichts mehr. Du musst zu Fuß gehen, immer weiter die Avenue de l’Indépendance entlang, du verlässt dich auf deine Intuition, in der Hoffnung, dass sie dich nicht zu diesen unfreundlichen Leuten zurückführt, die dich mit Stöcken verjagt haben.

Du vertraust weiter darauf, dass du das Trois-Cents-Viertel und die Straße mit dem Joli-Soir letzten Endes finden wirst …

Wie der Geschmack von Festtagskrapfen

Es war richtig von dir, nicht von der Avenue de l’Indépendance abzubiegen, die mit der Rue du Joli-Soir einen perfekten rechten Winkel bildet.

Jetzt befindest du dich auf der Höhe der Tanzbar Joli-Soir. Das Haus deiner Großmutter liegt nur drei Parzellen davon entfernt, die Tanzbar ist gerade geschlossen. Wie immer, wenn es einen Trauerfall in der Nachbarschaft gibt. Zum einen will der Barbetreiber damit den Verstorbenen ehren, zum anderen eine Störung der Trauerfeierlichkeiten vermeiden und keine Atmosphäre der Rivalität schaffen zwischen denen, die sich vergnügen, die ausgelassen tanzen, und denen, die vor Kummer singen und weinen.

Du bleibst vor eurer Parzelle stehen, wunderst dich über die vielen Leute, die sich darin drängen. Von Weitem siehst du deinen Leichnam unter einem Unterstand aus Palmblättern liegen, umgeben von weinenden Frauen im fortgeschrittenen Alter. Der Anblick einer solchen Körperhaltung gefällt dir gar nicht, und du weigerst dich zu glauben, der Leichnam, an dem hier Totenwache gehalten wird, sei deiner, der von Liwa Ekimakingaï. Am liebsten würdest du dich in dein Zimmer zurückziehen, um auszuruhen. Doch dazu müsstest du dir einen Weg durch diese edelmütige, Anteil nehmende Schar von Besuchern bahnen, die deiner Großmutter in ihrer Trauer beistehen wollen.

Das kann dir nicht gelingen, ohne dass man dich häufiger zu sehen bekommt, als es einem Verstorbenen nach den Legenden deiner Ethnie, der Babembe, erlaubt ist. Er darf im Prinzip nur zweimal gesehen werden. Deswegen ist es dir nicht möglich, zugleich auf dem Totenbett unter diesem Unterstand zu liegen, auf dem Friedhof Frère-Lachaise zu sein, wo du im längsten Traum deines Todes versunken bist, und dich drittens in deinem Kinderzimmer einzuschließen, während die Leute, die sich bei euch eingefunden haben, deiner Großmutter ihr Beileid ausdrücken.

Einige Gesprächsfetzen dringen bis zu dir. Die Frauen um den Leichnam beglückwünschen deine Großmutter dafür, dass sie »ohne die Unterstützung eines Mannes« zu Grundbesitz gelangt ist. Deshalb betrachtest du das aus Brettern gezimmerte Haus, das dir im Traum noch kleiner vorkommt und sich ein wenig zur Straße hin zu neigen scheint, als belauerte es das Geschehen rund um das Joli-Soir. Doch in diesem Haus hast du dein ganzes Leben verbracht und eines der beiden Zimmer bewohnt. Am Dach müssten die Bleche ausgewechselt werden, du hattest versprochen, dich darum zu kümmern, aber noch nichts unternommen, es regnete herein, und in der trockenen Jahreszeit nisteten Schwalben und schwarze Mauersegler im Dachgebälk.

Da du nicht zur gleichen Zeit an drei verschiedenen Orten sein kannst, verzichtest du darauf, dich in deinem Zimmer zu verkriechen, und bleibst dort, wo du bist, stehen wie eine Salzsäule, während vor deinen Augen, doch vor allem in deinen Gedanken Szenen aus deiner Kindheit vorüberziehen, darunter einige deiner unvergesslichsten Momente, für die diese Rue du Joli-Soir gesorgt hat. Fasziniert vom ständig wachsenden Zustrom vor eurem Grundstück, wendest du dich wieder dieser Verkehrsader zu. Bald werden die Leute, die zu deiner Totenwache kommen, einen Gutteil von ihr belagern.

Die Rue du Joli-Soir ist für dich die schönste Straße der Welt. Man verkauft dort Huhn- und Hammelspieße. Die Luft riecht nach Festtagskrapfen, jenen in Fett gebackenen Teigbällchen, die wegen der Hefe im Teig aufgehen. Sie duften herrlich und lassen das Bild des Leichnams in eurer Parzelle verblassen, bringen das Einzelkind wieder in Erinnerung, das ohne Geschwister aufwuchs und durch die Straßen dieser Stadt streunte, das barfuß im offenen Hemd an der Côte Sauvage herumrannte, das trotzdem immer rechtzeitig nach Hause kam, wenn seine Großmutter Mâ Lembé, der einzige Mensch, der für das Kind zählte, sein Lieblingsgericht gekocht hatte: Klippfisch auf Bohnen, mit zerkleinerten Maniokblättern als Beilage.

Doch das Gericht hat in deinem Traum nicht mehr denselben Geschmack: Der Fisch ist nicht gesalzen, die Bohnen sind verdorben, die Maniokblätter ungenügend zerkleinert. Nein, dieses Gericht hat nicht Mâ Lembé gekocht, es wäre ihr nicht so missraten. Es kommt auch nicht aus den Restaurants rund um den Tchinouka-Fluss, die hätten sonst bald keine Kunden mehr. Du hast keine Wahl, du isst, dazu gibt es Festtagskrapfen, und du hast den Nachgeschmack von Eiern auf der Zunge, die mit Mehl, Milch, Zucker und Butter vermischt sind. Leute aus Benin, die seit den Sechzigerjahren in der Stadt leben, verkaufen diese Krapfen. Mâ Lembé hat dich immer zu ihnen geschickt, um welche zu kaufen, oder sie hat sie selbst gemacht, um dich damit zu überraschen, wenn du in der Schule erfolgreich warst – und in dieser Hinsicht hast du sie nie enttäuscht, du warst unter den guten Schülern in der Grundschule des Trois-Cents-Viertels. Es kam auch vor, dass sie dir Festtagskrapfen kaufte, wenn du dich älteren Personen gegenüber untadelig benommen und ihnen dabei geholfen hattest, die Straße zu überqueren, ihr Zuhause wiederzufinden oder rachitische und räudige Hunde zu verjagen, die bei ihrem Vorübergehen erbittert bellten und die Zähne fletschten.

Auch wenn ihnen der authentische Geschmack aus Mâ Lembés Küche fehlt, je mehr du von deinem Teller und den Festtagskrapfen isst und damit in deine Kindheit zurückkehrst, umso mehr siehst du dich auf der Schulbank in der mittleren Reihe, eingeklemmt zwischen deinen beiden Freunden und Klassenkameraden Jose Manuel Lopes und Sosthène Mboma. Von der Grundschule bis zur Oberstufe des Gymnasiums seid ihr euch nicht von der Seite gewichen, und eure Familien kannten sich gut.

Jose Manuel Lopes’ Eltern stammten ursprünglich aus der Enklave Cabinda, waren aber in Pointe-Noire im Exil, seit Angola sich das erdölreiche und von den europäischen Großmächten heiß begehrte Gebiet einverleibt hatte. Papa Lopes war ein Kämpfer der Befreiungsfront für die Enklave Cabinda. Die Mitglieder dieser Opposition wurden verfolgt, die meisten mussten aus Cabinda fliehen. Im Viertel rief man ihn nicht mit seinem Namen, man nannte ihn »den Opponenten«. Er hatte einen ruhigen Gang, und für gewöhnlich trug er Safarijacken und eine Schirmmütze mit dem Bild von Che Guevara oder einem großen roten Stern, dazu eine dicke Intellektuellenbrille.

Jose hatte zwei jüngere Schwestern, Lesliana und Ana Clara, geboren in Pointe-Noire, von denen seine Eltern im Scherz sagten, man müsse sie nunmehr nicht als Cabindaerinnen, sondern vielmehr als Kongolesinnen betrachten. Die Kinder halfen ihrem Vater bei der Verteilung von Flugblättern in der Stadt, auf denen man unerträgliche Bilder von Bewohnern Cabindas sehen konnte, die vom angolanischen Regime misshandelt, wenn nicht gar erschossen worden waren, um die Opposition und symbolische cabindaische Regierung einzuschüchtern, die sich in Europa gebildet hatte und von Angola natürlich abgelehnt wurde, das von der internationalen Gemeinschaft forderte, es ebenso zu tun.

Mbomas Familie kam aus Oyo im Norden des Landes. Papa Mboma arbeitete bei der Kongo-Ozean-Eisenbahn als Schaffner auf der Strecke Pointe-Noire–Brazzaville, während Mama Mboma für sich den Status einer »Hausfrau« beanspruchte, die sich allein um ihren einzigen Sohn Sosthène kümmerte, da der Vater stets im Außendienst war. Papa Mboma war im Viertel als »der Nordist« bekannt, der Mann aus dem Norden, und die Bewohner des Viertels fragten sich, ob ihn die Leute aus seiner Heimat nicht quasi verbannt hatten, indem sie ihm Arbeit im Süden gaben, während das Land doch von Leuten aus dem Norden regiert wurde. Er hätte in der Tat in Brazzaville leben und seine Herkunft aus dem Norden als Vorteil nutzen können, um einen politischen Posten zu bekommen. Aber ihm war das egal, er liebte die Eisenbahn und Züge seit seiner Kindheit. Er sammelte sogar Miniaturen von Lokomotiven, die Sosthène dir heimlich zeigte.

»Wenn er mitbekommt, dass ich seine Züge anfasse, hängt er mich auf!«, warnte dich dein Freund.

Und dann erläuterte Sosthène die Miniaturmodelle, zeigte Diesellokomotiven, Dampfloks, dazu Elektrolokomotiven der Marken Jouef oder Vespa mit dem Logo der Nationalen französischen Eisenbahngesellschaft SNCF.

Im Norden des Landes gibt es keine Züge, auch keine Eisenbahn. Als Papa Mboma den Einstellungswettbewerb bei der Kongo-Ozean-Eisenbahn bestand, erfüllte sich für ihn ein Traum. Es stand für ihn außer Frage, dass er im Süden arbeiten würde, wo ihn nach einem Dienstjahr eine Frau aus dem Süden bezauberte, Mama Mboma, mit der er später ein Kind haben würde, deinen Freund Sosthène.

Die Familien Lopes und Mboma hatten größte Hochachtung vor deiner Großmutter. Mama Lopes und Mama Mboma schauten immer auf dem Grand-Marché bei Mâ Lembés Stand vorbei, um ihr Guten Tag zu sagen. Die drei sprachen über alles, besonders über das Verhalten ihrer Sprösslinge, dann versprachen sie einander, sich im Viertel zu besuchen, doch ihre Häuser lagen etwas weit voneinander entfernt, sodass die Versprechen nicht eingelöst wurden, und unglücklicherweise sahen sie sich zumeist nur aus unangenehmen Anlässen, wenn euer Trio wieder im Schlechten von sich reden machte und sich die Klagen häuften …

Der Tod hatte Angst vor mir

In eurer Jugend waren Jose, Sosthène und du unzertrennlich. Du hattest bei deinen beiden Klassenkameraden schnell das Sagen, nicht weil du ein Jahr älter warst als sie, sondern wegen der Geschichten, die du ihnen seit der Grundschule erzähltest und denen sie mehr als aufmerksam lauschten. Sie muckten nicht einmal auf, als sie merkten, dass du sie an der Nase herumführtest, indem du ab und zu kräftig nachgewürzt hast, um ihre Aufmerksamkeit wachzuhalten.

Wenn ihr zusammen zur Schule gingt, stießen sie am Ende der Rue du Joli-Soir auf dich, und mit euren fast identischen Schulranzen – eure Eltern hatte sie beim selben Libanesen auf dem Grand-Marché gekauft – seid ihr dann in die Avenue de l’Indépendance eingebogen und zwei Stunden lang bis zum kommunistischen Collège des Trois-Glorieuses an der Kreuzung Avenue Jacques-Opangault und Avenue Amilcar-Cabral marschiert.

Am liebsten mochtest du Geografie, weil du dort die fernen Länder entdecktest, von denen du träumtest, du würdest sie als Erwachsener einmal besuchen. Und im Gegensatz zu Jose, dem Cabindaer, machte dir der Geschichtsunterricht wegen der Daten, die du auswendig lernen musstest, keinen Spaß, während er aufgeschlossen für dieses Fach war, sicher wegen des Lebenswegs seines Vaters. Wahrscheinlich hatte dieser bei Tisch oder vor dem Schlafengehen mit seinen Kindern über das tragische Schicksal von Cabinda gesprochen.

Wie für Sosthène waren Rechtschreibung und Aufsatzschreiben mehr deine Sache. Um dir für die Schularbeiten Anregungen zu holen – und auch, um die Erzählungen auszuschmücken, mit denen du deine Schulfreunde unterhalten wolltest –, verschlangst du Bücher, die du in der Charles-Miningou-Bibliothek im Stadtviertel Mouyondzi ausgeliehen hast. Mâ Lembé bezahlte jedes Jahr deinen Benutzerausweis für diese Bibliothek, und es beruhigte sie, zu wissen, dass du dorthin gingst und nicht mit deinen beiden Freunden am Tchinouka-Fluss herumlungertest. Das Gebäude war von China erbaut und mit Büchern aus der ganzen Welt bestückt worden. Es sollte einem Bruderland helfen, sich aus der Unwissenheit zu befreien, wie man euch im Staatskundeunterricht beigebracht hat. Einige Gymnasiasten waren nach Peking geschickt worden, wo sie ihre Ausbildung fortsetzten, um später in den Kongo zurückzukehren und wichtige Posten in der Regierung oder im Zentralkomitee der Kongolesischen Arbeiterpartei PCT zu bekleiden …

Nachdem du die Abschlussprüfung am kommunistischen Collège des Trois-Glorieuses mit Leichtigkeit bestanden hattest, hättest du weitermachen können. Aus Not hast du deinem Wissensdurst ein hartes Ende gesetzt, der dich aus dem Trois-Cents-Viertel in die Bibliothek Charles-Miningou führte, wo du Die Abenteuer von Tom Sawyer verschlungen hast, um später Jose und Sosthène mitfiebernd von den Missgeschicken des kleinen Amerikaners zu erzählen. Du dachtest, das fiktive St. Petersburg – die Heimatstadt des kleinen Amerikaners, die angeblich im Staat Missouri am Mississippi lag – sei eine echte Stadt, ein Zwilling von Pointe-Noire. Und den Fluss Mississippi stelltest du dir als einen Cousin des Atlantischen Ozeans in Pointe-Noire vor.

Du warst immer darauf aus, dich mit deiner Leidenschaft für dieses Lieblingsbuch zu schmücken, aus dem du ganze Kapitel auswendig rezitieren konntest, ohne einmal zu stolpern, du sahst dich dann als Tom Sawyer an – denn der war Waise wie du, bloß hatte ihn statt seiner Großmutter seine Tante Polly großgezogen. Als hätte diese Ähnlichkeit nicht genügt, meintest du, dich mit Freunden umgeben zu müssen, die denselben Namen trugen wie die des Amerikaners. Und deshalb hast du Jose den Spitznamen »Huckleberry Finn« verpasst und Sosthène »Joe Harper« genannt …