Das Gespinst - J.M. Morris - E-Book

Das Gespinst E-Book

J.M. Morris

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Beschreibung

Und du stürzt in einen Albtraum ... Ruth Gemill fährt nach Norden. Ihr Bruder Alex meldet sich einfach nicht, sie will nach ihm sehen. Fahl steht die Sonne über den Feldern. Da spürt Ruth einen Schlag am Wagen. Sie hält an und steigt aus. Sie schaut sich um. Sieht eine Bewegung. Ein grauer Schatten taumelt auf sie zu ... J. M. Morris schreibt spannend wie Minette Walters, unheimlicher als ein Hitchcockfilm. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 410

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Ähnliche


J. M. Morris

Das Gespinst

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg

FISCHER Digital

Inhalt

Von J.M. an H.K.EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigEpilog

Von J.M. an H.K.

Für immer.

Eins

»Und, warum sind wir hier?«

Ich fragte es leichthin, beinahe spielerisch. Damals hatte ich noch keine Angst vor ihm. Es war noch die Flitterwochenphase. Ich analysierte noch nicht jeden Satz, jedes Wort, jede Silbe vor lauter Angst, einen Wutanfall bei ihm auszulösen. Wir waren drei Monate lang glücklich gewesen. Hatten viel gelacht. Etwas aufgebaut, das ich für eine echte Bindung, echtes Verständnis hielt. Trotz seines Verhaltens an jenem Tag, den ich immer als Tag Eins bezeichne, warf ich mir später vor, ich hätte die dunkle Seite in ihm nicht nur geweckt, sondern selbst erschaffen. Ich redete mir ein, es sei nicht seine Schuld, wenn er wütend und gewalttätig wurde, sondern meine, der Fehler läge bei mir, wie eine tödliche Zutat, die ich in die wohlige Wärme unserer Beziehung einstreute. Ich war ein Giftpilz. Ein Stück verdorbenes Fleisch. Mit einer anderen Frau wäre er glücklich, liebevoll und ausgeglichen gewesen.

Totaler Quatsch, natürlich, selbstzerstörerischer Quatsch. Die klassische Opfermentalität. Heute ist mir klar, dass dieser Tag Eins der Tag war, an dem zum ersten Mal die Alarmglocken läuteten, ich aber viel zu geschmeichelt war, um darauf zu achten. Ich war geschmeichelt, weil er mich hierher mitgenommen hatte, weil er sich mir anvertrauen, sein dunkelstes Geheimnis mit mir teilen wollte. Was danach geschah, war wohl nicht nur seine Schuld. Menschen werden nicht schlecht geboren, sondern von ihren Erfahrungen geprägt, und das, was um sie herum und mit ihnen geschieht, verbiegt sie oder biegt sie zurecht.

Ich schaute ihn an, da er nicht sofort antwortete, und erschrak. Er sah … irgendwie … gehetzt aus. Sein Gesicht war verkniffen, die Haut bleich, die Schultern waren gekrümmt, seine Hände umklammerten das Lenkrad. Der Motor lief noch und ich erwartete schon, er werde den Gang einlegen und mit quietschenden Reifen davonfahren. Ich berührte seinen Arm. Die Muskeln unter seiner Fleecejacke waren angespannt.

»Was ist los, Matt?«, fragte ich. »Was für ein Ort ist das?«

Sein Kopf zuckte kurz nach links, und für einen Moment sah ich etwas in seinen Augen, das mich verstummen ließ und das tröstende Lächeln vertrieb. Diese Situation duldete kein Lächeln, es war, als habe er mir gerade gesagt, dass seine Mutter gestorben sei oder er selbst an Krebs im Endstadium litte. Sein Blick drückte … ich kann es nicht anders beschreiben … er drückte kalte Verachtung aus, aber abgeschwächt, als befinde er sich in Trance. Doch dadurch wirkte er umso verstörender. In seinem Blick lag etwas Archaisches.

Albern? Mag sein. Wie aber soll man den Moment beschreiben, in dem bei einem Menschen das Licht in den Augen erlischt und von Finsternis verdrängt wird? Man kann nicht mehr mit ihm argumentieren oder an sein Gewissen appellieren – er könnte ebenso gut ein Hai oder eine Maschine sein. Er sieht menschlich aus, ist es aber nicht. Nicht so, wie die meisten von uns es verstehen würden. Er hat keine Moral mehr. Wird weniger als ein Mensch – unzureichend, unvollständig. Und durch diese Unvollständigkeit kann er gefährlich werden, und sogar tödlich.

Aber ich greife vor. Ich erkläre Dinge im Rückblick, die ich damals nur einen flüchtigen Augenblick lang sah. Damals spürte ich lediglich – und auch das nur am Rande –, dass Matt mich anschaute, dass ihm etwas entglitt, etwas Wesentliches, das aus dem Mann, in den ich mich verliebt hatte und dem ich vertraute, etwas machte … ja was? Einen leeren Raum, ein Nichts. Überrascht atmete ich ein, hielt die Luft an, atmete erst wieder aus, als er etwas sagte.

»Wie sieht es denn aus?«

Ich wandte mich ab, riss mich förmlich von ihm los und sah mir an, wohin wir gefahren waren. Die Fahrt von London nach Preston hatte über drei Stunden gedauert. Matt war schweigsam gewesen, doch wenn ich ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, hatte er nur geantwortet: »Ich bin bloß müde«, oder »Ich muss mich konzentrieren, sonst nichts.« Später sagte er ein wenig unbeholfen, als wisse er nicht, wie er das Thema ansprechen sollte: »Ich will, dass du alles über mich weißt.«

»Sind wir deshalb unterwegs?«, fragte ich.

»Ja. Es gibt einen Ort, den ich dir zeigen muss.«

»Hättest du ihn mir denn nicht beschreiben können?«

Er runzelte die Stirn, verschiedene Empfindungen zuckten über sein Gesicht. Ein Hauch von Ärger, ein Anflug von Qual. Es schien, als wolle er mir seine Geheimnistuerei erklären, schüttelte letztlich aber nur den Kopf.

»Okay«, sagte ich und lehnte mich zurück – ein Versuch, ganz locker zu sein oder wenigstens so zu wirken. »Dann also die Fahrt ins Blaue.«

Ich hasste (und hasse) Spannungen – davon hatte ich zu Hause genug erlebt – und war daher immer die Erste, die eine dunkle Stimmung mit witzigen Sprüchen auflockern wollte und bei einem Streit die Hand zur Versöhnung reichte. Als ich da draußen im Auto saß, hätte ich am liebsten Matts Arm geknufft, gegrinst und etwas Komisches gesagt, damit er lächelte. Aber es ging nicht. Nicht, weil ich Angst vor ihm hatte – noch nicht –, sondern weil ich Angst um ihn hatte. Weil ich das Gefühl hatte, dass er sich nur mit Mühe zusammenriss. Und ich mich deswegen stark und ruhig zeigen müsste, vernünftig und beherrscht. Ich versuchte, unbekümmert und neutral zu klingen, und sagte: »Das ist ein alter Bahnhof.«

Er schwieg, starrte nur düster auf das Gebäude vor uns. Dann beugte er sich vor, drehte den Zündschlüssel, sodass der Motor seufzend verstummte. Matt seufzte ebenfalls, wobei seine Schultern leicht zusammensackten, als weiche die Spannung aus seinem Körper. »Ja«, sagte er, »mehr ist es auch nicht.«

Wir saßen im Auto, man hörte nur ein klopfendes Geräusch, als der Motor allmählich abkühlte. Der Bahnhof war nichts Besonderes, hatte nur ein altes, abgelegenes Nebengleis, das schon seit längerem nicht mehr in Betrieb war. Auf dem Schotterparkplatz davor wucherte Unkraut, die Steine der lang gestreckten, niedrigen Fassade waren so schwarz, dass sie verkohlt wirkten. Die meisten Schieferziegel fehlten, das Dach sah aus wie das Skelett eines riesigen Tiers, das seine schmutzig braunen Rippen in den Himmel reckte. Das Gebäude kauerte in einer flachen Talmulde hinter einer Abzweigung, die kaum noch als Fahrweg zu erkennen war. Es war Ende September, ein kühler Tag. Der Wind stahl sich durch die dünnen Grasbüschel, die das Grundstück erobert hatten, und pfiff flüsternd seine Geheimnisse in das Gerippe des Gebäudes.

Bevor ich Matt fragen konnte, was wir hier zu suchen hatten, öffnete er unvermittelt die Tür und stieg aus. Obwohl er gesagt hatte, es sei ihm wichtig, mich herzubringen, ging er sofort mit steifen Schritten zum Eingang, als hätte er mich völlig vergessen. Einen Moment überlegte ich, ob ich ihn allein lassen sollte, stieg dann aber aus und ging hinter ihm her. Offenbar war hier etwas Bedeutsames geschehen. Etwas Bedeutsames und Schlimmes. Während ich Matt folgte, stellte ich mir vor, er würde von einem Kinderspiel berichten, das außer Kontrolle geraten war und bei dem einer seiner Freunde – vielleicht sogar sein bester Freund – vom Bahnsteig abgerutscht und von einem Zug überrollt worden war. Ein tragischer Unfall, an dem Matt sich seither die Schuld gegeben hatte. Eine Mutprobe mit furchtbaren Folgen. Ich übte im Geiste schon die Worte, mit denen ich Trost und Mitgefühl ausdrücken wollte, da holte ich ihn ein. Matt stand vor dem Fahrkartenschalter neben dem Eingang und starrte auf das rostige Drehkreuz, hinter dem der Bahnsteig lag.

»Hey, warte auf mich«, sagte ich leise, nahm seinen rechten Arm und drückte mich an ihn. Ich spürte seinen Handrücken an meinem Schambein, doch er reagierte nicht – zumindest nicht auf meinen Körper. Er nickte abrupt und sagte mit einer seltsam hohl klingenden Stimme: »Es ist dahinter.«

Was denn, hätte ich am liebsten gefragt, wollte ihn aber nicht drängen. Er sollte es von sich aus erzählen. Ich nickte. »Okay, gehen wir rein.«

Wir gingen am Fahrkartenschalter vorbei, einem leeren Häuschen, Beginn und Ende so vieler lang vergangener Reisen. Überrascht sah ich, dass das Glas noch intakt, aber getrübt aussah, wie Augen mit grauem Star. Trotz der frischen Brise, die durch die klaffenden Löcher im Dach drang, roch alles nach abgestandenem Urin. Der Boden war mit Dosen und Flaschen und Glasscherben übersät, glitzernd wie Diamanten, die ein flüchtender Dieb verloren hat.

»Seit wann ist das denn hier geschlossen?«, fragte ich.

Matt zuckte die Achseln. »Schon lange. Seit ich ein Kind war.«

»Wie lange also? Zwanzig, dreißig Jahre?«

»So ungefähr.«

»Ist denn keiner auf die Idee gekommen, ihn abzureißen und das Gelände zu bebauen?«

»Weiß ich nicht«, schnauzte er plötzlich. »Bin doch kein beschissener Experte für so was!«

Sein Zorn schreckte mich auf – und doch fürchtete ich mich nicht, war nur überrascht. Ich ließ seinen Arm los, der nach wie vor steif herunterhing.

»Schon gut«, sagte ich beschwichtigend und gereizt zugleich. »Ich habe doch nur gefragt. Matt, versetz dich doch mal in meine Lage. Du schleppst mich durch das halbe Land, ohne mir eine vernünftige Erklärung zu geben, und benimmst dich dann, als wolltest du mich gar nicht dabeihaben. Ich meine, das hier ist nicht gerade ein netter Tagesausflug.«

»Das soll es auch nicht sein«, murmelte er. Dann trat wieder diese eigenartige Leere in seine Augen, seine Stimme klang angespannt, erstickt. »Es soll kein netter Tagesausflug sein, du blöde …« Er verstummte und machte ein paar stolpernde Schritte von mir weg. Dann tat er etwas, das seltsam und Furcht einflößend wirkte. Er hob langsam die Hände und stieß die Fingerspitzen gegen die Stirn, beide Hände bewegten sich synchron wie eine Maschine, die Löcher in Blech stanzt.

Das tat er mindestens achtmal und hätte wohl ewig weitergemacht, doch dann rannte ich zu ihm, ergriff seine Hand und brüllte, er solle damit aufhören. Was er auch tat, obwohl seine Augen noch immer leer und starr blickten, der Mund zu einer schmalen Linie verzogen war. Auf seiner Stirn erschienen acht flammendrote Flecken, die sich von seiner bleichen Haut abhoben wie eine Kriegsbemalung.

»Matt, was ist los? Rede mit mir!«, stieß ich hervor.

Seine Augen rollten nach oben, dann schaute er mich an. Öffnete den Mund, doch zuerst kam kein Laut. Dann murmelte er: »Es fällt mir … so schwer.«

»Dann lass es«, sagte ich sanft. »Du musst es nicht tun, Matt, lass uns wegfahren.«

»Nein«, erwiderte er, »ich muss es tun.«

»Okay, aber nicht hier. Ich meine, ich habe den Bahnhof jetzt gesehen. Du kannst mir woanders erzählen, was passiert ist. Bei einem Drink, einem schönen Essen.«

»Nein.« Seine Augen waren auf einmal voller Angst. »Es geht nur hier. Woanders … geht es überhaupt nicht.«

Er schien über eine Erinnerung zu sprechen, als sei sie ein Tier im Käfig, das sich nur innerhalb bestimmter Grenzen bewegen konnte. Ich streichelte seinen Arm, als sei er das scheue, unberechenbare Tier, das beruhigt werden musste.

»Okay«, sagte ich, »okay. Bringen wir es hinter uns.«

Gemeinsam gingen wir zum Drehkreuz, die Scherben knirschten unter unseren Schuhen. Ich war so nervös, dass ich gern gescherzt und gesagt hätte: »Wir haben ja gar keine Fahrkarte«, aber ich biss mir auf die Lippen.

Das Drehkreuz bewegte sich quietschend, als Matt dagegen drückte, dann klemmte es. Wir kletterten drüber. Auf dem Bahnsteig fing sich der Wind, presste mir den flatternden Rock gegen die Beine. Die Schienen waren im hohen Gras kaum noch zu sehen. Am Ende des Bahnsteigs, wo sie sich kreuzten, stand eine verbogene, blinde Ampel, und ich verkniff mir gerade noch die Bemerkung, dass hier aber ein wirklich starker Wind wehen musste.

»Hier lang«, sagte Matt und deutete nach links. Er führte mich zu einer Tür, die einmal königsblau gewesen sein mochte. Darüber stand in sorgfältig gemalten goldenen Lettern WARTERAUM. Die Farbe war teilweise abgeblättert und schmutzig verblichen, die Buchstaben ARTE hatte jemand abgekratzt und mit schwarzem Filzstift, selbst schon grau verblasst, durch ein ICHS ersetzt.

Als Matt die Hand nach dem Türknopf ausstreckte, fiel mir auf, dass daran keine Spur von dem schmierigen Staub klebte, der alles andere bedeckte. Matts Benehmen machte mir Angst, plötzlich war mir, als wären wir nicht allein, und ich machte einen Schritt nach vorn und legte meine Hand über seine.

»Sei vorsichtig.«

Matt sah mich kühl an, erwiderte aber nichts. Seine Hand blieb reglos, als warte er darauf, dass ich meine wegnahm, obwohl mein Griff nicht fest war. Matt hat große Hände. Starke Hände. Mit langen Fingern und kräftigen Gelenken. Damals ahnte ich noch nicht, wie sehr ich sie einmal verabscheuen und fürchten sollte. Einen Augenblick später ließ ich ihn los und sagte: »Tut mir Leid. Das alles ist ein bisschen heftig hier.«

Er lächelte nicht zurück und schwieg. Drehte nur den Griff und stieß die Tür auf.

Der Urin stank beißend wie Senfgas. Weil das Dach kaputt war, hatte sich die Decke über uns in eine gelbbraune, aufgeweichte Masse verwandelt, die durchhing und von Rissen überzogen war. Es sah aus, als könne sie jedes Niesen zum Einsturz bringen. Ich hielt mir die Nase zu und sagte »Nein«, als Matt die Tür schließen wollte.

Er sah mich an, und obwohl sein Gesicht völlig ausdruckslos war, spürte ich den Drang, mich zu rechtfertigen. »Ich kann nicht hier drinnen bleiben, wenn die Tür zu ist. Es stinkt.«

Er zuckte die Achseln, ließ die Tür offen und trat in die Mitte des Raums, wo zwei Reihen Metallstühle an den Boden geschraubt waren. Er setzte sich hin, ohne den Sitz vorher anzuschauen. Ich hielt mich in Türnähe, wollte es hinter mich bringen, diesen üblen Ort so schnell wie möglich verlassen.

Als Matt sich vorbeugte und die Ellbogen auf die Knie stützte, wurde es plötzlich dunkel. Ich sah aus der Tür. Eine Masse schmutzig grauer Wolken zog über den perlmuttfarbenen, dunstigen Himmel, sie stießen zusammen, verschmolzen miteinander. Dicke Regentropfen fielen herab. Ich überlegte, ob die Decke über uns dem Regen standhalten würde, und fragte: »Verrätst du mir jetzt, was das alles soll?«

Matt hatte ins Leere gestarrt, doch nun richteten sich seine Augen auf mich. Das schwache Licht im Raum ließ seine öligweißen Augäpfel funkeln. Matt sieht gut aus, aber im Schatten wirkt sein langes, knochiges Gesicht manchmal geradezu skelettartig. Seine Wangen sahen eingesunken aus, die Haut an Nase und Stirn lag straff über den Knochen. Er öffnete den Mund, der sich wie ein dunkles Loch auftat.

»Ich war zehn, als es passierte«, sagte er.

Ich wartete einen Moment, doch er schwieg wieder. Schließlich fragte ich: »Als was passierte?«

Seine Antwort kam sofort, als hätte ich einen Schalter gedrückt. »Ich kam immer mit meinem Freund Steve her. Aber an jenem Tag war er nicht in der Schule. Mandelentzündung. Dieser Bahnhof zog uns an. Keiner sonst kam hierher. Er war unheimlich, aber aufregend. Wir betrachteten ihn als unser Geheimversteck. Wir waren jung und naiv und glaubten, niemand sonst wisse davon und dass alle, die einmal davon gewusst hatten, gestorben waren oder den Ort vergessen hatten.

Wir kamen in den Warteraum hier und lasen einander Gespenstergeschichten vor, erschreckten uns dabei halb zu Tode. Nach einer Weile war es, als könnten wir draußen etwas hören. Schleppende Schritte. Knirschen und Stöhnen. Reine Einbildung.

Oft blieben wir bis zum Einbruch der Dunkelheit hier, bis sich alles mit Schatten füllte. Dann fingen wir an, Dinge zu sehen. Dunkle Gestalten, die sich bewegten. Vor dem Fenster. Auf dem Bahnsteig. Verschwommen, aus dem Augenwinkel. Ich könnte sie nicht näher beschreiben. Es waren nur Formen. Die nicht wirklich da waren. Nur Schatten. Finsternis.

Oft rannten wir mit wild klopfendem Herzen nach draußen. Total verängstigt. Oder doch nicht ganz. Sondern triumphierend. Lebendig.

Wir kamen immer wieder her. Freuten uns darauf. Nachts lag ich im Bett und schon der Gedanke gab mir einen Superkick. Dieser Ort lag an der Grenze. War voller Geister, aber es waren unsere Geister. Wir beherrschten sie. Steckten ihre Grenzen ab. Sie schienen uns erschrecken zu wollen, konnten uns aber nicht wehtun. Es war die beste Angst, die man haben kann. Unsere Angst.«

Matts Stimme klang flach, sein Körper war so reglos wie der Stuhl, auf dem er saß. Ich schauderte und sagte mir, das rühre von der Kälte her, die der Regen mitgebracht hatte. Matts Geschichte schien ihn so zu vereinnahmen, dass er seine Umgebung völlig vergessen hatte. Selbst wenn die Decke über ihm geächzt hätte und eine Lawine aus nassem Putz auf ihn herabgestürzt wäre, hätte er wohl einfach weiter dagesessen, ins Leere gestarrt, die Geschichte aus sich herausfließen lassen.

»An jenem Morgen also war Steve nicht in der Schule. Ich hatte ihn das ganze Wochenende nicht gesehen. Er wohnte allerdings ein paar Meilen entfernt von mir. Ich wollte unbedingt herkommen. Sehnte mich geradezu danach. Kennst du das, wenn man als Kind etwas so sehr möchte, dass es wehtut? Aber Steve war krank. Ich hätte am liebsten geheult. Ich verbrachte den Morgen wie in Trance, als wäre meine ganze Welt zusammengebrochen. Heute klingt das albern, aber wenn man zehn ist und einen weiteren Tag auf etwas warten soll, nach dem man sich sehnt, kommt einem das wie eine Ewigkeit vor. Und wenn es nun länger als einen Tag dauern würde? Wenn Steve die ganze Woche krank wäre? Die Vorstellung, so lange warten zu müssen, machte mich derart wütend, dass ich Steve auf einmal hasste, obwohl er mein bester Freund war. Und dann kam mir nachmittags, während der Mathestunde, eine Idee. Es war wie eine Offenbarung. Dass Steve nicht zum Bahnhof gehen konnte, hieß ja nicht, dass ich auch wegbleiben müsse.

Nachdem mir das klar geworden war, dachte ich an nichts anderes mehr. Mir war schlecht vor Aufregung. Als an jenem Tag die Schulglocke läutete, rannte ich davon, mein Magen schlug Purzelbäume. Ich brauchte zwanzig Minuten bis zum Bahnhof, und als ich den Feldweg erreichte, kam es mir vor, als habe der Bahnhof schon auf mich gewartet.

Mir war heiß, ich schwitzte und keuchte, weil ich die ganze Strecke gerannt war. Der Riemen meines Beutels schnitt mir in die Schulter. Es war im Sommerhalbjahr. Mai. Die Tage waren warm und lang. Zwischen dem Unkraut wuchsen Blumen. Schmetterlinge und Bienen flogen umher. Doch der Bahnhof schien wie ein dunkles Geheimnis im hohen Gras zu kauern, nur ich konnte ihn sehen.

Ich blieb eine Weile stehen, hatte Angst hineinzugehen, denn wenn ich das tat, begab ich mich in seine Hände, vertraute darauf, dass er mir nichts antun würde. Ohne Steve kam es mir vor, als habe sich das Gewicht der Macht verlagert. Steve war mein Sicherheitsventil und ich seins. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob es ein Fehler gewesen war, allein herzukommen.

Da hörte ich ein Geräusch hinter mir, ein Rascheln im Gras, und drehte mich um. Nichts zu sehen. Beinahe hätte ich Steves Namen gerufen, aber ich wollte mich nicht bemerkbar machen. Seltsam, aber das Geräusch hinter mir trieb mich vorwärts, zum Bahnhof. Ich ging den Weg, den wir immer nahmen, durch den Haupteingang, die Halle, über das Drehkreuz bis auf den Bahnsteig und dann hier hinein.

Ich schloss die Tür hinter mir und fragte mich die ganze Zeit, weshalb ich gekommen war. Bedauerte es bereits. Dachte unwillkürlich, dass der Rückweg von hier aus furchtbar lang sein würde, wenn … etwas schief ging. Ohne Steve fühlte ich mich nicht gut. Spürte nicht die wohlige Aufregung. Ich legte meinen Beutel auf den Boden und setzte mich auf einen Stuhl, überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hatte ein Buch mit Horrorgeschichten dabei und mich schon auf eine gefreut, die ich am Abend zuvor im Bett gelesen hatte. Sie handelte von einem Mann, der eine Nacht im Wachsfigurenkabinett verbringen soll. Aber jetzt, ganz allein, war mir nicht danach, Horrorgeschichten zu lesen. Ich mochte das Buch nicht einmal aus dem Beutel holen und das Bild auf dem Einband anschauen. Wenn ich allein die Geister weckte, hätte ich keine Chance, sie unter Kontrolle zu halten.

Also beschloss ich zu gehen und wollte gerade meinen Beutel nehmen, da hörte ich draußen ein Geräusch. Als ginge jemand umher. Ich sah einen Schatten, der plötzlich den Streifen Sonnenlicht unter der Tür verdeckte. Dann drehte sich der Türknauf.

Ich war wie versteinert. Mein Mund war trocken, mein ganzer Körper angespannt. Ich konnte mich nicht bewegen. Stand einfach nur da und starrte auf die Tür, die langsam aufging.

Sie öffnete sich ganz, draußen stand eine Gestalt. Massig und formlos, ganz aus Finsternis. Ihr Gesicht war schwarz. Und dann trat sie in den Raum. Das Licht flutete herein und ich sah, dass es ein Mann war.

Er war Mitte vierzig. Fett und rotgesichtig. Feiner Anzug. Polierte Schuhe. Brille. In der Hand trug er eine lederne Aktentasche, die er vorsichtig neben die Tür stellte, als sei etwas Zerbrechliches darin. Er schaute mich die ganze Zeit an, wirkte irgendwie nervös, als könnte ich ihn jeden Moment angreifen. Dann lächelte er und fragte: ›Na, wartest du auf den Zug?‹

Als er das sagte, schien alle Furcht aus mir herauszuströmen. In meinem Kopf drehte es sich, und einen Moment lang war mir, als würde ich ohnmächtig. Ich schwankte, mir war schlecht, und ich konnte knapp den Kopf schütteln. Aber ich hatte nicht kapiert, dass er nur einen Witz machte, und sagte: ›Hier fahren keine Züge. Dieser Bahnhof ist stillgelegt.‹

Er lächelte. Nicht nett. Irgendwie gezwungen. Als dehne er seine Lippen nur, damit er Luft bekam. Ich bemerkte sofort, dass er etwas Unheimliches an sich hatte. Etwas ging von ihm aus, vor dem ich am liebsten abgehauen wäre. Aber er stand zwischen mir und der Tür. Er fragte: ›Warum bist du dann hier?‹

›Ich und mein Freund kommen manchmal nach der Schule her.‹

›Aha‹, sagte er. ›Wo ist denn dein Freund?‹

›Er war heute nicht in der Schule. Ich glaube, er ist krank‹, sagte ich.

›Und da hast du beschlossen, allein herzukommen‹, sagte er.

Ich nickte und er schaute mich nur an. Schaute mich an, als sei er ein Lehrer, der mich bei etwas Verbotenem erwischt hatte und überlegte, wie er mich bestrafen sollte.

Ich wollte meinen Beutel aufheben. ›Ich muss zum Tee nach Hause‹, sagte ich.

Sofort trat er einen Schritt zurück, Richtung Tür. ›Noch nicht‹, sagte er.

Und da bekam ich Angst. Ein großer, dicker Angstklumpen rollte durch meinen Magen, wie die Ölblasen in Lavalampen.

›Ich muss aber‹, sagte ich, dann versagte mir die Stimme.

›Weißt du, warum ich hier bin?‹, fragte der Mann. Plötzlich klang seine Stimme sanft und eindringlich und irgendwo tief drinnen war ein Beben zu spüren. Seine Augen starrten mich an, ohne zu blinzeln. Und ich sagte: ›Nein‹, und er sagte: ›Ich bin hier, weil ich dir gefolgt bin.‹

›Oh‹, sagte ich. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich wollte nicht mit diesem Mann reden. Ich wusste, dass etwas furchtbar schief gelaufen war, sah aber keinen Ausweg.

›Weißt du, warum ich dir gefolgt bin?‹, fragte der Mann.

›Nein‹, sagte ich.

›Ich bin dir gefolgt, weil ich mit dir reden möchte.‹

›Oh‹, sagte ich noch einmal. Eigentlich wollte ich sagen, ich will nicht mit dir reden, du dickes, fettes Schwein. Aber man hatte mir beigebracht, zu Erwachsenen höflich zu sein. Und dass ich nicht mit Fremden reden sollte. Und ich hatte Angst, er könne wütend werden.

›Ich wollte mir dir über das reden, was du mit deinem Freund hier machst.‹

›Ich muss nach Hause zum Tee‹, wiederholte ich, und meine Stimme war so leise, dass selbst ich sie kaum hören konnte.

›Bald‹, sagte er. ›Bald kannst du nach Hause gehen. Zuerst möchte ich aber wissen, was du hier mit deinem Freund machst.‹

Ich schüttelte den Kopf. ›Wir machen gar nichts.‹

›Irgendetwas müsst ihr doch machen.‹

›Wir lesen‹, sagte ich. ›Und unterhalten uns. Und … lungern einfach herum.‹

›Und wie lungert ihr herum?‹

Ich zuckte die Achseln. ›Keine Ahnung.‹

›Masturbiert ihr auch?‹«

Ich schnappte nach Luft. Ganz unwillkürlich. Matts Erzählung hatte mich hypnotisiert, die Art, wie er sich dabei allmählich und unbewusst in zwei Personen gespalten hatte – in sein verängstigtes jüngeres Selbst und den fetten Mann mittleren Alters. Ich hatte so etwas erwartet, dennoch schockierte mich die unverblümte Frage des fetten Mannes.

Wie zuvor reagierte Matt auch diesmal nicht. Er war nicht länger bei mir. War zwanzig Jahre in der Zeit zurückgereist. Er war zehn Jahre alt und dabei, das furchtbare Ereignis zu durchleben, das den Rest seines Lebens – und das Leben der Menschen, denen er begegnete – entsetzlich verzerren würde.

»Ich antwortete ihm nicht«, sagte Matt sofort. »Er kam ein bisschen näher, seine Augen hüpften und tanzten. Sie waren dunkel und zugleich glänzend, funkelnd. Er war sexuell erregt, doch das wusste ich damals nicht. Für mich sah er einfach nur verrückt aus.

›Weißt du, was das Wort bedeutet?‹, fragte er, stieß die Worte keuchend hervor, als sei er einem Bus hinterhergelaufen. ›Weißt du, was masturbieren bedeutet?‹

Natürlich wusste ich das, aber ich wollte mich ja nicht unterhalten und sagte daher gar nichts.

›Masturbieren bedeutet sich einen runterholen‹, sagte er. ›Machst du das mit deinem Freund, wenn ihr herkommt? Holt ihr euch gegenseitig einen runter?‹

Ich glaube, da fing ich an zu weinen, kämpfte aber dagegen an. Ich spürte, wie die Tränen in meiner Kehle aufstiegen, von hinten gegen meine Augen drückten. Ich nahm den Beutel und schoss zur Tür, doch er packte mich an der Schulter und stieß mich zurück.

›Wo wolltest du denn hin?‹, fragte er und klang nicht zornig, sondern … entrüstet. Als wäre ich derjenige, der etwas Falsches getan hatte.

›Nach Hause‹, stieß ich hervor und versuchte mich loszuwinden, doch sein Griff war zu fest.

›Noch nicht‹, sagte er und klang noch immer entrüstet. ›Ich bin noch nicht fertig.‹

Wieder versuchte ich ihm zu sagen, dass ich zum Tee nach Hause müsste, brach aber in Tränen aus. Ich weinte und zitterte und konnte kein Wort herausbringen.

Er stieß mich gegen die Wand, seine fette Hand lag auf meiner Brust. Mit der anderen Hand fummelte er an seiner Hose herum und während er das tat, keuchte er Wort für Wort heraus. ›Als ich ein Junge war‹, sagte er, ›kam ich immer mit meinem Freund Simon her. Wir holten uns gegenseitig einen runter. Das war die schönste Zeit meines Lebens.‹«

Plötzlich verstummte Matt. Er regte sich nicht, senkte nicht den Kopf; sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Doch das ölige Glitzern seiner Augen lief ihm nun über die Wangen. Er weinte.

Ich wollte zu ihm gehen, doch dann sprach er weiter, wobei seine Stimme noch sanfter und beherrschter klang als zuvor.

»Ich wollte mich wehren, ihn wegstoßen, aber er war zu stark für mich. Er packte mich am Nacken und presste mich zu Boden, sodass ich auf dem Bauch lag. Ich spürte sein Gewicht auf meinem Rücken und dachte, ich müsste ersticken. Ich konnte ihn riechen; er roch nach Hitze und Aftershave – scharf und beißend.

Dass er meine Hose heruntergezogen hatte, merkte ich erst, als er mir die Hand von hinten zwischen die Beine stieß und nach mir griff. Er fing an, meinen Schwanz zu kneten und daran zu reißen. Er wollte mir wohl einen runterholen, aber mit wenig Erfolg. Nach einer Weile gab er auf und ich spürte, wie etwas von hinten in mich eindrang, was ich zuerst für eine Faust hielt. Der Schmerz war entsetzlich, unfassbar. Ich begann zu schreien und er stopfte mir seine fetten, stinkenden Finger in den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen.

Während der Vergewaltigung ging mir irgendwann das Licht aus – zumindest glitt ich in eine ganz eigene Welt. Irgendwo über mir hörte ich ihn grunzen und schnauben wie ein Schwein. Dann muss er die Hand aus meinem Mund genommen haben, denn ich erbrach mich auf den Boden und blieb darin liegen, bis er fertig war.

Ich weiß nicht, wie oft er mich vergewaltigte, aber es schien lange zu dauern. Danach fesselte er mich und ließ mich dort liegen, von der Hüfte abwärts nackt, in einer Pfütze Erbrochenem. Er sagte ständig, ich solle versprechen, es keinem zu sagen, wie ein Schuljunge, der etwas Ungezogenes getan hat. Dann ging er weg und ich blieb sieben Stunden dort liegen, bis mich die Polizei fand. Steve hatte ihnen gesagt, wo ich sein könnte. Ich war ausgekühlt vom Schock und blutete aus dem Anus. Der Blutkreislauf in meinen Händen, die er hinter dem Rücken gefesselt hatte, war praktisch abgeschnürt. Noch ein paar Stunden und man hätte mir eine Hand oder sogar beide Hände amputieren müssen. Vielleicht wäre ich sogar an Unterkühlung gestorben.«

Matt seufzte, rutschte leicht auf seinem Sitz, als wolle er andeuten, dass der Hauptteil der Geschichte beendet sei und nur noch ein Epilog folgen würde. »Sie haben den Mann, der mich vergewaltigt hat, nie gefunden. Bis heute habe ich keine Ahnung, wer er gewesen ist. Ich erholte mich allmählich, konnte aber lange nicht zur Schule gehen und musste die Klasse schließlich wiederholen, was bedeutete, dass Steve und meine anderen Freunde ohne mich auf die höhere Schule gingen. Als ich dorthin kam, hatten sie alle neue Freunde gefunden – und das war etwas, was mir erst wieder auf der Schauspielschule gelang.«

Er schaute zu mir auf, nahm mich zum ersten Mal, seit er sich hingesetzt hatte, überhaupt wahr. »Jetzt weißt du Bescheid. Mein großes Geheimnis. Hi, ich bin Matt. Als ich zehn war, hat mich ein Perverser in den Arsch gefickt. Nicht gerade konversationsfördernd, was?«

Ich ging zu ihm hin, legte die Arme um ihn, streichelte sein kurzes Haar, drückte sein Gesicht an meinen Bauch.

»Oh, Matt«, flüsterte ich, »oh, Matt.«

Zwei

Es ist ungeheuer schwer, Leuten mit Problemen – und ich spreche von echten Problemen, Gefahren für Gesundheit und Leben – so weit zu bekommen, dass sie sich eingestehen, was sie sind. Nicht, welche Probleme sie haben; das meine ich nicht. Ich meine, dass sie sich eingestehen, was sie selbst sind. Sie wissen sicher, wovon ich spreche. Sie kennen die Filme und Seifenopern und Fernsehspiele. Sie haben eine liebenswerte Figur gesehen, die in einer großen Runde aufsteht und (gewöhnlich nach einer dramatischen Pause) verkündet: »Mein Name ist Joe Soundso und ich bin Alkoholiker.« Und wenn es gut gemacht ist, applaudiert oder weint man sogar. Weil es genau darum geht. Es ist schon der halbe Erfolg.

Jetzt also ich. Taschentücher bereithalten.

Mein Name ist Ruth Gemmill und ich bin ein Opfer.

Was ich Ihnen bisher erzählt habe – von dem Nachmittag auf dem Bahnhof mit Matt –, geschah vor drei Jahren. Fast auf den Tag genau. September 98. An das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern, aber es war spät im Jahr, wie jetzt. Ein erster Hauch von Winterkälte in der Luft. Laub, das sich flammend rot färbte. Dunkelheit, die das Licht angriff, sich mit jedem Tag ein größeres Stück davon schnappte.

Dieser Nachmittag veränderte mein Leben, doch erst später sollte ich erfahren, wie zerstörerisch und furchtbar diese Veränderung sein würde. Damals fühlte ich mich geschmeichelt, nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte. Geschmeichelt, dass Matt mir sein dunkelstes Geheimnis anvertraut hatte.

Tag Eins. Ewig lange her. Viel Zeit, um Wunden heilen zu lassen, und doch gab es Tage wie heute, an denen diese Wunden versorgt und gepflegt werden mussten, Tage, an denen ich mich ständig mahnen musste, dass es endlich vorbei war, dass ich es längst hinter mir gelassen hatte. Denn meine Beziehung zu Matt war tatsächlich vorbei; nur ihre Geister begleiteten mich noch. Es waren ruhelose Geister, aber ich tat mein Bestes, um mit ihnen fertig zu werden, was mir meist auch gelang. Nur manchmal, wenn meine Gedanken umherwanderten, wurden die Geister kühn. Wenn ich nichts zu tun hatte; in der verletzlichen Phase, bevor ich einschlief; auf langen Autofahrten wie dieser. Ich war auf dem Weg von London nach Greenwell, einer kleinen Marktstadt in North Yorkshire, um meinen Bruder Alex zu besuchen. Manche Leute mögen sich freuen, wenn sie vier Stunden Zeit zum Nachdenken haben, aber bei mir war das anders. Während der ersten Stunde versuchte ich, die Geister mit dem fröhlichen Lärm von Radio One zu beruhigen, und als das nicht half, wählte ich eine anspruchsvollere Unterhaltung in Form eines Hörbuchs – Schiffsmeldungen von Annie Proulx, um genau zu sein. Doch obwohl es ein gutes Buch war, wurde es bald übertönt von rasselnden Ketten und dem Heulen gequälter Seelen.

Im Grunde hasse ich Matt vor allem dafür. Dass er mir die einfache Freude, mich zu entspannen und meine Gedanken treiben zu lassen, unwiederbringlich zerstört hat. In meinem alten Leben ging ich gern in ein Café in der Nähe von Covent Garden. Ich saß da mit meinem Cappuccino, sah aus dem Fenster und ließ die Welt an mir vorüberziehen. Wenn ich das heute versuchte, würden die Geister bald die Stille spüren, aus ihren Verstecken kriechen und ihre rastlose Wanderung beginnen. Stille, einsame Orte mögen sie besonders gern. Trubel und Lärm sind ihnen zuwider. Dank Matt muss ich jeden Abend Schlafmittel nehmen. Die Pillen sind bitter, und obwohl ich mich für meinen Hass schäme, verfluche ich stets seinen Namen, bevor ich eine schlucke.

Ohne Alex hätte ich all das nicht durchgestanden. Alex ist zwei Jahre jünger als ich. Wir sind immer füreinander da gewesen. Sogar als Kinder stritten wir nicht, wie Geschwister es sonst so oft tun. Wir öffneten uns wie Liebende, machten uns verletzlich. Wir erzählten einander von unseren Hoffnungen, Wünschen und Träumen. Lange bevor Matt mich zu dem verlassenen Bahnhof brachte, teilten Alex und ich alle Geheimnisse.

Ich kannte sein größtes Geheimnis lange bevor jemand anderes davon erfuhr. Manchmal ist mir, als hätte ich es schon gewusst, bevor Alex es sich selbst eingestand. Jedenfalls konnte ich es viel leichter akzeptieren als er. Ich erinnere mich noch an die Worte, mit denen er es damals ansprach. Er sagte: »Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht.«

Er war siebzehn und ich neunzehn, im zweiten Studienjahr. Ich war aus London gekommen, um Weihnachten mit meiner Familie zu verbringen. Aber dieses Zuhause war nicht mehr wie früher. Ich fand es spießig und bedrückend. Das Leben meiner Eltern kam mir träge und eng vor. Ich wollte mein Gefühl der Überlegenheit nicht in Verachtung umschlagen, mich nicht von ihren trüben, kleinen Problemen herunterziehen lassen. Ich weiß, es klingt überheblich, aber es war einfach das Alter, in dem man sich wie das Geschenk Gottes an die Menschheit vorkommt. Komisch, wie das Leben einen langsam im Kreis führt. Damals wollte ich nur grelle Lichter, den Lärm und den Geruch und die Hitze des Lebens. Zwölf Jahre später werde ich dessen allmählich überdrüssig. London erscheint mir immer mehr wie eine Zwischenstation. Es ist nicht der Ort, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Als Alex mir vor einigen Monaten sagte, er habe eine Stelle gefunden, in einer kleinen Marktstadt, von der ich noch nie gehört hatte, und werde wegziehen, verspürte ich etwas wie sehnsüchtigen Neid.

»Was willst du denn da machen?«, fragte ich ihn.

»Unterrichten. Es ist eine nette Schule.«

»Nein, ich meine, was willst du machen?«

Er lächelte. »In den Wiesen spazieren gehen. Saubere, frische Luft atmen.«

»Du wirst es scheußlich finden. Du wirst einsam sein.«

»Meinst du nicht eher, du wirst einsam sein?«

Ich glaube nicht, dass er das wirklich gesagt hat. Es war wohl nur, was ich, so ungern ich es eingestehe, gedacht habe.

Zwölf Weihnachten zuvor hatte Alex gesagt: »Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht.« Wir saßen im Malt Shovel, einem Pub, ungefähr eine Meile von unserem Elternhaus entfernt. Dort hatte ich mit sechzehn illegal mein erstes alkoholisches Getränk gekauft. Es war brechend voll, die Luft verräuchert, die Flüssigkeit in unseren Gläsern bebte im Rhythmus der alljährlichen Weihnachtsdisco, die im Saal nebenan stattfand.

Wir waren um sieben hergekommen, hatten einen Tisch erwischt und zu trinken begonnen. Ich trank ein großes Glas Helles nach dem anderen, Alex hielt sich an Pernod Cola. Alles lief gut, denn wenn Alex eine Runde holte, dachten die rauen Burschen an der Theke, das Helle sei für ihn, und ließen ihn in Ruhe.

Wir hatten seit drei Stunden stetig getrunken und waren ganz schön besoffen, als Alex seine Entdeckung kundtat. Ich sah ihn verständnislos an. »Was soll das heißen?«

Er schaute in seinen Drink, als habe der zu ihm gesprochen. Er sah verkrampft und unglücklich aus.

Ich knuffte seinen Arm, mein Magen zog sich ängstlich zusammen. »Alex, was soll das heißen? Bist du krank?«

Er hob den Kopf, wich meinem Blick aber aus. »Nein, nein«, sagte er, »nichts in der Richtung.«

»Was dann?« Als er nicht sofort antwortete, knuffte ich wieder seinen Arm, diesmal härter. »Komm schon, Alex, du machst mir Angst.«

»Ich …« Ihm versagte die Stimme. Er schürzte die Lippen, schaute mich an. »Du lachst nicht, versprochen? Und denkst nicht schlecht von mir?«

»Ich werde mich bemühen«, sagte ich. »Was ist denn los?«

»Na ja, ich glaube … es ist nur so, dass …« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich mag keine Mädchen. Ich meine, ich finde sie nett und so, aber ich mag sie nicht richtig. Ich habe es versucht, aber es geht nicht.«

»Verstehe«, sagte ich. Plötzlich fühlte ich mich nüchtern und erwachsen. Was sonst, weiß ich nicht. Jedenfalls war ich nicht schockiert oder wütend. Nicht einmal überrascht. Ich fragte sachlich: »Was willst du mir damit sagen? Dass du schwul bist?«

Er wurde rot, sah trübselig vor sich hin. »Ich weiß nicht. Kann schon sein.«

»Magst du Männer?«

Er zuckte zusammen, nickte dumpf, spielte mit seinem Glas.

Als mir klar wurde, dass ich das Gespräch in Gang halten musste, obwohl er damit angefangen hatte, streichelte ich seine Hand. »Ist doch okay. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen. Heißt es nicht, zehn Prozent der Bevölkerung seien schwul? Ist doch keine große Sache.«

Wieder sagte er nichts, starrte nur trübe in sein Glas, das Gesicht tiefrot vor Scham.

»Hast du einen Freund?«, fragte ich.

Er sah aus, als hätte ich ihn geschlagen. Seine Schultern zuckten, sein Kopf schoss in die Höhe. »Nein!«, sagte er und starrte mich an, als sei schon die Vorstellung absurd.

»Gut, war ja nur eine Frage.«

Sein Kopf sank wieder hinunter, er sah mich nicht mehr an. Mit einer vagen, kreisenden Handbewegung murmelte er: »Ich habe nie … was gemacht. Habe nie auf meine Gefühle gehört.«

»Wieso nicht?«

Er verzog das Gesicht. »Zu viel Angst, nehme ich an. Außerdem, woher weiß ich, ob … na ja, ob ein anderer Typ genauso ist wie ich?«

»Kommt drauf an, wo du ihn triffst. In London gibt es dafür Pubs und Discotheken.«

Er lachte freudlos. »Hier nicht.«

Ich lehnte mich zurück und schaute meinen Bruder an. Ich erinnerte mich, wie er mit sechs Jahren von Omas Apfelbaum gefallen war und sich den Knöchel gebrochen hatte; erinnerte mich an seine Schmerzensschreie, die so laut und heftig geklungen hatten, dass mir die Haare zu Berge standen. Ich erinnerte mich, wie er und seine Freunde Fallschirme für ihre Action Men gebastelt hatten und sie aus dem Schlafzimmerfenster auf die Terrasse springen ließen. Ich erinnerte mich, wie er es in der Schule einmal mit einem Jungen namens Pete Kershaw aufgenommen hatte, der zwei Jahre älter und einen Kopf größer war als er, weil Kershaw sich so lange von hinten angeschlichen und meinen Rock hochgehoben hatte, bis ich in Tränen ausbrach.

Was will ich damit ausdrücken? Nur dass Alex nie ein Eigenbrötler oder Außenseiter gewesen war, sich nie von seinen Freunden unterschieden hatte. In der Pubertät hatte er nicht über seine Sexualität gesprochen; er hatte sogar Freundinnen gehabt, wenn auch nie sehr lange. Und doch hatte ich es immer gewusst. Zumindest kam es mir an diesem Heiligabend vor, als füge sich eine Reihe verschwommener, geheimnisvoller Teile zu einem Bild zusammen. »Und was willst du jetzt machen?«, fragte ich.

Er sah mich gequält und resigniert an. »Was kann ich denn machen?«

Sofort kam mir eine Idee, doch ich wartete ab, zwang mich nachzudenken. Dann sprach ich sie aus.

»Du könntest mit mir nach London kommen.«

Alex starrte mich an, forschte in meinem Gesicht nach Hinweisen, dass ich es vielleicht nicht ernst meinte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, ich kann nicht.«

»Wieso nicht?«

Ein Lächeln blitzte auf, das beinahe entschuldigend wirkte. »Du willst mich doch gar nicht bei dir haben.«

Ich starrte ihn an, ganz entrüstet. »Al, ich hätte dich unheimlich gern bei mir. Das war schon immer so. Ich dachte, du wüsstest das.«

»Schon, aber … jetzt ist alles anders.«

»In welcher Hinsicht?«

»Du führst in London dein eigenes Leben. Hast deine Freunde. Du willst doch nicht, dass ich das durcheinander bringe.«

Ich wusste nicht, ob ich ihn küssen oder ihm einen Klaps geben sollte. Wie konnte mein geliebter Bruder so von mir denken? Ich ergriff seine Hand und sagte: »Hör mir mal zu, Alex. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als dich mit nach London zu nehmen. Ich wäre stolz, dich meinen Freunden vorzustellen. Und es wäre der richtige Ort für dein Coming-out. Du könntest du selbst sein. Hier in diesem Scheißkaff geht das doch gar nicht.«

Alex quetschte meine Hand. »Nicht so laut«, drängte er mich.

Ich sah mich um. Ein paar Köpfe drehten sich zu mir, und ich begriff, dass ich wohl doch nicht so nüchtern war. »’tschuldigung«, flüsterte ich und beugte mich zu ihm. »Aber was meinst du dazu? Sag doch bitte ja.«

»Ich kann nicht einfach weg. Ohne Schulabschluss. Sonst komme ich nie zur Uni.«

Ich seufzte. Daran war nicht zu rütteln. Ich konnte ihn nicht überreden, seine Zukunftspläne aufzugeben, selbst wenn er seine persönliche Freiheit noch so sehr brauchte.

»Okay, aber in sechs Monaten bist du fertig. Wenn du dich dann für London bewirbst? Du könntest bei mir wohnen, bis alles geregelt ist. Wir verbringen einen tollen Sommer zusammen.«

Langsam stahl sich ein Grinsen in Alex’ Gesicht. Sein Grinsen lässt einen wirklich dahinschmelzen. Er sieht dann aus wie acht.

»Klar«, sagte er, »klar, das wäre toll.«

»Also musst du noch sechs Monate zu Hause durchhalten. Kriegst du das hin?«

Er zuckte die Achseln. »Klaro. So schlimm sind Mum und Dad nun auch wieder nicht.«

»Meinst du?«

»Ich lasse sie in Ruhe, sie lassen mich in Ruhe. Ist schon okay.«

Ich verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich könnte sie nicht mehr ertragen. Sie sind … irgendwie wie Vampire. Saugen einem die Kraft aus. Nach einer Woche würde ich am liebsten alles kaputtschlagen.«

Alex schob die Unterlippe vor. »Ich kenne ja nichts anderes.«

Ich nahm einen großen Schluck Bier. »Wirst du Mum und Dad sagen, dass du schwul bist?«

Alex zog entsetzt die Augenbrauen hoch. »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich glaube, es wäre keine gute Idee«, antwortete ich mit einem boshaften Grinsen. »Aber das würde sie echt ordentlich auf Trab bringen.«

Alex sah mich beunruhigt an. »Du wirst es ihnen doch nicht verraten, oder?«

»Natürlich nicht«, sagte ich. »Traust du mir das etwa zu?« Dann fragte ich: »Meinst du, du wirst es ihnen jemals sagen?«

»Keine Ahnung. Irgendwann vielleicht. Oder ich schreibe einen Brief. Aus London.«

»Feigling«, kicherte ich. »Oder du setzt eine Anzeige in die Lokalzeitung. Dann hätten Dads Freunde im Golfclub was zu erzählen.« Alex lachte. Es war gut, ihn lachen zu hören, das hatte ich lange vermisst. »Stell dir das vor, er würde sterben vor Scham.« Plötzlich wich die Belustigung aus seinem Gesicht. »Scheiße, er wird mich hassen, was?«

»Natürlich nicht. Du bist sein Sohn. Er liebt dich.«

»Schon, aber er hält mich für normal. Wenn er herausfindet, dass sein Sohn schwul ist, rastet er aus. Er wird denken, ich wollte ihm bloß eins auswischen.«

So schlimm ist er nicht, hätte ich beinahe gesagt, verkniff es mir aber. Denn er war so schlimm. Ich meine, er war mein Dad und hatte immer sein Bestes für uns gegeben und dafür liebte ich ihn (obwohl wir uns nicht mehr richtig verstanden hatten, seit ich in die Pubertät gekommen war). Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er ein engstirniger Mistkerl war – wenn auch auf eine unterschwellige, passive, mittelenglische Art und Weise. Ich konnte mir keine Nachrichten mehr mit ihm ansehen, weil er beim Anblick von Dreadlocks, Gesichtspiercings oder Politikern, die rote statt blauer Krawatten trugen, missbilligend grunzte, abfällige Bemerkungen von sich gab oder einfach nur verächtlich den Kopf schüttelte. Bei einem Bericht über AIDS, der mit Aufnahmen von Männern unterlegt war, die in einem Nachtclub für Schwule miteinander tanzten, war er herausgeplatzt: »Diese Leute sind selber schuld daran.« Bei meinem letzten Besuch stritten wir furchtbar über allein erziehende Mütter, und ich bezeichnete ihn als Daily-Mail-Artikel auf Beinen, bevor ich wütend aus dem Zimmer stürmte.

Ich muss zu Dads Verteidigung sagen, dass er ziemlich behütet aufgewachsen und seine Engstirnigkeit vor allem auf mangelndes Wissen zurückzuführen ist. Aber man kann sich wohl vorstellen, dass er nicht gerade der toleranteste Mensch auf Erden ist.

Nicht eben hilfreich für Alex. Es ließ sich nicht leugnen, dass seine Enthüllung ein harter Schlag für unseren anständigen, aufrechten, korrekten und bedingungslos heterosexuellen Vater sein würde.

»Meinst du, er schlägt mich?«, fragte Alex.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Vermutlich brüllt er bloß ein bisschen.«

»Und Mum?«

»Zuerst wird sie weinen«, sagte ich, »aber sie gewöhnt sich schon dran.«

Alex wirkte besorgt. »Ich freue mich nicht gerade darauf, es ihnen zu erzählen.«

»Es muss ja nicht jetzt sein. Dafür ist immer noch Zeit.«

Tatsächlich erzählte Alex unseren Eltern erst fünf Jahre später davon, aber das ist eine andere Geschichte. Sechs Monate nach unserem weihnachtlichen Gespräch zog er nach London und blühte auf, wie ich es vorhergesagt hatte. Wenn auch nicht gleich. Er musste sich erst eingewöhnen, in den ersten Monaten fuhren seine Gefühle Achterbahn. Er stieg in Schwindel erregende Höhen und stürzte in tiefste Verzweiflung. Doch so, wie er immer für mich da gewesen war, war ich nun für ihn da. Ich redete und hörte ihm zu, tröstete und ermutigte ihn so gut ich konnte.

Und allmählich ging es ihm besser. Er sagte, ich hätte ihm sehr geholfen, aber er hätte es wohl auch so durchgestanden. Den Sommer über wohnte er bei mir und meiner Freundin Keri, und als er im September sein Zoologiestudium an der Universität London begann, zog er ins Studentenwohnheim. Er knüpfte Beziehungen an – richtige Beziehungen. Sein erster Freund war ein süßer Waliser namens Dave, der blondiertes Haar und eine Rose auf den Po tätowiert hatte. Alex liebte sein Studium und hängte noch irgendwelche Forschungsarbeiten an. Er schrieb sogar ein Buch über Violinspinnen, das, wie er mir versicherte, als das moderne Standardwerk zu dieser Spezies gilt.

Danach bot man ihm eine Dozentenstelle an, die er annahm, und er schrieb weitere Bücher – eines über Skorpione, das andere über die Brutgewohnheiten eines Raubfisches, dessen Name mir entfallen ist. Wenn jemand ihn fragte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiene, sagte Alex immer: »Ich bin Naturalist«, und wenn die Leute grinsten, fügte er hinzu: »Was nicht heißt, dass ich nackt herumlaufe.« Wenn er mit einem Mann sprach, der ihm gefiel, zog er manchmal seine perfekten Augenbrauen hoch und murmelte: »Aber es lässt sich arrangieren.«

Gott, ich liebte meinen Bruder.

Aber jetzt war er weg, und ich wusste nicht, wo er steckte.

Er hatte die Stelle in Greenwell vor ein paar Monaten bekommen. Zuerst konnte ich es nicht glauben. Mir kam es wie ein Rückschritt vor, von der Universität London an eine obskure Gesamtschule in der Provinz zu gehen, irgendwo hoch im Norden. Doch Alex blieb hart. Er sagte, er habe schon immer Kinder unterrichten und zudem seit längerem aus London wegziehen wollen, um wieder im Norden auf dem Land zu leben (unsere Familie wohnt in Newark bei Nottingham). Ich sagte, dort würde es schwieriger sein, Männer kennen zu lernen, doch Alex tat meine Einwände ab. Er war jetzt älter und erfahrener. Er wusste, wohin er gehen und was er tun musste. Er konnte die Zeichen deuten. Zumindest sagte er das.

»Und du wirst mich nicht vermissen?«, fragte ich.

»Natürlich. Aber du kannst mich ja besuchen. Und ich dich. Dann haben wir von beidem das Beste.«

In den ersten sechs Wochen telefonierten wir oft. Eigentlich jeden Tag. Und dann rief ich ihn letzte Woche an einem Abend an und er war nicht da. Ich hinterließ eine Nachricht, doch er meldete sich nicht. Am nächsten Tag rief ich wieder an, hinterließ eine weitere Nachricht, hörte wieder nichts von ihm. Ich war gekränkt und enttäuscht und besorgt, obwohl ich mir sagte, dafür gebe es keinen Grund. Vermutlich war er mit den Schülern auf Klassenfahrt. Oder hatte jemanden kennen gelernt und war bei ihm geblieben, so euphorisch über die neue Beziehung, dass er vergessen hatte, mich anzurufen. Ich war ein bisschen beleidigt, wollte aber auch, dass Alex glücklich war. Ich wartete zwei Tage und rief wieder an. Anrufbeantworter. Nachricht. Keine Antwort.

Ich rief die Auskunft an, um die Nummer seiner Schule zu bekommen, doch gab es keinen Eintrag unter Gesamtschule Greenwell. Also hatte sie einen anderen Namen. Es machte mich wahnsinnig, dass ich Alex nicht bei der Arbeit anrufen konnte. Ich war mir sicher, dass ich den Namen irgendwo aufgeschrieben hatte, aber wo? Wahrscheinlich auf irgendeinen Zettel, den ich achtlos weggeworfen hatte.

Ich brütete noch ein bisschen und dann, gestern Abend, als ich unruhig zu Hause wartete und ein Telefonklingeln erzwingen wollte, dachte ich schließlich: Scheiß drauf. Ich war freiberufliche Produktionsdesignerin und hatte gerade keinen Auftrag, sodass ich mir ruhig freinehmen konnte. Ich packte eine Tasche für ein paar Tage, stellte den Wecker auf fünf Uhr und ging schlafen.