Morgen werde ich zwanzig - Alain Mabanckou - E-Book

Morgen werde ich zwanzig E-Book

Alain Mabanckou

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Beschreibung

Pointe-Noire, Ende der Siebzigerjahre. Der Kongo hat längst seine Unabhängigkeit erlangt, und der zehnjährige Michel strebt danach, es seinem Heimatland gleichzutun. Aber während die Radionachrichten vom Sturz des persischen Schahs berichten und von der Vertreibung der Roten Khmer, muss Michel sich um seine eigenen Krisenherde kümmern. Seine zwölfjährige Freundin Caroline verlangt mehr Aufmerksamkeit und droht, ihn für einen Angeber aus der Fußballmannschaft zu verlassen. Sein Onkel René, selbst ernannter kapitalistischer Kommunist, kommt zwar für Michels Schulbildung auf, schielt aber unverhohlen auf das Erbe der verstorbenen Großmutter. Und zu allem Überfluss hat ein Schamane Michels Mutter eingeredet, dass sie keine weiteren Kinder bekommen könne, weil ihr Sohn den Schlüssel zu ihrem Bauch versteckt habe … In seinem Roman "Morgen werde ich zwanzig" zeichnet Alain Mabanckou anhand einer fantasievollen, hochkomischen Familiengeschichte das Porträt eines Kontinents, der sich zwischen kolonialer Vergangenheit und einstigen Freiheitsträumen neu erfinden musste.

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Seitenzahl: 442

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Alain Mabanckou

Morgen werde ich zwanzig

Roman

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

liebeskind

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel

Demain j’aurai vingt ans bei Éditions Gallimard, Paris.

© Éditions Gallimard, Paris 2010

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2015

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Marc Müller-Bremer, München

Umschlagmotiv: Hector Mediavilla / Picturetank / Agentur Focus

ISBN 978-3-95438-040-4

für meine Mutter Pauline Kengué – gestorben 1995

für meinen Vater Roger Kimangou – gestorben 2004

Dany Lafferière gewidmet

Was das Schönste ist

Für das heiße Kinderherz:

Schmutzige Leintücher und weißer Flieder

Morgen werde ich zwanzig

TCHICAYA U TAM’SI,

Böses Blut

In unserem Land muss ein Chef eine Glatze und einen dicken Bauch haben. Da mein Onkel weder eine Glatze noch einen dicken Bauch hat, kannst du, wenn du ihn siehst, nicht auf Anhieb erkennen, dass er ein echter Chef mit einem großen Büro im Stadtzentrum ist. Er ist »Verwaltungs- und Finanzdirektor«. Laut Mama Pauline ist ein Verwaltungs- und Finanzdirektor jemand, der auf das ganze Geld eines Unternehmens aufpasst, und er ist auch derjenige, der sagt: Dich stell ich ein, dich stell ich nicht ein, dich schick ich zurück in dein Dorf.

Tonton René arbeitet bei der CFAO, dem einzigen Unternehmen in Pointe-Noire, das Autos verkauft. Zu Hause hat er ein Telefon und einen Fernseher. Mama Pauline meint, das Zeug sei zu teuer, rausgeworfenes Geld, und ohne diese Dinge hätten die Leute früher besser gelebt. Wozu braucht man ein Telefon im Haus, wenn man in der Post am Grand Marché telefonieren kann? Wozu einen Fernseher, wenn man die Nachrichten im Radio hören kann? Außerdem lassen die Libanesen, die auf dem Markt Radios verkaufen, mit sich handeln. Man kann den Preis auch abstottern, wenn man Beamter ist oder Verwaltungs- und Finanzdirektor wie mein Onkel.

Oft denke ich, dass Tonton René mächtiger ist als Gott, den wir sonntags in der Saint-Jean-Bosco-Kirche mit unseren Gebeten verehren. Gott hat noch niemand gesehen, trotzdem fürchten sich alle vor seiner Macht, als ob er mit uns schimpfen oder uns verprügeln könnte, dabei wohnt Er sehr weit weg, dort, wo keine Boeing je hinkommen wird. Wenn man mit Ihm sprechen will, muss man in die Kirche gehen, und dann überbringt Ihm der Priester unsere Nachrichten, die Er lesen wird, sobald Er ein wenig Zeit dafür findet, denn dort oben steckt Er morgens, mittags und abends bis über beide Ohren in Arbeit.

Tonton René ist allerdings gegen die Kirche und sagt jedes Mal zu meiner Mutter:

»Religion ist das Opium des Volkes!«

Wenn dich jemand »Opium des Volkes« schimpft, hat Mama Pauline mir erklärt, musst du dich sofort mit Händen und Füßen wehren, denn das ist eine schlimme Beleidigung, und Tonton René würde ein so schwieriges Wort wie »Opium« nicht einfach zum Spaß verwenden. Seither nennt mich Mama Pauline »Opium des Volkes«, sobald ich Unsinn mache. Und wenn mir im Pausenhof manche Schulkameraden auf die Nerven gehen, schimpfe ich sie auch »Opium des Volkes«, und dann prügeln wir uns deswegen.

Mein Onkel behauptet, er sei Kommunist. Normalerweise sind Kommunisten einfache Leute, die keinen Fernseher, kein Telefon, keinen Strom, kein fließend Warmwasser, keine Klimaanlage haben, und sie kaufen sich nicht alle sechs Monate ein neues Auto wie Tonton René. Daher weiß ich jetzt, dass man Kommunist und zugleich reich sein kann.

Ich glaube, mein Onkel ist so streng mit uns, weil Kommunisten keinen Spaß verstehen, wenn es um Ordnung geht, wegen der Kapitalisten, die den armen Verdammten dieser Erde Hab und Gut rauben, einschließlich ihrer Produktionsmittel. Wie sollen die armen Verdammten dieser Erde von ihrer Arbeit leben, wenn die Kapitalisten die Eigentümer der Produktionsmittel sind und die Gewinne ganz allein in ihrer Ecke verzehren, anstatt halbe-halbe mit den Arbeitern zu machen?

Wenn mein Onkel wirklich wütend ist, dann auf die Kapitalisten, nicht auf die Kommunisten, die sich vereinen müssen, denn wie es aussieht, wird es ja bald zum Endkampf kommen. Das lernen wir jedenfalls in der Grundschule. Wir sind die Zukunft des Kongo, sagt man uns zum Beispiel, wir verhindern, dass der Kapitalismus den Endkampf gewinnt, wenn es so weit ist. Wir sind die Nationale Bewegung der Pioniere. Erst sind wir Mitglieder bei den Pionieren, und später, wenn wir groß sind, werden wir Mitglieder in der kongolesischen Arbeiterpartei PCT, möglicherweise haben wir schon jetzt den künftigen Präsidenten und Chef des PCT in unseren Reihen.

Jetzt spreche ich, Michel, schon mit den Worten meines Onkels, als wäre ich ein echter Kommunist, dabei bin ich das gar nicht. Da er ständig seltsame und komplizierte Wörter sagt wie »Kapital«, »Profit«, »Produktionsmittel«, »Marxismus«, »Leninismus«, »Materialismus«, »Infrastruktur«, »Superstruktur«, »Bourgeoisie«, »Klassenkampf«, »Proletariat« und so weiter, habe ich sie schließlich irgendwann behalten, auch wenn ich sie nicht immer verstehe und sie ab und zu durcheinanderbringe, ohne es zu merken. Wenn er zum Beispiel von den Verdammten dieser Erde redet, meint er Leute, die Hunger zur Arbeit zwingt. Die Kapitalisten zwingen sie zu hungern, damit sie am nächsten Tag zur Arbeit zurückkehren, dabei beutet man sie aus, denn am Tag zuvor haben sie ja nichts gegessen. Wenn also die Zwangshungernden ihren Kampf gegen die Kapitalisten gewinnen wollen, müssen sie mit ihrer Vergangenheit reinen Tisch machen und sich selbst retten, statt darauf zu warten, dass jemand kommt und sie befreit. Ohne das sind sie echt geliefert, sie werden immer hungrig sein und ewig ausgebeutet werden.

Bei Tonton René bekomme ich am Esstisch immer den schlechten Platz genau gegenüber von dem Foto mit einem alten Weißen, der Lenin heißt und mich unentwegt ansieht, dabei kenne ich ihn nicht und er kennt auch mich nicht. Da ich überhaupt nicht damit einverstanden bin, dass mich ein alter Weißer, der mich nicht kennt, böse anstarrt, schaue ich zurück und ihm geradewegs in die Augen. Ich weiß, es ist unhöflich, Erwachsenen direkt in die Augen zu blicken, und deshalb mache ich es heimlich, sonst würde sich mein Onkel aufregen und sagen, es fehle mir an Respekt für seinen Lenin, den die ganze Welt bewundert.

Auch das Foto von Marx und Engels hängt dort. Anscheinend darf man die beiden Alten, die wie Zwillinge sind, nicht voneinander trennen. Alle beide haben einen langen Bart, sie denken dieselben Sachen im selben Moment, und manchmal schreiben sie zusammen in einem Buch auf, was sie gedacht haben. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Leute jetzt wissen, was Kommunismus ist. Mein Onkel sagt, Marx und Engels hätten erklärt, dass die Weltgeschichte nur die Geschichte von Leuten ist, die zu Klassen gehören, zum Beispiel die Sklaven und die Herren, die Großgrundbesitzer und die Bauern, die kein Land besitzen, und so weiter. In dieser Welt sind also einige oben, andere sind unten und leiden, weil die, die oben sind, diejenigen ausbeuten, die unten sind. Da sich die Dinge jedoch verändert haben, und die, die oben sind, verbergen wollen, wie sie die ausbeuten, die unten sind, denken Marx und Engels, dass man sich vor allem nicht täuschen soll, die Unterschiede gebe es noch immer, und heutzutage seien es zwei große Klassen, die sich streiten und gnadenlos bekämpfen: die Bourgeoisie und die Proletarier. Auf der Straße kann man sie leicht erkennen: Die Bourgeois haben dicke Bäuche, weil sie essen, was die Proletarier produzieren, und die Proletarier (oder die Zwangshungernden) sind ganz mager, weil ihnen die Bourgeoisie nur Krümel übrig lässt, damit sie gerade so viel zu essen haben, dass sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit kommen. Das nennt man die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sagt Tonton René.

Mein Onkel hat auch ein Foto unseres Unsterblichen Genossen Präsident Marien Ngouabi aufgehängt, und eines von Victor Hugo, der viele Gedichte geschrieben hat, die wir in der Schule aufsagen.

Im Prinzip ist ein Unsterblicher jemand wie Spiderman, Lucky Luke, Superman oder Tim und Struppi, die nicht sterben. Ich verstehe nicht, warum man uns weismachen will, dass Genosse Präsident Marien Ngouabi unsterblich sei, obwohl doch jeder weiß, dass er tot ist, dass er im Norden des Landes auf dem Friedhof von Etatolo begraben ist, ein Friedhof, der sieben Tage die Woche rund um die Uhr bewacht wird, und das nur, weil Leute auf seinem Grab ihren Grisgris-Zauber veranstalten wollen, damit sie ebenso unsterblich werden.

Aber gut, man muss unseren ehemaligen Präsidenten den »Unsterblichen« nennen, auch wenn er nicht mehr am Leben ist. Wer sich weigert, um den kümmert sich die Regierung, er kommt ins Gefängnis, und wenn unsere Revolution die Kapitalisten davongejagt hat und die Produktionsmittel endlich den Verdammten dieser Erde, den Zwangshungernden gehören, die wegen dieser Geschichte mit den Klassen von Marx und Engels Tag und Nacht kämpfen, wird er bekommen, was er verdient.

Mama Pauline weiß, dass ich große Angst vor Tonton René habe, und das nutzt sie aus. Wenn ich nicht ohne einen Gutenachtkuss von ihr schlafen gehen will, ermahnt sie mich, wenn ich nicht ins Bett ginge, würde ihr Bruder denken, ich sei nur ein kleiner Kapitalist, der nicht schlafen kann, weil er zuerst einen Kuss von seiner Mama will, quasi eines von den Kapitalistenkindern, die im Stadtzentrum oder in Europa wohnen, vor allem in Frankreich. Dann vergisst er vielleicht, dass ich sein Neffe bin, und verprügelt mich. Daraufhin gebe ich Ruhe und Mama Pauline beugt sich über mich, berührt sanft meinen Kopf, aber sie gibt mir keinen Kuss wie in den Büchern, die wir in der Schule lesen und die in Europa spielen, vor allem in Frankreich. Und dann denke ich, dass in den Büchern auch nicht immer die Wahrheit erzählt wird und dass man deshalb nicht glauben darf, was in ihnen steht.

 

Wenn ich manchmal nicht einschlafen kann, dann liegt das nicht immer am Gutenachtkuss meiner Mutter, auf den ich warte, sondern auch an dem Moskitonetz, das mich stört. Sobald ich darunter liege, habe ich das Gefühl, die Luft, die in meine Lungen kommt, ist dieselbe wie die, die ich gestern Abend eingeatmet habe, und ich schwitze nur noch, bis mein Bett so nass ist, als hätte ich Pipi gemacht, was natürlich nicht stimmt.

Die Stechmücken in unserem Viertel sind merkwürdig, sie sind ganz wild auf Schweiß, kleben auf deiner Haut fest und haben alle Zeit der Welt, um bis morgens um fünf dein Blut zu saugen. Außerdem sehe ich unter dem Moskitonetz aus wie ein Leichnam, und die Mücken schwirren um mich herum wie Leute, die um mich trauern, weil ich gerade gestorben bin.

Das alles habe ich Papa Roger gesagt. Ja, ich habe gesagt, unter meinem Moskitonetz sehe ich aus wie ein kleiner Leichnam, und dass ich darunter eines Tages wirklich sterbe, wenn man nicht aufpasst, und dass man mich dann auf dieser Erde nicht mehr sehen wird, weil ich auf dem Weg in den Himmel sein werde zu meinen beiden großen Schwestern, die ich nie gekannt habe, weil sie es besonders eilig hatten, direkt in den Himmel zu kommen. Ich erzählte ihm das unter Tränen, denn ich stellte mir vor, ich wäre ein ganz kleiner Leichnam in einem ganz kleinen weißen Sarg und umringt von Leuten, die umsonst weinen. Ist man nämlich erst einmal tot, kommt man nicht mehr zurück, es sei denn, man ist Jesus, der Wunder vollbringen und wiederauferstehen kann, als wäre der Tod für ihn nur ein Mittagschläfchen.

Papa Roger machte sich Sorgen, weil ich in meinem Alter anfing, so über den Tod zu reden. Er sagte mir, Kinder würden nie sterben, Gott wache über sie, wenn sie nachts schlafen, und Gott gebe ihnen viel Luft zum Atmen, damit sie nicht im Schlaf erstickten. Ich habe ihn gefragt, warum Gott die Lungen meiner beiden großen Schwestern nicht mit viel Luft gefüllt hat. Er schaute mich mitleidig an:

»Ich kümmere mich darum, dass dieses Moskitonetz wegkommt.«

Es dauerte wochenlang, bis er sich der Sache annahm. Erst gestern, als er von der Arbeit zurückkam, hat er mein Moskitonetz abgehängt. Er hat bei einem libanesischen Händler in der Avenue de l’Indépendance eine Packung Fly-Tox gekauft. Eine Stechmücke, die etwas auf sich hält, macht sich normalerweise auf der Stelle davon, wenn sie in einem Haus den Namen Fly-Tox hört, anstatt einen unnützen Tod zu sterben.

Papa Roger hat die ganze Dose in meinem Zimmer versprüht, damit der Geruch länger anhält. Doch die Mücken in unserem Viertel sind keine Dummköpfe, die sich einfach so reinlegen lassen, und schon gar nicht, wenn sie auf der Fly-Tox-Packung das Bild einer sterbenden Mücke sehen. Warum sollten sie sich auch in den Tod stürzen, ohne bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen? Sie warten, bis der Geruch des Mittels verschwunden ist, und kommen später wieder, um dich überall zu stechen, weil sie sich darüber aufregen, dass du ihnen den Krieg erklärt hast, dabei sind sie wie du und wollen so lange wie möglich leben.

Auch wenn du Fly-Tox überall im Haus versprühst, solltest du nicht vorschnell Hurra schreien. Zuletzt tragen die Mücken den Sieg davon, und dann berichten sie davon den anderen Stechmücken der Stadt, die nicht wussten, dass man auch diesem Insektenmittel entkommen kann. Mücken bewahren nie ein Geheimnis für sich wie wir Menschen, sie schwatzen die ganze Nacht, als ob sie nichts anderes zu tun hätten. Da es immer dieselben sind, die im Trois-Cents-Viertel ihre Runden drehen, und da sie gesehen haben, wie du bei dir zu Hause Fly-Tox versprüht hast, statten sie zuerst den Nachbarn einen Besuch ab, die dieses Mittel nicht haben, und kommen dann, sobald sie mit ihnen fertig sind, in dein Schlafzimmer zurück, um zu prüfen, ob es noch nach Fly-Tox riecht. Es gibt sogar Mücken, die sich an das Mittel gewöhnt haben und die ihren Kameraden erklären, wie sie sich dagegen schützen können. Sie sagen ihnen: »Passt auf, Jungs, in diesem Haus stinkt es nach Fly-Tox, versteckt euch in den Schränken, in den Töpfen, in den Schuhen oder in den Kleidern, wenn ihr nicht sterben wollt.« Und sie warten, bis du das Licht deiner Sturmlampe gelöscht hast. Sie sind zufrieden, denn sie haben begriffen, dass du echt Angst hast und dass du es vor ihnen geheim halten wolltest. Und wer große Angst hat, ist voll mit Blut, schönem warmem Blut, von dem sie sich wochenlang ernähren können. Wenn eine von ihnen kommt, um dich zu ärgern, und du versuchst, sie mit deinen Händen oder mit einem Stück Sperrholz zu zerquetschen, stürzen sich prompt alle anderen aus ihrer vielköpfigen Familie von überall her auf dich. Eine kleine Gruppe surrt, die anderen greifen an. Und dann wechseln sie sich ab. Diejenigen, die um dich herumsurren, sind nicht immer die, die sich auf dich stürzen, und die, die sich auf dich stürzen, verstecken sich hinter den anderen. Aber du bist allein, du hast nur zwei Hände, du kannst nicht sehen, was hinter deinem Rücken vor sich geht, du kannst dich nicht verteidigen, wenn du es mit einer trainierten Armee zu tun hast, die sich rächen will, weil du gedacht hast, du könntest sie einfach so mit deinem Fly-Tox töten. Es juckt dich überall, einige Stechmücken schlüpfen in deine Nasenlöcher, andere kriechen in deine Ohren, stechen dich und lachen dabei höhnisch.

Deshalb war ich heute beim Aufwachen am ganzen Körper mit roten Pusteln übersät. Wenn ich meine Arme unter die Nase halte, riechen sie noch immer nach Fly-Tox. Eine sehr wütende Stechmücke – vielleicht der Chef der Bande – hat mich über dem Auge gestochen, das jetzt so geschwollen ist, als hätte mir irgendein Teufel mit unsichtbarer Hand einen Faustschlag verpasst. Mama Pauline hat ein bisschen Boafett draufgeschmiert und mich getröstet:

»Mach dir nichts daraus, Michel, bis Sonnenuntergang ist dein Auge wieder gesund. Boafett war die Arznei, mit der man mich gesund gemacht hat, als ich klein war. Heute Abend hängen wir wieder das Moskitonetz auf, das dein Vater abgemacht hat. Das Fly-Tox von den Libanesen taugt nicht viel, das weiß er eigentlich.«

 

Wenn Caroline mich ansieht, fühle ich mich, als wäre ich der schönste Junge der Welt. Wir sind gleich alt, aber sie, sie weiß einfach viel über uns Jungs. Mama Pauline sagt, sie sei ein entwickeltes Mädchen. Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll. Sie sagt es vielleicht, weil Caroline sich wie eine echte Dame verhält. Sie ist zwar jung, aber sie benutzt schon einen Lippenstift, und sie flicht fast allen Mamas im Viertel die Haare, einschließlich meiner Mutter. Caroline hört auch, was diese erwachsenen Damen über Männer sagen, und sie kann gar nicht schnell genug so werden wie die Frauen, die sie bei ihren Einkäufen auf dem Grand Marché begleitet. Mama Pauline sagt, Caroline könne ein Essen mit Maniokblättern und Bohnen kochen, was vielen Erwachsenen nicht gelingt. Sie ist wirklich gut entwickelt.

Carolines Eltern und meine Eltern sind befreundet. Sie wohnen am Ende der Avenue de l’Indépendance, kurz vor der Straße, die ins Savon-Viertel führt, in dem Tonton René wohnt. Wenn sie uns besuchen, müssen sie nur ein paar Schritte gehen, denn unser Haus ist das grün-weiße in der Mitte derselben Straße, gegenüber von Yeza, dem Schreiner, der haufenweise Särge baut, die er vor seiner Parzelle aufreiht, damit die Leute kommen und sich einen aussuchen.

Caroline ist zusammen mit mir auf die Trois-Martyrs-Schule gegangen, doch jetzt ist sie in einer anderen Schule im Chic-Viertel. Der Grund, weshalb sie nicht mehr in dieselbe Schule geht, ist ihr Vater, Monsieur Mutombo, der sich mit unserem Schulleiter gestritten hat.

Ich traure sehr der Zeit nach, als sie die Avenue de l’Indépendance herunterkam und mich vor unserer Parzelle abholte. Wir marschierten nicht die geteerten Straßen entlang, weil unsere Eltern meinten, das sei zu gefährlich wegen der Autos, die keine Bremsen haben, und der Fahrer, die Maisschnaps trinken, bevor sie losfahren. Vor allem machten wir einen Bogen um die Kreuzung von Block 55, wo fast jeden Monat jemand überfahren wurde. Im Viertel erzählte man sich, das liege an dem senegalesischen Händler Ousmane, dessen Geschäft direkt auf die Kreuzung hinausging. Anscheinend besaß er einen Zauberspiegel, der die Passanten in die Irre führte. Die meinten, die Autos seien noch weit weg, einen Kilometer vielleicht, dabei waren sie nur wenige Meter vor ihnen. Und wenn sie sich daranmachten, die Straße zu überqueren, wurden sie im selben Augenblick – boing – überfahren. Man folgerte daraus, dass Ousmane deshalb besonders viel Kundschaft hatte, mehr als alle anderen Händler, weil die Leute vor seinem Geschäft starben. Wir gingen lieber hinter dem Laden vorbei und warfen nicht einmal einen Blick darauf, weil wir fürchteten, Ousmanes Zauberspiegel zu sehen. Wenn ich hinter Caroline ging, drehte sie sich manchmal nach mir um, schnappte meine Hand, schüttelte mich und drängte mich, schneller zu gehen, weil die Teufel in diesem Zauberspiegel jedes Mal die Kinder einfingen, die trödelten.

»Michel, schau nicht zu Ousmanes Laden! Schließ die Augen!«

Ich lief schnell, ich wollte nicht hinter ihr verloren gehen. Als wir dann den Hof des alten, grün, gelb und rot gestrichenen Gebäudes – unsere Schule – betraten, mussten wir uns trennen. Caroline besuchte die Klasse von Madame Diamoneka, ich ging in die von Monsieur Malonga. Meine Hand war feucht, weil Caroline sie den ganzen Weg über nicht losgelassen hatte.

Gegen fünf Uhr abends traten wir zusammen den Heimweg an. Sie begleitete mich bis zu unserer Parzelle, dann setzte sie ihren Weg fort. Ich blieb noch draußen stehen und sah ihr hinterher. Sie wurde ein kleiner Fleck weit weg inmitten der Menschenmenge. Und dann ging ich, sehr glücklich, in unser Haus.

Mein bester Freund Lounès – er ist Carolines Bruder – machte sich lieber allein auf den Schulweg. Wollte er nicht neben seiner Schwester gehen? Ich glaube, er wollte uns zeigen, dass er älter war, dass er in derselben Klasse war wie die Großen. Jetzt geht er aufs Collège, wo er noch schwierigere Dinge lernt als die, die man in der Grundschule unterrichtet. Da er das Collège des Trois-Glorieuses besucht, will ich, wenn ich die Grundschule abgeschlossen habe, nirgendwo anders hingehen als auf dieses Collège. Anderswo müsste ich neue Freunde suchen. Ich mag Lounès sehr und ich glaube, er mag mich auch.

Der Vater von Caroline und Lounès hinkt mit dem linken Bein, und die Leute feixen, wenn er auf der Straße vorübergeht. Es ist nicht gerade freundlich, sich über Monsieur Mutombo lustig zu machen, schließlich hat nicht er zu Gott gesagt: »Ich möchte mein ganzes Leben lang hinken.« Er ist so geboren, und als er als kleines Kind gehen lernte, stellte sich heraus, dass sein linkes Bein kürzer war als sein rechtes, oder aber sein rechtes Bein war länger als sein linkes.

Freilich könnte Monsieur Mutombo mit dem Hinken aufhören, wenn er wollte, er bräuchte nur Salamanderschuhe mit Absätzen zu tragen, die so hoch sind, dass ein Pygmäe darin aussieht wie ein amerikanischer Wolkenkratzer. Meiner Meinung nach ist das keine Lösung, denn das rechte Bein würde noch länger werden, und das linke Bein, das krank ist, würde nicht auf derselben Höhe sein. Er könnte höchstens die rechte Sohle etwas kappen, aber dann würde man sich wieder über ihn lustig machen, denn seine Schuhe wären nicht mehr gleich. Die einzige Lösung ist, dass er am Tag, an dem er stirbt, Gott bittet, ihn mit normalen Beinen wiederauferstehen zu lassen, denn wenn Gott ein Menschenwesen fertig geschaffen und es in unsere Welt geschickt hat, ist es zu spät, dann kann er seine Entscheidung nicht mehr rückgängig machen, sonst würden die Leute keinen Respekt mehr vor ihm haben. Außerdem würde das heißen, dass Gott sich irren kann wie wir alle. Und das hat die Welt noch nicht gesehen.

Monsieur Mutombo ist ein sehr rechtschaffener Mann, das sagt zumindest Papa Roger über seinen Freund. Er kümmert sich viel um Lounès und Caroline. Er geht mit ihnen ins Rex-Kino, wo sie schon Filme wie Rollkommando, Zwei glorreiche Halunken, Die zehn Gebote, Samson und Delilah, Der weiße Hai, Krieg der Sterne und viele indische Filme gesehen haben.

Wenn Monsieur Mutombo sonntags meinen Vater besucht, gehen sie in eine Bar in der Avenue de l’Indépendance. Sie trinken Palmwein, unterhalten sich in Bemba, der Sprache unseres Volks, und wenn sie zu lange in der Bar bleiben, sagt Mama Pauline zu mir:

»Michel, was sitzt du hier herum wie ein Dummkopf, während dein Vater und Monsieur Mutombo in einer Bar sind! Steh auf und sieh nach, ob sie schon den jungen Mädchen aus dem Viertel einen ausgeben und sie auf den Mund küssen!«

Und ich laufe los wie eine Rakete, komme völlig außer Atem in der Bar an. Dort sitzen Monsieur Mutombo und mein Vater bei einem Glas und spielen Dame.

Papa Roger wundert sich, dass ich da bin:

»Was treibst du hier, Michel? Kinder dürfen keine Bar betreten!«

»Mama hat mich geschickt, ich soll nachsehen, ob ihr den Mädchen aus dem Viertel einen ausgebt und euren Mund auf ihren drückt …«

Die beiden Männer verabschieden sich mit schallendem Gelächter voneinander. Ich gehe mit meinem Vater, der ein wenig betrunken ist, nach Hause. Ich halte ihn an der Hand, und er erzählt mir Dinge, die ich nicht verstehe. Vielleicht diskutiert man, wenn man getrunken hat, mit unsichtbaren Leuten, die die Hersteller des Alkohols in der Flasche versteckt haben und die andere Leute, die nichts trinken, nicht sehen können.

An anderen Sonntagen besucht mein Vater Monsieur Mutombo, sie gehen zusammen in eine Bar im Viertel, sie unterhalten sich in Bemba, sie diskutieren mit unsichtbaren Leuten, die in der Flasche sind, und dann muss Lounès ihnen hinterhergehen und sagen, dass Madame Mutombo ihn gebeten hat zu überprüfen, ob sie den jungen Mädchen im Viertel einen ausgeben und sie auf den Mund küssen.

Monsieur Mutombo ist der beste Schneider in der Stadt. Er näht die Schuluniformen für die meisten Kinder aus unserem Viertel. Auch aus anderen Vierteln kommen Eltern von Schülern und bringen ihm Stoff, damit er die Schuluniformen ihrer Kinder schneidert. An Kundschaft fehlt es seiner Werkstatt nicht, und zu Beginn des Schuljahres ist er immer im Verzug, weil die Leute bis zum letzten Moment warten, bis sie die Stoffe vorbeibringen – oft kommen sie erst drei Tage vor Schulbeginn und drängen Monsieur Mutombo zur Eile.

Ich gehe jedes Mal gerne mit einem Stück Stoff von meinem Vater über der Schulter in seine Werkstatt und sehe zu, wie er sich an die Arbeit macht, denn er weiß, dass mein Vater nicht irgendjemand ist, trinkt er doch mit ihm zusammen Palmwein und Rotwein in den Bars in der Avenue de l’Indépendance.

Und wenn du dann den Anzug siehst, den Monsieur Mutombo genäht hat, staunst du und hältst ihn für einen echten Anzug von der Stange, der direkt aus Europa kommt, nur dass er nicht eingewickelt ist und nicht denselben guten Geruch verströmt wie die Anzüge aus Europa, denn dieser Geruch kommt nur aus Europa, und die Weißen sind so gerissen, dass sie ihr Geheimnis für sich behalten, damit man in unserem Land auch weiterhin ihre Anzüge mag und trägt, auch wenn das viel teurer ist.

Als ich eines Tages zu meiner Mutter sagte, dass Madame Mutombo eine dicke Frau sei, so dick wie ein schwangeres Nilpferdweibchen, hat sie mich an den Ohren gezogen und mir erklärt, dass eine Frau, die dick ist, auch ein großes Herz hat, und dass Menschen, die ihre Mitmenschen lieben, immer ein großes Herz haben. Ich musste an die Mutter von Jérémie denken, einem Klassenkameraden, den ich nicht leiden kann, weil er so schlau und immer Klassenzweiter ist, gleich nach dem Angolaner Adriano. Jérémies Mutter ist sehr dick und ausgesprochen bösartig, und sie beschimpft die anderen Mamas im Viertel.

Meine Mutter hatte verstanden, woran ich dachte. Sie sagte:

»Es stimmt, nicht alle dicken Frauen haben ein Herz, das so groß ist wie das von Madame Mutombo. Ich weiß, du denkst an Jérémies Mutter, aber das ist etwas anderes.«

Wenn Madame Mutombo Mama Pauline besucht, bringt sie Beignets und Ingwersaft mit. Ich mag diese Beignets nicht, weil sie innen so fettig sind. Ich will ihren Ingwersaft nicht trinken, weil er im Hals kratzt und du zum Schluss aufs Klo gehst und eine Stunde lang drückst und drückst und nichts herauskommt.

Aber Mama Pauline schimpft gleich mit mir:

»Michel, nun iss endlich die Beignets und trink den Ingwersaft! Bei einer geschenkten Ziege schaut man nicht nach, ob sie Karies hat.«

Madame Mutombo und meine Mutter machen zusammen Geschäfte. Sie kaufen Erdnüsse im Großhandel und verkaufen sie dann an ihrem Stand auf dem Grand Marché. Ich sehe immer, wie sie bei uns oder bei den Mutombos das Geld zählen, das sie eingenommen haben, und den Gewinn gerecht unter sich aufteilen. Das bekommen nicht einmal die Kapitalisten hin.

 

Ich denke oft an den Tag, an dem Caroline beschlossen hatte, dass sie und ich jetzt verheiratet sind. Es war an einem Sonntagnachmittag, meine Eltern waren nicht zu Hause. Unverhofft kreuzte Caroline mit einer kleinen Plastiktüte auf, die voller Sachen war:

»Michel, ich habe es satt zu warten, bis wir groß sind, lass uns heute heiraten.«

Wir gingen hinters Haus und bauten dort ein kleines Zelt mit Ästen vom Mangobaum und den Schürzen, die meine Mutter gewaschen und zum Trocknen in der Sonne aufgehängt hatte. Das war unser gemeinsames Haus.

Da Monsieur Mutombo immer schöne Puppen für seine Tochter macht, hatte Caroline an diesem Tag zwei dabei. Diese Puppen sind unsere Kinder, sagte sie, und wir setzten sie auf ein Brett, damit sie miteinander spielten. Caroline begann das Essen zu kochen: Leere Margarinebecher und Holzstöckchen dienten als Teller und Löffel.

Nach ein paar Minuten verkündete sie, das Essen sei fertig:

»Gleich gibt es Essen, mein lieber Gatte.«

Dann sagte sie, wir müssten zuerst unsere beiden Babys füttern, weil sie sehr hungrig seien und nicht aufhörten zu weinen. Doch zuvor müssten sie noch gebadet werden. Ich habe den Jungen gewaschen, Caroline hat das Mädchen gewaschen, weil der Junge nackt ist wie ich und das Mädchen nackt wie Caroline, und deshalb war klar, dass sie das Mädchen und ich den Jungen wusch. Nach dem Baden haben wir ihnen Lätzchen angezogen, damit sie beim Essen keine Flecken auf ihre Kleider bekommen, und dann haben wir sie gefüttert.

Wenig später wandte sich Caroline wieder mir zu:

»Jetzt haben sie gut gegessen und auch schon ihr Bäuerchen gemacht!«

Wir wiegten sie in den Schlaf, legten sie ins Bett und taten so, als würden wir jetzt essen. Wir unterhielten uns wie Erwachsene. Ich berührte Carolines Haar, sie berührte mein Kinn. Sie redete die ganze Zeit. Ich hörte zu, nickte zur Bestätigung mit dem Kopf. Wir lachten viel, und wenn ich nicht lachte, war sie nicht zufrieden. Also lachte ich sogar, wenn man nicht lachen sollte.

Ich merkte, dass sie plötzlich traurig geworden war.

»Was ist los?« fragte ich sie.

»Ich habe Angst, Michel.«

»Wovor?«

»Ich habe Angst um unsere Kinder. Wir müssen auf der Bank für sie ein wenig Geld zur Seite legen, bis sie groß sind, sonst werden sie unglücklich sein.«

»Ja, du hast recht …«

»Weißt du, dass der Staat sie holt, wenn sie unglücklich sind, und sie dorthin bringt, wo man die Waisenkinder hinsteckt, die später als Diebe auf dem Grand Marché enden?«

»Bloß nicht, sie sollen auf keinen Fall Diebe auf dem Grand Marché werden, sonst steckt man sie ins Gefängnis und wir sind unser Leben lang unglücklich.«

»Wir müssen auch ein schönes rotes Auto kaufen, mit fünf Sitzen, und wir müssen reicher werden als der Präsident der Republik.«

»Du kannst dich auf mich verlassen, wir werden in der Firma meines Onkels einen roten Fünfsitzer kaufen, er gibt uns einen Familienrabatt. Ich bin sein direkter Neffe!«

»Und wie viel kostet ein roter Fünfsitzer?«

»Ich werde meinen Onkel fragen.«

Sie hielt mir ein Stöckchen und ein kleines leeres Glas hin:

»Hier, rauch deine Pfeife, sonst geht sie aus. Und trink deinen Maisschnaps.«

Ich tat, als würde ich die Pfeife rauchen und meinen Maisschnaps trinken.

Sie nahm meine Hand:

»Michel, weißt du, ich liebe dich!«

Ich antwortete nicht, zum ersten Mal hörte ich jemanden zu mir sagen: »Ich liebe dich.« Außerdem hatte sich ihre Stimme verändert und sie sah mich an, sie erwartete, dass ich jetzt auch etwas sagte. Aber was? Ich fühlte mich ganz leicht, als würde ich gleich abheben und in den Himmel fliegen, und so schwieg ich. Meine Ohren wurden heiß, mein Herz klopfte so stark, dass ich glaubte, Caroline würde es hören.

Enttäuscht ließ sie meine Hand los:

»Du kapierst wirklich gar nichts! Wenn eine Frau zu dir sagt: ›Ich liebe dich‹, musst du antworten: ›Ich liebe dich auch‹, so machen es die Erwachsenen.«

Also machte ich es wie die Erwachsenen:

»Ich liebe dich auch.«

»Ist das wahr?«

»Ja, wirklich.«

»Schwöre es!«

»Ich schwöre es.«

»Und wie sehr liebst du mich?«

»Ich muss sagen, wie sehr?«

»Ja, ich muss doch wissen, wie sehr du mich liebst, Michel, was soll ich sonst denken? Ich werde denken, du liebst mich nicht, und dann werde ich die ganze Zeit Liebeskummer haben. Ich will aber nicht die ganze Zeit Liebeskummer haben, weil meine Mutter sagt, dass es Frauen alt macht, und meine Mutter alt geworden ist, weil mein Vater ihr nie gesagt hat, wie sehr er sie liebt. Ich habe Angst davor, alt zu werden. Ich möchte nicht alt werden, sonst sagst du mir eines Tages, dass ich nicht mehr hübsch bin, und suchst dir eine andere Frau…«

Plötzlich hörten wir ein Flugzeug über uns hinwegfliegen. Und da sagte ich schließlich:

»Ich liebe dich wie das Flugzeug, das gerade vorüberfliegt…«

»Nein, so sagt man das nicht! Ich möchte, dass du mich mehr liebst als das Flugzeug, ein Flugzeug ist doch für alle da, für die Leute, die nach Frankreich ziehen und nicht mehr hierher zurückkommen.«

Und sie weinte richtige Tränen, während ich bis dahin dachte, wir würden spielen. Ich hätte am liebsten mitgeweint, aber Lounès hat mir schon gesagt, dass Männer nicht vor Frauen weinen sollen, sonst würden sie meinen, wir seien die Schwachen. Ich weinte also unsichtbar für mich.

»Du hast immer noch nichts kapiert, Michel! Ich will, dass du mich liebst wie den roten Fünfsitzer, der einmal uns beiden gehören wird, uns, unseren beiden Kindern und unserem kleinen Hund, der ganz weiß ist.«

»Ja, ich liebe dich wie einen roten Fünfsitzer.«

Jetzt war sie glücklich und sie berührte mein Kinn, ich berührte ihr Haar, bevor ich ihre Tränen trocknete. Als sie versuchte, mich auf den Mund zu küssen, schreckte ich zurück, als wollte mich eine Schlange beißen.

»Aha, du hast also Angst?«

»Nein.«

»Doch!«

»Nein …«

»Warum weichst du dann zurück, wenn ich dich wie in den Filmen der Weißen auf den Mund küssen will?«

»Weil auf den Mund erst geht, wenn wir richtig verheiratet sind, mit Trauzeugen, die wir selbst ausgewählt haben, und unseren Eltern.«

»Und wer wird dein Trauzeuge?«

»Dein Bruder.«

»Meine Trauzeugin wird Léontine, meine beste Freundin.«

Damit war sie so zufrieden, dass sie mir noch ein Glas Maisschnaps eingoss. Und als sie sah, dass ich still geworden war, fügte sie hinzu:

»Es ist normal, dass du nichts mehr sagst, du bist müde wie alle Männer, wenn sie von der Arbeit kommen. Ich mache noch den Abwasch, dann gehen wir schlafen.«

Sie drehte mir den Rücken zu und tat so, als würde sie den Abwasch erledigen, indem sie die leeren Margarinebecher schrubbte. Sie forderte mich auf, unterdessen weiter meinen Maisschnaps zu trinken und meine Pfeife zu rauchen.

Sie zählte bis zwanzig:

»Siehst du, schon fertig! Alles abgewaschen! Ich schließe noch die Haustür zu und mach das Licht aus, komm mit mir ins Bett, hab keine Angst.«

Um das Licht zu löschen, drückte sie auf einen Knopf, den ich mir vorstellen musste.

»So, das Licht ist aus!«

Sie kroch in die Zeltmitte, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Ich dachte: Gleich schläft sie ein. Aber ich habe keine Lust, am helllichten Tag zu schlafen. Was sollen denn meine Eltern denken, wenn sie uns schlafend vorfinden. Ich muss mich schleunigst aus dem Staub machen, ja, ich muss hier abhauen.

Gerade als ich aufstand, um aus dem Zelt zu schlüpfen, schnappte sie meine Hand:

»Leg dich auf mich und schließ die Augen, so wie es die Erwachsenen tun.«

 

Mama Pauline geht ins Schlafzimmer, ich folge ihr. Sie kehrt ins Wohnzimmer zurück, ich komme mit. Sie steht vor dem Spiegel, ich stehe hinter ihr. Sie trägt Lippenstift auf, pudert ihr Gesicht, ich ahme ihre Gesten nach, doch ohne mich zu schminken, denn das ist Frauensache, und wenn Jungen sich schminken, sind sie geliefert, dann heißt es, sie ticken nicht richtig.

Sie hat einen Seidenschal wie einen Turban um den Kopf geschlungen, ich trage eine Mütze in den Farben unserer Fußballmannschaft, grün, gelb und rot. Sie nimmt ihre Handtasche, sucht überall nach ihren Hausschlüsseln. Ich sehe sie von meinem Platz aus, aber sie, sie sucht und sucht und findet sie schließlich auf dem Schrank.

Meine Ruhe ist hinüber. Ich will nicht, dass Mama Pauline ausgeht, wenn Papa Roger nicht da ist. Es stimmt schon, mein Vater hat gestern Abend nicht hier geschlafen. Er schläft abwechselnd einen Tag bei uns, einen Tag bei Mama Martine. Am Montag bei uns, dienstags bei Mama Martine, die im Savon-Viertel wohnt, nicht weit entfernt von meinem Onkel. Und die ganze Woche über pendelt Papa Roger zwischen seinen beiden Frauen hin und her, fast als wäre er der Briefträger, der auf den Straßen im Trois-Cents-Viertel unterwegs ist. Da eine Woche nur sieben und nicht acht Tage hat, kann Papa Roger die Woche nicht in zwei gleiche Teile teilen, selbst wenn er gut im Rechnen ist. Aber er hat für dieses Problem eine Lösung gefunden: Einen Sonntag schläft er bei uns und den darauffolgenden Sonntag bei Mama Martine. Deshalb ist er heute nicht zu Hause.

Ich habe nie gute Laune, wenn Mama Pauline sich hübsch macht. Ich mustere sie einmal mehr, mit der Frisur, die Caroline ihr geflochten hat. Sie hat ihre hochhackigen, orangefarbenen Schuhe angezogen, ist in eine orangefarbene Hose und eine luftige Bluse geschlüpft, die dieselbe Farbe hat wie ihr Schal. Mir gefällt es nicht, wenn sie diese leuchtend orangefarbenen Hosen anzieht, die für ihre Beine und ihren Hintern zu eng sind. Sobald sie die anhat, haben die Männer nichts Besseres zu tun, als ihr hinterherzuschauen und zu pfeifen. Ich frage mich, was in ihrem Kopf vorgeht, und warum sie nur Mama Pauline hinterherschauen, obwohl es da draußen noch andere Frauen gibt, die genauso herumlaufen, mit Hosen in leuchtendem Orange, die ihre Beine und ihren Hintern einzwängen. Manchmal kommt es sogar vor, dass ich einen Stein aufhebe und auf einen Typen ziele, der meiner Mutter nachpfeift. Sie bleibt dann stehen, dreht sich nach mir um und schreit:

»Bist du verrückt geworden, oder was? Wenn du dich so aufführst, will ich dich künftig nicht mehr bei mir haben! Ich mag keine ungezogenen Bengel! Opium des Volkes!«

Warum hat sie mir nicht gesagt, dass sie am späten Nachmittag ausgeht? Ich weiß nicht, wohin. Ich weiß nicht, ob die Leute sie da draußen am Ende der Avenue de l’Indépendance oder in einer Bar abfangen. Es gibt in unserem Viertel sehr böse Männer, die auf der Avenue de l’Indépendance herumlungern und nur darauf warten, dass Frauen vorübergehen, um ihnen alles andere als Nettigkeiten zuzurufen, oder die sie zwingen, ein Bier in einer Bar zu trinken, in der es dunkel ist, dann die Rumba von Tabu Ley Rochereau oder Franco Luambo-Makiadi zu tanzen, und zuletzt landen sie in einem Zimmer, wo sie dies und das treiben, sagt Lounès. Ich glaube nicht, dass Mama Pauline mit jemand anderem als Papa Roger tanzt. Ich glaube nicht, dass Mama Pauline mit jemand anderem als Papa Roger in ein Zimmer geht und dies und das treibt. Es ist nicht auszuhalten. Nein. Übrigens fällt mir ein, dass ich einmal einen Herrn, der zu lange mit meiner Mutter schwatzte, bestraft habe, wie es sich gehört. Lounès hatte mir sein Geheimmittel verraten, das ihm half, Madame Mutombo vor diesen bösen Kerlen zu schützen, die Frauen zu lange ansehen und ihnen hinterherpfeifen, als würden sie auf der Straße ein Buschtaxi rufen.

»Ich schwöre dir, Michel, wenn du Zucker in den Tank eines Mopeds füllst, dann streikt es und springt nicht mehr an. Ich habe das gemacht und es war sehr lustig. Seit dem Tag belästigt der Herr meine Mutter nicht mehr!« sagte er.

Anfangs dachte ich: Er erzählt mir Märchen. Wie soll Zucker ein Mofa lahmlegen? Zucker ist gut, jeder mag Zucker, Mofas folglich auch. Und das Mofa wird Zucker so sehr mögen, dass es schnell anspringt und schneller als zweihundert Sachen fährt.

Da mir nichts Besseres einfiel, sagte ich mir: Was habe ich zu verlieren, wenn ich Lounès’ Geheimmittel ausprobiere? Und das habe ich dann auch gemacht, weil ich richtig wütend darüber war, dass der Herr mit Mama Pauline schwatzte und sie ihm zuhörte und lachte, statt ihn davonzujagen wie ich die Stechmücken, die mich trotz Fly-Tox bis morgens um fünf stechen. Nie hatte ich sie mit Papa Roger so lachen sehen. Was hatte der Typ, was mein Vater nicht hatte, hm? Was erzählte er Interessantes, dass Mama Pauline auf diese Weise lachte, hm? Ist es vielleicht normal, Frauen so zum Lachen zu bringen? Habe ich Caroline etwa schon so zum Lachen gebracht? Ich bringe Caroline nicht gerne zum Lachen, denn wenn eine Frau lacht, schäme ich mich für sie, und ich schaue auf den Boden, damit nicht auch sie sich schämt. Wenn eine Frau lacht, wird sie hässlich, man sieht ihre Zähne und die Zunge. Und die Zähne und die Zunge darf man nicht jedem Dahergelaufenen auf der Straße zeigen. Vielleicht versteckt man sich deshalb seit Beginn der Welt in der Dusche, um sich die Zähne zu putzen.

Ich nahm also ein Päckchen Zucker, ging hinter unsere Parzelle, wo der böse Herr sein altes Moped geparkt hatte, ich leerte das Päckchen in den Tank und setzte mich dann wieder vor unsere Haustür, als wäre ich ein braver Junge. Mama Pauline und der böse Herr hörten ja nicht mehr auf zu lachen, sich die Zunge und die Zähne zu zeigen. Mir kam es vor, als würde dieser Film wenigstens hundert Jahre und zehn Tage dauern.

Der böse Herr verabschiedete sich schließlich von Mama Pauline und legte seinen Arm um ihre Taille. Ich dachte: Gleich erstickt er meine Mutter! Doch Mama Pauline lachte auch noch, während dieser Wilde sie an sich drückte. Noch einmal zeigte sie ihm ihre Zähne und streckte die Zunge aus dem Mund. Ich schämte mich für sie, denn sie ist so schön, wenn ihr Mund geschlossen ist. Aus Wut darüber, dass meine Mutter den Arm dieses unhöflichen Kerls nicht von sich aus wegschob, spuckte ich auf den Boden. Es sah aus, als ob sie glücklich darüber wäre, dass er sie an sich drückte, denn auch sie hatte einen Arm um die Taille dieses Bösewichts geschlungen, und beide pressten einander die Luft ab und lachten.

Der Mann verschwand hinter unserer Parzelle, er war zufrieden, denn er ging singend davon.

Einige Minuten später kam er zurückgerannt, als wäre er dem Teufel höchstpersönlich begegnet.

Und er schrie:

»Meine Maschine! Meine Maschine! Meine Maschine streikt!«

Ich verstand nicht sofort, dass ein Moped eine Maschine sein soll.

»Wo sind die Jungs aus dem Viertel? Sie sollen kommen und meine Maschine anschieben!«

Es waren keine Kinder in der Gegend. Die waren alle in der Sonntagsmesse, und die Messe in der Saint-Jean-Bosco-Kirche dauert so lange, dass selbst Gott über die Gebete zu gähnen beginnt, die nicht aufhören und in unseren abertausend Landessprachen immer dasselbe erzählen. Ich glaube, Gott hat bei uns viel Arbeit, sogar an den Feiertagen.

Mama Pauline und ich schoben das Moped an. Es war nichts zu machen, es wollte einfach nicht starten. Wir schoben weiter wie Sklaven oder die zairischen Schubkarrenschieber auf dem Grand Marché. Dann kamen wir an die Stelle, wo die Avenue de l’Indépendance so ansteigt, dass die Autos dort jedes Mal streiken. Ein Typ hat uns gesehen und Mitleid mit uns gehabt. Ich dachte, er würde uns helfen, aber er sagte, er würde Solex-Mopeds reparieren, könne aber, auch wenn er nur die Solex reparierte, kostenlos einen Blick auf dieses hier werfen. Das ärgerte mich, ich wollte nicht, dass er die Maschine repariert. Er beugte sich über das Moped, konzentriert wie ein Uhrmacher. Er schraubte den Tank auf, neigte das Moped zur Seite, damit alles Benzin auf die Erde floss, und so stellte er fest, dass ein weißes Zeug darin war. Nachdem er es geschmeckt hatte, wurden seine Augen groß und grün wie Zitronen:

»Das ist Zucker! Da hat dir jemand einen ganz üblen Streich gespielt! Schlimme Sache! Sehr schlimme Sache! Ich kenne diesen Fall und kann euch sagen, die Maschine wird nicht mehr anspringen, selbst wenn ihr sie von hier bis zur Grenze von Kamerun schiebt!«

Mamas Bekannter sah sich um, als suche er diejenigen, die ihm das eingebrockt hatten. Ich war die Ruhe selbst, niemand konnte mich beschuldigen, denn ich hatte geholfen, die Maschine anzuschieben. Du kannst niemanden beschuldigen, der dir Hilfe leistet. Also dachte er, dass es die Neidhammel aus dem Trois-Cents-Viertel gewesen waren, die seine Maschine sabotiert hatten.

Der Solex-Mechaniker hat dann doch einen Schein über fünfhundert CFA-Francs angenommen. Er riet dem Kerl, an der nächsten Tankstelle vollzutanken, und der trat in die Pedale und steuerte mit seiner Maschine das Savon-Viertel an.

Ich kehrte mit Mama Pauline schweigend nach Hause zurück. Sie war traurig, nicht froh wie ich, der sie gerade vor diesem Bösewicht gerettet hatte.

Am nächsten Morgen, während ich meinen Ranzen packte, um zur Schule zu gehen, kam sie zu mir:

»Ich bin nicht blöd, Michel! Was du gestern getan hast, hat mir nicht gefallen! Und da wir keinen Zucker mehr im Haus haben, gehst du heute ohne Frühstück in die Schule!«

Und heute, am Sonntag, möchte Mama Pauline ausgehen. Ich will sie beschützen, denn Papa Roger sagt manchmal, dass »die Leute andere Leute nicht mögen.« Er sagt auch: »Die Frau des Nachbarn ist immer verlockend.« Und diese Bösewichte von der Avenue de l’Indépendance werden meine Mutter sehr verlockend finden, denn sie ist sehr gut angezogen und frisiert. Diese Bösewichte möchte ich am liebsten einen nach dem anderen aus dem Weg räumen. Ich bin stark. Ja, ich bin wie Superman, wie Hulk, wie Asterix, wie Obelix, wie Spiderman, wie Zembla oder Blek le Roc. Ich habe gelesen, was diese Unsterblichen geleistet haben, Lounès hat es mir zu lesen gegeben. Wenn ich wütend bin, schwellen meine Muskeln genauso an wie bei ihnen.

Doch meine Mutter verlangt, dass ich zu Hause bleibe, weil Sonntag ist, und sonntags erledigen Schulkinder ihre Hausaufgaben für den Montag. Damit bin ich nicht einverstanden:

»Ich bin mit meinen Hausaufgaben fertig, ich dachte, wir würden am Sonntag spazieren gehen und …«

»Nun, dann lies alles noch einmal durch und korrigiere die Fehler!«

Da ich keine Antwort mehr weiß, sage ich:

»Mama, ist dir bekannt, dass sonntags alle Bösewichte unterwegs sind? Sie haben nicht frei wie Papa Roger, sie gehen nicht in die Kirche, sie werden dich schnappen, sie werden dir wehtun, dich in eine Bar schleppen, in der es dunkel ist, und dann in ein Zimmer, wo sie Dinge mit dir anstellen, die gar nicht nett sind.«

Sie lacht und erwidert, niemand werde sich auf sie stürzen. Ich bin noch immer nicht einverstanden, ich lasse nicht locker, denn die Leute da draußen sind schuld daran, dass Mama Pauline mir abends vor dem Schlafengehen keinen Kuss auf die Wangen gibt. Sie spürt, dass ich keine Ruhe geben, dass ich ihr nachgehen werde.

»Überleg es dir gut, Michel: Willst du wirklich mitkommen?«

»Ja«, antworte ich so kleinlaut, dass es klingt, als würde ich gleich anfangen zu weinen.

»Einverstanden, dann komm eben mit!«

Oft macht es mir Angst, wenn sie »einverstanden« sagt in einem Ton, der Schlimmes für mich ahnen lässt. Es macht mir Angst, wenn ich das schelmische Lächeln in ihren Mundwinkeln sehe, als wollte sie mir sagen: Komm ruhig mit, du wirst schon sehen, was passiert, daran bist du selber schuld. Aber heute ist es mir egal, ich bin glücklich, mir wird nichts zustoßen. Ich setze ein Lächeln auf, denn ich bleibe bei ihr. Wir werden zusammen spazieren gehen. Ich werde sie beschützen.

Während ich meine Mütze auf dem Kopf zurechtrücke und die Knöpfe meines guten Hemds bis zum Hals schließe, stellt sie sich hinter mich und fasst meine Schultern:

»Du hast dich ja wirklich fein gemacht! Weißt du denn, wohin wir gehen?«

»Nein …«

»Wir gehen zu deinem Onkel René.«

Ich weiche ein wenig zurück.

»Möchtest du immer noch mitkommen?«

Ich schüttle den Kopf. Nein, ich möchte Onkel René nicht besuchen. Schon sehe ich Lenin vor mir, den Glatzkopf. Und den Bart von Marx und Engels und die Lieblinge des unsterblichen Marien Ngouabi. Und ich sehe Tonton René, seine Frau und meine Vettern am Tisch sitzen und in ihre Teller starren.

Nein, ich möchte Tonton René nicht besuchen.

Mama Pauline hat verstanden, dass ich ihr nicht folgen werde, sie macht sich allein auf den Weg. Ich bleibe vor unserem Haus stehen und sehe ihr hinterher. Ihr Parfum liegt noch in der Luft. Mit geschlossenen Augen atme ich es ein. Dann, als ich die Augen öffne, sehe ich meine Mutter, die am Straßenrand die Avenue de l’Indépendance hinuntergeht. Ab und zu dreht sie sich um, um sich zu vergewissern, dass ich ihr nicht folge. Ich mache ein paar Schritte, entferne mich vom Haus. Ich möchte sehen, welche Richtung meine Mutter einschlägt. Wenn man zu meinem Onkel geht, biegt man normalerweise am Ende der Straße nach rechts ab, dann geht man immer geradeaus weiter ins Savon-Viertel.

Jetzt steigt sie etwas weiter entfernt in ein Taxi. Das Auto fährt los, aber es biegt nicht nach rechts ab, sondern nach links, in die entgegengesetzte Richtung von Tonton Renés Haus, und fährt ins Rex-Viertel. Ich bleibe wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen, ein Auto kann mich überfahren, denn mir gehen viele Dinge durch den Kopf. Ich denke, das Taxi wird wenden, denn es hat die falsche Straße genommen.

Die Autos fahren einen Bogen um mich herum, hupen. Ein Fahrer hält an, er beschimpft mich, ich sei verrückt, ein Straßenjunge, Proletariersohn!

Ich ein Proletariersohn? Das hätte mein Onkel sagen können. Aber wenn er das sagt, ist ein Proletarier ein guter Mensch. Ein Proletarier ist jemand, der vom Kapitalisten, dem Bourgeois, ausgebeutet wird. Ich schleudere dem Fahrer ins Gesicht:

»Opium des Volkes!«

Er hat mich nicht gehört. Sonst hätte er angehalten und mir eine Ohrfeige verpasst.

Noch immer ist kein Taxi in Sicht, das mit meiner Mutter umkehrt, aber ich stehe nach wie vor wie angewurzelt da. Ich weiß, dass Mama Pauline mir nicht die Wahrheit gesagt hat. Manchmal sagt sie, die Wahrheit sei ein Licht, und das Licht könne man nicht in seiner Tasche verstecken. Deshalb ist die Sonne immer stärker als die Nacht. Ja, sie hat mir gesagt, Gott habe die Sonne geschaffen, damit die Wahrheit zu den Menschen gelangt. Doch die Menschen suchen die Nacht, weil es für sie leichter ist, die Leute zu täuschen, wenn es dunkel ist. Meine Augen können in der Nacht sehen. Meine Augen sind Fackeln, die nie erlöschen. Warum hat Mama Pauline das Licht vor mir versteckt und mir weisgemacht, die Nacht wäre der Tag? Trifft sie sich mit dem Kerl, dem das alte Moped gehört? Gibt es noch einen anderen Kerl außer diesem Bösewicht mit seinen Gorillaarmen?

Ich fange fast an, sie zu hassen. Ich möchte alles zermalmen wie ein Caterpillar, wie ein Bulldozer, wie ein Panzer der Nationalen Volksarmee. Ich höre nicht, was um mich herum vorgeht. Ich bin umgeben von Unsterblichen. Ich verwandle mich in Superman und träume, dass ich über Pointe-Noire fliege, um dort zu landen, wo meine Mutter ist. Vor Superman kann man das Licht nicht verbergen. Superman ist imstande, um Mitternacht die Sonne anzuknipsen oder sie Punkt Mittag auszuschalten. Ich beschließe also, dass ich jetzt die Sonne ausschalte, um Mama Pauline zu bestrafen. Ich schließe die Augen und breite die Arme aus. Doch nichts passiert. Ich kann nicht davonfliegen wie Superman. Ich schließe wieder die Augen und stelle mir vor, ich würde auf einen großen roten Knopf drücken, um diese Sonne auszuschalten, die mir meine Mutter weggenommen hat. Ich öffne die Augen, die Sonne ist noch immer da. Sie strahlt sogar heller. Und außerdem ist es ziemlich heiß.

Ich weiß, dass Mama Pauline nicht zu Tonton René geht. Ich weiß, dass umgekehrt Tonton René oft zu ihr kommt und sie wegen der Erbschaftsgeschichte anschreit, bei der es um die Pflanzungen und die Tiere geht, die ihnen Großmutter Henriette Ntsoko im Dorf Louboulou hinterlassen hat. Oder er schaut bei uns vorbei, um mir einen kleinen Plastiklastwagen, eine Schaufel und einen Rechen zu schenken, damit ich Bauer spiele. Mein Onkel hat seinen weißen Chefs erklärt, ich sei einer seiner Söhne, alles nur, damit diese Weißen ihm am Ende des Jahres mehr Geld geben. Anscheinend geben einem die Weißen mehr Spielzeug und Geld, je mehr Kinder man hat. Ich habe sogar gehört, dass einige Papas in diesem Land Kinder machen, damit die Weißen ihnen viele Geschenke geben. Und wenn sie keine Kinder haben, holen sie ihre Neffen aus den Dörfern, nehmen sie mit in die Stadt und fälschen ihre Geburtsurkunden. Wenn die Weißen die sehen, prüfen sie nicht, sondern rücken einfach das Geschenk heraus und versuchen nicht zu verstehen, warum das Gesicht des Papas und das des Kindes so verschieden sind wie Tag und Nacht. Mit mir war es einfach, denn ich trage den Familiennamen von Tonton René. Vor Weihnachten besucht er uns deshalb immer kurz, bringt mir Spielsachen vorbei – immer die gleichen – und einen Tausend-CFA-Francs-Schein, den Mama Pauline dankend ablehnt. Tonton René schleudert den Geldschein auf den Boden, und meine Mutter hebt ihn auf, sobald das Auto wegfährt. Wenn sie sich zanken, höre ich, wie Mama Pauline ihrem Bruder droht:

»Wenn du dir das Erbe unserer Mutter unter den Nagel reißt, dann erzähle ich deinen weißen Chefs, dass Michel nicht dein Sohn ist, sondern lediglich dein Neffe, und dann fliegst du aus deinem Büro! Mit ein wenig Glück behalten sie dich bei der CFAO, aber dann ist dein Schreibtisch so klein wie die Buden im Trois-Cents-Viertel!«

Mein Onkel antwortet ihr:

»Was können die Weißen mir schon anhaben, hm? Michel trägt meinen Namen, ich habe ihn ihm gegeben! Ich habe dir Schande erspart, Pauline! Anstatt herumzugackern, solltest du mir dankbar dafür sein. Und wenn wir schon dabei sind, kannst du mir verraten, warum Michels richtiger Vater bei der Geburt die Fliege gemacht hat, hm? Und warum der Kleine nicht den Namen seines Vaters trägt, hm? Ganz einfach: Er hat keinen Vater!«

»Michel hat einen Vater, und sein Vater ist Roger!«

»Da lachen ja die Hühner! Roger ist nur sein Ziehvater! Übrigens hat er eine Hauptfrau, und das ist Martine! Sie haben Kinder, ihre richtigen Kinder!«

Und so streiten sie sich lange. Erst wenn ich huste, hören sie auf. Tonton René lässt sein Auto an, kurbelt die Scheibe herunter und wirft einen Tausend-CFA-Francs-Schein heraus, ohne uns anzusehen. Ich renne dann hin, um ihn aufzuheben.

Wir sitzen am Tisch und essen Rindfleisch mit Bohnen. Mama Pauline und Papa Roger sitzen mir gegenüber. Da die Haustür offen steht, können sie von dort, wo sie sitzen, alles sehen, was auf dem Grundstück vor sich geht, während ich mit dem Rücken zur Tür sitze. Ich reiche Salz oder Pfeffer, wenn sie mich darum bitten.

Mama sagt: »Michel, das Salz!«

Papa sagt: »Michel, den Pfeffer!«

Mama sagt: »Michel, gieß deinem Vater noch Wein nach.«

Papa sagt: »Michel, siehst du nicht, dass das Glas deiner Mutter leer ist? Schenk ihr bitte Bier nach!«

Als wäre ich ein Schiedsrichter, fehlen nur noch eine Pfeife, die rote und die gelbe Karte.